XIII. Die Intrige spitzt sich zu

In diesem Augenblick zittern Sie, weil Ihnen die Situation und die bevorstehende Jagd Angst einflößen. Würden Sie aber auch zittern, wenn ich präzise wäre wie ein Eisenbahnfahrplan?

A. Conan Doyle, Das Tal der Angst


Zuerst war da nur eine Stimme aus weiter Ferne, ein verwaschenes Murmeln, mit dem er nicht klarkam. Er versuchte sich zu konzentrieren und glaubte jetzt zu verstehen, daß man über ihn sprach, über sein Aussehen. Corso hatte keine Ahnung, wie er aussah, aber das interessierte ihn auch gar nicht. Er lag auf dem Rücken und verspürte nicht die mindeste Lust, die Augen aufzuschlagen, vor allem weil er fürchtete, der Schmerz, der auf seine Schläfen drückte, könne noch schlimmer werden.

Irgend jemand tätschelte seine Wange, so daß ihm schließlich doch nichts anderes übrigblieb, als widerwillig mit einem Auge zu blinzeln. Flavio La Ponte stand über ihn gebeugt und beobachtete ihn besorgt. Er trug noch immer seinen Pyjama. »Hör schon auf, mir im Gesicht herumzufummeln«, knurrte Corso.

Der Buchhändler stieß mit hörbarer Erleichterung die Luft aus den Lungen aus.

»Ich dachte, du bist tot«, gestand er.

Corso öffnete auch das andere Auge und machte Anstalten aufzustehen, aber im selben Moment hatte er das Gefühl, sein Hirn schwappe im Schädel wie Götterspeise über den Teller. »Der Typ hat dich voll erwischt«, informierte La Ponte überflüssigerweise und half ihm auf die Beine. Auf seine Schulter gestützt, ließ Corso den Blick durch das Zimmer wandern. Liana Taillefer und Rochefort waren verschwunden.

»Hast du ihn gesehen?« »Klar. Groß, dunkelhaarig, Narbe im Gesicht.«

»Ist er dir vorher schon einmal über den Weg gelaufen?«

»Nein.« Der Buchhändler runzelte mißmutig die Stirn. »Aber sie schien ihn gut zu kennen ... Sie muß ihm die Tür aufgemacht haben, als wir im Bad miteinander diskutiert haben . Übrigens war der Typ auch ziemlich übel zugerichtet: Seine Lippe war blutverkrustet. Sah aus wie frisch genäht.« La Ponte faßte sich an die Backe, deren Schwellung zurückgegangen war, und kicherte schadenfroh. »Na, jetzt hat jeder was abbekommen.«

Corso, der vergeblich nach seiner Brille suchte, warf ihm einen mürrischen Blick zu.

»Ich verstehe nur nicht, warum sie dich nicht auch verdroschen haben«, meinte er.

»Das wollten sie ja. Aber ich habe ihnen gesagt, das sei nicht nötig, ich wäre bloß ein Zaungast und würde ihnen bestimmt nicht im Weg stehen.«

»Anstatt daß du mich verteidigt hättest.«

»Ich? Mach keine Witze. Dein Kinnhaken hat mir gereicht. Nein, nein . ich habe mit den Fingern das gemacht, siehst du? Friedenszeichen. Dann habe ich den Klodeckel runtergeklappt und mich brav draufgesetzt, bis sie gegangen sind.«

»Du bist mir ein schöner Held.«

»Lieber vorher ein bißchen ducken, als nachher den Katzenjammer. Ach ja, schau mal.« Er reichte ihm einen zusammengefalteten Zettel. »Das haben sie unter einen Aschenbecher gesteckt, bevor sie gegangen sind. In dem Aschenbecher liegt übrigens auch der Stummel einer Monte-Christo-Zigarre.«

Corso kostete es einige Mühe, den Zettel zu lesen. Er war in Tinte geschrieben, mit schöner Handschrift und verschnörkelten Großbuchstaben:

Der Besitzer dieses Schreibens hat auf meinen Befehl und

zum Wohl des Staates gehandelt.

Den 3. Dezember 1627 Richelieu

Corso war trotz seines üblen Zustandes nahe daran, in schallendes Gelächter auszubrechen. Das war die Generalvollmacht, die Richelieu während der Belagerung von La Rochelle für Milady ausgestellt hatte, damit sie sich ungeschoren an d’Artagnan rächen konnte. Der Freibrief, den Athos ihr später mit gezückter Pistole abnimmt - Und nun beiße, Schlange, wenn du kannst! - und der den Freunden am Schluß des Romans dazu dient, die Hinrichtung von Milady vor dem Kardinal zu rechtfertigen . Kurz und gut, das war zu viel für ein Kapitel. Corso wankte ins Badezimmer, öffnete den Wasserhahn und hielt den Kopf unters kalte Naß. Danach betrachtete er sein Gesicht im Spiegel: wassertriefend, unrasiert und mit verquollenen Augen. >Richtig photogen<, dachte er. In seinen Schläfen brummte es, als habe er ein Wespennest im Kopf. Der Tag fing ja gut an.

La Ponte reichte ihm ein Handtuch und seine Brille.

»Noch was«, sagte er. »Sie haben deine Tasche mitgenommen.«

»Schweinehund.«

»Hör mal, warum legst du dich eigentlich mit mir an? Einmal gevögelt - das ist alles, was ich in dieser Story gemacht habe.«

Corso war unruhig. Er lief in der Empfangshalle des Hotels auf und ab und versuchte, schnell zu einem Plan zu kommen. Aber die Wahrscheinlichkeit, den Fliehenden ein Bein stellen zu können, verringerte sich mit jeder Minute. Im Grunde war alles verloren - bis auf ein Glied in der Kette: die Nummer drei. Todsicher wollten sie sich auch noch das dritte Exemplar unter den Nagel reißen, und das schien die einzige Möglichkeit zu sein, die beiden am Wickel zu kriegen. Allerdings nur, wenn er rasch handelte. Während La Ponte den Zimmerschlüssel zur Rezeption brachte, ging Corso in die Telefonkabine und rief bei Frida Ungern an, aber ihr Apparat war belegt. Nach kurzem Zögern wählte er die Nummer des Louvre Concorde und ließ sich mit Irene Adler verbinden. Er fragte sich besorgt, was sich wohl auf dieser Flanke getan hatte, und atmete erleichtert auf, als er die Stimme des Mädchens vernahm. In wenigen Worten informierte er sie über den Stand der Dinge und bat sie, sich mit ihm bei der Stiftung Ungern zu treffen. Kaum hatte er eingehängt, als La Ponte daherkam: Er war dabei, seine Kreditkarte im Geldbeutel zu verstauen, und wirkte sehr deprimiert.

»Diese elende Hure. Haut ab, ohne die Rechnung zu bezahlen.«

»Das geschieht dir recht, alter Schlauberger.«

»Ich bringe sie um. Das schwöre ich dir.«

Das Hotel war hundsteuer, und der Buchhändler fühlte sich schändlich hintergangen. Er wirkte jetzt gar nicht mehr so unbeteiligt wie noch vor einer halben Stunde, sondern blickte finster drein wie der rachsüchtige Ahab. Sie stiegen in ein Taxi, und Corso gab dem Fahrer die Adresse der Baronin Ungern. Unterwegs erzählte er seinem Freund den Rest der Geschichte: die Zugfahrt, das Mädchen, Sintra, Paris, die drei Exemplare der Neun Pforten, Fargas’ Tod, der Überfall an der Seine ... La Ponte hörte ihm zu und nickte, anfänglich ungläubig und zuletzt entsetzt.

»Dann habe ich ja mit einer Schlange das Bett geteilt«, stellte er mit einigem Schauder fest.

Corso war schlecht gelaunt und erwiderte nur, daß Idioten so gut wie nie von Schlangen gebissen würden.

»Und doch ist sie ganz schön rangegangen«, sagte er. »Eine stürmische Frau ... mit einem umwerfenden Körper.«

Seine Augen glänzten, obwohl ihn der jüngste Anschlag auf seine Kreditkarte fürchterlich ärgerte.

»Umwerfend«, wiederholte er und lächelte blöde.

Corso sah in den Verkehr hinaus.

»Das hat der Herzog von Buckingham auch gesagt.«

»Buckingham?«

»Ja. In den Drei Musketieren. Nach der Episode mit den Diamantnadeln beauftragt Richelieu Milady mit der Beseitigung des Herzogs, aber der läßt sie bei ihrer Ankunft in London festnehmen. Im Gefängnis bezirzt sie ihren Kerkermeister Feiton, einen Idioten wie dich, nur in der Version des fanatischen Puritaners, und bringt ihn dazu, daß er ihr zur Flucht verhilft und nebenbei noch schnell den Herzog ermordet.«

»An die Episode kann ich mich gar nicht mehr erinnern. Und wie ist es diesem Feiton ergangen?«

»Er rennt Buckingham ein Messer in den Leib und wird dafür hingerichtet - ob wegen Mordes oder Dummheit, kann ich dir nicht sagen.«

»Wenigstens hat man ihm die Hotelrechnung erspart.«

Das Taxi fuhr den Quai de Conti entlang, wo Corso seinen vorletzten Zusammenstoß mit Rochefort gehabt hatte. In diesem Moment fiel La Ponte wieder etwas ein:

»Sag mal, hatte Milady nicht ein Mal auf der Schulter?«

Corso nickte. Sie kamen gerade an der Treppe vorüber, die er gestern abend hinabgestürzt war.

»Doch«, erwiderte er. »Sie ist vom Henker mit der roten Lilie der Ehrlosen gebrandmarkt worden. Und zwar noch vor ihrer Heirat mit Athos. D’Artagnan entdeckt das Schandmal, als er mit ihr ins Bett geht, und das kostet ihn beinahe Kopf und Kragen.«

»Sonderbar. Weißt du, daß Liana auch so ein Zeichen hat.«

»Auf der Schulter?«

»Nein, auf einer Hüfte. Eine hübsche Tätowierung in Form einer kleinen Lilie.«

»Hör auf! «

»Ich schwöre es dir.«

Corso konnte sich nicht erinnern, während des flüchtigen Liebesabenteuers mit Liana Taillefer - Jahre schienen ihm seither vergangen - eine Tätowierung bemerkt zu haben: Für Detailbetrachtungen war damals keine Zeit gewesen. Trotzdem hatte er das Gefühl, daß er diese Geschichte längst nicht mehr unter Kontrolle hatte. Es lag klar auf der Hand, daß es hier nicht mehr um irgendwelche Zufälle ging, sondern um einen ausgeklügelten Plan, viel zu komplex und gefährlich, als daß er die Szene der Witwe und ihres Sbirren mit der Narbe als simple Parodie hätte abtun können. Das war ein Komplott, wie es im Buche stand, und da war auch jemand, der im Hintergrund die Fäden zog. Eine graue Eminenz - nie war dieser Ausdruck treffender gewesen. Corso klopfte auf seine Manteltasche, in der sich der »Freibrief Richelieus« befand. Das war nun wirklich zuviel des Guten. Und doch mußte gerade das Übertriebene, das Romanhafte dieser Geschichte einen Hinweis auf ihre Lösung enthalten. Er erinnerte sich an einen Satz, den er einmal bei Edgar Allan Poe oder Conan Doyle gelesen hatte: Es scheint mir, daß dieses Rätsel gerade aus dem Grund als unlösbar gilt, weshalb man es eigentlich für leicht lösbar halten sollte - ich meine den maßlosen Charakter seiner Begleitumstände.

»Mir ist immer noch nicht klar, ob das alles eine Riesenverar-schung ist oder eine perfekte Intrige«, sagte er schließlich laut.

La Ponte hatte im Kunstleder des Rücksitzes ein Loch entdeckt, in dem er nervös mit dem Finger herumbohrte.

»Egal, was es nun ist, mir kommt diese Sache sehr verdächtig vor.« Er sprach trotz der Panzerglasscheibe, die sie vom Taxichauffeur trennte, sehr leise. »Und ich hoffe, du weißt dich entsprechend zu verhalten.« »Nein, das ist es ja gerade: Ich weiß überhaupt nicht, was ich tun soll.«

»Warum gehen wir nicht zur Polizei?«

»Und was erzähle ich der? Daß Milady und Rochefort, zwei Agenten von Kardinal Richelieu, mir ein Kapitel der Drei Musketiere gestohlen haben und ein Buch, mit dem sich Beelzebub beschwören läßt? Daß sich der Teufel in Gestalt eines zwanzigjährigen Mädchens in mich verliebt und zu meinem Leibwächter erklärt hat? Jetzt sag mir, was du machen würdest, wenn du Kommissar Maigret wärst und ich dir mit so einer Story käme?«

»Wahrscheinlich würde ich dich ins Röhrchen blasen lassen.«

»Da siehst du selbst.«

»Und Varo Borja?«

»An den will ich gar nicht denken.« Corso stöhnte. »Was der aufführt, wenn ich ihm sage, daß sein Buch weg ist .«

Das Taxi schlängelte sich mühsam durch den dichten Morgenverkehr, und Corso sah ungeduldig auf die Uhr. Endlich kamen sie bei der Bar an, in der er am Vorabend gesessen hatte. Eine Menge Leute, die neugierig den Hals reckten, hatten sich auf dem Gehweg versammelt, und an der Ecke war ein Schild aufgestellt worden, das die Durchfahrt verbot. Als er aus dem Taxi stieg und nun auch noch ein Polizeiauto und einen Löschzug der Feuerwehr erblickte, knirschte Corso mit den Zähnen und stieß einen Fluch aus, der La Ponte herumfahren ließ. Um die Nummer drei war es also auch geschehen.

Das Mädchen, das seinen kleinen Rucksack auf der Schulter und die Hände in den Manteltaschen hatte, bahnte sich durch die Menschenmenge einen Weg zu ihnen. Vom Dach des Hauses stieg eine dünne Rauchfahne auf.

»Der Brand ist um drei Uhr früh ausgebrochen«, informierte sie Corso. Seinen Freund übersah sie einfach. »Die Feuerwehrmänner sind immer noch in der Wohnung.«

»Und die Baronin Ungern?« fragte Corso.

»Die ist auch drin.« Er sah, wie sie mit der Hand eine Geste machte, vage, wenn auch nicht gleichgültig, eher resigniert oder fatalistisch, als wäre dieses Unglück schon irgendwo vorgezeichnet gewesen. »Man hat die verkohlte Leiche in ihrem Arbeitszimmer gefunden. Dort ist auch das Feuer ausgebrochen. Die Nachbarn meinen, es sei nicht absichtlich gelegt worden . Angeblich ist ein schlecht ausgedrückter Zigarettenstummel schuld.«

»Die Baronin war Nichtraucherin«, sagte Corso.

»Gestern abend hat sie aber geraucht.«

Der Bücherjäger warf einen Blick über die Köpfe hinweg, die sich vor der Absperrung drängten. Er konnte jedoch kaum etwas sehen: das obere Ende einer Feuerwehrleiter, die an die Hauswand gelehnt war, das Blaulicht eines Krankenwagens vor der Tür, die Tschakos der Polizisten und die Schutzhelme der Feuerwehrmänner. Es roch nach verbranntem Holz und schwelendem Plastik. Unter den Schaulustigen befanden sich auch zwei amerikanische Touristen, die sich nacheinander neben den Gendarm postierten, der die Absperrung bewachte, und sich gegenseitig abfotografierten. Irgendwo heulte ein Martinshorn auf. Einer der Schaulustigen behauptete, jetzt werde die Leiche herausgetragen, aber Corso konnte nichts sehen. Wahrscheinlich gibt es da auch nicht mehr viel zu sehen, dachte er bei sich.

Er begegnete den Augen des Mädchens, die auf ihn geheftet waren und keine Spur der vergangenen Nacht enthielten. Sie hatte den wachsamen, konzentrierten Blick eines Soldaten, der sich am Rande des Schlachtfelds bewegt.

»Was ist passiert?« fragte sie Corso.

»Ich hoffte, das würdest du mir sagen.«

»Ich meine nicht den Brand.« Jetzt schien sie zum erstenmal La Ponte zu bemerken. »Wer ist das?«

Corso sagte es ihr. Dann zögerte er einen Augenblick und fragte sich, ob La Ponte wohl etwas auffallen würde:

»Das ist das Mädchen, von dem ich dir erzählt habe. Sie heißt Irene Adler.«

La Ponte fiel nichts auf. Er beschränkte sich darauf, die beiden ein wenig verwirrt anzusehen, zuerst das Mädchen, dann seinen Freund, und reichte ihr zum Schluß die Hand, die sie jedoch nicht sah oder nicht sehen wollte. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt Corso.

»Du hast deine Tasche nicht dabei«, stellte sie fest.

»Nein. Rochefort hat es endlich geschafft, sie mir zu klauen. Er ist mit Liana Taillefer durchgebrannt.«

»Wer ist Liana Taillefer?«

Corso beobachtete sie scharf, konnte in ihren Augen aber nichts Verdächtiges entdecken.

»Du kennst die untröstliche Witwe nicht?«

»Nein.«

Sie hielt seinem Blick völlig gelassen stand und wirkte weder überrascht noch beunruhigt.

Corso war drauf und dran, ihr zu glauben, sosehr er sich auch dagegen sträubte.

»Ist ja auch egal«, sagte er schließlich. »Jedenfalls sind die beiden abgehauen.«

»Wohin?«

»Keine Ahnung.« Er entblößte etwas seinen Eckzahn. »Ich dachte, daß du das vielleicht wüßtest.«

»Ich weiß nichts von Rochefort. Und von dieser Frau schon gar nicht«, erwiderte sie gleichgültig und gab ihm damit zu verstehen, daß es ihr in Wirklichkeit um etwas anderes ging. Corso war ratloser denn je. Er hatte sich irgendeine Gefühlsreaktion von dem Mädchen erwartet, schließlich hatte sie sich ja selbst zu seiner Hüterin erklärt. Mindestens einen Vorwurf, von wegen: Geschieht dir recht, du willst es ja immer besser wis-sen. Aber ihr Mund blieb geschlossen. Sie sah sich um, als suche sie unter den Versammelten nach einem bekannten Gesicht, und der Bücherjäger schaffte es nicht, zu erraten, ob sie über das Unglück nachdachte oder in Gedanken ganz woanders war, weit weg vom Ort der Tragödie.

»Was sollen wir machen?« fragte Corso, ohne sich an jemand Bestimmten zu wenden. Er wußte wirklich nicht mehr, wo ihm der Kopf stand. Von den Überfällen einmal abgesehen, waren ihm, eins nach dem anderen, alle drei Exemplare der Neun Pforten und das Dumas-Manuskript weggeschnappt worden. Den Selbstmord Enrique Taillefers eingerechnet, schleppte er drei Leichen mit sich herum, und überdies hatte er eine enorme Summe Geld ausgegeben, das nicht ihm gehörte, sondern Varo Borja ... Varus, Varus: Gib mir meine Legionen zurück. Er verfluchte sich selbst. In diesem Augenblick hätte er viel darum gegeben, fünfunddreißig Jahre jünger zu sein und sich flennend auf den Bordstein setzen zu können.

»Wir könnten zum Beispiel einen Kaffee trinken gehen«, schlug La Ponte vor. Sein frivoler Ton und das aufmunternde Lächeln wollten sagen: Los Kinder, nur Mut, so schlimm wird es schon nicht sein, und Corso begriff, daß der Ärmste keine Ahnung davon hatte, in was für ein Schlamassel sie da alle hineingeraten waren. Aber prinzipiell fand er Flavios Idee gar nicht so schlecht. Jedenfalls fiel ihm unter den gegebenen Umständen auch nichts Besseres ein.

»Also. Laß mich kurz rekapitulieren.« La Ponte tropfte ein wenig Milchkaffee in den Bart, während er sein Croissant erneut in die Tasse tauchte. »Im Jahr 1666 hat Aristide Torchia ein Exemplar der Neun Pforten versteckt, und zwar ein ganz besonderes Exemplar: eine Art Sicherungskopie, die er auf drei Bücher verteilte, stimmt’s? Mit kleinen Unterschieden in acht der insgesamt neun Holzschnitte. Damit nun die in den Tafeln enthaltene Beschwörungsformel funktioniert, muß man die Originale zusammenbringen.« Er schob sich den Rest seines triefenden Croissants in den Mund und wischte sich mit einer Papierserviette ab. »Sehe ich das richtig?«

Die drei saßen in einem Straßencafe gegenüber von Saint-Germain-des-Pres. La Ponte setzte sein im Hotel Crillon so brüsk unterbrochenes Frühstück fort, und das Mädchen, das sich nach wie vor am Rande hielt, hörte den beiden schweigend zu, während sie mit einem Strohhalm Limonade trank. Sie hatte die Drei Musketiere offen auf dem Tisch liegen, drehte ab und zu eine Seite um und las zerstreut, hob dann wieder den Kopf, um dem Gespräch zu folgen. Was Corso betraf, so hatten ihm die jüngsten Ereignisse gründlich den Appetit verdorben. Er brachte absolut nichts hinunter.

»Das siehst du völlig richtig«, sagte er zu La Ponte, lehnte sich, die Hände in die Manteltaschen vergraben, in seinen Stuhl zurück und sah nachdenklich zum Glockenturm der Kirche hinauf. »Obwohl natürlich denkbar wäre, daß die vollständige Ausgabe - die Ausgabe, die von der Inquisition verbrannt worden ist, ebenfalls aus drei Versionen mit unterschiedlichen Bildtafeln bestand. So daß nur echte Spezialisten, Eingeweihte, die drei Exemplare richtig einander zuordnen können . « Er zog die Augenbrauen hoch und runzelte bekümmert die Stirn. »Aber das läßt sich heute nicht mehr feststellen.«

»Und wer sagt, daß es nur drei Bücher gab? Genausogut hätte Torchia doch vier oder neun Serien drucken können.«

»Was hätte das für einen Sinn gehabt? Nein ... Es sind nur drei Versionen bekannt.«

»Wie auch immer. Hier möchte jedenfalls einer die Neun Pforten im Original wiederherstellen. Und dazu bemächtigt er sich der Bildtafeln .« La Ponte sprach mit vollem Mund und fuhr fort, gierig sein Frühstück zu verschlingen. »Der antiquarische Wert der Bücher ist ihm offensichtlich piepegal. Er reißt die richtigen Holzschnitte heraus und verbrennt den Rest. Und nicht genug, er bringt auch noch die Besitzer der Bücher um. Victor Fargas in Sintra. Die Baronin Ungern in Paris. Und Varo Borja in Toledo ...« Er hörte auf zu kauen und sah Corso ein wenig enttäuscht an. »Nein. Hier stimmt was nicht. Varo Borja lebt noch.«

»Sein Exemplar habe ja auch ich. Und mir sind sie gestern abend und heute morgen auf den Leib gerückt.«

La Ponte wirkte nicht sehr überzeugt.

»Du sagst es: auf den Leib gerückt . Warum hat Rochefort dich nicht getötet?«

»Keine Ahnung.« Corso zuckte mit den Schultern. Er hatte sich diese Frage selbst schon gestellt. »Die Möglichkeit dazu hätte er gehabt . Übrigens bin ich mir gar nicht so sicher, daß Varo Borja noch lebt. Das Telefon nimmt er schon seit Tagen nicht mehr ab.«

»Dann müssen wir ihn auf die Liste der Mordopfer setzen. Oder der Verdächtigen.«

»Varo Borja ist von Natur aus verdächtig. Und er verfügt auch über die nötigen Mittel, um diese Geschichte zu inszenieren.« Corso deutete auf das Mädchen, das am Lesen war und der Unterhaltung scheinbar nicht zuhörte. »Sie könnte uns da bestimmt mehr erzählen, wenn sie wollte.«

»Und will sie nicht?«

»Nein.«

»Dann zeig sie doch an. Im Fachjargon nennt man so etwas Beihilfe zum Mord.«

»Sie anzeigen? Ich stecke bis zum Hals in dieser Sache drin, Flavio. Und du genauso.«

Das Mädchen hatte seine Lektüre unterbrochen und hielt dem Blick der beiden unbeirrt stand. Den Mund öffnete sie nur, um an ihrem Strohhalm zu nuckeln. In ihren Augen, die von einem zum anderen wanderten, spiegelte sich bald Corso, bald La Ponte. Schließlich blieben sie am Bücherjäger hängen.

»Vertraust du ihr wirklich?« wollte La Ponte wissen.

»Kommt darauf an. Gestern abend hat sie mich verteidigt, und das hat sie toll gemacht.«

Der Buchhändler zog zweifelnd den Mundwinkel nach unten und blickte das Mädchen von der Seite an. Bestimmt versuchte er, sie sich als Leibwächterin in Aktion vorzustellen, und wahrscheinlich fragte er sich auch, welchen Grad der Intimität das Verhältnis zwischen beiden erreicht hatte. Denn Corso sah, wie er fachmännisch seine Augen über den Kapuzenmantel wandern ließ und sich dabei den Bart kraulte. Jedenfalls stand fest, daß auch La Ponte ungeniert zugegriffen hätte, wenn ihm das Mädchen entgegengekommen wäre - verdächtig hin oder her. Selbst in Augenblicken wie diesem gehörte der ehemalige Generalsekretär der »Harpuniere von Nantucket« zu denjenigen, die es grundsätzlich in den Uterus zurückzieht. Und zwar egal in welchen.

»Nein, die ist zu hübsch.« La Ponte schüttelte den Kopf. »Und zu jung. Zu viel für dich.«

Corso lächelte.

»Du würdest dich wundern, wenn ich dir sage, wie alt sie manchmal aussieht.«

Der Buchhändler schnalzte skeptisch mit der Zunge.

»Solche Geschenke fallen nicht vom Himmel.«

Das Mädchen war den letzten Sätzen ihrer Unterhaltung aufmerksam gefolgt. Jetzt sahen die beiden, wie sie zum erstenmal an diesem Tag lächelte, als habe sie soeben einen guten Witz gehört.

»Du redest zuviel, Flavio Wieheißtdunochgleich«, sagte sie zu La Ponte, der betreten blinzelte. Ihr Lächeln wurde schärfer. »Was zwischen Corso und mir ist, geht dich jedenfalls einen Dreck an.«

Es war das erstemal, daß sie das Wort direkt an den Buch-händler richtete. Nach einem Augenblick der Verblüffung wandte dieser sich hilfesuchend an seinen Freund, aber Corso beschränkte sich auf ein leichtes Schmunzeln.

»Ich glaube, ich bin hier überflüssig.« La Ponte machte halbherzig Anstalten aufzustehen, indem er die Hände auf den Tisch stützte und sein Hinterteil vom Stuhl erhob. In dieser Stellung verharrte er, bis Corso ihm eine der aufgestützten Hände tätschelte.

»Sei kein Idiot! Sie ist auf unserer Seite.«

La Ponte schien erleichtert, aber immer noch nicht ganz überzeugt.

»Dann soll sie es beweisen und dir erzählen, was sie weiß.«

Corso wandte sich dem Mädchen zu, ihren halb geöffneten Lippen, ihrem warmen, weichen Hals. Er fragte sich, ob sie wohl noch immer nach Hitze und Fieber roch, und schwelgte einen Moment lang in Erinnerungen. Die schillernden grünen Augen, aus denen das Licht des Morgens strahlte, hielten seinem Blick wie immer ruhig und gelassen stand. Und ihr lächelnder Mund hauchte jetzt wieder ein Wort, unverständlich, aber irgendwie freundlich oder komplizenhaft.

»Wir haben von Varo Borja gesprochen«, sagte Corso. »Kennst du ihn?«

Die Lippen des Mädchens schlossen sich, und sie glich wieder einem erschöpften, gleichgültigen Soldaten. Aber dem Bücherjäger war es, als habe er den Bruchteil einer Sekunde lang einen Anflug von Verachtung in ihrem Blick wahrgenommen. Er legte eine Hand auf den Marmortisch:

»Wäre ja möglich, daß er mich benützt hat«, setzte er an. »Und daß er dich auf meine Fährte gesetzt hat, damit du mich kontrollierst.« Aber noch während er sprach, kam ihm die Idee, daß der steinreiche Bibliophile auf dieses Mädchen zurückgegriffen haben könnte, um ihm eine Falle zu stellen, plötzlich absurd vor. »Oder vielleicht sind Rochefort und Milady seine Spitzel.«

Anstatt eine Antwort zu geben, vertiefte sich das Mädchen erneut in die Drei Musketiere. Allerdings hatte Corso mit der Erwähnung Miladys den wunden Punkt La Pontes getroffen, der seine Kaffeetasse leerte und zugleich den Zeigefinger in die Luft reckte.

»Das ist genau das, was ich am allerwenigsten begreife«, sagte er. »Die >Dumas-Connection< ... Was hat mein Vin d’Anjou mit dieser Geschichte zu tun?«

»Der Vin d’Anjou ist durch puren Zufall in deine Hände gelangt.« Corso hatte seine Brille abgenommen und betrachtete besorgt das kaputte Glas. Ob es diese Hektik wohl noch eine Weile überstehen würde? »Aber du hast schon recht: Das Dumas-Manuskript ist der dunkelste Punkt der ganzen Story. Obwohl sich auch hier interessante Bezüge herstellen lassen . Kardinal Richelieu, der in den Drei Musketieren als perverser Bösewicht dargestellt wird, hat Bücher über Schwarze Magie gesammelt. Der Teufel verhilft einem zur Macht, wenn man mit ihm paktiert - Richelieu war der mächtigste Mann Frankreichs. Und um den >Cast< zu vervollständigen: In Dumas’ Roman hat der Kardinal zwei ergebene Agenten, die seine Befehle ausführen: den Grafen von Rochefort und Milady de Winter. Sie ist blond, ruchlos und vom Henker mit der Lilie der Ehrlosen gebrandmarkt worden. Er ist dunkelhaarig und hat eine Narbe im Gesicht ... Fällt dir was auf? Sie tragen beide ein Zeichen. Und wo wir schon dabei sind, Querverbindungen herzustellen: Der Johannesoffenbarung zufolge sind die Diener des Teufels am >Zeichen des Tieres< zu erkennen.«

Das Mädchen trank einen Schluck Limonade, ohne von ihrem Buch aufzusehen, aber La Ponte schauderte zusammen, als habe er einen brenzligen Geruch wahrgenommen. Man konnte ihm am Gesicht ablesen, was er dachte: Sich mit einer tollen Blondine einzulassen war etwas ganz anderes als ein Hexen-sabbat zwischen den Beinen. Corso sah, wie er sich besorgt abtastete.

»Verflucht noch mal. Ich hoffe, das ist nicht ansteckend.«

Der Bücherjäger warf ihm einen Blick zu, der nicht allzuviel Mitleid verriet.

»Viele seltsame Zufälle, nicht? Aber ich bin noch lange nicht am Ende . « Er hauchte auf das unversehrte Brillenglas und putzte es mit einer Papierserviette. »In den Drei Musketieren erfährt der Leser, daß Milady mit Athos verheiratet war, dem Freund d’Artagnans. Als Athos entdeckt, daß seine Frau vom Henker gebrandmarkt ist, beschließt er, das Urteil eigenhändig zu vollstrecken. Er knüpft sie an einem Baum auf und geht weg, in der Annahme, sie sei tot. In Wirklichkeit überlebt sie, und den Rest kennst du ja.« Corso rückte sich die Brille auf der Nase zurecht. »Irgend jemand in dieser Geschichte muß sich köstlich amüsieren.«

»Ich kann Athos gut verstehen«, sagte La Ponte und runzelte die Stirn in Gedanken an die unbezahlte Hotelrechnung. »Wenn es nach mir ginge, würde ich dieses Weib am liebsten auch aufhängen. Wie der Musketier seine Frau.«

»Oder wie Liana Taillefer ihren Mann . Tut mir leid, dich in deiner Eitelkeit verletzen zu müssen, Flavio, aber du hast sie in Wirklichkeit nie interessiert. Sie war bloß hinter dem Manuskript her, das der Verstorbene dir verkauft hatte.«

»Diese Hure«, brummte La Ponte wütend. »Bestimmt hat sie ihren Mann um die Ecke gebracht. Und der Typ mit dem Schnurrbart und dem Schmiß im Gesicht hat ihr dabei geholfen.«

»Aber eins verstehe ich immer noch nicht«, fuhr Corso fort, »die Verbindung zwischen den Drei Musketieren und den Neun Pforten ...Das einzige, was mir dazu einfällt, ist, daß auch Alexandre Dumas es - genau wie Richelieu - zu einer absoluten Vorrangstellung bringt. Er bekommt, was man sich nur wünschen kann: Ruhm, Geld, Frauen, Macht. In seinem Leben geht alles glatt . Als genieße er aufgrund eines seltsamen Bundes ein besonderes Privileg. Und als sein Sohn, der andere Dumas, stirbt, läßt er einen kuriosen Spruch in den Grabstein meißeln: >Er ist gestorben, wie er gelebt hat - ohne es zu merken.<« La Ponte sah Corso ungläubig an.

»Willst du etwa andeuten, Alexandre Dumas habe seine Seele dem Teufel verkauft?«

»Ich will überhaupt nichts andeuten. Ich versuche nur den Fortsetzungsroman zu entschlüsseln, den hier irgend jemand auf meine Kosten schreibt . Eins steht jedenfalls fest: Diese mysteriöse Geschichte beginnt damit, daß Enrique Taillefer das Dumas-Manuskript verkauft. Darauf baut alles andere auf: sein angeblicher Selbstmord, mein Besuch bei der Witwe, die erste Begegnung mit Rochefort ... Und der Auftrag Varo Borjas.«

»Was ist an dem Manuskript? Warum, und vor allem, für wen ist es so wichtig?«

»Keine Ahnung.« Corso warf einen Blick auf das Mädchen. »Es sei denn, sie erklärt es uns.«

Die beiden sahen, wie Irene Adler gelangweilt mit der Schulter zuckte, ohne von ihrem Buch aufzuschauen.

»Das ist deine Sache, Corso«, sagte sie. »Wenn ich recht verstanden habe, wirst du doch dafür bezahlt.«

»Aber du bist auch hineinverwickelt.«

»Bis zu einem gewissen Grad.« Sie machte eine vage Geste, die alles und nichts bedeuten konnte, und blätterte eine Seite weiter. »Nur bis zu einem gewissen Grad.«

La Ponte beugte sich pikiert zu Corso hinüber.

»Hast du es schon mal mit einer Ohrfeige probiert?«

»Halt den Mund, Flavio.«

»Genau: Halt den Mund«, wiederholte das Mädchen.

»Das ist doch alles lächerlich«, knurrte La Ponte. »Die redet daher, als wäre sie die Kaiserin von China. Und statt daß du ihr mal ordentlich den Kopf wäschst, läßt du sie einfach machen. Ich erkenne dich nicht wieder, Corso! So hübsch diese Göre auch ist, ich glaube nicht, daß .« Er stockte und suchte nach den passenden Worten. »Woher nimmt sie diese Dreistigkeit?«

»Sie hat sich mal mit einem Erzengel geprügelt«, erwiderte der Bücherjäger. »Und gestern abend habe ich gesehen, wie sie Rochefort die Fresse poliert hat . Erinnerst du dich? Derselbe, von dem ich heute morgen zusammengeschlagen wurde, während du dich aufs Bidet gesetzt hast.«

»Auf den Klodeckel.«

»Das ist doch egal.« Corso nahm einen hämischen Gesichtsausdruck an. »Mit deinem Pyjama ... Ich wußte gar nicht, daß du einen Pyjama trägst, wenn du mit deinen Eroberungen ins Bett gehst.«

»Was geht dich das an?« La Ponte blickte verwirrt zu dem Mädchen hinüber, während er ärgerlich den Rückzug antrat. »Mir wird es nachts kalt, damit du es weißt. Außerdem hatten wir es gerade mit dem Vin d’Anjou.« Er war offensichtlich erpicht, das Thema zu wechseln. »Wie weit bist du mit deinem Gutachten gekommen?«

»Ich weiß jetzt, daß das Manuskript echt ist. Die unterschiedlichen Handschriften stammen von Dumas und seinem Mitarbeiter Auguste Maquet.«

»Was hast du über den rausgebracht?«

»Über Maquet? Da gibt es nicht viel rauszubringen. Er hat sich mit Dumas zerstritten . Prozesse, Geldforderung und so fort. Aber soll ich dir was Nettes erzählen? Dumas hat sein ganzes Geld bereits zu Lebzeiten ausgegeben und ist ohne einen Heller gestorben. Maquet dagegen blieb ein reicher Mann und hat sich im Alter sogar noch ein Schloß gekauft. Im Grund ist es beiden gut ergangen - jedem auf seine Art.«

»Und dieses Kapitel, das sie beide geschrieben haben?«

»Die ursprüngliche Version, eine Rohfassung, stammt von

Maquet. Dumas hat sie korrigiert - teilweise direkt auf dem Original seines Mitarbeiters - und ihr Stil und Qualität gegeben. Das Thema kennst du ja: Milady versucht d’Artagnan zu vergiften.«

La Ponte starrte sorgenvoll in seine leere Kaffeetasse.

»Fazit?«

»Also ich würde sagen, daß sich hier irgend jemand für eine Art Reinkarnation Richelieus hält. Dieser Jemand hat es geschafft, alle Originalholzschnitte des Delomelanicon zusammenzubringen und obendrein das Dumas-Kapitel, das - aus einem unerfindlichen Grund - den Schlüssel zu der ganzen Geschichte enthält.« Corso lehnte sich in seinen Stuhl zurück. »Und während du deinem Manuskript nachtrauerst, Varo Borja seinem Buch und ich mich zum Gespött der Leute mache, versucht dieser Mensch vielleicht schon, den Teufel zu beschwören.« Er zog den Freibrief Richelieus aus der Tasche und sah ihn sich noch einmal an. La Ponte schien im wesentlichen einverstanden.

»Der Verlust des Manuskripts ist halb so schlimm«, meinte er. »Ich habe Taillefer nicht viel dafür bezahlt.« Er grinste spitzbübisch. »Und von Liana habe ich wenigstens in Naturalien kassiert. Aber du sitzt schön in der Klemme.«

Corso sah das Mädchen an, das schweigend las.

»Sie könnte uns wahrscheinlich sagen, warum ich in der Klemme sitze.«

Er zuckte mit den Mundwinkeln, bevor er - resigniert wie ein Kartenspieler, der passen muß - mit den Fingerknöcheln auf den Tisch klopfte. Aber auch diesmal erhielt er keine Antwort. Statt dessen gab La Ponte ein mißbilligendes Brummen von sich.

»Ich begreife immer noch nicht, warum du ihr vertraust.«

»Das hat er dir doch schon gesagt«, erwiderte das Mädchen endlich lustlos. Sie hatte ihren Strohhalm wie ein Lesezeichen zwischen die Seiten des Buches geklemmt. »Ich passe auf ihn auf.«

Corso nickte belustigt, obwohl er wahrhaftig nicht zum Spaßen aufgelegt war.

»Da hörst du es. Sie ist mein Schutzengel.«

»Wirklich? Dann hätte sie aber besser aufpassen sollen. Wo war sie, als Rochefort deine Tasche geklaut hat?«

»Du warst jedenfalls da.«

»Das ist etwas anderes. Ich bin ein friedfertiger Buchhändler. Friedfertig und kleinmütig. Das genaue Gegenteil von einem Mann der Tat. Ich könnte an einem Wettbewerb für Feiglinge teilnehmen, und selbst da würde die Jury mich noch disqualifizieren. Weil ich zu feige bin.«

Corso hörte ihm kaum noch zu, denn er hatte soeben eine Entdeckung gemacht. Der Schatten des Kirchturms fiel ganz in ihrer Nähe auf den Boden. Die breite, dunkle Silhouette war langsam vorgerückt, und das Kreuz der Turmspitze hatte beinahe die Füße des Mädchens erreicht. Hier aber schien der Schatten Halt zu machen. Keine Sekunde lang berührte er das Mädchen, gerade so, als wolle er einen Sicherheitsabstand einhalten.

Von einem Postamt aus telefonierte der Bücherjäger nach Lissabon, um sich zu erkundigen, wie der Fall Victor Fargas weitergegangen war. Er bekam keine sehr ermutigenden Nachrichten. Pinto hatte den Bericht des Gerichtsmediziners gelesen: Tod durch Ertrinken - allerdings unfreiwillig. Die Polizei von Sintra hatte Diebstahl als mutmaßliches Motiv für das Verbrechen angegeben. Täter unbekannt. Das einzig Positive war, daß im Augenblick noch niemand Corso mit der Sache in Verbindung brachte. Dann fügte der Portugiese noch hinzu, er habe für alle Fälle die Beschreibung des Typen mit der Narbe in Umlauf gesetzt. Corso sagte ihm, daß er Roche-fort vergessen könne. Der Vogel sei längst ausgeflogen.

Allem Anschein nach hätten die Karten gar nicht schlechter liegen können, aber gegen Mittag kam es noch dicker. Kaum hatte der Bücherjäger mit La Ponte und dem Mädchen die Empfangshalle seines Hotels betreten, da spürte er auch schon, daß etwas nicht stimmte. Grüber stand wie immer hinter der Rezeption, aber nach der gewohnten, unerschütterlichen Verbeugung las Corso eine Warnung aus seinen Augen. Er sah, daß der Portier, während sie auf ihn zuschritten, wie beiläufig einen Blick auf sein Schlüsselfach warf und danach mit einer Hand leicht das Revers der Livreejacke anhob. Eine Geste, die wohl überall auf der Welt verstanden wird.

»Jetzt nicht stehenbleiben«, sagte Corso zu den anderen.

La Ponte war so verblüfft, daß Corso ihn beinahe mit Gewalt hinter sich herziehen mußte, aber das Mädchen ging ihnen entschlossen und ruhig durch den engen Korridor zum Restaurant voraus, das sich auf die Place du Palais Royal hin öffnete. Als sie an der Rezeption vorbeikamen, konnte Corso gerade noch sehen, wie Grüber eine Hand auf den Telefonapparat legte, der auf der Theke stand.

Sie waren jetzt wieder auf der Straße, und La Ponte warf nervöse Blicke hinter sich.

»Was ist los?«

»Polizei«, sagte Corso. »In meinem Zimmer.«

»Woher weißt du das?«

Das Mädchen stellte keine Fragen. Sie beschränkte sich darauf, Corso in Erwartung neuer Orders anzusehen. Der Bücherjäger zog den Umschlag aus der Tasche, den ihm der Portier am Vorabend überreicht hatte, entnahm ihm die Mitteilung von der Unterkunft La Pontes und Liana Taillefers, und steckte statt dessen einen Fünfhundert-Francs-Schein hinein. Das alles tat er bewußt langsam, sich zur Ruhe zwingend, damit die beiden nicht merkten, wie sehr seine Hände zitterten. Nachdem er seinen eigenen Namen ausgestrichen und den Grübers darüber geschrieben hatte, verschloß er den Umschlag und reichte ihn dem Mädchen.

»Geh ins Café, und gib das einem der Kellner.« Seine Handteller waren feucht, er trocknete sie am Innenfutter seiner Manteltaschen ab und deutete dann auf eine Telefonkabine auf der anderen Seite des Platzes. »Danach treffen wir uns dort.«

»Und ich?« fragte La Ponte.

Corso war trotz der ungemütlichen Situation drauf und dran, seinem Freund ins Gesicht zu lachen. Aber er beließ es bei einem spöttischen Blick.

»Du kannst machen, was du willst. Obwohl ich fürchte, lieber Flavio, daß auch du in den Untergrund abtauchen mußt.«

Corso schlängelte sich durch den Autoverkehr, um den Platz in Richtung der Telefonkabine zu überqueren, ohne sich darum zu kümmern, ob der andere ihm folgte oder nicht. Als er die Glastür hinter sich zugezogen hatte und gerade die Telefonkarte in den Schlitz steckte, sah er La Ponte zwei Meter von sich entfernt auf dem Gehweg stehen und sich ängstlich und verloren umschauen.

Er wählte die Nummer des Hotels und ließ sich mit der Rezeption verbinden.

»Was ist passiert, Grüber?«

»Da sind zwei Polizisten gekommen, Monsieur Corso.« Die Stimme des alten SS-Mannes klang leise, aber ruhig. Er hatte die Situation wie immer im Griff. »Sie sind immer noch oben, in Ihrem Zimmer.«

»Haben sie irgendwelche Erklärungen abgegeben?«

»Nein. Sie haben gefragt, wann Sie in unserem Hotel abgestiegen sind, und ob ich wisse, was Sie heute nacht gegen zwei Uhr gemacht hätten. Ich habe die Frage verneint und sie an den Nachtportier verwiesen. Sie wollten auch eine Personenbeschreibung von Ihnen. Außerdem soll ich Bescheid geben, sobald Sie kommen. Und genau das wollte ich gerade machen.«

»Was werden Sie ihnen erzählen?«

»Die Wahrheit natürlich. Daß Sie kurz in der Empfangshalle erschienen und sofort wieder verschwunden sind, in Begleitung eines bärtigen Herrn, der mir unbekannt ist. Für die Mademoiselle haben sich die Polizisten nicht interessiert. Ich sehe also keinen Grund, sie zu erwähnen.«

»Danke, Grüber.« Corso machte eine Pause und lächelte in den Telefonhörer. »Ich bin unschuldig.«

»Selbstverständlich, Monsieur Corso. Das sind unsere Kunden immer.« Papier raschelte. »Ah. In diesem Moment hat man mir Ihren Umschlag gebracht.«

»Wir hören voneinander, Grüber. Halten Sie mein Zimmer noch zwei Tage frei. Ich hoffe, meine Sachen bald abholen zu können. Wenn es irgendein Problem gibt, benützen Sie die Nummer meiner Kreditkarte. Und buchen von meinem Konto ab. Also, dann . Nochmals vielen Dank.«

»Zu Ihren Diensten.«

Er hängte den Hörer ein. Das Mädchen, das bereits zurückgekehrt war, stand neben La Ponte. Corso verließ die Kabine und gesellte sich zu ihnen.

»Die Polizei hat meinen Namen . Das heißt, daß irgend jemand ihn ihr gegeben hat.«

»Was guckst du mich an?« fragte La Ponte. »Die Geschichte hier ist mir schon lange über den Kopf gewachsen!«

Mir auch, dachte Corso bitter. Er war nicht mehr in der Lage, das Steuer des stampfenden Schiffs zu halten.

»Fällt dir was ein?« fragte er das Mädchen. Sie war der einzige Faden in diesem verworrenen Knäuel, den er noch in der Hand hielt. Seine letzte Hoffnung.

Sie blickte über Corsos Schulter und den Verkehr hinweg zu den kunstgeschmiedeten Gittern des Palais Royal hinüber. Den Rucksack hatte sie abgenommen und zwischen ihre Füße auf den Boden gestellt. Sie schwieg wie gewöhnlich, während sie nachdachte - gedankenverloren und ernst. Die Falte zwischen ihren Augenbrauen verlieh ihr auch jetzt das Aussehen eines dickköpfigen kleinen Jungen, der sich weigert zu tun, was man von ihm erwartet. Corso grinste wie ein abgehetzter Wolf.

»Ich weiß nicht mehr, was ich machen soll.«

Er sah, wie das Mädchen langsam nickte, als sei es innerlich zu einem Schluß gekommen. Vielleicht wollte sie damit aber auch nur bestätigen, daß er in der Tat nicht wußte, was er machen sollte.

»Dein größter Feind bist du selbst«, sagte sie schließlich leise. Sie wirkte jetzt auch sehr erschöpft, wie am Vorabend bei ihrer Rückkehr ins Hotel. »Deine Phantasie.« Sie tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn. »Vor lauter Bäumen siehst du den Wald nicht mehr.«

La Ponte gab ein ärgerliches Grunzen von sich.

»Spart euch die Botanik für später auf, wenn ihr nichts dagegen habt.« Er wurde von Minute zu Minute nervöser und rechnete jeden Augenblick damit, daß die Gendarmen über sie herfallen würden. »Wir sollten so schnell wie möglich von hier verschwinden. Ich könnte auf meinen Namen einen Wagen mieten. Wenn wir uns beeilen, sind wir morgen über der Grenze. Morgen, am ersten April ... Ironie des Schicksals.«

»Halt die Klappe, Flavio.« Corso suchte in den Augen des Mädchens nach einer Antwort, aber er fand nur Spiegelbilder: der sonnenüberflutete Platz, der Verkehr um sie herum, sein eigenes, deformiertes und groteskes Abbild. Der besiegte Landsknecht. Es gab keine heroischen Niederlagen mehr. Diese Zeiten waren längst vorbei.

Der Gesichtsausdruck des Mädchens hatte sich verändert. Sie sah La Ponte an, als habe sie zum erstenmal etwas Interessantes an ihm entdeckt.

»Wiederhol das bitte«, sagte sie.

Der Buchhändler zögerte überrascht.

»Das mit dem Wagen?« fragte er und starrte sie mit offenem Mund an. »Ist doch klar. Bei Flügen gibt es Passagierlisten, im Zug kann dein Paß kontrolliert werden .«

»Das habe ich nicht gemeint. Sag uns noch mal, was morgen für ein Tag ist.«

»Der erste April. Montag.« La Ponte faßte sich verwirrt an die Krawatte. »Mein Geburtstag.«

Aber das Mädchen hörte ihm bereits nicht mehr zu. Sie hatte sich über ihren Rucksack gebeugt und kramte darin herum. Als sie sich wieder aufrichtete, hatte sie die Drei Musketiere in der Hand.

»Du vernachlässigst deine Lektüren«, sagte sie zu Corso und reichte ihm das Buch. »Erstes Kapitel, erste Zeile.«

Corso, der mit so etwas nicht gerechnet hatte, griff nach dem Buch und warf einen Blick hinein. »Die drei Geschenke des alten d’Artagnan« lautete die Überschrift des ersten Kapitels. Und als er die erste Zeile las, wurde ihm klar, wo sie Milady zu suchen hatten.

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