»Antwortet keiner?«
»Nein.«
»Um so schlimmer. Dann ist er nämlich tot.«
M. Leblanc, Arsène Lupin
Keiner kannte die Schwierigkeiten seines Gewerbes besser als Lucas Corso, und zu diesen gehörte besonders der Umstand, daß Bibliographien für gewöhnlich von Gelehrten verfaßt werden, die Bücher zitieren, ohne sie je gelesen zu haben. Sie stützen sich auf Berichte aus zweiter Hand und vertrauen blind auf die Angaben, die sie enthalten. So kann es passieren, daß fehler- oder lückenhafte Darstellungen mitunter ganze Generationen lang in Umlauf sind, ohne daß irgend jemand Bedenken anmeldet, bis die Sache eines Tages zufällig ans Licht kommt. Und genauso war das mit den Neun Pforten. Abgesehen von einer kurzen Erwähnung in den kanonischen Bibliographien, fanden sich auch in ausführlicheren Abhandlungen immer nur flüchtige Beschreibungen der neun Holzschnitte. Was zum Beispiel die zweite Bildtafel betraf, so war in allen bekannten Aufsätzen die Rede von einem alten Mann mit dem Aussehen eines Weisen oder Eremiten, der vor einer Tür stand und zwei Schlüssel in der Hand hielt. Nirgends wurde aber genannt, in welcher Hand er die Schlüssel hielt. Nun hatte Corso die Antwort: in der linken auf dem Holzschnitt in Exemplar eins, in der rechten auf dem Holzschnitt von Exemplar zwei.
Jetzt galt es herauszufinden, was mit der Nummer drei los war, aber damit mußte er sich noch eine Weile gedulden. Corso blieb bis zum Einbruch der Dunkelheit in der Quinta da Sole-dade. Er arbeitete im Schein eines mehrarmigen Kerzenleuchters und machte sich unentwegt Notizen, während er die beiden Exemplare ein ums andere Mal durchging und die Tafeln studierte, um seine Hypothese zu erhärten. Und er stieß tatsächlich auf neue Beweise. Zum Schluß betrachtete er zufrieden seine Ausbeute in Form von Notizen, Tabellen und Diagrammen, zwischen denen sich seltsame Bezüge herstellen ließen. Fünf Abbildungen der beiden Exemplare wiesen Abweichungen auf. Abgesehen von der Hand, in der der alte Mann auf Tafel II die Schlüssel hielt, hatte das Labyrinth auf Tafel IIII in einem Exemplar einen Ausgang und im anderen nicht. Auf dem Holzschnitt V zeigte der Tod eine Sanduhr, die bei Nummer eins unten gefüllt war, in der Nummer zwei dagegen oben. Das Schachbrett auf der Bildtafel VII hatte in Varo Borjas Exemplar weiße Kästchen und in dem von Fargas schwarze. Und auf der Tafel VIII verwandelte sich der Scharfrichter, der sich anschickte, eine junge Frau zu köpfen, dank eines Heiligenscheins in einen Racheengel.
Aber das war noch nicht alles, denn die sorgfältige Untersuchung der Tafeln mit der Lupe führte zu einer weiteren Entdeckung. Die in den Bildtafeln versteckten Signaturen des Holzschneiders wiesen noch auf eine andere Spur: In beiden Büchern war A.T., Aristide Torchia, in der Abbildung mit dem alten Mann als sculptor genannt, aber nur in Exemplar zwei auch als inventor. Die Namensinitialen in Borjas Exemplar, auf die Corso bereits von den Brüdern Ceniza hingewiesen worden war, lauteten L.F. Dasselbe war bei weiteren vier der Bildtafeln der Fall, was nur bedeuten konnte, daß der Drucker zwar alle Schnitte eigenhändig in Holz angefertigt hatte, die Originalzeichnungen aber, die ihm dabei als Vorbild dienten, teilweise aus der Feder eines anderen stammten. Demnach handelte es sich weder um eine zeitgenössische Fälschung noch um eine apokryphe Neuauflage. Nein, der Drucker Torchia selbst mußte die Auflage seines Werks »mit Privileg und Erlaubnis der Obrigkeiten« und gemäß eines ausgeklügelten Planes abgeändert haben: Unter die von ihm modifizierten Darstellungen hatte er seine eigenen Initialen gesetzt, um die Autorenschaft L. F. der anderen zu respektieren. Seinen Folterern hatte er gestanden, daß nur ein Exemplar übriggeblieben sei. In Wahrheit hatte er drei hinterlassen und vielleicht einen Schlüssel, um sie womöglich in ein einziges zurückzuverwandeln. Den Rest des Geheimnisses hatte er auf den Scheiterhaufen mitgenommen.
Corso griff auf ein altes System der Kollation zurück: die komparativen Tabellen, die auch Umberto Eco verschiedentlich benützt. Wenn er die Unterschiede zwischen den einzelnen Bildtafeln auf dem Papier anordnete, ergab sich folgendes Schema:
Und die Abweichungen zwischen den Namensinitialen - A. T. (der Drucker Torchia) und L. F. (ein Unbekannter? Luzifer?) -, mit denen der Holzschneider sculptor und inventor gekennzeichnet hatte, sahen graphisch dargestellt so aus:
Seltsame Kabbala. Aber wenigstens hatte Corso jetzt endlich etwas Konkretes in der Hand: einen Schlüssel, mit dem sich eventuell ein Sinn in die ganze Geschichte bringen ließ. Er stand auf - langsam, als fürchte er, alle diese Bezüge könnten sich vor seinen Augen in Luft auflösen, aber auch mit der Ruhe des Jägers, der weiß, daß es am Ende einer Fährte, so undeutlich sie auch sein mag, immer ein Stück Wild zu erlegen gibt.
Hand. Ausgang. Sand. Schachbrett. Heiligenschein.
Er warf einen Blick zum Fenster hinaus. Jenseits der schmutzigen Scheibe, hinter der sich der Ast eines Baumes abzeichnete, widerstand ein letzter Rest von Abendrot der Dunkelheit.
Exemplar eins und zwei. Unterschiede in den Tafeln 2, 4, 5, 7 und 8.
Er mußte nach Paris. Dort befand sich das Exemplar Nummer drei und vielleicht des Rätsels Lösung. Im Augenblick bereitete ihm jedoch etwas anderes Kopfzerbrechen, eine Sache, die dringend erledigt werden mußte. Varo Borja war kategorisch gewesen: Wenn er es nicht schaffte, auf normale Weise an das Exemplar zwei zu kommen, dann sollte er sich eben einen unkonventionellen Weg ausdenken. Mit dem geringstmöglichen Risiko für Fargas und Corso selbst, verstand sich. Irgend etwas Unauffälliges, Diskretes. Er zog sein Notizbuch aus der Manteltasche und suchte eine Telefonnummer heraus. Für diese Arbeit war Amilcar Pinto der geeignete Mann.
Eine der Kerzen war abgebrannt und erlosch mit einer kurzen Rauchspirale. Irgendwo im Haus spielte eine Geige, und Corso stieß abermals ein trockenes Lachen zwischen den Zähnen hervor. Die Flammen des Kandelabers ließen Lichter und Schatten auf seinem Gesicht tanzen, als er sich vorbeugte, um eine Zigarette anzuzünden. Danach richtete er sich auf und lauschte. Die klagende Musik strich wie ein jammern durch die leeren, dunklen Räume, huschte über die Reste wurmstichiger, verstaubter Möbel, über die mit Spinnweben und Schatten überzogenen Deckengemälde und glitt an den kahlen Wänden entlang, von denen tote Stimmen und Schritte aus längst vergangenen Tagen widerhallten. Draußen, im Garten, schien die Zeit stehengeblieben zu sein: Die beiden Frauenköpfe neben dem Tor starrten reglos in die Nacht - einer von ihnen hinter seiner Efeumaske hervor - und lauschten gebannt den Tönen, die Victor Fargas der Geige entlockte, um die Geister seiner geopferten Bücher zu beschwören.
Corso ging zu Fuß ins Dorf zurück, die Hände in den Manteltaschen vergraben und den Kragen bis zu den Ohren aufgeschlagen, zwanzig Minuten am linken Rand der verlassenen Straße. Die Nacht war mondlos, und dort, wo die Bäume seinen Weg wie ein schwarzes Gewölbe überdachten, tauchte Corso über längere Strecken hinweg völlig in der Finsternis unter. Weit und breit war nichts zu hören außer dem Knirschen des Roll-splitts unter seinen Sohlen und dem Plätschern unsichtbarer Rinnsale, die im Straßengraben, unter Zistrosen und Efeu, hangabwärts flossen.
Ein von hinten kommendes Auto überholte ihn, und Corso sah, wie sein eigener, ins Gigantische vergrößerter Schatten gespensterhaft über die Stämme der nächstgelegenen Bäume und über das Dickicht des Waldes huschte. Erst als die Dunkelheit ihn wieder einhüllte, atmete er auf und fühlte, wie seine Muskeln sich entspannten. Er gehörte nicht zu den Leuten, die an allen Ecken Geister sehen, im Gegenteil, er reagierte selbst auf außergewöhnliche Ereignisse mit südländischem Fatalis-mus, nach Art eines Soldaten aus längst verflossenen Zeiten, zweifellos ein genetisches Erbe seines Ururgroßvaters: Sosehr man seinem Pferd auch die Sporen gibt, dem Schicksal entrinnt man nicht. Wenn man zur nächsten Schenke kommt, steht es schon vor der Tür und putzt sich mit einem venezianischen Dolch oder einem schottischen Bajonett die Nägel. Trotzdem wurde Corso seit dem Vorfall in der schmalen Gasse in Toledo verständlicherweise immer etwas nervös, wenn er hinter seinem Rücken das Geräusch eines Motors vernahm.
Vielleicht fuhr er deshalb herum, als die Scheinwerfer eines anderen Wagens neben ihm stoppten. Sicherheitshalber hängte er seine Segeltuchtasche von der rechten auf die linke Schulter um und suchte im Mantel nach seinem Schlüsselbund, mit dem er zur Not jedem, der ihm zu nahe kam, ein Auge ausstechen konnte. Aber das Bild, das sich ihm bot, wirkte friedlich: die große, dunkle Silhouette einer metallicfarbenen Limousine, und in ihrem Inneren, im Licht des Armaturenbretts gerade zu erkennen, das Profil eines Mannes, der sich mit höflicher, liebenswürdiger Stimme an ihn wandte: »Guten Abend.« Sein Akzent war undefinierbar, weder spanisch noch portugiesisch. »Haben Sie Feuer?«
Das konnte ebensogut ein echtes Anliegen wie ein falscher Vorwand sein - unmöglich, das zu bestimmen. Andererseits wäre es lächerlich gewesen, davonzulaufen oder den spitzesten seiner Schlüssel zu zücken, bloß weil ihn jemand um Feuer bat. Corso ließ also den Schlüsselbund los, zog eine Schachtel Streichhölzer aus der Tasche und zündete eins davon an, indem er die Flamme mit der hohlen Hand schützte.
»Danke.«
Da war sie natürlich, die Narbe - eine alte, vertikal verlaufende Narbe, die von der linken Schläfe bis knapp unterhalb des Wangenknochens reichte. Corso konnte sie sehen, während sich der andere vorbeugte, um seine Monte-Christo-Zigarre anzuzünden, und er hatte auch Zeit, im Schein der Flamme den dichten schwarzen Schnurrbart zu betrachten und die dunklen Augen, die ihn eindringlich ansahen. Als das Streichholz in seinen Fingern erlosch, war es, als senke sich ein schwarzer Vorhang über die Gesichtszüge des Unbekannten, und wieder hatte Corso nur einen Schatten vor sich, dessen Umrisse sich im Dämmerlicht der Armaturenbeleuchtung abzeichneten.
»Wer zum Teufel sind Sie?«
Ein unüberlegter und alles andere als geistreicher Kommentar, aber es war sowieso schon zu spät, denn seine Frage ging im Lärm des aufheulenden Motors unter. Die Rücklichter des Wagens entfernten sich rasch und zogen auf dem dunklen Asphalt der Straße einen roten Schweif hinter sich her. Als der Fahrer vor der ersten Kurve abbremste, leuchteten sie noch einmal stärker auf und verschwanden dann, als hätte es sie nie gegeben.
Der Bücherjäger blieb reglos am Straßenrand stehen und versuchte sich einen Reim auf das alles zu machen: Madrid, Haustür der Witwe Taillefer. Toledo, Besuch bei Varo Borja. Und Sintra nach einem Nachmittag bei Victor Fargas ... Fortsetzungsromane von Dumas, ein Verleger, den man erhängt in seinem Wohnzimmer auffindet, ein Buchdrucker, der mit seinem seltsamen Werk über die Schwarze Magie auf dem Scheiterhaufen verbrannt wird. Und inmitten dieses Szenariums, ihm auf den Fersen wie ein Schatten, Rochefort: eine Romanfigur aus dem 17. Jahrhundert, ein Haudegen, der in Gestalt eines livrierten Fahrers von Luxuswagen wiederauferstanden war. Ein Typ, der zwei Hausfriedensbrüche und einen Mordanschlag auf ihn verübt hatte, Monte-Christo-Zigarren rauchte und kein Feuerzeug besaß.
Corso fluchte leise vor sich hin. Er hätte einen raren Wiegendruck in gutem Zustand dafür gegeben, dem Erfinder dieses absurden Drehbuchs die Fresse polieren zu können.
Als er im Hotel ankam, setzte er sich gleich ans Telefon. Als erstes wählte er die Lissaboner Nummer aus seinem Notizbuch. Und er hatte Glück, denn Amilcar Pinto war zu Hause, wie er der übellaunigen Antwort seiner Frau entnehmen konnte. Aus dem Hintergrund drang das Dröhnen eines Fernsehers, lautes Kinderplärren und das Geschrei streitender Erwachsener durch die schwarze Bakelitmuschel an sein Ohr. Endlich hatte er Pinto an der Strippe, und sie verabredeten, sich in eineinhalb Stunden zu treffen - so lange brauchte Pinto nämlich, um von Lissabon nach Sintra zu kommen. Nachdem das erledigt war, warf Corso einen Blick auf die Uhr und ließ sich von der Rezeption eine Leitung ins Ausland geben, um mit Varo Borja zu sprechen, aber der Antiquar war nicht in seiner Wohnung in Toledo. Er hinterließ ihm eine Nachricht auf dem automatischen Anrufbeantworter und versuchte es dann bei Flavio La Ponte. Da dort auch keiner abnahm, beschloß er, etwas trinken zu gehen. Er versteckte also seine Segeltuchtasche auf dem Schrank und ging in den Aufenthaltsraum des Hotels hinunter.
Das erste, was er sah, als er die Tür des kleinen Salons aufstieß, war das Mädchen. Es konnte sich unmöglich um eine Verwechslung handeln: das kurz geschnittene Haar, ihr jungenhaftes Gesicht, die hochsommergebräunte Haut. Lesend saß sie unter dem Lichtkegel einer Lampe, die Beine ausgestreckt und überkreuzt, die nackten Füße auf den gegenüberliegenden Sessel gelegt. Sie trug ein weißes Baumwoll-T-Shirt zu einer Jeans und hatte sich einen grauen Wollpullover um die Schulter gehängt.
Corso blieb wie angewurzelt stehen, die Hand auf der Türklinke, während ihm die absurdesten Gedanken durch den Kopf schossen. Zufall oder Absicht, das war zu viel.
Schließlich steuerte er, immer noch ungläubig, auf das Mädchen zu. Er war fast bei ihr angelangt, als sie den Kopf hob und ihre grünen Augen auf ihn richtete, diese kristallklaren, tiefgründigen Augen, an die er sich so gut aus dem Zug erinnerte. Er blieb stehen, ohne zu wissen, was er sagen würde, mit dem seltsamen Gefühl, er könne in diesen Augen ertrinken.
»Sie haben mir nicht erzählt, daß Sie nach Sintra kommen würden«, sagte er schließlich.
»Sie mir auch nicht.«
Das Mädchen begleitete seine Antwort mit einem ruhigen Lächeln, das weder Mißbehagen noch Überraschung ausdrückte. Sie schien sich sogar richtig über diese Begegnung zu freuen.
»Was machen Sie hier?« fragte Corso.
Sie zog ihre Füße von dem Sessel zurück und forderte ihn mit einer Geste auf, Platz zu nehmen, aber der Bücherjäger blieb stehen.
»Ich reise«, sagte sie und zeigte ihm ihr Buch - es war ein anderes als das im Zug: Melmoth der Wanderer von Charles Maturin. »Ich lese. Und treffe unerwartet Leute.«
»Unerwartet«, echote Corso.
Nein, das waren eindeutig zu viele unerwartete Begegnungen für eine Nacht, und er ertappte sich dabei, wie er die Anwesenheit des Mädchens in diesem Hotel mit dem Auftauchen Rocheforts auf der Straße in Verbindung brachte. Er war überzeugt, daß er nur den richtigen Blickwinkel herausfinden mußte, um hinter das Geheimnis dieser verrückten Geschichte zu kommen. Aber wie schaffte er das? Im Moment wußte er ja nicht einmal, in welche Richtung er schauen sollte.
»Warum setzen Sie sich nicht?«
Corso tat es mit einem gewissen Unbehagen. Das Mädchen hatte ihr Buch geschlossen und beobachtete ihn neugierig.
»Sie sehen nicht wie ein Tourist aus«, sagte sie.
»Ich bin auch kein Tourist.«
»Sind Sie geschäftlich hier?«
»Ja.« »In Sintra muß jede Arbeit interessant sein.«
Das hat gerade noch gefehlt, dachte Corso, während er seine Brille mit dem Zeigefinger hochschob: sich unter den gegebenen Umständen einem Kreuzverhör unterziehen zu müssen, selbst wenn sein Inquisitor ein hübsches, junges Mädchen war - zu jung, um eine Bedrohung darzustellen. Aber vielleicht lauerte ja gerade hier die Gefahr. Corso griff nach dem Buch, das auf dem Tisch lag, und blätterte ein wenig darin herum. Es handelte sich um eine moderne, englische Ausgabe, und einige Abschnitte waren mit Bleistift unterstrichen. Er sah sich einen von ihnen genauer an:
Seine Augen waren starr auf die untergehende Sonne und auf die Dunkelheit gerichtet, die sich immer mehr ausbreitete -diese widernatürliche Schwärze, die dem strahlendsten und erhabensten Werk Gottes zu sagen schien: »Hör schon auf zu leuchten, und mach mir endlich Platz.«
»Lesen Sie gerne Schauerromane?«
»Ich lese alles gerne.« Sie hatte den Kopf leicht geneigt, und das Licht der Lampe ließ ihren nackten Hals in perspektivischer Verkürzung erscheinen. »Ich liebe Bücher. Wenn ich verreise, packe ich immer ein paar in meinen Rucksack.« »Reisen Sie viel?«
»Sehr viel. Seit Jahrhunderten.«
Corso verzog den Mund, als er ihre Antwort hörte. Das Mädchen sprach völlig ernsthaft und runzelte dabei die Stirn wie ein kleines Kind, das von weltbewegenden Dingen erzählt.
»Ich dachte, Sie sind Studentin.«
»Das manchmal auch.«
Corso legte den Melmoth auf den Tisch zurück.
»Aus Ihnen soll einer schlau werden. Wie alt sind Sie? Achtzehn, neunzehn? Manchmal wirken Sie, als wären Sie noch viel älter.«
»Vielleicht bin ich das ja auch. Bekanntlich spiegeln unsere Gesichter, was wir erlebt und gelesen haben. Sie brauchen sich nur selbst zu nehmen.«
»Was ist mit mir?«
»Haben Sie sich nie lächeln gesehen? Sie lächeln wie ein Soldat aus früheren Zeiten.«
Corso rutschte ungemütlich in seinem Sessel herum.
»Ich weiß nicht, wie ein Soldat aus früheren Zeiten lächelt.«
»Aber ich weiß es.« Der Blick des Mädchens verschleierte sich und wandte sich nach innen, als schweife er durch ihre Erinnerungen. »Einmal war ich dabei, als zehntausend Männer das Meer suchten.«
Corso zog mit übertriebenem Interesse eine Augenbraue hoch.
»Was Sie nicht sagen ... Gehört das zum Gelesenen oder zum Erlebten?«
»Raten Sie mal ...« Sie sah ihn eindringlich an, bevor sie hinzufügte: »Sie scheinen mir doch ein ganz schlauer Typ zu sein, Senor Corso.«
Sie war inzwischen aufgestanden, nahm das Buch vom Tisch und hob ihre weißen Tennisschuhe vom Boden auf. Ihre Augen wirkten jetzt wieder munter, und ihr Glanz kam Corso irgendwie vertraut vor, als habe er ihn in anderen Augen schon einmal wahrgenommen.
»Möglich, daß wir uns mal wieder treffen«, sagte sie, bevor sie ging. »Meinen Sie nicht?«
Corso hegte diesbezüglich nicht den leisesten Zweifel. Ob ihm das nun angenehm war, wußte er im Augenblick nicht zu sagen, noch fand er Zeit, es sich genauer zu überlegen, denn just als das Mädchen zur Tür hinausging, kam Amilcar Pinto herein.
Er war klein und fett. Seine dunkle Haut glänzte wie frisch poliert, und sein dichter Schnurrbart war so struppig, als habe er selbst ihn mit einer Schere zurechtgestutzt. Aus Amilcar Pinto hätte ein rechtschaffener, ja sogar guter Polizist werden können, wäre er nicht gezwungen gewesen, fünf Kinder, eine Frau und einen pensionierten Vater zu ernähren, der ihm heimlich die Zigaretten wegrauchte. Seine Frau, eine Mulattin, die vor zwanzig Jahren einmal sehr schön gewesen sein mußte, hatte er aus Mosambik mitgebracht, als Maputo noch Louren9o Marques war und Pinto Unteroffizier bei den Fallschirmjägern, schlank, tapfer und mit Orden dekoriert. Corso hatte sie kennengelernt, als er mit ihrem Mann wieder einmal ein »Geschäft« besprach: schwarze Ringe unter den Augen, große, schlaffe Brüste, ausgetretene Pantoffeln und das Haar unter einem roten Kopftuch versteckt, in der Diele ihrer Wohnung, die nach schmutzigen Kindern und gekochtem Gemüse stank.
Der Polizist sah das Mädchen im Vorübergehen schief an und steuerte zielstrebig auf den Bücherjäger zu, um sich ihm gegenüber in einen Sessel fallen zu lassen. Er keuchte, als wäre er zu Fuß aus Lissabon gekommen.
»Wer war das?«
»Niemand Wichtiges«, erwiderte Corso. »Ein Mädchen aus Spanien. Touristin.«
Pinto nickte beruhigt und wischte sich die feuchten Hände an den Hosenbeinen ab, wie er es sehr oft tat. Er geriet leicht ins Schwitzen, und sein Hemdkragen hatte immer einen schmalen, dunklen Rand, dort, wo er mit der Haut in Berührung kam.
»Ich habe ein Problem«, meinte Corso.
Das Lächeln des Portugiesen wurde breiter. Alle Probleme sind lösbar, schien es zu sagen. Jedenfalls solange wir beide uns verstehen.
»Ich bin sicher«, erwiderte er, »daß wir gemeinsam einen Ausweg finden.«
Jetzt war es an Corso zu lächeln. Er hatte Amilcar Pinto vor vier Jahren kennengelernt, und zwar anläßlich einer üblen Geschichte mit gestohlenen Büchern, die plötzlich auf den Jahrmarktständen der Feira da Ladra auftauchten. Corso war nach Lissabon gefahren, um sie zu identifizieren, Pinto hatte zwei, drei Leute verhaftet, und auf dem Rückweg zu ihrem rechtmäßigen Besitzer waren ein paar wertvolle Exemplare spurlos verschwunden. Um den Beginn ihrer einträglichen Freundschaft gebührend zu feiern, hatten sie sich in einer FadoKneipe der Oberstadt gemeinsam betrunken, während der ehemalige Unteroffizier der Fallschirmjäger in kolonialen Erinnerungen schwelgte und Corso erzählte, wie sie ihm in der Schlacht von Gorongosa beinahe den Garaus gemacht hatten. Zum Abschluß hatten sie auf dem Mirador von Santa Luzia aus voller Kehle Grändola vila morena gesungen, das vom Mond beschienene Alfama-Viertel zu ihren Füßen und dahinter den Tejo, breit und glänzend wie ein silbernes Laken, über das gemächlich die dunklen Silhouetten der Schiffe glitten, mit Kurs auf den Turm von Belem und auf den Atlantik.
Der Kellner brachte Pinto den bestellten Kaffee. Corso wartete, bis er wieder weg war, und fuhr dann fort:
»Es geht um ein Buch.«
Der Polizist beugte sich über das niedere Tischchen und gab Zucker in seinen Kaffee.
»Es geht immer um Bücher«, entgegnete er zurückhaltend.
»Das hier ist aber ein besonderes.«
»Welches Buch wäre das nicht?«
Corso lächelte erneut. Ein messerscharfes, metallenes Lächeln.
»Der Besitzer möchte nicht verkaufen.«
»Was du nicht sagst.« Pinto führte sich die Tasse an die Lippen und schlürfte genüßlich den Kaffee. »Dabei ist der Handel doch etwas Gutes. Er schafft Wohlstand und sichert den Händlern ihren Lebensunterhalt . « Er stellte seine Tasse ab, um sich die Hände an der Hose abzutrocknen. »Waren müssen ausgetauscht werden, zirkulieren. So will es das Gesetz des Marktes - das Gesetz des Lebens. Es müßte verboten sein, nicht zu verkaufen: Das ist beinahe ein Verbrechen.«
»Ganz deiner Meinung«, stimmte Corso ihm zu. »Aber vielleicht kannst du ja etwas dagegen unternehmen.«
Pinto lehnte sich in seinen Sessel zurück und sah sein Gegenüber abwartend an. Er wirkte sicher und gelassen. Als seine Abteilung in Mosambik einmal in einen Hinterhalt geraten war, hatte er sich einen schwerverletzten Oberleutnant auf die Schulter gepackt und war mit ihm die ganze Nacht durch den Urwald gelaufen. Im Morgengrauen, als der Oberleutnant tot war, hatte er den Leichnam, statt ihn auf dem Boden liegenzulassen, zum Stützpunkt zurückgetragen. Der Oberleutnant war sehr jung, und Pinto dachte, daß seine Mutter ihn bestimmt gerne in Portugal begraben würde. Dafür war er mit einer Medaille ausgezeichnet worden. Jetzt spielten seine Kinder mit den verrosteten alten Medaillen, die überall in der Wohnung herumlagen.
»Vielleicht kennst du den Mann: Victor Fargas.«
Der Polizist nickte bejahend.
»Eine illustre und sehr alte Familie, die Fargas«, bemerkte er. »Früher war sie einmal ziemlich einflußreich. Aber das ist lange her.«
Corso reichte ihm einen verschlossenen Umschlag.
»Hier hast du alle nötigen Informationen: Besitzer, Buch und Ort.«
»Ich kenne die Quinta.« Pinto fuhr sich mit der Zungenspitze über die Oberlippe und befeuchtete seinen Schnurrbart. »Ein Riesenleichtsinn, dort wertvolle Bücher aufzubewahren. In die Villa kommt der dümmste Einbrecher rein.« Er machte ein betrübtes Gesicht, als bekümmere es ihn tatsächlich, daß Victor Fargas so unvorsichtig war. »Ich denke da zum Beispiel an einen Ganoven aus dem Chiado, der mir noch einen Gefallen schuldet.«
Corso schnippte sich ein unsichtbares Staubkorn von der Hose. Das war nicht seine Sache. Jedenfalls nicht, was die praktische Seite betraf.
»Ich möchte weg sein, wenn es passiert.«
»Sei unbesorgt. Du bekommst das Buch, und Senor Fargas soll so wenig wie möglich in seiner Ruhe gestört werden. Eine kaputte Fensterscheibe, wenn’s hochkommt: Ich bestehe auf sauberer Arbeit. Was das Honorar betrifft .«
Corso deutete auf den Umschlag, den der Polizist ungeöffnet in der Hand hielt.
»Da ist ein Vorschuß drin«, sagte er, »ein Viertel der Gesamtsumme. Den Rest bei Ablieferung.«
»Kein Problem. Wann fährst du ab?«
»Morgen früh. Ich setze mich von Paris aus mit dir in Verbindung.« Pinto wollte gehen, aber Corso hielt ihn noch zurück. »Noch etwas. Heute nacht hat sich hier ein Typ herumgetrieben, den ich gerne identifiziert hätte: einen Meter achtzig groß, mit Schnurrbart und Narbe im Gesicht. Schwarzes Haar, dunkle Augen. Schlank. Er ist weder Spanier noch Portugiese.«
»Gefährlich?«
»Das weiß ich nicht. Er ist mir aus Madrid gefolgt.«
Der Polizist machte sich ein paar Notizen auf der Rückseite des Umschlags.
»Hat er etwas mit unserem Geschäft zu tun?«
»Das nehme ich an. Aber Genaueres kann ich dir nicht sagen.«
»Mal sehen, was sich da machen läßt. Ich habe Freunde im Kommissariat von Sintra. Und dann kann ich in unserer Zentrale in Lissabon einen Blick in die Archive werfen.«
Er hatte sich erhoben und verstaute den Umschlag in der Innentasche seiner Jacke. Corso nahm flüchtig einen Pistolenschaft und ein Halfter wahr.
»Bleibst du noch auf ein Glas?«
Pinto schüttelte seufzend den Kopf.
»Das würde ich gerne, aber ich habe drei Kinder mit Masern daheim. Die stecken sich gegenseitig an, diese Bälger.«
Er lächelte, während er das sagte, aber etwas müde. In Corsos Welt waren alle Helden müde.
Sie gingen gemeinsam zum Eingang des Hotels, vor dem Pinto seinen alten Citroen 2 CV geparkt hatte. Als sie sich die Hände schüttelten, kam Corso noch einmal auf das Thema Victor Fargas zurück.
»Mir liegt viel daran, daß die Störung auf ein Minimum beschränkt wird ... Ein simpler Diebstahl, nicht mehr.«
Der Polizist startete den Motor, machte die Scheinwerfer an und warf ihm durch das offene Wagenfenster einen vorwurfsvollen Blick zu. Er schien ernsthaft beleidigt.
»Ich bitte dich. Solche Kommentare sind überflüssig - unter Profis.«
Nachdem er den Polizisten verabschiedet hatte, stieg Corso in sein Zimmer hinauf, um noch einmal seine Notizen durchzusehen. Er arbeitete bis spät in die Nacht, das Bett war mit Blättern übersät, die Neun Pforten lagen aufgeschlagen auf dem Kopfkissen. Schließlich war er so erschöpft, daß er beschloß, zur Entspannung heiß zu duschen und dann ins Bett zu gehen. Er war auf dem Weg ins Bad, da läutete das Telefon: Varo Borja, der wissen wollte, was der Besuch bei Fargas gebracht hatte. Der Bücherjäger erzählte ihm kurz das Wichtigste und erwähnte dabei auch die Abweichungen, die er auf fünf der neun Bildtafeln entdeckt hatte.
»Wo wir schon dabei sind«, fügte er noch hinzu: »Unser Freund ist nicht gewillt zu verkaufen.«
Am andern Ende der Leitung trat Schweigen ein. Der Antiquar schien nachzudenken, aber es war nicht zu erraten, worüber: über die Holzschnitte oder über den negativen Bescheid Victor Fargas’. Als er schließlich weitersprach, schlug er einen extrem vorsichtigen Ton an:
»Damit war zu rechnen«, sagte er, und Corso wußte immer noch nicht, worauf er sich genau bezog. »Gibt es irgendeinen Weg, diese Schwierigkeit zu umgehen?«
»Möglicherweise.«
Das Telefon verstummte erneut. Fünf Sekunden zählte Corso auf dem Zifferblatt seiner Uhr mit.
»Die Sache ist Ihnen überlassen.«
Damit war ihr Gespräch auch fast schon zu Ende. Corso sagte nichts von seiner Begegnung mit Pinto, und der Antiquar fragte nicht, wie Corso das Problem zu lösen gedachte. Varo Borja wollte lediglich wissen, ob er mehr Geld brauchte, und die Antwort war nein. Schließlich vereinbarten sie, Corso solle zurückrufen, sobald er in Paris war.
Der Bücherjäger beschloß, es noch einmal bei La Ponte zu versuchen, aber wieder meldete sich niemand. Er räumte seine Notizen zusammen, klappte das schwarzgebundene Buch mit dem Pentagramm auf dem Deckel zu, nahm den Ordner mit dem Dumas-Manuskript und stopfte alles in seine Segeltuchtasche. Dann legte er die Tasche unters Bett und band sie mit dem Schulterriemen an einem der Pfosten fest. So konnte sie niemand stehlen, ohne ihn aufzuwecken. Ungemütliches Reisegepäck, dachte er bei sich, während er im Bad den heißen Wasserhahn aufdrehte - und aus unerfindlichen Gründen obendrein gefährlich.
Er putzte die Zähne und begann sich auszuziehen, um sich unter die Dusche zu stellen. Der Spiegel war mit Dampf beschlagen, aber er konnte sich noch erkennen. Mager und knochig wie ein abgezehrter Wolf, dachte Corso, als er seine Kleider auf den Boden fallen ließ. Und dann war es auf einmal wieder da, dieses Gefühl der Beklommenheit, das sich aus der Vergangenheit löste, wie eine Woge von fern heranrollte und sein Bewußtsein mit Schmerz überschwemmte - als werde in seinem Gedächtnis, in seinem Fleisch, plötzlich eine Saite angeschlagen. Nikon. Noch heute mußte er jedesmal, wenn er den Gürtel öffnete, an sie denken - früher durfte nur sie das machen, als gehe es um ein seltsames Ritual. Er schloß die Augen und sah Nikon wieder vor sich, wie sie auf der Bettkante saß und ihm mit einem zärtlichen, genußvollen Lächeln zuerst die Hose und dann den Slip über die Hüften streifte, langsam, sehr langsam. Entspann dich, Lucas Corso. Einmal hatte sie ihn heimlich fotografiert, während er schlief: das Gesicht nach unten, die Stirn von einer vertikalen Falte durchzogen. Dunkle Bartstoppeln überschatteten seine Wangen und ließen sie noch eingefallener erscheinen, und um die Winkel seines halb geöffneten Mundes spielte ein bitterer Zug. Er sah aus wie ein erschöpfter, ängstlicher und gequälter Wolf inmitten der verschneiten Einöde seines weißen Kissens. Ihm hatte es überhaupt nicht gefallen, dieses Foto, als er es zufällig in der Fixiermittelwanne im Bad entdeckte, das Nikon als Labor benützte. Er hatte es zusammen mit dem Negativ in kleine Stücke zerrissen, und sie hatte nie ein Wort darüber verloren.
Corso stellte sich unter die Dusche und ließ das siedendheiße Wasser über sein Gesicht strömen, obwohl es ihm die Augenlider verbrannte. Mit angespannten Muskeln und zusammengepreßten Zähnen hielt er dem Schmerz stand und stemmte sich mit aller Gewalt gegen die Versuchung, wie ein wildes Tier zu heulen und seine Einsamkeit in den Dampf hinauszuschreien, der ihn beinahe erstickte. Über einen Zeitraum von vier Jahren, einem Monat und zwölf Tagen hinweg war Nikon jedesmal, wenn sie sich geliebt hatten, hinter ihm in die Dusche getreten und hatte ihm den Rücken eingeseift, unendlich langsam. Und oft hatte sie sich am Ende an ihn geschmiegt wie ein verirrtes Kind im Regen. Eines Tages gehe ich, als hätten wir uns nie kennengelernt. Dann wirst du dich an meine großen, dunklen Augen erinnern. An meine stummen Vorwürfe. Mein Angststöhnen im Schlaf. Meine Alpträume, die du mir nicht nehmen konntest. An all das wirst du dich erinnern, wenn ich gegangen bin.
Er lehnte den Kopf an die weißen Kacheln, dampftriefend in dieser feuchten Wüste, die ihn so sehr an einen Kreis der Hölle erinnerte. Kein Mensch außer Nikon hatte ihm je den Rücken eingeseift. Weder vorher noch nachher. Niemand. Niemals.
Corso ging ins Zimmer zurück und legte sich mit dem Memorial von St. Helena ins Bett, aber er schaffte es kaum, zwei Zeilen zu lesen:
Und indem er wieder auf den Krieg zu sprechen kam, fuhr der Kaiser fort: »Die Spanier verhielten sich selbst in der Masse wie Ehrenmänner ...«
Er schnitt eine Grimasse angesichts des zweihundert Jahre alten napoleonischen Lobliedes und dachte an einen Satz, den er als Kind einmal gehört hatte von einem seiner Großväter oder von seinem Vater: »Es gibt nur einen Ort, wo wir Spanier eine gute Figur abgeben: auf den Bildern Goyas.« Ehrenmänner, hatte Bonaparte gesagt. Corso dachte an Varo Borja und sein Scheckheft, an Flavio La Ponte und die zu vier Vierteln geplünderten Bibliotheken argloser Witwen. An das Gespenst Nikons, das in der Einöde einer weißen Wüste umherwandelte. An sich selbst: ein Jagdhund, der sich in den Dienst des Meistbietenden stellte. Nein, jetzt haben wir andere Zeiten. Mit einem verzweifelten, bitteren Lächeln auf dem Mund schlief er endlich ein.
Das erste, was er beim Aufwachen sah, war das graue Licht der Morgendämmerung vor dem Fenster. Zu früh. Er drehte sich um, tastete nach der Armbanduhr auf dem Nachttisch, und erst da wurde ihm klar, daß das Telefon läutete. Der Hörer fiel zweimal auf den Boden, bevor er es schaffte, ihn zwischen sein Ohr und das Kissen zu klemmen.
»Ja bitte?«
»Hier ist Ihre Freundin von gestern. Erinnern Sie sich? Irene Adler. Ich bin unten, in der Hotelhalle. Wir müssen miteinander sprechen. Und zwar sofort.«
»Was zum Teufel ...?«:
Aber sie hatte schon wieder eingehängt. Corso setzte sich fluchend die Brille auf, schlug das Leintuch zurück und stieg verschlafen in seine Hose. Dann blickte er von plötzlicher Panik gepackt unters Bett: Die Tasche lag immer noch dort. Unter großer Anstrengung gelang es ihm, die Gegenstände aus seiner Umgebung ins Auge zu fassen. Hier im Zimmer war alles in Ordnung - demnach konnte also nur draußen etwas passiert sein. Er schaffte es gerade, ins Bad zu gehen und sich das Gesicht zu waschen, da klopfte es an der Tür.
»Wissen Sie verdammt noch mal, wie spät es ist?«
Das Mädchen stand in seinem Kapuzenmantel und mit geschultertem Rucksack im Türrahmen. Ihre Augen waren noch grüner, als Corso sie in Erinnerung hatte.
»Es ist halb sieben«, gab sie völlig gelassen zur Antwort. »Und Sie müssen sich so schnell wie möglich anziehen.«
»Sind Sie verrückt geworden?«
»Nein.« Sie war inzwischen ohne Aufforderung eingetreten und sah sich kritisch in seinem Zimmer um. »Wir haben nicht viel Zeit.«
»Wir?«
»Sie und ich. Die Lage hat sich kompliziert.«
Corso schnaubte ärgerlich.
»Hätten Sie sich nicht eine andere Uhrzeit aussuchen können, um mich zu verarschen?«
»Reden Sie keinen Unsinn.« Sie rümpfte die Nase und sah ihn streng an. Trotz ihres jungen Alters und ihres burschikosen Aussehens wirkte sie jetzt sehr reif und selbstbewußt. »Ich meine es ernst.«
Corso griff sich den Rucksack, den sie auf das ungemachte Bett gelegt hatte, drückte ihn ihr in die Hand und wies auf die Tür.
»Scheren Sie sich zum Teufel.«
Das Mädchen rührte sich nicht vom Fleck und beschränkte sich darauf, ihn aufmerksam anzusehen.
»Hören Sie ...« Die hellen Augen waren jetzt ganz nahe, sie strahlten wie zwei Leuchtkristalle aus ihrem sonnenverbrannten Gesicht. »Sie kennen doch Victor Fargas, nicht?«
Corso sah sich über ihre Schulter hinweg im Spiegel des Frisiertischs. Er hatte den Mund aufgesperrt und glotzte wie ein Vollidiot.
»Klar kenne ich den«, kam es ihm endlich über die Lippen.
Er hatte mehrere Sekunden gebraucht, um reagieren zu können, und blinzelte noch immer verdutzt. Sie ließ ihm Zeit, sich zu erholen, und verriet keinerlei Genugtuung über die Wirkung, die sie mit ihren Worten erzielt hatte. Offensichtlich war sie mit ihren Gedanken woanders.
»Er ist tot«, sagte sie.
Ihre Stimme klang normal, genausogut hätte sie sagen können: »Er hat Kaffee zum Frühstück getrunken« oder »ist zum Zahnarzt gegangen«. Corso atmete einmal tief durch und schluckte.
»Ausgeschlossen. Ich war gestern abend bei ihm. Und es ging ihm gut.«
»Jetzt geht es ihm aber nicht gut. Jetzt geht es ihm überhaupt nicht mehr.« »Woher wissen Sie das?«
»Das weiß ich eben.«
Corso schüttelte argwöhnisch den Kopf und machte sich auf die Suche nach einer Zigarette, dabei stieß er auf seinen Flachmann und nahm einen Schluck Gin. Eine Gänsehaut lief ihm über den Rücken, aber das kam vom leeren Magen. Danach trödelte er ein wenig, um Zeit zu gewinnen, und zwang sich, das Mädchen nicht anzusehen, bis er den ersten Zug von seiner Zigarette genommen hatte. Die Rolle gefiel ihm nicht, die er an diesem Morgen zu spielen hatte. Und er brauchte Zeit, um das alles zu verdauen.
»Im Café in Madrid ... im Zug ... gestern abend und heute morgen hier, in Sintra«, zählte er mit dem Zeigefinger an den Fingerspitzen der linken Hand ab und verdrehte die Augen, weil ihn der Rauch der Zigarette reizte, die in seinem Mundwinkel hing. »Vier Zufälle sind ein bißchen viel, finden Sie nicht?«
Sie schüttelte ungeduldig den Kopf.
»Ich habe Sie für schlauer gehalten. Wer spricht denn von Zufällen?«
»Warum folgen Sie mir?«
»Weil Sie mir gefallen.«
Corso war die Lust zum Lachen vergangen, er verzog nur ein wenig den Mund.
»Das ist ja lächerlich.«
Sie betrachtete ihn lange und nachdenklich.
»Zu diesem Schluß könnte man allerdings kommen, wenn man Sie so sieht«, sagte sie schließlich. »Ein toller Mann sind Sie nicht gerade ... ständig mit diesem alten Mantel. Und der Brille.«
»Also, was dann?«
»Fragen Sie sich selbst, aber jetzt ziehen Sie sich endlich an. Wir müssen zu Victor Fargas.«
»Wir?«
»Ja, Sie und ich. Bevor die Polizei kommt.«
Vermodertes Laub raschelte unter ihren Füßen, als sie das schmiedeeiserne Gartentor aufstießen und den von kaputten Statuen und leeren Sockeln gesäumten Weg hinaufgingen. Der Himmel war verhangen, und das bleifarbene Morgenlicht warf keine Schatten, so daß die Sonnenuhr über der Steintreppe ihren Zweck auch jetzt nicht erfüllen konnte. Postuma necat. Die letzte tötet, las Corso erneut. Das Mädchen war seinem Blick gefolgt.
»Wie wahr«, stellte sie in kühlem Ton fest und stemmte sich gegen die Haustür. Sie war verschlossen.
»Versuchen wir es von hinten«, schlug Corso vor.
Sie machten einen Bogen um das Haus und kamen unterwegs an dem gekachelten Brunnen vorbei, wo aus dem Mund des steinernen Puttchens mit den leeren Augenhöhlen und den verstümmelten Händen immer noch Wasser in den Teich tröpfelte. Das junge Mädchen, Irene Adler oder wie immer es auch hieß, ging in seinem blauen Kapuzenmantel, den kleinen Rucksack geschultert, vor Corso her. Ihre biegsamen, langen Beine in den Jeans stapften mit überraschender Sicherheit voran, der Kopf war stur nach vorn gerichtet, als kenne sie den Weg. Sie wirkte ruhig und entschlossen. Corso war ganz anderer Gemütsverfassung, aber er verdrängte seine Zweifel, verschob Fragen auf später und ließ sich von ihr führen. Im Hotel hatte er noch rasch geduscht, um wach zu werden, seine Siebensachen in die Segeltuchtasche geworfen. Im Augenblick dachte er an nichts anderes als an die Neun Pforten, das Exemplar Nummer zwei von Victor Fargas.
Durch die Glastür, die auf den Garten hinausging, gelangten sie mühelos in den Salon, von dessen Decke herab Abraham mit gezücktem Messer die über den Boden verteilten Bücher bewachte. Das Haus schien verlassen.
»Wo ist Fargas?« fragte Corso.
Das Mädchen zuckte mit den Schultern.
»Keine blasse Ahnung.«
»Sie sagten doch, er sei tot.«
»Das ist er auch.« Sie griff nach der Violine, die auf der Kredenz lag, und untersuchte sie interessiert, dann ließ sie ihren Blick durch das Zimmer schweifen, über die kahlen Wände und die Bücher. »Ich weiß nur nicht, wo er ist.«
»Sie halten mich zum Narren.«
Das Mädchen hatte sich die Geige unters Kinn geklemmt und zupfte ein wenig ihre Saiten, aber ihr Klang schien sie nicht zufriedenzustellen, und so legte sie das Instrument gleich wieder in seinen Kasten zurück. Dann sah sie Corso an.
»Ungläubiger Mensch.«
Jetzt spielte wieder ein abwesendes Lächeln um ihre Lippen, und der Bücherjäger gelangte zu der Überzeugung, daß aus ihrer tiefgründigen und zugleich frivolen Selbstsicherheit eine übertriebene Reife sprach. Dieses junge Mädchen folgte ungewöhnlichen Regeln und Reizen; und die Gedankengänge, die sich in ihrem Kopf abspielten, mußten bei weitem komplexer sein, als ihr Alter und ihr Aussehen es vermuten ließen.
Auf einmal vergaß Corso jedoch alles um sich herum: das Mädchen, das seltsame Abenteuer, in das er hineingeraten war, ja selbst die fehlende Leiche Victor Fargas’. Auf dem ausgefransten Gobelin mit der Schlacht von Gaugamela, inmitten der Bücher über Okkultismus und Teufelskünste, klaffte eine Lücke. Die Neun Pforten waren verschwunden.
»Scheiße«, entfuhr es ihm.
Und er wiederholte es mehrmals zähneknirschend, während er sich über die Bücherreihen beugte und in die Hocke ging. Sein fachmännisches Auge, das ein Buch für gewöhnlich auf den ersten Blick ortete, irrte hilflos und verwaist herum. Schwarzes Maroquin, fünf Bünde, außen kein Titel, aber ein
Pentagramm auf dem Deckel. Umbrarum regni et cetera. Kein Zweifel: ein Drittel des Mysteriums - 33,33 Prozent, um es mathematisch genau auszudrücken - hatte sich in Luft aufgelöst. »Der Teufel soll mich holen.«
Zu früh für Pinto, überlegte er sofort; so schnell konnte der Portugiese den Diebstahl unmöglich organisiert haben. Das Mädchen beobachtete ihn, als erwarte sie sich irgendeine aufschlußreiche Reaktion von ihm. Corso richtete sich auf.
»Wer bist du?«
Es war das zweitemal in weniger als zwölf Stunden, daß er dieselbe Frage stellte, und zwar unterschiedlichen Personen. Die Dinge gerieten bedenklich schnell in Unordnung. Was das Mädchen betraf, so hielt sie seinem Blick und seiner Frage stand. Nach ein paar Sekunden wanderten ihre Augen an Corso vorbei ins Leere. Vielleicht auch zu den Büchern, die aneinandergereiht auf dem Boden lagen.
»Das spielt keine Rolle«, antwortete sie schließlich. »Fragen Sie sich lieber, wo das Buch abgeblieben ist.«
»Welches Buch?«
Sie sah ihn wieder an, ohne etwas zu erwidern, während er sich unglaublich dumm vorkam.
»Du weißt zuviel«, sagte er zu ihr. »Sogar mehr als ich.«
Sie zuckte erneut mit den Achseln und betrachtete Corsos Armbanduhr, als wolle sie wissen, wie spät es sei.
»Sie haben nicht viel Zeit.«
»Es interessiert mich einen Dreck, wieviel Zeit ich habe.«
»Wie Sie meinen. Aber in fünf Stunden geht vom Flughafen Portela eine Maschine nach Paris. Die würden wir gerade noch schaffen.«
Herrgott. Corso standen die Haare zu Berge. Dieses Mädchen gebärdete sich wie eine Chefsekretärin, die ihm seinen Terminkalender vorhielt.
Jung und mit diesen aufregenden grünen Augen . Ver-dammte kleine Hexe.
»Warum sollte ich mich davonmachen?«
»Weil die Polizei kommen könnte.«
»Ich habe nichts zu verbergen.«
Das Mädchen setzte ein undefinierbares Lächeln auf - als habe sie einen uralten Witz gehört. Dann packte sie ihren Rucksack und hob die Hand zum Gruß.
»Ich bringe Ihnen Zigaretten ins Gefängnis. Allerdings gibt es Ihre Marke in Portugal nicht zu kaufen.«
Sie trat in den Garten hinaus, ohne auch nur einen letzten Blick durch das Zimmer geschickt zu haben. Corso war drauf und dran, ihr nachzugehen, um sie zurückzuhalten. Da sah er, was im Kamin lag.
Nach dem ersten Schreck näherte er sich langsam. Vielleicht wollte er den Ereignissen noch einmal die Chance geben, von selbst in Ordnung zu kommen. Am Kaminsims lehnend, mußte er jedoch feststellen, daß einige dieser Vorfälle bereits irreversibel waren. Die Bibliographien seltener Bücher zum Beispiel waren über Nacht veraltet, in einer Zeitspanne also, die im Vergleich zu ihren ganze Jahrhunderte umfassenden Inhalten geradezu lächerlich erschien. Von den Neun Pforten gab es nun nicht mehr drei, sondern nur noch zwei Exemplare. Das dritte, oder besser das, was von ihm noch übrig war, schwelte unter der Asche vor sich hin.
Er kniete nieder, wobei er achtgab, nichts zu berühren. Die Buchdeckel hatten, wahrscheinlich aufgrund des Ledereinbandes, weniger Schaden gelitten als die Seiten. Zwei der fünf Bünde auf dem Rücken waren unversehrt, und das Pentagramm nur halb verbrannt. Die Buchseiten dagegen waren bis auf ein paar versengte Ränder mit einzelnen Wortfragmenten völlig verkohlt. Corso näherte seine Hand den Resten: Sie waren immer noch heiß. Er zog eine Zigarette aus der Manteltasche und hängte sie sich in den Mundwinkel, ohne sie anzuzünden. Am Abend zuvor hatte er den Holzstoß im Kamin gesehen. Aus der Art, wie die Brandrückstände verteilt waren - das eingeäscherte Holz unten und die verkohlten Blätter darüber, als habe niemand das Feuer geschürt - schloß er, daß das Buch auf die brennenden Scheite gelegt worden war. Er erinnerte sich, Brennholz für vier bis fünf Stunden gesehen zu haben, und die verbleibende Wärme verriet, daß das Feuer vor etwa ebenso vielen Stunden erloschen war. Zusammengerechnet ergab das acht bis zehn Stunden. Es mußte also jemand zwischen zehn Uhr und Mitternacht das Feuer entfacht und dann das Buch darauf gelegt haben. Jemand, der nicht lange genug geblieben war, um die Glut zu schüren.
Corso fischte aus dem Kamin, was von dem Buch noch zu retten war, und wickelte es in eine alte Zeitung. Dazu brauchte er ziemlich lange, denn die verkohlten Blätter waren spröde und brüchig, so daß er sehr behutsam vorgehen mußte. Dabei fiel ihm auf, daß die Seiten aus dem Buch ausgerissen und getrennt vom Deckel in den Kamin geworfen worden waren, wahrscheinlich, weil sie so besser brannten.
Als er mit seiner Bergungsaktion fertig war, sah er sich ein wenig in dem Zimmer um. Der Vergil und der Agricola lagen unverrückt an ihren Plätzen: das De re metallica ordentlich in seiner Reihe auf dem Teppich, der Vergil auf dem Tisch, auf den der Bibliophile ihn am gestrigen Abend gelegt hatte, als er, einem Priester gleich, die Opferformel ausgesprochen hatte: »Ich glaube, ich verkaufe das hier ...« Zwischen den Seiten des Buches spickte ein Zettel vor, den Corso herauszog und las. Es handelte sich um eine handgeschriebene Quittung:
Victor Coutinho Fargas, Personalausweis-Nr. 3554712, wohnhaft in Sintra, Quinta da Soledade, an der Straße nach Colares, Km 4.
Hiermit bestätige ich den Erhalt von 800 000 Escudos für den Verkauf nachstehend bezeichneten Werkes aus meinem Besitz: »Vergil: Opera nunc recens accuratissime castigata ...«, Venedig, Giunta, 1544. (Esslingol. Sander 7671). In Folio 10, 587, 1 c, 113 Holzschnitte. Vollständig und in gutem Zustand. Der Käufer ...
Er fand weder Namen noch Unterschrift - der Verkauf war also nicht vollzogen worden. Corso steckte die Quittung in das Buch zurück und begab sich in das Zimmer, in dem er am Vorabend gearbeitet hatte, um sicherzugehen, daß er dort keine Spuren hinterließ, Zettel mit seiner Schrift oder ähnliches. Er leerte den Aschenbecher, wickelte seine Zigarettenstummel in ein Stück Zeitungspapier und verstaute sie in der Manteltasche. Dann sah er sich auch sonst noch ein bißchen um. Seine Schritte hallten in dem leeren Haus. Von dem Besitzer keine Spur.
Als er noch einmal an den Büchern vorbeikam, die auf dem Boden gestapelt waren, widerstand er instinktiv der Versuchung. Dabei hätte er leichtes Spiel gehabt: Ein paar seltene Elzevierausgaben, in kleinem Format, einfach zu verstecken, lockten ihn sehr - aber Corso war ein besonnener Mensch. Diese Geschichte war schon verwickelt genug, und er wollte seine Lage nicht noch erschweren. Also verabschiedete er sich mit einem innerlichen Seufzer von der Sammlung Fargas.
Er trat durch die Glastür in den Garten hinaus und stapfte durch das raschelnde Laub, während er Ausschau nach dem Mädchen hielt. Sie saß auf einer kleinen Treppe am Rand des Teiches, lauschte dem Plätschern des Wassers, das aus dem Mund des pausbäckigen Puttchens träufelte, und starrte gedankenverloren auf die grünliche, mit Seerosen und Laub bedeckte Wasseroberfläche. Als sie das Geräusch seiner Schritte vernahm, erwachte sie aus ihrer Versunkenheit und wandte den Kopf.
Corso legte seine Segeltuchtasche auf die unterste Stufe der Treppe und ließ sich neben ihr nieder. Dann zündete er die Zigarette an, die er seit längerem im Mundwinkel hängen hatte, und sog mit gesenktem Kopf ihren Rauch ein, während er das Streichholz ins Wasser warf. Er sah das Mädchen an.
»Und jetzt erzählst du mir alles.«
Sie schüttelte nur leicht den Kopf, ohne die Augen von dem Teich zu wenden. Diese Geste hatte nichts Brüskes oder Unfreundliches, im Gegenteil. Die Bewegung ihres Kopfes, ihr Kinn und ihre Mundwinkel wirkten sanft und nachdenklich, als wäre sie zutiefst gerührt von Corsos Anwesenheit, von dem traurigen Anblick des verwahrlosten Gartens, vom Plätschern des Wassers. In ihrem Kapuzenmantel und mit dem Rucksack, den sie nicht abgenommen hatte, wirkte sie unglaublich jung, beinahe hilflos. Und sehr müde.
»Wir müssen gehen«, sagte sie so leise, daß Corso sie kaum verstand. »Nach Paris.«
»Vorher sagst du mir, was du mit Fargas und mit dieser ganzen Geschichte zu tun hast.«
Sie verneinte schweigend. Corso stieß den Rauch seiner Zigarette aus. Die Luft war so feucht, daß er sich vor seinen Augen zu einer Wolke verdichtete, die sich erst nach und nach verflüchtigte. Er sah das Mädchen an.
»Kennst du Rochefort?«
»Rochefort?«
»Oder wie er heißt. Ein dunkelhaariger Typ mit Narbe. Er hat sich gestern abend hier herumgetrieben.« Noch während er sprach, kam ihm zu Bewußtsein, wie absurd das alles war, und er zweifelte an seinen eigenen Erinnerungen, als er mit ungläubiger Miene fortfuhr: »Ich habe sogar mit ihm gesprochen.«
Das Mädchen schüttelte erneut den Kopf und blickte unverwandt auf den Teich.
»Nein, den kenne ich nicht.« »Dann sag mir, was du hier verloren hast.«
»Ich passe auf Sie auf.«
Corso starrte auf seine Schuhspitzen und rieb sich die klammen Hände. Das Tröpfeln des Wassers begann ihn langsam nervös zu machen. Er zog ein letztes Mal an seiner Zigarette. Die Glut verbrannte ihm beinahe die Lippen, und der Rauch schmeckte bitter.
»Du bist verrückt, Kleine.«
Er schnippte den Zigarettenstummel weg und sah zu, wie er vollends erlosch.
»Völlig übergeschnappt.«
Sie schwieg immer noch. Nach einer Weile zog Corso seinen Flachmann aus der Tasche und nahm einen großen Schluck Gin, ohne ihr etwas anzubieten. Dann betrachtete er sie wieder.
»Wo ist Fargas?«
Sie antwortete nicht gleich. Ihr Blick war immer noch abwesend, gedankenverloren. Endlich deutete sie mit dem Kinn auf den Teich.
»Dort.«
Corso folgte ihrem Blick. Unter dem dünnen Rinnsal, das aus dem Mund des verstümmelten Puttchens mit den ausgehöhlten Augen troff, waren die schemenhaften Umrisse eines menschlichen Körpers zu erkennen, der mit dem Rücken nach oben zwischen den Seerosen und den toten Blättern schwamm.