V. Remember

Er saß, wie ich ihn verlassen hatte,

in seinem Lehnstuhl vor dem Kamin.

A. Christie, Alibi


Ich glaube, es war wenige Tage vor seiner Abreise nach Portugal, als Corso sich zum zweitenmal an mich wandte. Wie er mir später gestand, ahnte er zu diesem Zeitpunkt bereits, daß die Neun Pforten von Varo Borja und das Dumas-Manuskript nur die Spitze eines Eisbergs waren und daß er, um hinter ihr Geheimnis zu kommen, zuerst den anderen Geschichten auf den Grund gehen mußte, die mindestens ebenso fest miteinander verknotet waren wie die Krawatte um Enrique Taillefers Hände. Das war sicher nicht einfach, da es in der Literatur nie klare Grenzen gibt. Dort baut eins auf dem anderen auf, die Dinge sind ineinander verschachtelt wie die hohlen Holzfiguren einer Babuschka, überlagern sich manchmal zu einem komplizierten Spiel zwischen den Zeilen, sogar eine Art Spiegelkabinett kann entstehen, in das sich nur die Dümmsten oder aber Selbstsichersten unter meinen Kollegen mit der Überzeugung hineinwagen, ein Tatbestand sei zweifelsfrei zu klären, eine literarische Patenschaft eindeutig festzulegen. Mancher Standpunkt ist ebenso anfechtbar wie etwa die Behauptung, Robert Ranke-Graves sei von Quo Vadis geprägt und nicht von Sueton oder Apollonios von Rhodos. Ich für meinen Teil weiß nur, daß ich nichts weiß. Und wenn ich eine bestimmte Information benötige, dann schlage ich in den Büchern nach, deren Gedächtnis nie versagt.

»Der Graf von Rochefort ist eine der wichtigsten Nebenfiguren in den Drei Musketieren«, erklärte ich Corso, als er mich zum zweitenmal aufsuchte. »Er ist ein Agent des Kardinals und Freund von Milady. Er ist aber auch der erste Feind, den d’Artagnan sich macht, und ich kann Ihnen sogar genau sagen, wann: am ersten Montag im April des Jahres 1625 in Meung-sur-Loire. Ich spreche natürlich von dem fiktiven Rochefort, obwohl in den Memoiren des echten d’Artagnan von Gatien de Courtilz eine ähnliche Gestalt unter dem Namen Rosnas auftaucht. Aber den Rochefort mit der Narbe, wie wir ihn aus den Drei Musketieren kennen, hat es in Wirklichkeit nie gegeben. Dumas entnahm diese Figur einem anderen Buch, den Mémoires de MLCDR (Monsieur le comte de Rochefort), die ebenfalls Courtilz zugeschrieben werden und wahrscheinlich apokryph sind. Ich sage wahrscheinlich, weil auch schon vermutet wurde, es handle sich um Henri-Louis de Aloigny, den Marquis de Rochefort, der ums Jahr 1625 geboren wurde. Aber das ist doch eine sehr gewagte Hypothese.«

Ich betrachtete die Lichter des Abend Verkehrs, der auf dem Boulevard vorbeifloß, draußen, vor dem Fenster des Cafés, in dem ich mich regelmäßig mit Freunden zu einem literarischen Stammtisch treffe. Wir saßen um einen Tisch voller Zeitungen, Tassen und rauchender Aschenbecher. Außer Corso und mir waren ein paar Schriftsteller gekommen, ein erfolgloser Maler und eine um so erfolgreichere Journalistin, ein Theaterschauspieler und vier oder fünf Studenten, die wie immer mucksmäuschenstill in einer Ecke hockten und mich anstarrten wie einen Halbgott. Corso saß an die Fensterscheibe gelehnt im Mantel da, trank Gin und machte sich ab und zu eine Notiz.

»Eins steht fest«, fuhr ich fort. »Der Leser, der sich durch die siebenundsechzig Kapitel der Drei Musketiere kämpft und einem Duell zwischen Rochefort und d’Artagnan entgegenfiebert, wird bitter enttäuscht. Dumas bereinigt die Angelegenheit in drei Zeilen und läßt das oder besser die Duelle einfach unter den Tisch fallen. Wenn wir Rochefort in Zwanzig fahre nachher wieder begegnen, so stellen wir nur fest, daß er sich inzwischen dreimal mit d’Artagnan geschlagen hat und ebensooft von ihm verwundet wurde - die Narben an seinem Körper sind der Beweis. Nichtsdestotrotz ist ihr gegenseitiger Haß einem heuchlerischen Respekt gewichen, wie er nur zwischen ehemaligen Feinden möglich ist. Ihr abenteuerliches Leben führt dazu, daß sie erneut in unterschiedlichen Lagern kämpfen. Aber jetzt herrscht zwischen ihnen die komplizenhafte Verbundenheit zweier Ehrenmänner, die sich seit zwanzig Jahren kennen ... Rochefort zieht sich die Ungnade Mazarins zu, entflieht aus der Bastille, ist an der Flucht des Herzogs von Beaufort beteiligt, schließt sich der Fronde an und stirbt in den Armen d’Artagnans, der ihn inmitten des Tumults nicht erkennt und mit seinem Degen durchbohrt. Das Schicksal will es so, sagt er zu dem Gascogner. Von dreien Eurer Degenstiche bin ich genesen, aber den vierten werde ich nicht überleben. Dann schließt er für immer die Augen. Ich habe soeben einen alten Freund getötet, erzählt d’Artagnan später seinem Kameraden Porthos. Mehr wird dem alten Spion Richelieus nicht auf den Grabstein geschrieben.«

Meine Erläuterungen setzten eine angeregte Diskussion in Gang. Der Schauspieler, ein alter Galan, der in einer Fernsehserie die Rolle des Grafen von Monte Christo gespielt hatte und an diesem Abend keine Sekunde lang die Journalistin aus den Augen verlor, begann, von dem Maler und den beiden Schriftstellern angefeuert, seine Erinnerungen zum besten zu geben und brillante Schilderungen der Romanfiguren zu liefern. Von Dumas kamen wir auf Zevaco und Paul Feval zu sprechen, und schließlich auf Salgari, dem wir wieder einmal das überragende Können Sabatinis gegenüberstellten. Ich erinnere mich, daß irgend jemand schüchtern den Namen Jules Verne erwähnte, aber sofort von allen ausgebuht wurde. Im Kontext leidenschaftlicher Mantel-und-Degen-Stücke, in dem wir uns bewegten, waren Vernes kalte, herzlose Helden völlig fehl am Platze.

Was die Publizistin betraf - eine jener Modejournalistinnen mit eigener Kolumne in der Sonntagsausgabe einer bekannten Tageszeitung -, so begann ihr literarisches Gedächtnis bei Milan Kundera, weshalb sie die meiste Zeit vorsichtige Zurückhaltung übte, nur dann und wann erleichtert nickte, wenn ein Titel, eine Anekdote oder eine Figur - der Schwarze Schwan, Yafiez, der Degenstich Nevers - sie an einen Film erinnerten, den sie im Fernsehen gesehen hatte. Corso dagegen betrachtete mich mit der ruhigen Ausdauer eines Jägers über den Rand seines Gin-Glases hinweg, als lauere er nur auf eine Gelegenheit, das Gespräch wieder auf sein Thema zu lenken. Und so nützte er denn auch sofort das peinliche Schweigen aus, das sich über unsere Runde legte, nachdem die Journalistin verkündet hatte, sie fände Abenteuerromane zu oberflächlich -meinen Sie nicht auch? Irgendwie seicht. Wie soll ich sagen.

Corso knabberte am Radiergummi seines Bleistifts.

»Senor Balkan, wie ist Ihrer Meinung nach die Figur Roche-forts innerhalb der Geschichte zu interpretieren?«

Die Blicke der Versammelten richteten sich auf mich und besonders die der Studenten, unter denen sich zwei Mädchen befanden. Ich weiß wirklich nicht, warum ich in bestimmten Kreisen als eine Art Bonze der schönen Künste gelte und alles andächtig verstummt, sobald ich den Mund aufmache. Egal, was ich von mir gebe, es wird aufgenommen wie ein Glaubensdogma. Ein Artikel von mir, in der entsprechenden Literaturzeitschrift veröffentlicht, kann einen jungen Schriftsteller in den Himmel heben oder für immer verdammen. Absurd, ich weiß, aber so ist das Leben. Denken Sie nur an den letzten Nobelpreisträger, den Autor von Ich, Onän, Auf der Suche nach mir selbst und des weltberühmten Oui, c ’est moi. Ich war es, der ihn vor fünfzehn Jahren, am achtundzwanzigsten Dezember, mit einem eineinhalb Seiten langen Artikel in Le Monde dem Lesepublikum vorgestellt habe - auch wenn ich mir das nie verzeihen werde.

»Am Anfang ist Rochefort der Feind schlechthin«, begann ich zu erklären. »Er symbolisiert die dunklen Mächte, das Böse ... Er steht im Zentrum des diabolischen Komplotts gegen d’Artagnan und seine Freunde, der mörderischen Ränke, die der Kardinal hinter ihrem Rücken spinnt .«

Ich sah, daß eine der Studentinnen lächelte, geistesabwesend und beinahe etwas spöttisch. Ob sie dazu meine Worte veran-laßten oder irgendwelche geheimen Gedanken, die vielleicht gar nichts mit unserem Stammtisch zu tun hatten, war nicht zu erraten. Jedenfalls überraschte mich dieses Lächeln, denn wie schon gesagt, war ich daran gewöhnt, daß man mir mit demselben Respekt zuhörte, mit dem ein Redakteur des L’Osservatore Romano den Text einer päpstlichen Enzyklika in Empfang nehmen würde, den er exklusiv bekommt. Das bewirkte, daß ich mich etwas eingehender mit ihr beschäftigte, obwohl mir ihre aufregenden grünen Augen und ihr knabenhaft kurz geschnittenes Haar schon zu Beginn aufgefallen waren, als sie sich in ihrem blauen Kapuzenmantel, einen Stoß Bücher unterm Arm, zu uns gesellt hatte. Jetzt saß sie etwas abseits von der Gruppe und hörte zu. Es gibt immer junge Leute um unseren Tisch herum, meistens Literaturstudenten, die ich zu einem Kaffee einlade, aber dieses Mädchen war noch nie erschienen. Ihre Augen konnte man unmöglich vergessen - sie waren klar, beinahe durchsichtig, und kontrastierten mit dem braungebrannten Gesicht, das auf viel Sonne und frische Luft hindeutete. Sie hatte einen schlanken, biegsamen Körper und lange Beine, die ich mir unter ihrer Jeans ebenfalls braun vorstellte. Und noch etwas fiel mir an ihr auf: Sie trug keinerlei Schmuck, weder einen Ring noch eine Uhr, noch Clips an den Ohrläppchen, die im übrigen auch nicht durchstochen waren.

»Rochefort ist aber auch der Mann, den man nie zu fassen bekommt: Kaum hat man ihn gesichtet, so taucht er schon wieder unter«, fuhr ich fort, als es mir endlich gelang, den Faden wieder aufzunehmen. »Sein Gesicht mit der Narbe könnte man als die Maske des Mysteriösen bezeichnen. Er verkörpert das Paradox, die Machtlosigkeit d’Artagnans, der ihn verfolgt, aber nie erwischt, töten möchte, das aber erst nach zwanzig Jahren schafft, überdies unbeabsichtigt, da die beiden mittlerweile keine Feinde mehr sind, sondern Freunde.«

»Dein d’Artagnan scheint das Unglück ja förmlich anzuziehen«, bemerkte einer meiner Bekannten - der ältere der beiden Schriftsteller. Von seinem letzten Roman waren nur fünfhundert Exemplare verkauft worden, dafür verdiente er aber ein Heidengeld mit Krimis, die er unter dem perversen Pseudonym Emilia Forster veröffentlichte. Ich quittierte seine treffende Bemerkung mit einem anerkennenden Blick.

»Das kann man laut sagen. Die große Liebe seines Lebens wird vergiftet. Er selbst muß sich trotz seiner Heldentaten und der unbezahlbaren Dienste, die er der französischen Krone leistet, zwanzig Jahre lang mit dem bescheidenen Rang eines Leutnants der Musketiere zufriedengeben. Und als er in den letzten Zeilen des Grafen von Bragelonne nach vier Bänden und vierhundertfünfundzwanzig Kapiteln endlich zum Marschall befördert wird, tötet ihn kurz darauf eine holländische Kugel.«

»Wie den echten d’Artagnan«, sagte der Schauspieler, der es geschafft hatte, eine Hand auf den Schenkel der Modekolumnistin zu legen.

Ich nahm einen Schluck von meinem Kaffee und nickte. Corso ließ mich keinen Moment lang aus den Augen.

»Es gibt drei d’Artagnans«, erklärte ich. »Vom ersten, Charles de Batz-Castelmore, wissen wir aus einem zeitgenössischen Bericht der Gazette de France, daß er am 23. Juni 1673 während der Belagerung von Maastricht einem Schuß in den Hals erlag; und wie er ist auch die Hälfte seiner Männer gefallen . Aber von seinem tragischen Ende einmal abgesehen, hatte er im Leben mehr Glück als sein fiktiver Namensvetter.«

»Kam der auch aus der Gascogne?«

»Ja, aus dem kleinen Dorf Lupiac. Dort erinnert noch heute eine Gedenktafel an ihn, auf der zu lesen steht: Hier wurde ums fahr 1615 d’Artagnan geboren, der in Wirklichkeit Charles de Batz hieß und im fahr 1673 während der Belagerung von Maastricht gefallen ist.«

»Dann haben wir es da mit einer historischen Unstimmigkeit zu tun«, stellte Corso mit einem Blick in seine Unterlagen fest. »Dumas läßt seinen Roman ums Jahr 1625 beginnen, und da ist sein d’Artagnan achtzehn. Dagegen war der historische d’Artagnan zu diesem Zeitpunkt gerade zehn.« Auch jetzt erinnerte mich Corsos skeptisches, wohlerzogenes Lächeln an ein Kaninchen. »Ein bißchen zu jung, um den Degen zu führen.«

»Ja«, gab ich zu. »Dumas hat das ein wenig hingebogen, um seinen d’Artagnan das Abenteuer mit den Diamantnadeln zur Zeit Richelieus und Ludwigs XIII. erleben zu lassen. Aber Charles de Batz muß auch sehr jung gewesen sein, als er nach Paris kam: Im Jahr 1640 wird er in Dokumenten, die sich auf die Belagerung von Arras beziehen, als Gardist in der Kompanie Des Essarts erwähnt, und zwei Jahre später taucht sein Name im Zusammenhang mit der Kampagne von Roussillon auf ... Allerdings hat er nie zur Zeit Richelieus als Musketier gedient. Dieser Elitetruppe ist er erst nach dem Tod Ludwigs XIII. beigetreten. In Wirklichkeit war er ein Günstling von Kardinal Mazarin«, berichtete ich der Tischrunde. »Zwischen dem historischen und dem fiktiven d’Artagnan gibt es also tatsächlich einen zeitlichen Sprung von zehn, fünfzehn Jahren. Im folgenden hat Dumas dann mehr Rücksicht auf die wahren Begebenheiten genommen. Sie wissen ja, daß er die Handlung der Drei Musketiere, mit denen er so erfolgreich war, später fortgeführt hat, bis sie beinahe vierzig Jahre der französischen Geschichte abdeckte.«

»Was wissen wir über den echten d’Artagnan denn nun wirklich? Ich meine an historisch abgesicherten Fakten.«

»Ziemlich viel. Sein Name wird sowohl in den Briefen Maza-rins erwähnt als auch in der Korrespondenz des Kriegsministeriums. Genau wie der Romanheld tritt er während des FrondeAufstands als Agent des Kardinals auf, mit vertraulichen Aufträgen am Hof Ludwigs XIII. Dem Briefwechsel von Madame de Sevigne ist zu entnehmen, daß er unter anderem mit der Verhaftung und Überführung des Finanzministers Fouquet betraut wurde - eine äußerst heikle Angelegenheit also. Möglich, daß er unseren Maler Velazquez kennengelernt hat, als er Ludwig XIV. auf die Fasaneninsel begleitete, wo dieser seine Verlobte Maria Theresia, die spanische Habsburgerin, abgeholt hat.«

»Demnach war er ein Höfling, wie er im Buche steht. Ganz anders als der Haudegen, den Dumas uns vorführt.«

Ich hob beschwörend die Hand.

»Lassen Sie sich vom äußeren Schein nicht trügen. Charles de Batz oder d’Artagnan war bis zu seinem Tod ein harter Kämpfer. Er hat unter Turenne den Dreißigjährigen Krieg mitgemacht und wurde 1657 zum Leutnant der grauen Musketiere ernannt, also praktisch zum Anführer dieser Abteilung. Zehn fahre später stieg er zum Hauptmann der Musketiere auf, und mit diesem Rang, der dem eines Kavallerie-Generals gleichkommt, kämpfte er in Flandern ...«

Corso, der dabei war, ein Wort oder Datum auf seinem Block zu vermerken, hielt inne und verdrehte die Augen hinter den Brillengläsern.

»Verzeihung«, sagte er, indem er sich über den Marmortisch zu mir herüberbeugte, »in welchem Jahr war das?«

»Die Beförderung zum General? 1667. Warum interessiert Sie das?«

Corso biß sich auf die Unterlippe und entblößte dabei einen Augenblick lang seine Schneidezähne. »Nur so«, antwortete er, und seine Miene war jetzt wieder völlig gelassen. »Genau im selben Jahr wurde in Rom ein gewisser Torchia verbrannt. Seltsamer Zufall ...« Er sah mich ausdruckslos an. »Sagt Ihnen der Name Aristide Torchia etwas?«

Ich dachte nach, aber es fiel mir nichts ein.

»Noch nie gehört«, erwiderte ich. »Hat der etwas mit Dumas zu tun?« Corso zögerte noch einmal kurz.

»Nein«, sagte er schließlich, obwohl er alles andere als überzeugt schien. »Ich glaube nicht. Aber fahren Sie ruhig fort. Sie haben uns gerade erzählt, daß der echte d’Artagnan in Flandern gekämpft hat.«

»Ja, und er starb, wie schon gesagt, in Maastricht an der Spitze seines Heeres. Ein wahrer Heldentod: Die Stadt wurde von Engländern und Franzosen gemeinsam belagert, und als es galt, eine gefährliche Stelle zu passieren, beschloß d’Artagnan voranzugehen, weil er sich den Verbündeten gegenüber höflich zeigen wollte ... Das hat er mit dem Leben bezahlt: Die Kugel einer Muskete traf ihn genau in die Halsschlagader.«

»Dann ist er also nie Marschall geworden.«

»Nein. Es ist ausschließlich das Verdienst Alexandre Dumas’, daß dem fiktiven d’Artagnan zugestanden wurde, was der geizige Louis XIV. seinem Vorgänger aus Fleisch und Blut verwehrt hat. Ich kenne ein paar interessante Bücher zu diesem Thema. Notieren Sie sich die Titel, wenn Sie möchten. Eins stammt von Charles Samaran: D’Artagnan, capitaine des mousquetaires du roi, histoire véridique d’un héros de roman, 1912 veröffentlicht. Das andere heißt Le vrai d’Artagnan und wurde vom Duc de Montesquiou-Fezensac geschrieben, einem direkten Nachfahren des echten d’Artagnan. Wenn ich mich nicht täusche, ist es 1963 erschienen.«

Keine dieser Einzelheiten hatte direkt etwas mit dem DumasManuskript zu tun, aber Corso notierte sie mit äußerster Gewissenhaftigkeit. Ab und zu sah er vom Blatt auf und warf mir durch seine verbogene Brille hindurch fragende Blicke zu. Dann wieder beugte er den Kopf über seinen Block und schien so tief in Gedanken zu versinken, daß er überhaupt nicht mehr zuhörte. Ich wußte damals so gut wie alles über den Vin d’Anjou, noch viel mehr, als der Bücherjäger zu diesem Zeitpunkt ahnte, aber ich hätte mir niemals vorstellen können, welch weitreichende Auswirkungen die Sache mit den Neun Pforten im folgenden auf die Geschichte haben würde. Corso, dessen Gedanken normalerweise einer strengen Logik folgten, begann dagegen schon jetzt unheimliche Bezüge herzustellen und die Realität mit der Fiktion zu verknüpfen. Was ich Ihnen hier berichte, mag alles etwas konfus erscheinen, aber vergessen wir nicht, daß die ganze Situation aus Corsos Sicht damals tatsächlich verwirrend war. Jetzt, wo ich diese Zeilen niederschreibe, gehören die dramatischen Begebenheiten, zu denen es später kommen sollte, natürlich der Vergangenheit an. Da ich mir aber vorgenommen habe, die Geschichte aus der Sicht Corsos zu erzählen, bin ich gezwungen, nach Art einer unendlichen Treppe - man denke an die Bilder M. C. Eschers -immer wieder an den Ausgangspunkt zurückzukehren und mich innerhalb der engen Grenzen zu bewegen, die Corsos Vorstellungsvermögen gesetzt waren. Wissen und schweigen, lautet die Regel. Und ohne Regeln kein Spiel, selbst wenn man ein bißchen schummelt.

»Gut«, sagte der Bücherjäger, nachdem er sich die von mir genannten Titel vermerkt hatte. »Das war also der erste d’Artagnan, der echte. Und der dritte ist der, den Dumas erfunden hat. Was vom einen zum andern überleitet, dürfte dann wohl das Buch von Gatien de Courtilz sein, das Sie mir neulich gezeigt haben: die Mémoires de M. d’Artagnan.«

»Genau. Dieser d’Artagnan ist sozusagen das Verbindungsglied, der am wenigsten bekannte von den dreien. Er existierte sowohl in der Wirklichkeit als auch in der Literatur, und ihn hat Dumas als Vorbild für seinen Romanhelden benützt. Gatien de Courtilz de Sandras war ein Zeitgenosse d’Artagnans, als Schriftsteller erkannte er das Romanhafte an dieser Gestalt und machte sich ans Werk. Einhundertfünfzig Jahre später stieß Dumas während eines Aufenthalts in Marseille auf sein Buch. Der Herr des Hauses, in dem er beherbergt wurde, hatte einen Bruder, der Vorsteher der Stadtbücherei war. Dieser hat ihm das Buch gezeigt, das im Jahr 1700 in Köln erschienen war. Dumas begriff sofort den Nutzen, den er daraus ziehen konnte, lieh es sich aus und hat es nie wieder zurückgegeben.«

»Was wissen wir über Dumas’ Vorgänger, über Gatien de Courtilz?«

»Ziemlich viel. Nicht zuletzt, weil er eine umfangreiche Akte bei der Polizei hatte. Er wurde 1644 oder 1647 geboren und war Musketier, Kornett bei der Royal-Étranger, eine Art Fremdenlegion der Zeit, und Rittmeister im Regiment von Beaupré-Choiseul. Er hat am selben Krieg teilgenommen wie d’Artagnan, nur daß dieser gefallen ist, während Courtilz nach Kriegsende in Holland blieb und den Degen gegen die Feder eintauschte, um Biographien zu verfassen, historische Essays, mehr oder weniger apokryphe Memoiren und anstößige Klatschgeschichten über den französischen Hof. Damit hat er sich dann allerdings in die Brennesseln gesetzt. Seine Memoiren des Herrn d’Artagnan waren ein richtiger Renner: fünf Auflagen in zehn fahren, aber Ludwig XIV. mißfiel die Respektlosigkeit, mit der er gewisse Details aus der Intimsphäre der königlichen Familie und ihrer Anhänger an die Öffentlichkeit zerrte. Kaum nach Frankreich zurückgekehrt, wurde Courtilz festgenommen und auf Kosten des Staates bis kurz vor seinem Tod in der Bastille einlogiert.«

Ich machte eine Pause, die der Schauspieler auf denkbar ungelegene Weise ausnützte, um ein Zitat aus Marquinas In Flandern ging die Sonne unter loszuwerden. Nichts als ein weiterer, schamloser Versuch, sich vor der Journalistin hervorzutun, deren Schenkel seine Hand bereits völlig in Besitz genommen hatte. Die anderen, besonders der Schriftsteller, der unter dem Pseudonym Emilia Forster schrieb, warfen ihm neidische oder übelwollende Blicke zu.

Nach kurzem Schweigen beschloß Corso, mich in die Kommandogewalt wiedereinzusetzen.

»Was hat Dumas’ d’Artagnan Courtilz zu verdanken?«

»Er hat ihm viel zu verdanken. Obwohl in Zwanzig Jahre nachher und im Grafen von Bragelonne auch noch andere Quellen herangezogen werden, sind die Drei Musketiere im Kern bereits völlig bei Courtilz angelegt. Dumas bringt sein Genie zur Anwendung und verleiht der Geschichte Tiefe, aber die meisten Episoden finden sich, wenigstens ansatzweise, schon bei Courtilz: der Segen, mit dem d’Artagnans Vater seinen Sohn entläßt, der Brief an Herrn de Treville, das Duell mit den Musketieren, die in der Textvorlage Brüder sind. Selbst Milady taucht schon auf. Und die beiden d’Artagnans gleichen einander aufs Haar. Der von Courtilz ist vielleicht etwas zynischer, etwas egoistischer und verschlossener, aber sonst gibt es keinen Unterschied.«

Corso beugte sich ein wenig nach vorn.

»Vorher sagten Sie, Rochefort symbolisiere das Böse, die üblen Machenschaften gegen d’Artagnan und seine Freunde. Aber Rochefort ist doch nicht mehr als ein Sbirre.«

»Ganz richtig. Ein Sbirre im Dienste seiner Eminenz, Armand Jean du Plessis, Kardinal Richelieu .«

»Der Bösewicht«, warf der Schauspieler ein, der zu allem seinen Senf dazugeben mußte. Die Studenten, die von unserem Ausflug ins Reich des Feuilletonromans ganz überwältigt waren, lauschten uns an diesem Abend mit offenem Mund oder schrieben eifrig mit. Nur das Mädchen mit den grünen Augen zeigte sich wenig beeindruckt und blieb immer ein wenig am Rande, als sei sie nur zufällig hier vorbeigekommen.

»Für Dumas«, fuhr ich fort, »gibt Richelieu - wenigstens im ersten Teil des Musketierzyklus - eine Figur ab, die in keinem romantischen Abenteuer- oder Schauerroman fehlen darf: die Figur des mächtigen Feindes, der im Trüben fischt, die Inkarnation des Bösen. Für die Geschichte Frankreichs war Richelieu ein bedeutender Mann, aber in den Drei Musketieren wird er erst zwanzig Jahre später rehabilitiert. Auf diese Weise versöhnt sich der schlaue Dumas mit der Realität, ohne den Interessen seines Romans zuwiderzuhandeln.

Er ersetzte Richelieu durch einen anderen Bösewicht: Maza-rin. Diese Retusche, die er ausgerechnet d’Artagnan und seinen Kameraden in den Mund legt, dort, wo diese postum die Größe ihres ehemaligen Feindes preisen, ist natürlich unmoralisch -für Dumas stellte sie einen bequemen Akt der Reue dar. Aber das soll uns nicht darüber hinwegtäuschen, daß Richelieu im ersten Band der Trilogie perfekt die Rolle des Unholds verkörpert: Er plant die Ermordung Buckinghams, will Anna von Österreich ins Verderben stürzen und läßt der ruchlosen Milady freie Hand. Seine Eminenz, der Kardinal, ist für d’Artagnan das, was Professor Moriarty für Sherlock Holmes ist. Ein unheimlicher, diabolischer Widersacher .«

Corso unterbrach mich mit einer Geste der Hand, und das wunderte mich, denn ich begann sein Verhalten langsam zu durchschauen und hätte nicht gedacht, daß er seinem Gesprächspartner ins Wort fallen würde, bevor dieser nicht sein ganzes Wissen preisgegeben hatte.

»Sie haben zweimal das Wort diabolisch benützt«, sagte er mit einem Blick in seine Aufzeichnungen. »Und beide Male mit Bezug auf Richelieu ... War der Kardinal denn ein Anhänger des Okkultismus?«

Diese Worte schufen eine eigentümliche Situation. Das junge Mädchen hatte sich Corso zugewandt, um ihn neugierig zu betrachten. Er sah mich an und ich das Mädchen. Aber der Bücherjäger achtete nicht auf diese seltsame Dreieckskonstellation und wartete nur auf meine Antwort.

»Richelieu hatte viele Interessen«, erwiderte ich. »Während er Frankreich in eine Großmacht verwandelte, fand er nebenher noch Zeit, Gemälde, Gobelins, Porzellan und Plastiken zu sammeln. Er war auch ein bedeutender Bibliophiler, der seine Bücher in rotes Maroquin und in Kalbsleder binden ließ.«

»Und die Deckel trugen sein Wappen in Silberprägung.« Corso winkte ungeduldig ab. Das waren nebensächliche Details, die er längst wußte. »Es gibt einen berühmten Katalog von Richelieus Büchern.«

»Dieser Katalog ist aber unvollständig, weil viele Werke verlorengegangen sind. Heute werden Teile der Kollektion in der französischen Nationalbibliothek, in der Bibliothèque Mazarin und in der Sorbonne aufbewahrt; andere Bücher befinden sich in privaten Sammlungen. Richelieu besaß hebräische und syrische Handschriften, herausragende Werke der Mathematik, Medizin, Theologie, Geschichte und Jurisprudenz ... Und Sie haben mit Ihrer Frage den Nagel auf den Kopf getroffen: Was die Wissenschaftler am meisten überraschte, sind die zahlreichen alten Schriften über den Okkultismus, angefangen von der Kabbala bis hin zu Büchern über die Schwarze Magie.«

Corso schluckte, ohne mich aus den Augen zu lassen. Er wirkte gespannt wie die Saite eines Bogens, die im nächsten Moment mit einem domp zurückschnellt.

»Können Sie mir Titel nennen?«

Ich schüttelte den Kopf. Seine Hartnäckigkeit begann mich neugierig zu machen. Das Mädchen folgte unserem Gespräch immer noch aufmerksam, aber es war offensichtlich, daß sein Interesse jetzt nicht mir galt.

»Tut mir leid«, sagte ich dann.

»So weit reichen meine Kenntnisse über Richelieu leider nicht.«

»Und Dumas? War er auch ein Anhänger der Geheimwissenschaften?«

Diesmal war meine Antwort kategorisch.

»Nein. Dumas war ein Lebemann, der das Licht des Tages nicht scheute - zur Freude und Empörung seiner Bekannten, denen seine Skandale willkommenen Anlaß zum Klatsch boten. Ein bißchen abergläubisch, das ja: Er trug ein Amulett an seiner Uhrkette, glaubte an den bösen Blick und ließ sich von Madame Desbarolles weissagen. Aber ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, daß er irgendwo im stillen Kämmerlein Schwarze Magie betrieb. Wie er in Louis XIV et son siècle selbst berichtet, war er nicht einmal Freimaurer. Er hatte Berge von Schulden und wurde zu sehr von seinen Verlegern und Gläubigern bedrängt, als daß er Zeit verschwenden konnte. Möglich, daß er sich im Verlauf seiner Recherchen unter anderem auch mit esoterischen Themen beschäftigt hat -aber immer nur am Rande. Ich bin zu dem Schluß gekommen, daß er alle Freimaurer-Praktiken, die er in Joseph Balsamo und in Die Mohicaner von Paris beschreibt, direkt der Pittoresken Geschichte der Freimaurerei von Clavel entnommen hat.«

»Und Adah Menken?«

Ich betrachtete Corso mit aufrichtigem Respekt. Nur ein Fachmann konnte diese Art von Frage stellen.

»Das war etwas anderes. Adah-Isaacs Menken, seine letzte Geliebte, war eine amerikanische Schauspielerin. Während der Weltausstellung von 1867 besuchte Dumas eine Theateraufführung, und dort fiel ihm ein hübsches Mädchen auf, das auf der Bühne von einem Pferd im Galopp über den Haufen gerannt wird. Vor dem Ausgang des Theaters trat die junge Frau auf den Romancier zu, umarmte ihn und teilte ihm freiheraus mit, sie habe alle seine Bücher gelesen und sei bereit, auf der Stelle mit ihm ins Bett zu gehen. Der alte Dumas, dem schon viel weniger reichte, um sich blindlings in eine Frau zu verlieben, nahm ihre Hommage gerne an. Die Menken erzählte herum, sie sei Gattin eines Millionärs, Mätresse eines Königs und sogar Generalin irgendeiner Republik gewesen. In Wirklichkeit war sie eine amerikanische Jüdin portugiesischer Abstammung und die Geliebte eines zwielichtigen Typen, eine Mischung aus Zuhälter und Boxer. Ihr Verhältnis mit Dumas rief einen großen Skandal hervor, da sie in der Rue Malesherbes 107, Dumas’ letzter Pariser Wohnung, ein- und ausging und es liebte, sich leicht geschürzt mit ihm fotografieren zu lassen ... Sie starb mit einunddreißig Jahren nach einem Sturz vom Pferd an Bauchfellentzündung.«

»War sie Anhängerin der Schwarzen Magie?«

»Das wird berichtet. Sie schwärmte für ominöse Zeremonien und liebte es, sich mit einer Tunika zu bekleiden, Weihrauch abzubrennen und dem Höllenfürsten Opfergaben darzubringen. Manchmal behauptete sie, vom Teufel besessen zu sein, und führte sich dann in einer Weise auf, die wir selbst heute als obszön bezeichnen würden. Ich bin mir sicher, daß der alte Dumas kein Wort von alledem glaubte, aber er muß sich bei dieser Komödie köstlich amüsiert haben. Ich könnte mir vorstellen, daß die Menken im Bett sehr feurig war, wenn der Teufel sie besaß.«

Die Tischrunde quittierte meinen Witz mit schallendem Gelächter, selbst ich erlaubte mir ein zurückhaltendes Lächeln. Nur Corso und das Mädchen blieben ernst. Sie hatte ihre hellen Augen auf ihn geheftet und schien nachzudenken, während der Bücherjäger langsam mit dem Kopf nickte, obwohl er jetzt einen geistesabwesenden, fast entrückten Eindruck machte. Er sah durch das Fenster auf den nächtlichen Boulevard hinaus und schien im lautlosen Strom der Autoscheinwerfer, die sich in seinen Brillengläsern spiegelten, nach dem Zauberwort zu suchen, das all die Geschichten, die wie dürre, tote Blätter auf dem finsteren Fluß der Zeit dahintrieben, zu einer einzigen verband.

An dieser Stelle muß ich als beinahe allwissender Erzähler wieder in den Hintergrund treten und erneut den Blickwinkel Lucas Corsos einnehmen, denn Sie, lieber Leser, sollen die dramatischen Ereignisse, die im folgenden über den Bücherjäger hereinbrachen, genau so nachvollziehen können, wie er selbst sie erlebt und mir später geschildert hat.

Als Corso nach unserem literarischen Stammtisch zu Hause ankam, stellte er fest, daß der Pförtner bereits den Flur gefegt hatte und jeden Augenblick seine Portiersloge schließen würde. Der Mann kam soeben mit mehreren Müllsäcken aus dem Keller hoch, um diese auf die Straße hinauszustellen.

»Heute abend ist jemand gekommen, um Ihren Fernseher zu reparieren.«

Corso hatte genug gelesen und genügend Filme gesehen, um zu wissen, was das bedeutete, und so mußte er denn laut hinauslachen, während der Pförtner ihn verdattert ansah.

»Ich habe schon lange keinen Fernseher mehr .«

Der Portier gab konfus einen Schwall von Entschuldigungen von sich, aber Corso hörte ihm kaum zu. Wie herrlich voraussehbar auf einmal alles wurde! Da es sich um Bücher drehte, mußte er das Problem wie ein kritischer Leser angehen - mit Verstand, und nicht wie ein Konsument billiger Schundliteratur, zu dem ihn hier offensichtlich irgend jemand machen wollte. Im Grunde blieb ihm auch gar keine andere Wahl: Er war von Natur aus skeptisch, hatte einen notorisch niedrigen Blutdruck, und schon allein deshalb war es so gut wie unmöglich, daß ihm der Schweiß auf die Stirn trat oder der Ausruf: »Schicksal!« über seine Lippen kam.

»Ja, dann habe ich womöglich einen Dieb in Ihre Wohnung gelassen, Senor Corso?«

»Aber nein. Der Fernsehtechniker war dunkelhaarig, stimmt’s? Mit Schnurrbart und einer Narbe im Gesicht.«

»Genau so sah er aus.«

»Seien Sie beruhigt. Das ist ein Freund von mir, der einem gerne Streiche spielt.«

Der Pförtner atmete erleichtert auf:

»Jetzt ist mir aber ein Stein vom Herzen gefallen.«

Was die Neun Pforten und das Dumas-Manuskript betraf, konnte Corso unbesorgt sein. Wenn er sie nicht in seiner Segeltuchtasche mit sich herumtrug, dann hinterlegte er sie in Makarovas Bar - einen sichereren Ort gab es für ihn nicht. Er stieg also ruhig die Treppe hinauf und versuchte dabei, sich die kommende Szene auszumalen. Da er sich an diesem Punkt bereits in einen sogenannten »anspruchsvollen Leser« verwandelt hatte, wäre er von einer allzu platten Klischeeszene enttäuscht gewesen. Aber er beruhigte sich, sobald er die Wohnungstür aufgeschlossen hatte: kein über den Fußboden zerstreutes Papier, keine ausgeräumten Schubladen, nicht einmal aufgeschlitzte Sessel. Seine Wohnung war noch genau so, wie er sie am frühen Nachmittag verlassen hatte.

Er ging zu seinem Schreibtisch. Die Diskettenboxen waren an ihrem Platz, Papiere und Dokumente in ihren Ablagen, nichts war verrückt. Der Mann mit der Narbe, Rochefort oder wer zum Teufel er auch sein mochte, hatte saubere Arbeit geleistet. Aber alles hatte seine Grenzen. Als Corso den Computer anschaltete, erschien ein triumphierendes Lächeln auf seinem Gesicht.

DAGMAR PC 555 K (S1) ELECTRONIC PLC

19:35 THU / 3/ 21

A>ECHO OFF

A>

An diesem Tag um 19.35 Uhr zum letzten Mal benützt, versicherte der Bildschirm. Aber Corso hatte den Computer seit vierundzwanzig Stunden nicht angerührt. Um 19.35 Uhr war er mit uns im Café gewesen, während der Mann mit der Narbe den Portier anlog.

Neben dem Telefon entdeckte er noch etwas, das er im ersten Augenblick übersehen hatte - und das war weder Zufall noch eine Unvorsichtigkeit des mysteriösen Besuchers. In einem Aschenbecher fand er neben seinen eigenen Kippen den noch feuchten Stummel einer Zigarre, genauer einer Havanna, mit unversehrter Bauchbinde. Er nahm den Stummel zwischen Daumen und Zeigefinger und betrachtete ihn, verständnislos zunächst, bis er langsam hinter seine Bedeutung kam und in hämischem Grinsen wie ein Wolf die Zähne fletschte.

Marke Monte Christo. Wie hätte es auch anders sein können.

Flavio La Ponte hatte auch Besuch bekommen. In seinem Fall war es der Klempner gewesen.

»Ich finde das überhaupt nicht witzig«, sagte er zur Begrüßung. Er wartete, daß Makarova ihnen zwei Gläser Gin brachte, und schüttete dann den Inhalt einer Cellophantüte auf den Tresen. Der Zigarrenstummel war identisch, und die Bauchbinde war ebenfalls unversehrt.

»Edmund Dantes schlägt wieder zu«, erwiderte Corso.

Aber La Ponte konnte der Sache keinen Reiz abgewinnen, so romanhaft sie auch anmuten mochte.

»Und raucht hundsteure Havannas, der verdammte Kerl.« Seine Hand zitterte so, daß ein wenig Gin an seinem Mund vorbei in den lockigen, blonden Bart floß. »Das habe ich auf meinem Nachttisch gefunden.«

Corso machte sich über ihn lustig.

»Du solltest die Dinge etwas gelassener angehen, Flavio. Wie es sich für einen harten Typen gehört.« Er legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Denk doch an die Harpuniere von Nantukket.«

Der Buchhändler schüttelte finster seine Hand ab.

»Ich war ein harter Typ. Und zwar bis zu meinem achten Geburtstag - da habe ich dann begriffen, daß das Überleben gewisse Vorteile mit sich bringt, und bin etwas weicher geworden.«

Corso zitierte zwischen einem Schluck und dem nächsten Shakespeare. Der Feigling stirbt tausend Tode, der Tapfere ... und so weiter. Aber La Ponte gehörte nicht zu denen, die sich mit Zitaten trösten ließen. Jedenfalls nicht mit dieser Art von Zitaten.

»Ich habe keine Angst«, sagte er nachdenklich und mit gesenktem Kopf. »Aber ich kann es nicht leiden, etwas zu verlieren ... Geld, meine unglaubliche sexuelle Potenz, das Leben.«

Corso mußte ihm recht geben - mit diesen Dingen war nicht zu scherzen. Außerdem gab es noch andere, verdächtige Indizien, wie sein Freund ihm mitteilte: seltsame Kunden, die um jeden Preis das Dumas-Manuskript haben wollten, mysteriöse Anrufe in der Nacht .

Corso horchte auf.

»Rufen sie um Mitternacht an?«

»Ja, aber sie sagen nichts, und nach einer Weile hängen sie ein.«

Während La Ponte von seinen unerfreulichen Erlebnissen berichtete, drückte der Bücherjäger seine Segeltuchtasche an sich, die ihm vor ein paar Minuten von Makarova zurückgegeben worden war. Sie hatte den ganzen Tag zwischen Getränkekisten und Bierfässern sicher unter dem Schanktisch gelegen.

»Ich weiß nicht, was ich machen soll«, schloß La Ponte in tragischem Ton.

»Verkauf das Manuskript, und damit ist die Sache erledigt, bevor uns das Ganze noch über den Kopf wächst.«

Der Buchhändler schüttelte den Kopf und bestellte noch einen Gin. Einen Doppelten.

»Ich habe Enrique Taillefer versprochen, daß ich das Manuskript öffentlich versteigern würde.«

»Taillefer ist tot. Und du hast in deinem Leben noch nie ein Versprechen gehalten.«

La Ponte, der daran nicht erst erinnert zu werden brauchte, nickte traurig. Dann heiterte seine Miene sich jedoch ein wenig auf, wenigstens nahmen seine Lippen einen einfältigen Ausdruck an, der sich mit viel gutem Willen als Lächeln interpretieren ließ.

»Apropos . Rate mal, wer auch angerufen hat?«

»Milady?«

»Beinahe: Liana Taillefer.«

Corso warf seinem Freund einen unendlich müden Blick zu. Dann griff er nach seinem Gin-Glas, um es, ohne Luft zu holen, in einem einzigen, langen Zug zu leeren.

»Weißt du was, Flavio?« sagte er endlich und wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab. »Manchmal habe ich den Eindruck, als hätte ich diesen Roman schon mal gelesen.«

La Ponte runzelte die Stirn.

»Sie will den Vin d’Anjou zurückhaben«, erklärte er seinem Freund. »So, wie er ist, ohne Gutachten oder sonst was .« Er trank einen Schluck, bevor er Corso unsicher anlächelte. »Komisch, nicht? Dieses plötzliche Interesse.«

»Was hast du ihr gesagt?«

Der Buchhändler zog die Augenbrauen hoch.

»Daß die Sache leider nicht von mir abhängt. Daß du das Manuskript hast. Und daß ich dir einen Vertrag unterschrieben habe.«

»Das ist gelogen. Wir haben gar nichts unterschrieben.«

»Klar ist das gelogen. Aber so mußt du die Kastanien aus dem Feuer holen, wenn’s brenzlig wird«, grinste La Ponte. »Angebote kann ich ja trotzdem entgegennehmen: An einem der nächsten Abende gehe ich mit der Witwe zum Essen, um die Angelegenheit noch einmal zu besprechen. Wie findest du das? Flavio, der mutige Harpunier.«

»Harpunier? Ein dreckiger Bastard und Verräter bist du!«

»Ja. Dazu hat mich England nun einmal gemacht, wie dieser Scheinheilige von Graham Greene sagen würde. In der Schule wurde ich von allen nur >die Petze< genannt. Habe ich dir eigentlich nie erzählt, wie ich durch Mathe gekommen bin?« Er zog erneut die Augenbrauen hoch, als schwelge er in wehmütigen Erinnerungen. »Ich bin nun mal zum Verräter geboren.«

»Dann paß mit Liana Taillefer aber auf.«

»Warum?« La Ponte betrachtete sich im Spiegel der Bar und schnitt eine anzügliche Grimasse. »Die Frau gefällt mir schon, solange ich sie kenne. Sie hat unglaubliche Klasse.«

»Ja«, gab Corso zu. »Mittelklasse.«

»Also, hör mal ... Was hast du gegen sie? Ich finde sie jedenfalls toll.«

»Bis sie die Katze aus dem Sack läßt.«

»Ich liebe Katzen. Vor allem wenn ihre Besitzerinnen blond und hübsch sind.«

Corso klopfte ihm mit einem Finger auf den Knoten seiner Krawatte.

»Paß mal auf, du Idiot ... In Schauerromanen stirbt immer der Freund. Begreifst du den Syllogismus? Das hier ist ein Schauerroman, und du bist mein Freund« - er unterstrich die erdrückende Logik seiner Worte mit einem vielsagenden Augenzwinkern. »Es spricht also alles für dich.«

Aber La Ponte war so vom Gedanken an die Witwe beflügelt, daß er sich nicht einschüchtern ließ.

»Komm schon. Ich habe in meinem Leben noch nie den ersten Preis gewonnen. Außerdem habe ich dir ja schon gesagt, daß ich einen Streifschuß für dich in Kauf nehmen würde.«

»Hör auf, das meine ich im Ernst. Taillefer ist tot.«

»Selbstmord.«

»Angeblich. Aber hier können noch mehr Leute abkratzen.«

»Dann kratz doch du ab. Spielverderber, Schweinehund.«

Den Rest des Abends verbrachten die beiden mit Variationen zum selben Thema. Fünf oder sechs Gläser später verabschiedeten sie sich und verblieben, daß Corso aus Portugal anrufen würde. La Ponte wankte, ohne zu bezahlen, davon, aber vorher schenkte er Corso noch den Stummel von Rocheforts Zigarre. »Damit du ein Pärchen hast«, sagte er.

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