VII. Nummer eins und Nummer zwei

Der Teufel kann sehr schlau sein, und mitunter ist er gar nicht so häßlich, wie man gemeinhin von ihm behauptet.

J. Cazotte, Der verliebte Teufel


Es fehlten wenige Minuten bis zur Abfahrt des Expreßzuges nach Portugal, als er das Mädchen sah. Corso stand auf dem Trittbrett seines Schlafwagens - Companhia Internacional de Carruagems-Camas -, als sie in einer Gruppe von Reisenden, die zu den Erste-Klasse-Waggons unterwegs waren, an ihm vorüberging. Sie hatte einen kleinen Rucksack auf der Schulter und trug denselben blauen Kapuzenmantel, aber er erkannte sie nicht sofort. Nur ihre grünen Augen, die hell, beinahe durchsichtig waren, und ihr extrem kurz geschnittenes Haar kamen ihm bekannt vor. Er sah ihr nach, bis sie zwei Wagen weiter vorn verschwand. Die Lokomotive pfiff, und während er einstieg und der Schaffner hinter ihm die Tür schloß, rekonstruierte er die Szene: Boris Balkans literarischer Stammtisch im Café und sie, die am Ende des Tisches saß.

Er ging den Korridor entlang auf sein Abteil zu. Die Lichter des Bahnhofs flogen im Takt der ratternden Räder immer schneller vor den Fenstern vorbei. In dem engen Abteil konnte man sich kaum bewegen, so daß er nur Mantel und Jacke auf einen Bügel hängte und sich dann mit seiner Segeltuchtasche aufs Bett setzte. Die Tasche enthielt neben den Neun Pforten und dem Dumas-Manuskript das Memorial von St. Helena des Comte de Les Cases:

Freitag, 14. Juli 1816. Der Kaiser hat die ganze Nacht gelitten ...

Corso zündete sich eine Zigarette an. Wenn der Zug beleuchtete Stellen passierte und sein Gesicht wie von einem Blitz erhellt wurde, warf er manchmal einen Blick aus dem Abteilfenster, bevor er sich wieder in die langsame Agonie Napoleons und die ausführlich geschilderten Quälereien seines englischen Kerkermeisters, Sir Hudson Löwe, versenkte. Er las mit gerunzelter Stirn und rückte sich immer wieder die Brille auf der Nasenwurzel zurecht. Dann und wann hielt er einen Moment inne, um sein Spiegelbild im Fenster zu betrachten und eine spöttische Grimasse zu schneiden, die ihm selber galt. Bei all dem, was er bereits erfahren und erlebt hatte, war er immer noch in der Lage, Empörung über das schändliche Ende zu empfinden, das die Sieger dem gestürzten Titanen bereitet hatten - auf einen Felsbrocken inmitten des Atlantiks verbannt. Wie seltsam es war, das alles - die historischen Begebenheiten und seine eigenen Gefühle ihnen gegenüber - aus der heutigen Sicht eines Erwachsenen zu revidieren. Es schien ihm, als sei eine Ewigkeit vergangen, seit er, der andere Lucas Corso, das Kind, das die Mythen der Familie mit kriegerischem Enthusiasmus übernahm, der frühreife Bonapartist, ehrfurchtsvoll den Säbel des Veteranen von Waterloo bewundert und gierig Bücher verschlungen hatte, die mit Kupferstichen der glorreichen Feldzüge illustriert waren . Feldzüge, deren Namen wie Trommelwirbel klangen: Wagram, Jena, Smolensk, Marengo. Die geweiteten Augen, die ihn aus der Ferne anblickten, gehörten einem schemenhaften Wesen, das manchmal aus seinem Gedächtnis aufstieg, zwischen den Seiten eines Buches, bei einem Geruch oder Klang, auf einer dunklen Fensterscheibe, wenn draußen in der Nacht der Regen prasselte.

Draußen ging ein Angestellter des Speisewagens vorbei und läutete mit einem Glöckchen. Corso klappte das Buch zu, zog seine Jacke an, hängte sich die Segeltuchtasche über die Schulter und verließ das Abteil. Am Ende des Korridors, nach der Pendeltür, empfing ihn der Faltenbalg zwischen seinem Waggon und dem nächsten mit einem kalten Luftzug. Er hörte die Puffer unter sich ächzen, während er ihn rasch durchquerte und in den Wagen mit den Erste-Klasse-Sitzabteilen hinüberging. Dort mußte er im Gang kurz stehenbleiben, um zwei Reisende vorbeizulassen, und dabei fiel sein Blick in das nächstgelegene Zugabteil, das nur zur Hälfte besetzt war. Das Mädchen saß neben der Tür, in Jeans und Pullover, die nackten Füße auf den gegenüberliegenden Sitz gestellt. Als Corso vorüberging, hob sie die Augen von dem Buch, das sie gerade las, und ihre Blicke kreuzten sich. Da ihre Augen jedoch durch nichts verrieten, daß sie ihn erkannte, ließ er die Hand, die er instinktiv zum Gruß gehoben hatte, schnell wieder sinken. Das junge Mädchen mußte seine Geste bemerkt haben, denn sie sah ihn neugierig an, aber der Bücherjäger hatte seinen Weg bereits fortgesetzt.

Vom Schaukeln des Zuges gewiegt, aß er zu Abend und fand gerade noch Zeit, einen Kaffee und ein Glas Gin zu trinken, bevor das Restaurant schloß. Am Ende der Nacht ging in rohseidenen Tönen der Mond auf, und die im Schatten liegende Hochebene vor dem Fenster wurde von den vorbeihuschenden Telefonmasten in die verschwommenen Einzelbilder eines Filmes unterteilt, die man im Gegenlicht eines Projektors betrachtet.

Auf dem Rückweg in sein Abteil traf er im Gang der ersten Klasse auf das Mädchen. Sie hatte die Arme auf den Rahmen des geöffneten Fensters gestützt und ließ sich den kalten Fahrtwind ins Gesicht wehen. Corso hatte sich gerade zur Seite gedreht, um sich in dem schmalen Korridor an ihr vorbeizuzwängen, da sah sie ihn an.

»Wir kennen uns«, sagte sie.

Aus der Nähe betrachtet, wirkten ihre Augen noch grüner und heller - wie aus Flüssigkristall. Zu diesem Effekt kam es vor allem durch den Kontrast mit ihrem sonnenverbrannten Gesicht, und daß sie Ende März bereits so braun war und das Haar streichholzkurz und mit Seitenscheitel trug, verlieh ihr ein ungewöhnliches, sportliches und sympathisch jungenhaftes Aussehen. Sie war groß, schlank, geschmeidig. Und sehr jung.

»Stimmt«, bestätigte Corso. »Vor zwei Tagen ... im Café.«

Sie lächelte, und auch ihre blitzweißen Zähne kontrastierten mit der dunklen Haut. Ihr Mund war groß und schön gezeichnet. Hübsches Mädchen, hätte Flavio La Ponte gesagt und sich den lockigen Bart gekrault.

»Sie waren der, der sich für d’Artagnan interessiert hat.«

Der kalte Wind, der zum offenen Fenster hereinblies, zerzauste ihr Haar. Sie war immer noch barfuß. Ihre weißen Tennisschuhe standen auf dem Boden des Abteils. Corso warf instinktiv einen Blick auf den Titel des Buches, das auf ihrem Sitz lag: Die Abenteuer des Sherlock Holmes - eine billige Taschenbuchausgabe.

»Sie werden sich einen Schnupfen holen«, sagte er.

Das Mädchen schüttelte immer noch lächelnd den Kopf, kurbelte aber trotzdem die Fensterscheibe hoch. Corso beschloß, eine Zigarette herauszuziehen, bevor er seinen Weg fortsetzte. Er tat es wie immer, direkt von der Jackentasche in den Mund, und merkte, daß sie ihn dabei beobachtete.

»Rauchen Sie?« fragte er und hielt zögernd inne.

»Manchmal.«

Er klemmte sich die Zigarette zwischen die Lippen und kramte eine zweite hervor. Sie war schwarz, filterlos und zerknittert wie alle, die er mit sich herumtrug. Das Mädchen nahm sie entgegen und las die Marke, bevor sie sich von Corso mit dem letzten Streichholz seiner Schachtel und nach ihm Feuer geben ließ.

»Die ist stark«, sagte sie, nachdem sie zum erstenmal daran gezogen hatte, aber der von Corso erwartete Hustenanfall blieb aus. Ihre Art, die Zigarette zu halten, war ungewöhnlich: mit Daumen und Zeigefinger, die Glut nach außen. »Reisen Sie in diesem Wagen?«

»Nein. Im nächsten.«

»Schön, sich einen Schlafwagen leisten zu können.« Sie klopfte sich auf die hintere, leere Hosentasche, als Zeichen, daß sie nicht besonders gut bei Kasse war. »Das würde ich auch gerne. Ein Glück, daß mein Abteil nur halb besetzt ist.«

»Sind Sie Studentin?«

»So etwas Ähnliches.«

Der Zug fuhr donnernd und vibrierend in einen Tunnel, und das Mädchen drehte sich zum Fenster, als ziehe es die Finsternis dort draußen an. Gespannt und wachsam drückte sie sich gegen ihr eigenes Spiegelbild an die Scheibe und lauschte in das Getöse des engen Schachts hinaus. Als der Zug dann wieder im Freien war und kleine Lichter über kurze Strecken hinweg die Nacht sprenkelten, lächelte sie gedankenversunken.

»Ich mag Züge«, sagte sie.

»Ich auch.«

Das Mädchen sah immer noch zum Fenster hinaus. Eine ihrer Hände berührte mit den Fingerspitzen die Scheibe.

»Was halten Sie davon: Paris bei Nacht verlassen ... Morgens mit Blick auf die Lagune von Venedig aufwachen, und dann weiter nach Istanbul?« Ihr Lächeln wirkte jetzt verträumt, als hänge sie geheimen Erinnerungen nach.

Corso schnitt eine Grimasse. Wie alt mochte sie sein? Achtzehn, wenn es hochkam zwanzig.

»Poker spielen«, schlug er vor, »zwischen Calais und Brindisi.«

Das Mädchen faßte ihn aufmerksamer ins Auge.

»Auch nicht schlecht.« Sie dachte kurz nach. »Wie fänden Sie ein Champagnerfrühstück zwischen Wien und Nizza?«

»Interessant. Wie Basil Zaharoff hinterher spionieren.«

»Oder sich mit Nijinsky betrinken.«

»Coco Chanels Perlen stehlen.«

»Mit Paul Morand flirten ... Oder mit Mister Barnabooth.«

Sie lachten beide. Corso wie immer mit zusammengebissenen Zähnen, das Mädchen offen heraus, seine Stirn an die kühle Fensterscheibe gelehnt. Sie hatte ein frisches, klangvolles Jungenlachen, das gut zu ihrem kurzgeschnittenen Haar und den leuchtendgrünen Augen paßte.

»Solche Züge gibt es nicht mehr«, sagte sie.

»Ich weiß.«

Wie Blitze zischten die Lichter eines Signals vorbei. Es folgte ein schlecht beleuchteter, menschenleerer Bahnsteig; das Ortsschild war bei der Geschwindigkeit nicht zu lesen. Hier und da zeichnete sich ein Baum oder Häuserdach im nackten Schein des Mondes ab, der neben dem Zug herzufliegen schien

- ein verrückter Wettlauf ohne Ziel.

»Wie heißen Sie?«

»Corso. Und Sie?«

»Irene Adler.«

Er musterte sie von oben bis unten, und sie hielt seiner Prüfung gelassen stand.

»Das ist kein Name.«

»Corso auch nicht.«

»Da irren Sie sich. Ich bin Corso - der Mann, der rennt.«

»Mir wirken Sie aber gar nicht hastig ... eher ruhig.«

Corso neigte den Kopf, ohne zu antworten, und betrachtete die nackten Füße des Mädchens auf dem Teppichboden des Korridors. Dabei fühlte er ihren forschenden Blick, der an ihm hinabglitt, und das machte ihn etwas verlegen, so seltsam das in seinem Fall auch klingen mag. Zu jung, sagte er sich. Zu attraktiv. Mechanisch rückte er sich die verbogene Brille zurecht und schickte sich an weiterzugehen.

»Gute Reise.«

»Danke.«

Er setzte sich in Bewegung und wußte, daß sie ihm nachsah.

»Vielleicht sehen wir uns mal wieder«, hörte er sie hinter seinem Rücken sagen.

»Vielleicht.«

Nein, so ging es nicht. Der Corso, der da den Rückzug antrat, war ein anderer. Er fühlte sich ungemütlich, die Grande Armée war auf dem besten Wege, sich im Schnee aufzulösen, das brennende Moskau knisterte unter seinen Stiefeln. So durfte er nicht türmen. Er blieb also stehen, drehte sich auf dem Absatz um und verzog sein Gesicht zu einem Wolfsgrinsen.

»Irene Adler«, wiederholte er und tat, als denke er nach. »Eine Studie in Scharlachrot?«

»Nein«, entgegnete das Mädchen ruhig. »Ein Skandal in Böhmen.« Sie lächelte jetzt auch, und ihre Augen waren ein smaragdgrüner Strich in dem dämmrigen Zugkorridor. »Die Frau, lieber Watson.«

Corso schlug sich mit der Hand auf die Stirn, als habe er plötzlich begriffen.

»Elementar«, sagte er und war sich nun sicher, daß sie sich wiederbegegnen würden.

Corso hielt sich nicht mehr als fünfzig Minuten in Lissabon auf, gerade so lange, wie nötig war, um vom Bahnhof Santa Apolonia zum Rossio-Bahnhof zu kommen. Eineinhalb Stunden später setzte er den Fuß auf den Bahnsteig von Sintra. Tiefhängende Wolken überzogen den Himmel und verschleierten die melancholischen grauen Türme des Castelo da Pena, das vom Berg herabsah. Da er weit und breit kein Taxi erblik-ken konnte, ging er zu Fuß zu dem kleinen Hotel hinauf, das genau gegenüber dem Königspalast mit seinen zwei riesigen Schornsteinen lag. Es war zehn Uhr, ein Mittwochvormittag, und auf der Esplanade gab es weder Touristen noch Autobusse. Corso bekam problemlos ein Zimmer mit Blick auf die zerklüftete, üppig grüne Landschaft, aus der inmitten von hundertjährigen, efeuüberwucherten Gärten die Dächer und Türme alter Landhäuser - der Quintas - aufragten. Er duschte, trank einen Kaffee und ließ sich dann von der Dame an der Rezeption den Weg zur Quinta da Soledade beschreiben, die weiter oben am Berg lag. Auf der Esplanade gab es keine Taxis, wohl aber ein paar Pferdekutschen. Corso handelte den Preis aus, und wenige Minuten später fuhr er an der Torre da Regaleira mit ihrem neumanuelinischen Maßwerk vorbei. Die Hufe des Pferdes hallten in den dunklen, hohlen Gassen, die von Brunnen und dünnen Rinnsalen gesäumt wurden. Dichter Efeu rankte sich an Häuserwänden, Fenstergittern, Baumstämmen empor und an den moosbedeckten, mit alten Kacheln verkleideten Steintreppen der verlassenen Villen.

Die Quinta da Soledade war ein langgestrecktes Gebäude aus dem 18. Jahrhundert mit vier Kaminen und verblichener ockerfarbener Fassade. Corso kletterte aus der Kutsche und versenkte sich einen Moment lang in den Anblick, bevor er das schmiedeeiserne Tor öffnete. Die Gartenmauer wurde rechts und links von Granitsäulen abgeschlossen, auf denen schimmelüberzogene Skulpturen aus graugrünem Stein standen. Bei einer von ihnen handelte es sich um eine weibliche Büste, die andere schien mit dieser identisch zu sein, obwohl ihr Gesicht nur zu erahnen war - der Efeu hatte es wie ein lästiger Parasit befallen und beinahe unkenntlich gemacht.

Totes Laub raschelte unter seinen Sohlen, während er auf das Haus zuschritt. Die Marmorstatuen, die den Weg früher einmal flankiert hatten, lagen fast alle zerbrochen neben ihren Sockeln. Der Garten war völlig verwahrlost, von der Vegetation überwuchert, die alles unter sich begrub. Bänke und Aussichtsterrassen, deren rostige Geländer auf die bemoosten Steinböden abfärbten. Auf der linken Seite sah er neben einem Teich voller Wasserpflanzen einen gekachelten Brunnen mit einem pausbäckigen Puttchen, das den Kopf zum Schlaf auf ein Buch gelegt hatte. Die Augen waren ausgehöhlt, die Hände verstümmelt, und aus dem halb geöffneten Mund tröpfelte Wasser. Die ganze Atmosphäre war von einer unendlichen Traurigkeit durchtränkt, der Corso sich nicht entziehen konnte. >Quinta da Soledadec, wiederholte er bei sich, >Villa der Einsamkeit. Der Name paßte.

Er stieg die Steintreppe zum Eingang hinauf und hob dabei die Augen. Zwischen seinem Kopf und dem grauen Himmel war eine Sonnenuhr mit römischen Ziffern auf die Fassade gemalt, die keine Zeit anzeigte; darunter eine lateinische Inschrift: Omnes vulnerant, postuma necat.

»Alle verletzen«, las Corso, »die letzte tötet.«

»Sie kommen gerade richtig«, sagte Fargas. »Zum Zeremoniell.«

Corso reichte ihm ein wenig verwirrt die Hand. Victor Fargas war groß und hager wie ein Edelmann von El Greco. In seinem weiten Pullover aus grober Wolle bewegte er sich wie eine Schildkröte in ihrem Panzer. Er hatte einen penibel zurechtgestutzten Schnurrbart und trug eine Hose mit ausgebeulten Knien, sowie altmodische, abgenützte Schuhe, die jedoch sauber glänzten. Das war es, was Corso auf den ersten Blick wahrnehmen konnte, bevor seine Augen in das riesige, leere Haus wanderten, über die nackten Wände, die Deckenmalereien, die sich in Schimmellagunen auflösten und von feuchtem Gips verschluckt wurden.

Fargas musterte seinen Besucher kritisch.

»Ich nehme an, daß Sie ein Glas Cognac nicht ablehnen wer-den«, sagte er schließlich, als wäre er nach eingehender Überlegung zu diesem Schluß gelangt. Dann entfernte er sich mit hinkendem Gang, ohne sich darum zu kümmern, ob Corso ihm durch den Korridor folgte oder nicht. Die Zimmer, an denen sie vorbeikamen, waren entweder leer oder mit Resten von unbrauchbaren Möbeln ausgestattet, die man in den Ecken zusammengerückt hatte. Von den Decken hingen nackte Fassungen, zum Teil mit staubigen Glühbirnen.

Die einzigen Räume, die einen halbwegs bewohnten Eindruck machten, waren zwei Salons, die eine Schiebetür miteinander verband. Die Tür, in deren Glasscheiben ein Wappen eingeschliffen war, stand offen und zeigte kahle Wände. Die Gegenstände, mit denen sie einst bedeckt gewesen waren, hatten ihre Spuren auf der alten Tapete hinterlassen: rechteckige Umrisse von verschwundenen Gemälden, Abdrücke von Möbeln, verrostete Nägel, Stromanschlüsse für nicht mehr vorhandene Lampen. Die ganze traurige Landschaft wurde von einem gemalten Himmelsgewölbe überspannt, in dessen Zentrum die Opferung Isaaks dargestellt war: Ein abgeblätterter Engel mit riesigen Flügeln hielt die Hand des Patriarchen Abraham fest, der dabei war, mit dem Messer auf einen blonden Jüngling loszugehen. Unter dem falschen Gewölbe öffnete sich auf die Terrasse und den hinteren Teil des Gartens hinaus eine schmutzige Fenstertür, deren Scheiben teilweise durch Kartonstücke ersetzt worden waren.

»Home, sweet home«, sagte Fargas.

Der ironische Ton, den er dabei anschlug, klang nicht sehr überzeugend. Wahrscheinlich hatte der Hausherr diesen Spruch schon so oft benützt, daß er selbst nicht mehr an seine Wirkung glaubte. Er sprach spanisch mit einem vornehmen, portugiesisch gefärbten Akzent. Seine Bewegungen waren sehr langsam, wie die eines Menschen, der eine Ewigkeit vor sich hat, aber das lag vielleicht an seinem invaliden Bein.

»Cognac«, wiederholte er, als wolle er sich ins Gedächtnis rufen, was ihn hierher geführt hatte.

Corso nickte leicht mit dem Kopf, ohne daß Fargas ihn sah. Der geräumige Salon wurde auf der anderen Seite von einem riesigen Kamin abgeschlossen, in dem ein kleiner Stoß Holzscheite angeordnet war. Das Mobiliar bestand aus zwei ungleichen Sesseln, einem Tisch und einer Kredenz. Des weiteren gab es eine Petroleumlampe, zwei Kerzenleuchter, eine Violine im geöffneten Kasten und wenig mehr. Auf dem Boden jedoch lagen, auf ausgefransten Teppichen und verblichenen Gobelins, so weit wie möglich von den Fenstern und dem bleifarbenen Tageslicht entfernt, säuberlich angeordnet, Hunderte von Büchern. Fünfhundert oder mehr, schätzte Corso. Vielleicht auch tausend. Darunter zahlreiche alte Handschriften und Inkunabeln. Wertvolle leder- oder pergamentgebundene Stük-ke, alte Exemplare mit Ziernägeln auf den Deckeln, Foliobände, Elzeviers, Einbände mit Fileten, Rosetten und Schließen, Bücher, deren Rücken und Kanten mit goldenen Lettern verziert oder in den Schreibstuben mittelalterlicher Klöster kalligraphisch ausgestaltet worden waren. Des weiteren fiel Corso auf, daß wohl ein Dutzend Mausefallen über die Zimmerecken verteilt waren, die meisten ohne Käse.

Fargas, der an der Kredenz herumhantiert hatte, kam mit einem Glas und einer Flasche Remy Martin zurück, die er gegen das Licht hielt, um ihren Inhalt zu überprüfen.

»Goldener Nektar der Götter«, sagte er in feierlichem Ton. »Oder des Teufels.« Er lächelte nur mit dem Mund, indem er wie die alten Filmgalane den Schnurrbart verzog, aber sein Blick blieb starr und ausdruckslos. Unter seinen Augen hingen schwere Tränensäcke wie nach unzähligen schlaflos verbrachten Nächten. Corso betrachtete seine feingliedrigen, aristokratischen Hände, während er aus ihnen das Cognac-Glas entgegennahm, dessen dünnes Kristall leicht vibrierte, als er es an die Lippen führte.

»Hübsches Glas«, meinte er, um irgend etwas zu sagen.

Der Büchersammler nickte mit einer resignierten und zugleich selbstironischen Miene, die alles in ein neues Licht rückte: das Glas, die nahezu leere Flasche, das geplünderte Haus, ja seine eigene Präsenz inmitten dieser Umgebung, ein vornehmes, blasses, abgetakeltes Gespenst.

»Mir sind nur noch zwei von der Sorte geblieben«, gestand er nüchtern und gelassen. »Deshalb bewahre ich sie auf.«

Corso lächelte verständnisvoll. Sein Blick schweifte kurz über die leeren Wände, um dann wieder zu den Büchern auf dem Boden zurückzukehren.

»Diese Quinta muß einmal prächtig gewesen sein«, sagte er.

Fargas zuckte mit der Schulter.

»Ja, das war sie. Aber mit den alten Familien ist es wie mit den Hochkulturen - irgendwann sterben sie aus und gehen unter.« Er blickte sich gedankenverloren um, und in seinen Augen schienen sich die Gegenstände zu spiegeln, die den Raum einst geschmückt hatten. »Zuerst ruft man die Barbaren, damit sie den Limes bewachen, dann bereichert man sie, und zum Schluß macht man sie zu seinen Gläubigern . Bis sie sich eines Tages erheben, über einen herfallen und einen ausrauben.« Er sah sein Gegenüber in einem Anfall von Mißtrauen an. »Ich hoffe, Sie verstehen, wovon ich spreche.«

Corso nickte und setzte das mitfühlendste Kaninchenlächeln seines gesamten Repertoires auf.

»Ich verstehe Sie bestens«, bestätigte er. »Landsknechtsstiefel, die auf Meißener Porzellan herumtrampeln. Meinen Sie das? Putzfrauen in Abendkleidern. Neureiche Tagelöhner, die sich den Hintern mit alten Handschriften abwischen.«

Fargas machte eine zustimmende Handbewegung und lächelte zufrieden. Dann hinkte er zu der Kredenz, um das zweite Glas zu holen.

»Ich glaube, ich trinke auch einen Cognac«, sagte er.

Sie stießen schweigend miteinander an und sahen sich dabei in die Augen wie die Brüder eines Geheimbundes, die soeben das Erkennungsritual vollzogen haben. Dann deutete der Bibliophile mit der Hand, in der er das Glas hielt, einladend auf die Bücher, als erlaube er Corso nun, wo er die Initiationsprobe bestanden hatte, eine unsichtbare Grenze zu überschreiten und sich ihnen zu nähern.

»Da liegen sie. Achthundertvierunddreißig Bände, von denen nur noch knapp die Hälfte wirklich wertvoll ist.« Er nippte an seinem Glas, bevor er mit dem Zeigefinger über seinen feuchten Schnurrbart fuhr und seine Augen im Zimmer umherwandern ließ.

»Jammerschade, daß Sie sie nicht in besseren Zeiten erlebt haben, als sie sauber aneinandergereiht in ihren Zedernholzregalen standen ... Ich hatte fünftausend Exemplare beisammen. Das hier sind die Überlebenden.«

Corso, der seine Segeltuchtasche auf den Boden gelegt hatte, trat auf die Bücher zu. Er spürte, wie seine Fingerspitzen aus purem Reflex zu kribbeln begannen. Der Anblick war herrlich. Er rückte seine Brille zurecht und sichtete auf den ersten Blick einen Vasari im Quartformat, Erstausgabe von 1588, und einen pergamentgebundenen Tractatus von Berengario de Carpi, aus dem 16. Jahrhundert.

»Ich hätte mir nie vorgestellt, daß die in sämtlichen Bibliographien zitierte Fargas-Sammlung so aussieht: Bücherstapel auf dem Boden, ohne Schränke, einfach an die Wand gerückt, in einem leeren Haus .«

»So ist das Leben, mein Freund. Aber ich muß Ihnen zu meiner Entlastung sagen, daß sich alle in ausgezeichnetem Zustand befinden . Ich selbst säubere und überwache sie - ich lüfte regelmäßig das Zimmer und schütze sie gegen Ungeziefer und Mäuse, gegen Licht, Hitze und Feuchtigkeit. Und das beschäftigt mich den ganzen Tag.«

»Was ist aus dem Rest geworden?«

Der Bibliophile sah mit gerunzelter Stirn zum Fenster hinaus und schien sich dieselbe Frage zu stellen.

»Tja ...«, erwiderte er und wirkte sehr unglücklich, als seine Augen wieder denen Corsos begegneten. »Außer der Quinta, ein paar Möbelstücken und der Bibliothek meines Vaters habe ich nur Schulden geerbt. Wann immer ich irgendwie zu Geld kam, habe ich es in Bücher investiert, und als meine Rente erschöpft war, habe ich verkauft, was es noch zu verkaufen gab: Bilder, Möbel, Geschirr. Ich glaube, Sie wissen, was es heißt, ein leidenschaftlicher Büchersammler zu sein - aber ich bin kein Bibliophiler, ich bin ein Bibliomane. Allein der Gedanke, meine Bibliothek auflösen zu müssen, bereitete mir unsägliche Qualen.«

»Ich habe schon andere Leute wie Sie kennengelernt.«

»Wirklich?« Fargas sah ihn neugierig an. »Ich bezweifle trotzdem, daß Sie sich eine genaue Vorstellung von meinem Zustand machen können. Ich stand mitten in der Nacht auf und irrte zwischen meinen Büchern umher wie eine arme Seele im Fegefeuer. Ich habe mit ihnen gesprochen, unter Treueschwüren ihre Rücken gestreichelt ... Alles umsonst. Eines Tages mußte ich einen Entschluß fassen, und der bestand darin, den Großteil von ihnen zu opfern, um wenigstens die liebsten und wertvollsten Exemplare zu retten. Weder Sie noch sonst irgend jemand wird je begreifen, was das für mich bedeutet hat: meine Bücher den Geiern zum Fraß vorgeworfen.«

»Ich kann es mir vorstellen«, sagte Corso, dem es nicht das Geringste ausgemacht hätte, an einem solchen Leichenbegängnis teilzunehmen.

»Sie können es sich vorstellen? Nein. Das könnten Sie nicht einmal, wenn Sie hundert Jahre alt würden. Allein die Auswahl hat mich zwei Monate Arbeit gekostet - einundsechzig Tage der Agonie und einen Fieberanfall, an dem ich beinahe gestorben wäre. Als sie dann endlich abgeholt wurden, glaubte ich, verrückt werden zu müssen . Ich erinnere mich daran, als wäre es gestern passiert, obwohl mittlerweile zwölf Jahre vergangen sind.«

»Und jetzt?«

Der Bibliophile zeigte ihm sein leeres Glas, als symbolisiere es etwas.

»Seit einiger Zeit muß ich wieder auf meine Bücher zurückgreifen. Dabei brauche ich eigentlich nicht viel zum Leben: Einmal pro Woche kommt jemand zum Putzen, und das Essen wird mir vom Dorf heraufgebracht . Nein, mein Geld geht fast ganz für Steuern drauf, die ich dem Staat für die Quinta bezahlen muß.«

Er sprach das Wort »Staat« im selben Ton aus, in dem er »Ratten« oder »Bohrwürmer« gesagt hätte. Corso setzte seine mitfühlende Miene auf und ließ den Blick erneut über die nackten Zimmerwände schweifen.

»Sie könnten das Haus doch verkaufen.«

»In der Tat, das könnte ich.« Fargas nickte apathisch. »Aber es gibt Dinge, die Sie nicht verstehen.«

Corso hatte sich gebückt und einen Folioband in die Hand genommen, den er interessiert durchblätterte. De Symmetria von Dürer, Paris 1557, ein Nachdruck der ersten, lateinischen Ausgabe von Nürnberg. Gut erhalten und mit breiten Seitenrändern. Das hätte Flavio La Ponte in helles Entzücken versetzt. Und wen nicht.

»Wie oft verkaufen Sie Bücher?«

»Zwei- oder dreimal pro Jahr; damit habe ich genug. Nach langem Hin und Her wähle ich einen Band aus und verkaufe ihn. Das ist das Zeremoniell, das ich vorher gemeint habe, als Sie ankamen. Ich habe einen Käufer, ein Landsmann von Ihnen, der mich zweimal im fahr besucht.«

»Kenne ich ihn?« fragte Corso.

»Das weiß ich nicht«, erwiderte der Bibliophile, ohne einen Namen hinzuzufügen. »Ich erwarte ihn just in diesen Tagen, und als Sie geläutet haben, war ich gerade dabei, ein Opfer zu bestimmen . « Er imitierte mit einer seiner schlanken Hände

die Bewegung eines Fallbeils und lächelte melancholisch. »Wieder einmal muß ein Buch sterben, damit die anderen zusammenbleiben können.«

Corso sah zur Decke hinauf - die Analogie war augenfällig: Abraham, dem ein tiefer Riß quer durchs Gesicht verlief, versuchte unter großer Anstrengung, seine messerbewehrte Rechte freizubekommen, die der Engel mit einer Hand festhielt, während er mit der anderen den Patriarchen streng zurechtwies. Unter der Messerklinge, den Kopf auf einen Stein gebettet, wartete Isaak resigniert darauf, daß sich sein Schicksal erfüllte. Er war blond und rosig wie einer von diesen Epheben, die niemals nein sagen. Ein bißchen weiter links war eine Art Schaf gemalt, das sich im Dorngestrüpp verfangen hatte, und Corso ergriff insgeheim Partei für das Schaf.

»Dann gibt es wohl keine andere Lösung«, sagte er.

»Ich hätte schon eine gefunden . « Fargas lächelte bitter.

»Aber der Löwe verlangt seinen Teil, die Haie wittern das Blut und den Köder. Leider gibt es heute keine Leute mehr wie den Grafen von Artois, der König von Frankreich war. Kennen Sie die Anekdote? Der alte Marquis de Paulmy besaß sechzigtausend Bücher und war am Rande des Ruins. Um den Gläubigern zu entgehen, verkaufte er seine Bibliothek an den Grafen von Artois, aber der machte es zur Bedingung, daß sich der Alte bis zu seinem Tod darum kümmerte. Mit dem verdienten Geld konnte Paulmy neue Bände kaufen und so die Sammlung bereichern, die bereits einem anderen gehörte .«

Fargas vergrub die Hände in den Hosentaschen, humpelte an seinen Büchern entlang und ging sie der Reihe nach durch.

Corso mußte unwillkürlich an den abgemagerten, zerlumpten Montgomery denken, der seine Truppen in El Alamein abschritt.

»Manchmal betrachte ich sie stundenlang und wedle nur ein bißchen den Staub weg, ohne sie anzufassen oder aufzuschlagen.« Er war stehengeblieben und hatte sich niedergebeugt, um eines der Bücher auf dem alten Teppich geradezurücken. »Ich weiß in- und auswendig, was sich unter jedem Deckel verbirgt ... Sehen Sie sich das hier an: De revolutionis celestium, Nikolaus Kopernikus. Zweite Auflage, Basel 1566. Eine Lappalie, nicht? Wie die Vulgata Clementina, die Sie dort zu Ihrer Rechten haben, zwischen den sechs Bänden der Poliglota Ihres Landsmannes Cisneros und dem Chronicarum von Nürnberg, Und beachten Sie dort drüben diesen kuriosen Folianten: Praxis criminis persequendi von Simon de Colines, 1541. Oder diesen Einband mit fünf Bünden und Ziernägeln, der vor Ihnen liegt. Wissen Sie, was der enthält? Die Legenda aurea von Jacobus a Voragine, Basel 1493, gedruckt von Nikolaus Kesler.«

Corso blätterte das Buch durch. Es handelte sich um ein wunderschönes Exemplar, ebenfalls mit sehr breiten Blatträndern. Nachdem er es vorsichtig an seinen Platz zurückgelegt hatte, richtete er sich wieder auf und putzte mit dem Taschentuch seine Brillengläser. Das hätte dem kältesten Typen den Schweiß auf die Stirn getrieben.

»Sie können nicht ganz recht im Kopf sein. Wenn Sie das alles verkaufen würden, hätten Sie für den Rest Ihres Lebens ausgesorgt.«

»Ich weiß.« Fargas bückte sich, um die Position eines Buches zu korrigieren, das minimal verrückt war. »Aber wenn ich das alles verkaufen würde, hätte mein Leben keinen Sinn mehr, und wozu brauchte ich dann noch Geld?«

Corso deutete auf eine Reihe von Büchern, die stark beschä-digt waren, darunter mehrere Inkunabeln und Handschriften. Dem Einband nach stammte das jüngste unter ihnen aus dem 17. Jahrhundert.

»Sie haben viele alte Ausgaben von Ritterromanen ...«

»Ja, die habe ich von meinem Vater geerbt. Er hatte sich in die Idee verrannt, alle fünfundneunzig Bücher aus der Bibliothek des Don Quijote zusammenzutragen, besonders die aus der Inventarliste des Dorfpfarrers. Von ihm habe ich auch diesen kuriosen Quijote bekommen, den Sie dort neben der Erstausgabe von Os Lusiadas sehen: ein vierbändiger Ibarra aus dem Jahr 1780. Er enthält nicht nur die ursprünglichen Bildtafeln, sondern wurde zusätzlich mit englischen Tafeln aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts bereichert, sowie mit sechs Originalgouachen und einer faksimilierten Geburtsurkunde von Cervantes auf Velin. So hat jeder seinen Spleen. Bei meinem Vater, der als Diplomat viele Jahre in Spanien gelebt hat, war es Cervantes. Bei anderen artet es zu regelrechten Manien aus. Es gibt Sammler, die keine noch so unscheinbare Restauration dulden, oder solche, die grundsätzlich kein Buch kaufen, von dem mehr als fünfzig Stück gedruckt wurden ... Meine Vorliebe - das werden Sie schon bemerkt haben - galt unbeschnittenen Exemplaren. Mit einem Meterstab in der Hand habe ich Auktionen und Antiquariate abgeklappert, und wenn ich ein Buch aufschlug, das noch jungfraulich war, dessen Seiten womöglich noch gar nicht aufgeschlitzt waren, bekam ich weiche Knie ... Haben Sie Nodiers Spottgeschichte über den Bibliophilen gelesen? Mir erging es genauso. Ich hätte sie mit größtem Vergnügen erdolcht, die Buchbinder, die allzu leichtfertig mit der Papierschneidemaschine umgingen. Und ein Exemplar zu entdecken, das zwei Millimeter mehr Blattrand hatte, als in den kanonischen Bibliographien angegeben, war für mich der Gipfel des Glücks.«

»Das ist es auch für mich.« »Dann, Prost! Lassen Sie uns auf unsere Brüderschaft anstoßen.«

»Freuen Sie sich nicht zu früh. Mein Interesse ist nicht ästhetischer, sondern rein lukrativer Natur.«

»Das macht nichts. Sie sind mir sympathisch. Ich gehöre zu denjenigen, die davon überzeugt sind, daß es im Hinblick auf Bücher eine Moral im herkömmlichen Sinne nicht gibt.« Fargas stand auf der anderen Seite des Zimmers, trotzdem beugte er sich ein wenig zu Corso vor, als wolle er ihm ein Geheimnis anvertrauen. »Wissen Sie was? Bei Ihnen in Spanien erzählt man sich doch die Legende von dem mörderischen Buchhändler aus Barcelona - nun, ich wäre wie er in der Lage, für ein Buch zu töten.«

»Davon rate ich Ihnen ab. Mit einer solchen Bagatelle fängt es meistens an, und zum Schluß erzählt man Lügen.«

»Und verkauft womöglich seine eigenen Bücher.«

»Womöglich.«

Fargas schüttelte traurig den Kopf. Dann verharrte er eine Weile reglos, mit gerunzelter Stirn, und schien über etwas nachzugrübeln. Als er wieder zu sich kam, sah er Corso lange und eindringlich an.

»Und damit wären wir wieder bei der Sache, die mich gerade beschäftigt hat, als Sie an der Tür läuteten«, sagte er endlich. »Jedesmal, wenn ich dieses Problem angehe, fühle ich mich wie ein Pfarrer, der seinen Glauben verleugnet . Überrascht es Sie, daß ich das Wort Sakrileg benütze?«

»Keine Spur. Ich finde, daß es genau darum geht.«

Fargas rieb sich nervös die Hände und ließ den Blick durch das Zimmer irren, über die kahlen Wände und die Bücher auf dem Boden, bevor er ihn wieder auf Corso heftete. Sein fratzenhaftes Lächeln wirkte, als sei es ihm aufs Gesicht gemalt.

»Ja. Ein Sakrileg läßt sich einzig und allein aus dem Glauben heraus erklären. Nur ein Gläubiger ist in der Lage, ein Sakrileg zu begehen und im selben Augenblick, in dem er es begeht, das Schreckliche seiner Tat zu begreifen. Keiner würde Entsetzen empfinden, wenn er eine Religion entweiht, die ihm gleichgültig ist. Das wäre, als lästere er einen Gott, zu dem er keinerlei Bezug hat. Absurd.«

Corso zeigte sich einverstanden.

»Ich weiß, was Sie meinen. Das entspricht dem Du hast mich besiegt, Galiläer von Julian Apostata.«

»Dieses Zitat kenne ich nicht.«

»Gut möglich, daß es apokryph ist. Einer der Maristenbrüder, bei denen ich zur Schule gegangen bin, pflegte uns damit zu veranschaulichen, was passiert, wenn man vom rechten Weg abkommt: Man bleibt von Speeren durchbohrt auf dem Schlachtfeld liegen und spuckt Blut unter einem Himmel ohne Gott.«

Der Bibliophile nickte, als wäre ihm diese Problematik bestens vertraut. Sein krampfartig verzerrter Mund und der stiere Blick seiner Augen hatten beinahe etwas Unheimliches.

»So fühle ich mich jetzt«, sagte er. »Nachts, wenn ich keinen Schlaf finden kann, pflanze ich mich hier vor meinen Büchern auf, entschlossen, eine weitere Profanierung zu begehen.« Er war beim Sprechen so dicht an Corso herangetreten, daß dieser beinahe vor ihm zurückweichen mußte. »Mich an ihnen und an mir selbst zu versündigen . Ich wähle ein Buch aus und bereue es sofort wieder, ich nehme ein anderes in die Hand und stelle es nach ein paar Minuten an seinen Platz zurück. Eines opfern, damit die anderen zusammenbleiben können, einen Ast vom Stamm abbrechen, damit der Baum überlebt .« Er zeigte Corso seine Hand. »Tausendmal lieber würde ich mir einen dieser Finger abhacken.«

Seine Hand zitterte, während er sie vorstreckte. Corso schüttelte den Kopf: Er konnte zuhören - das gehörte zu seinem Beruf, er konnte sogar Verständnis aufbringen. Aber mitspielen, dazu war er nicht bereit. Das war nicht »sein« Krieg. Er war ein Landsknecht auf Bezahlung, wie Varo Borja gesagt hätte, und er war nur zu Besuch hier. Was Fargas brauchte, war ein Beichtvater oder Psychiater.

»Für den Finger eines Bibliophilen würde niemand auch nur einen Escudo herausrücken«, sagte er in scherzhaftem Ton.

Sein Witz verlor sich in der unendlichen Leere, die in den Augen seines Gegenübers herrschte. Fargas sah durch ihn hindurch, als wäre er aus Luft. In seinen geweiteten, entrückten Pupillen gab es nur Bücher.

»Welches also wähle ich aus?« fuhr Fargas fort. Corso hatte eine Zigarette aus der Manteltasche gefischt, die er ihm in diesem Moment anbot, aber der andere ignorierte seine Geste, geistesabwesend wie er war und ausschließlich auf seinen eigenen Diskurs fixiert. Außer den Wahnbildern, die sein gequältes Gewissen heraufbeschwor, existierte nichts für ihn.

»Nach langem Nachdenken habe ich zwei Kandidaten ausgesucht.« Er hob zwei Bücher vom Boden auf und legte sie auf den Tisch. »Sagen Sie mir, was Sie von ihnen halten.«

Corso beugte sich über die Bücher und öffnete eines von ihnen. Die Seite, die er aufgeschlagen hatte, war mit einem Holzschnitt geschmückt: drei Männer und eine Frau, die in einer Mine Arbeiteten. Es handelte sich um die zweite lateinische Ausgabe des De re metallica von Georgius Agricola, hergestellt von Frohen und Episcopius in Basel, und zwar nur fünf Jahre nach dem ersten Druck von 1530. Er gab ein zustimmendes Knurren von sich und zündete die Zigarette an.

»Sie sehen selbst, wie schwer es ist, eine Wahl zu treffen.« Fargas ließ den Bücherjäger keine Sekunde aus den Augen. Er beobachtete ihn unruhig, angespannt, während Corso mit äußerster Behutsamkeit in dem Buch blätterte. »Ich verkaufe jedesmal nur ein einziges Buch, aber nicht irgendeines. Das Opfer muß den anderen weitere sechs Monate Sicherheit gewähren. Das ist mein Tribut an den Minotaurus«, er faßte sich mit der Hand an die Schläfe, »wir alle haben einen hier, im Zentrum des Labyrinths . Unser Geist schafft ihn, und dann müssen wir uns seiner Schreckensherrschaft beugen.«

»Warum verkaufen Sie nicht mehrere weniger wertvolle Bücher auf einmal? Vielleicht könnten Sie damit die nötige Summe zusammenbekommen und die seltensten Stücke oder Ihre Lieblingsbücher verschonen.«

»Ein Exemplar offen verachten und ihm ein anderes vorziehen?« Den Bibliophilen schüttelte es. »Undenkbar. Sie alle besitzen dieselbe unsterbliche Seele und genießen für mich dasselbe Recht. Natürlich habe ich meine Vorlieben, das ist unvermeidlich . Aber das würde ich niemals zum Ausdruck bringen. Mit keiner Geste und keinem Wort würde ich ein Buch über seine vom Schicksal weniger begünstigten Artgenossen hinausheben. Im Gegenteil. Denken Sie daran, daß Gott selbst seinen eigenen Sohn zum Opfer bestimmt hat - um die Menschheit zu erlösen. Und Abraham . « Er schien auf das Deckengemälde anzuspielen, denn er hob den Blick und lächelte traurig ins Leere, ohne seinen Satz zu beenden.

Corso hatte das zweite Buch geöffnet, ein Folio mit italienischem Pergamenteinband aus dem 16. Jahrhundert. Es handelte sich um einen wunderschönen Vergil - die 1544 gedruckte venezianische Ausgabe von Giunta. Das holte den Bibliophilen wieder in die Wirklichkeit zurück.

»Herrlich, nicht?« Er trat einen Schritt vor, um ihm das Buch ungeduldig aus der Hand zu reißen. »Schauen Sie sich die Titelseite mit der geometrischen Bordüre an, die sie einrahmt. Einhundertdreizehn Holzschnitte, alle perfekt, bis auf die Seite 345, die rechts unten, kaum wahrnehmbar, eine kleine Restaurierung von alter Hand aufweist. Das ist zufällig der Holzschnitt, der mir am besten gefällt: Äneas in der Unterwelt, und neben ihm die Sibylle. Ist Ihnen je etwas Vergleichbares zu Gesicht gekommen? Beachten Sie die Flammen hinter der dreifachen Mauer, den Kessel, in dem die Verdammten schmoren . Und hier der Vogel, der die Eingeweide der Gemarterten verschlingt.« Corso glaubte das Blut in Fargas’ Schläfen und Handgelenken pulsieren zu sehen. Er sprach mit hohler Stimme, das Buch dicht vor den Augen, um besser lesen zu können. Sein Gesicht strahlte: »Moenia lata videt, triplici circundata muro, quae rapidus flammis ambit torrentibus amnis ...« Er hielt verzückt inne. »Der Holzschneider hatte eine mittelalterliche Vorstellung von Vergils Hades: großartig und grausam.«

»Ein prächtiges Stück«, bestätigte der Bücherjäger, während er an seiner Zigarette zog.

»Mehr als das. Fassen Sie das Papier an. Esemplare buono e genuino con le figure assai ben impresse, versichern die alten Kataloge . « Nach seinem euphorischen Anfall verloren sich Fargas’ Augen nun wieder im Leeren. Er wirkte abwesend, zurückgezogen in die dunkelsten Winkel seines Alptraums. »Ich glaube, ich werde das hier verkaufen.«

Corso stieß gereizt den Rauch seiner Zigarette aus.

»Ich verstehe Sie nicht. Das ist doch offensichtlich eines Ihrer Lieblingsbücher. Und der Agricola genauso. Ihnen zittern ja die Hände, wenn Sie sie berühren.«

»Die Hände? Sagen Sie lieber, daß sich meine Seele unter Höllenqualen windet. Ich dachte, ich hätte es Ihnen erklärt ... Das zum Opfer auserkorene Buch darf mir nicht gleichgültig sein. Was wäre dieser schmerzliche Akt sonst? Eine plumpe Transaktion, die den Regeln des Marktes gehorcht: mehrere billige gegen ein teures.« Er schüttelte energisch und angewidert den Kopf und blickte mit wilden Augen um sich, als suche er jemanden, dem er hätte ins Gesicht spucken können. »Nein. Es sind gerade die liebsten, die ich an der Hand nehme und bis zum Opferaltar begleite, diejenigen, welche sich durch ihre Schönheit hervortun und durch die Liebe, die sie zu verbreiten wußten . Das Leben kann mich an den Bettelstab bringen, gewiß. Aber einen Schuft wird es nie aus mir machen.«

Er irrte ziellos durchs Zimmer. Das traurige Szenarium, seine Behinderung, der Wollpullover und die alte Hose betonten noch den zerrütteten Eindruck, den er machte.

»Das ist auch der Grund, weshalb ich in diesem Haus bleibe«, fuhr er fort. »In seinen Zimmern geistern die Schatten meiner verlorenen Bücher umher.« Er war vor dem Kamin stehengeblieben und starrte auf den kläglichen Holzstoß. »Manchmal fühle ich, daß sie mich umringen und von meinem Gewissen eine Wiedergutmachung fordern . Dann greife ich zu der Violine, die Sie dort sehen, und spiele stundenlang, um sie zu besänftigen; dabei laufe ich im Dunklen durchs Haus wie ein Verdammter.« Er hatte sich nun wieder Corso zugewandt, der sich im Gegenlicht vor der dreckigen Fensterscheibe abzeichnete. »Der ewige Büchernarr.«

Er schritt langsam auf den Tisch zu und legte auf jedes Buch eine Hand, als habe er den Moment der Entscheidung bis zu diesem Augenblick hinausgezögert. Jetzt lächelte er und sah Corso forschend an.

»Welches würden Sie an meiner Stelle auswählen?«

Corso trat ungemütlich von einem Bein aufs andere.

»Lassen Sie mich da raus. Glücklicherweise bin ich nicht an Ihrer Stelle.«

»Sie sagen es: glücklicherweise. Scharfsinnige Bemerkung. Wenn Sie ein Dummkopf wären, würden Sie mich wahrscheinlich beneiden. Ein solcher Schatz im Hause ... Aber Sie haben mir nicht gesagt, welches ich verkaufen soll. Welcher Sohn geopfert werden soll.« Seine Miene verzog sich plötzlich zu einer gequälten Grimasse, als werde er bis ins Mark hinein, bis ins Innerste seiner Seele von Schmerzen gepeinigt. »Möge sein Blut über mich kommen«, fügte er leise und mit gebrochener Stimme hinzu. »Über mich und meine Nachkommenschaft bis zur siebten Generation.«

Er legte den Agricola an seinen Platz auf dem Teppich zurück und streichelte den Pergamentdeckel des Vergil, während er zähneknirschend »sein Blut« wiederholte. Seine Augen waren feucht, und der Tremor seiner Hände schien unkontrollierbar geworden zu sein.

»Ich glaube, ich verkaufe das hier«, stöhnte er.

Wenn Fargas nicht schon ganz übergeschnappt war, so fehlte wenig. Corsos Blick glitt über die nackten Wände und über die Abdrücke der Bilder auf den schimmeligen Tapeten. Der siebten Generation würde das alles piepegal sein. Aber so weit kam es sowieso nicht - Fargas würde so wenig wie er, Lucas Corso, Nachkommen haben. Sein Geschlecht würde mit ihm aussterben. Oder endlich in Frieden ruhen. Der Qualm seiner Zigarette stieg zu dem abgeblätterten Deckengemälde empor, kerzengerade wie die Rauchsäule eines Opfers im windstillen Morgengrauen.

Er sah zum Fenster hinaus, in den vom Unkraut überwucherten Garten, und hielt Ausschau nach einem Schaf, das sich im Dorngestrüpp verfangen hatte, aber es gab keine Alternative, es gab nur Bücher. Und der Engel ließ die Hand fahren, die das Messer umklammerte, und verkrümelte sich - weinend, der armselige Narr.

Corso nahm einen letzten Zug von seiner Zigarette und schnippte sie in den Kamin. Er war müde und fröstelte trotz seines Mantels. Zu viele Worte hatte er in diesem Zimmer gehört, und er war froh, daß es keinen Spiegel gab, in dem er sein Gesicht hätte sehen können. Er warf mechanisch einen Blick auf die Uhr, aber ohne die Zeit abzulesen. Für das Vermögen auf den alten Teppichen und Gobelins hatte Victor Fargas mehr als genug Mitleid von ihm kassiert, und Corso fand, es sei nun an der Zeit, übers Geschäft zu reden.

»Unddie Neun Pforten!«

»Was ist damit?«

»Ihretwegen bin ich hier. Sie haben meinen Brief doch bekommen, oder?«

»Ihren Brief? Ach ja, natürlich. Jetzt erinnere ich mich wieder. Sie müssen mich entschuldigen, doch das alles hat mich ein wenig mitgenommen ... Die Neun Pforten, aber ja.«

Fargas schaute sich verwirrt um - ein Schlafwandler, den man brüsk geweckt hat. Er wirkte auf einmal sehr erschöpft, als habe er eine große Anstrengung hinter sich. Er hob den Finger zum Zeichen, daß er einen Augenblick nachdenken wollte, und steuerte dann hinkend auf eine Ecke des Salons zu. Dort waren etwa fünfzig Bände auf einem verschossenen französischen Gobelin angeordnet, auf dessen Resten man gerade noch den Sieg Alexanders des Großen über Darius erkennen konnte.

»Wußten Sie«, fragte Fargas, indem er auf die kunstvoll gewirkte Darstellung deutete, »daß Alexander die Schatztruhe seines Rivalen dazu verwendet hat, die Werke Homers aufzubewahren?« Er nickte zufrieden mit dem Kopf, während er das zerfaserte Profil des Makedoniers betrachtete. »Ein Bruder der Bibliophilie. Anständiger Kerl.«

Corso scherte sich einen Dreck um die literarischen Neigungen Alexanders des Großen. Er war in die Hocke gegangen und las die Titel auf den Rücken und Deckeln einiger Bücher. Es handelte sich durchweg um alte Traktate der Magie, Alchemie und Dämonologie: Les trois livres de l’Art, Destructor omnium rerum, Disertazioni sopra le apparizioni de ’ spiriti e diavoli, De origine, moribus et rebus gestis Satanae ...

»Was halten Sie davon?« fragte Fargas.

»Nicht schlecht.«

Der Bibliophile stieß ein lustloses Lachen aus. Er hatte sich neben Corso auf den Gobelin gekniet, ließ seine Hände mechanisch über die Bücher gleiten und vergewisserte sich, daß keines von ihnen auch nur einen Millimeter verrückt worden war, seit er sie zum letztenmal abgeschritten hatte.

»Nicht schlecht. Allerdings. Mindestens zehn davon sind Exemplare von höchster Seltenheit. Diesen Teil der Bibliothek habe ich von meinem Großvater geerbt. Er war ein Anhänger der Geheimlehren, und außerdem Hobby-Astrologe und Freimaurer ... Schauen Sie: Das ist ein Klassiker, das Dictionnaire infernale von Collin de Plancy in der ersten Ausgabe von 1842. Und das hier ist das Compendi dei secreti von Leonardo Fioravanti, 1571 gedruckt ... Bei dem kuriosen Duodezband dort drüben handelt es sich um die zweite Ausgabe des Buches der Wunder.« Er öffnete ein anderes und zeigte Corso einen Stich. »Sehen Sie sich diese Isis an ... Wissen Sie, was das ist?«

»Klar. Der Oedipus Aegiptiacus von Athanasius Kircher.«

»Genau. Die römische Ausgabe von 1652.« Fargas legte das Buch an seinen Platz zurück und nahm ein anderes zur Hand, dessen Einband Corso wohl bekannt war: schwarzes Leder, fünf Bünde, ohne Titel und mit einem Pentagramm auf dem Deckel. »Und hier ist das Stück, das Sie suchen: De Umbrarum Regni Novem Partis. Die neun Pforten ins Reich der Schatten.«

Corso bekam wider Willen eine Gänsehaut. Von außen betrachtet war dieser Band völlig identisch mit dem, der sich in seiner Segeltuchtasche befand. Fargas reichte ihm das Buch, und er richtete sich auf, während er es durchblätterte. Die beiden Exemplare glichen sich wie ein Ei dem anderen - oder doch beinahe. Bei diesem hier war das Leder des hinteren Deckels ein bißchen abgeschabt, und auf dem Rücken konnte man noch die Spur eines Schildchens erkennen, das aufgeklebt und dann wieder abgerissen worden war. Aber im übrigen war es so tadellos in Ordnung wie das Exemplar Varo Borjas, einschließlich der völlig unversehrten Bildtafel Nummer VIIII.

»Vollständig und in einwandfreiem Zustand«, sagte Fargas, das Mienenspiel Corsos richtig deutend. »Seit dreieinhalb Jahrhunderten wandert es auf der Welt umher, und wenn man es aufschlägt, wirkt es so frisch, als käme es gerade aus der Presse . Man könnte fast meinen, der Drucker habe den Teufel beschwört und einen Pakt mit ihm geschlossen.«

»Womöglich hat er das ja«, erwiderte Corso.

»Die Formel wüßte ich gern.« Der Bibliophile deutete mit einer ausholenden Armbewegung auf den desolaten Raum und die Bücherreihen auf dem Boden. »Meine Seele, um das alles konservieren zu können.«

»Warum versuchen Sie es nicht?« Corso zeigte auf die Neun Pforten. »Angeblich steckt die Formel da drin.«

»Diesen Quatsch habe ich nie geglaubt - obwohl es vielleicht an der Zeit wäre, damit anzufangen. Finden Sie nicht? Nach dem Sprichwort: In der Not frißt der Teufel Fliegen.«

»Ist das Exemplar in Ordnung? Haben Sie irgend etwas Ungewöhnliches an ihm bemerkt?«

»Nein, nicht das geringste. Es fehlen keine Seiten, und die Stiche sind auch alle beisammen: neun an der Zahl und die Titelseite. Alles noch genau so wie am Anfang des Jahrhunderts, als mein Großvater es gekauft hat. Es stimmt mit den Katalogen überein und mit den anderen beiden Exemplaren: dem von Ungern in Paris und dem von Terral-Coy.«

»Ehemals Terral-Coy. jetzt befindet es sich in der Sammlung Varo Borja in Toledo.«

Diese Worte mußten den Bibliophilen alarmiert haben, denn Corso fiel auf, daß sein Blick plötzlich wieder mißtrauisch wurde.

»Sagten Sie Varo Borja?« Er war drauf und dran, noch etwas hinzuzufügen, aber er machte im letzten Moment einen Rückzieher. »Eine bemerkenswerte Sammlung. Und sehr bekannt.« Fargas wanderte erneut im Zimmer auf und ab und betrachtete dann die Bücher auf dem Gobelin. »Varo Borja«, wiederholte er nachdenklich. »Ein Experte für Dämonologie, nicht wahr? Steinreicher Antiquar. Er ist seit Jahren hinter dieser Ausgabe der Neun Pforten her, bereit, jeden Preis zu bezahlen ... Ich wußte nicht, daß er an ein anderes Exemplar gekommen ist. Und Sie arbeiten für ihn?«

»Gelegentlich«, gab Corso zu.

Der andere schüttelte verwundert den Kopf und wandte seine Aufmerksamkeit dann wieder den Büchern auf dem Boden zu. »Eigenartig, daß er ausgerechnet Sie schickt. Schließlich sind Sie .«

Er ließ den Satz unbeendet und heftete seinen Blick auf Corsos Tasche.

»Haben Sie das Buch dabei? Darf ich es einmal sehen?«

Sie gingen zu dem Tisch, und Corso legte sein Exemplar neben das von Fargas. Der Atem des Bibliophilen wurde kürzer, und sein Gesicht nahm wieder den Ausdruck ekstatischer Verzückung an.

»Sehen Sie sich die Bücher genau an.« Er sprach leise, als fürchte er, an ein Geheimnis zu rühren, das zwischen diesen Seiten schlummerte. »Sie sind perfekt, wunderschön und identisch. Zwei von den drei Exemplaren, die dem Feuer entronnen sind, seit dreihundertfünfzig Jahren zum erstenmal beieinander . « Seine Hände zitterten jetzt wieder, und er massierte sich die Pulsadern an den Handgelenken, um sein wallendes Blut ein wenig zu beruhigen. »Beachten Sie den Druckfehler auf Seite 72. Und das gebrochene »s« in der vierten Zeile auf Seite 87. Dasselbe Papier, derselbe Druck ... Ist das nicht phantastisch?«

»Doch.« Corso räusperte sich. »Und ich würde gern eine Weile hier bleiben. Um sie ernsthaft zu studieren.«

Fargas musterte ihn scharf. Er schien zu zweifeln.

»Wie Sie möchten«, sagte er endlich. »Aber wenn es sich bei Ihrem Exemplar um das von Terral-Coy handelt, steht seine

Echtheit außer Frage.« Er beobachtete Corso neugierig, als wolle er in seinen Gedanken lesen. »Das sollte Varo Borja eigentlich wissen.«

»Wahrscheinlich weiß er das auch.« Corso setzte ein neutrales Lächeln auf. »Aber ich werde dafür bezahlt, daß ich es überprüfe.« Er lächelte immer noch - nun war einer der heikelsten Punkte erreicht. »Apropos ... Wo wir schon von Bezahlung sprechen: Ich bin dazu autorisiert, Ihnen ein Angebot zu machen.«

Die Neugier des Bibliophilen schlug in Mißtrauen um.

»Was für ein Angebot?«

»Geld. Eine beträchtliche Summe.« Corso legte die Hand auf das zweite Exemplar. »Damit könnten Sie Ihre Probleme eine Zeitlang lösen.«

»Wer zahlt? Varo Borja?«

»Schon möglich.«

Fargas faßte sich mit den Fingern ans Kinn.

»Er hat bereits eines der Bücher«, sagte er. »Will er sie etwa alle drei beisammen haben?«

So verrückt dieser Mensch auch sein mochte, blöd war er nicht. Corso gab ihm mit einer vagen Geste zu verstehen, daß er das auch nicht so genau wußte. Vielleicht. Diese Büchersammler waren ja zu allem fähig. Aber angenommen, Fargas entschloß sich zu dem Verkauf, so konnte er den Vergil retten.

»Sie haben anscheinend immer noch nicht verstanden«, erwiderte der Bibliophile, obwohl Corso in Wahrheit sehr gut verstand. Hier war nichts zu machen.

»Vergessen Sie es«, sagte er. »Das war nur so eine Idee.«

»Ich verkaufe nicht wahllos. Ich suche meine Bücher aus. Das habe ich Ihnen doch erklärt.«

Die Adern auf den Rücken seiner verkrampften Hände schwollen an, und er begann in Wut zu geraten, so daß Corso fünf Minuten nur darauf verwendete, Signale der Beschwichti-gung auszusenden. Das Angebot sei völlig zweitrangig, eine reine Routineangelegenheit. Was er in Wirklichkeit wolle, sei etwas ganz anderes, nämlich die beiden Exemplare ausführlich miteinander vergleichen. Zu seiner großen Erleichterung nickte Fargas am Schluß zustimmend.

»Dagegen gibt es eigentlich nichts einzuwenden«, sagte er, während sein Mißtrauen sich ein wenig legte. Es war offensichtlich, daß Corso ihm sympathisch war, sonst wären die Dinge anders gelaufen. »Nur kann ich Ihnen leider nicht viel zu ihrer Bequemlichkeit bieten.«

Er führte ihn durch einen kahlen Korridor zu einem kleinen Zimmer, in dem ein zu Brennholz geschlagenes Klavier in der Ecke lag. Auf einem Tisch stand eine alte Menora, ein sieben-armiger Leuchter aus Bronze mit Tropfengebilden aus Wachs, und davor waren zwei aus den Fugen geratene Stühle gerückt.

»Wenigstens haben Sie es hier ruhig«, meinte Fargas. »Und die Fensterscheiben sind heil.«

Er schnalzte mit den Fingern, als habe er etwas vergessen, humpelte aus dem Zimmer und kehrte kurze Zeit später mit der Cognacflasche zurück, die allerdings nahezu leer war.

»Dann hat Varo Borja es also endlich bekommen«, wiederholte er und schien in sich hineinzulächeln, als bereite ihm diese Vorstellung Vergnügen. Danach stellte er die Flasche und das Glas auf den Boden, weit entfernt von den beiden Exemplaren der Neun Pforten, sah sich um, wie ein zuvorkommender Gastgeber es getan hätte, um zu überprüfen, ob alles in Ordnung war, und richtete vor dem Hinausgehen eine letzte ironische Bemerkung an Corso:

»Fühlen Sie sich wie zu Hause.«

Corso leerte sein Glas, packte seine Aufzeichnungen aus und begann zu arbeiten. Auf einem Blatt Papier waren in Tinte drei Kästen gezeichnet, in die er jeweils eine Nummer und einen Namen geschrieben hatte:



Er begann, Seite für Seite, jeden Unterschied zwischen Exemplar eins und Exemplar zwei aufzuschreiben, so klein er auch war: ein Fleck auf dem Papier, hier eine dunklere Tönung der Druckfarbe usw. Als er bei der ersten Abbildung ankam -NEM. PERV.T QVI N.N LEG. CERT.RIT: der Ritter, der den Betrachter zum Schweigen aufforderte -, zog er aus seiner Segeltuchtasche eine Lupe mit siebenfacher Vergrößerung heraus und begann die Holzschnitte der beiden Exemplare Linie um Linie miteinander zu vergleichen. Sie waren identisch. Er stellte fest, daß sogar die Tiefe des Abdrucks, den die Klischees auf dem Papier hinterlassen hatten, dieselbe war, wie überhaupt die ganze typographische Gestaltung der beiden Bände. Es gab weder Zeilen noch Lettern, die abgenützt, beschädigt oder verbogen gewesen wären, und wenn, so waren sie es in beiden Exemplaren. Das bedeutete, daß die Bücher eins nach dem anderen, womöglich sogar unmittelbar hintereinander, mit derselben Presse gedruckt worden waren. Corso hatte es also mit einem Zwillingspaar zu tun, wie es im Jargon der Gebrüder Ceniza hieß.

Er fuhr mit seinen Notizen fort. Ein geringfügiger Mangel in der sechsten Zeile von Seite 19 des zweiten Exemplars hielt ihn ein wenig auf, bis er sicher war, daß es sich um einen simplen Tintenfleck handelte. Er blätterte weiter. Beide Exemplare hatten denselben Aufbau: ein Vorsatz und 160 Seiten auf zwanzig gehefteten Druckbogen, die jeweils achtmal gefalzt waren. Die neun Bildtafeln gehörten in beiden Büchern nicht zum eigentlichen Text. Man hatte sie extra gedruckt - die Rückseiten waren »vakat«, also unbedruckt - und erst bei der

Bindung eingefügt. Ihre Position innerhalb der Bücher war in beiden Exemplaren identisch:












Entweder Varo Borja litt an Wahnvorstellungen oder dieser Auftrag war verdammt seltsam. Hier deutete nichts, aber auch gar nichts, auf eine Fälschung hin. Bestenfalls konnte es sich um eine apokryphe Ausgabe der Zeit handeln, der dann aber beide Exemplare angehören mußten. Nummer eins und Nummer zwei waren ein Musterbeispiel der Rechtschaffenheit auf gedrucktem Papier.

Corso trank den letzten Rest Cognac und beugte sich dann mit der Lupe über den Holzschnitt II - CLAVS. PAT.T -, der bärtige Eremit mit den zwei Schlüsseln, eine Laterne auf dem Boden und eine verschlossene Tür. Wie er so die Tafeln miteinander verglich, fühlte er sich auf einmal wieder wie als kleiner Junge vor einem Suchbild, in dem es sieben Fehler zu entdecken galt. Und im Grunde - er schnitt eine Grimasse -ging es genau darum. Das Leben als Spiel. Und die Bücher als Spiegel des Lebens.

Da sah er es - plötzlich und unerwartet, wie es bisweilen passiert, wenn man etwas aus der richtigen Perspektive betrachtet und Dinge oder Situationen, die einem zunächst konfus erscheinen, Form annehmen und verständlich werden.

Corso holte tief Luft und blähte die Backen, als wolle er jeden Augenblick in prustendes Gelächter ausbrechen, aber er brachte nur ein trockenes, ungläubiges und humorloses Husten zustande. Das war unmöglich. Mit solchen Dingen schummelte man nicht. Er schüttelte verwirrt den Kopf. Was er da vor sich hatte, war kein Rätselheft vom Bahnhofskiosk, das waren Bücher, die vor dreihundertfünfzig Jahren hergestellt worden waren. Sie hatten ihrem Drucker das Leben gekostet, waren auf dem Index der Inquisition gestanden und wurden von den seriösesten Bibliographien zitiert: Tafel II. Lateinische Bildunterschrift. Greis mit zwei Schlüsseln und einem Licht vor verschlossener Tür ... Aber niemand hatte bis jetzt zwei von den insgesamt drei bekannten Exemplaren nebeneinander gelegt und verglichen. Abgesehen davon, daß es nicht einfach war, sie zusammenzubekommen, hatte das niemand für nötig gehalten. Greis mit zwei Schlüsseln. Das hatte genügt.

Corso stand vom Tisch auf und ging zum Fenster. Dort blieb er eine Weile stehen und sah durch die Scheibe hinaus, die sich langsam von seinem Atem beschlug. Letzten Endes hatte Varo Borja doch recht. Aristide Torchia mußte sich dort oben auf seinem Scheiterhaufen in Campo dei Fiori schiefgelacht haben, bevor das Feuer seiner Spottlust für immer ein Ende bereitete. Dieser postume Streich war genial.

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