Und ich, der ich einen kleinen Roman auf ihm aufgebaut hatte, irrte mich total.
P. Souvestre, Fantômas
Hier nun, glaube ich, ist es an der Zeit, noch einmal eindeutig meine Funktion als Erzähler darzulegen. Treu dem Prinzip, daß der Leser in Detektivromanen über dieselben Informationen verfügen muß wie der Held der Geschichte, habe ich mich bemüht, die Ereignisse aus der Sicht Lucas Corsos zu schildern. Ausnahmen stellen das erste und fünfte Kapitel dar, wo mir nichts anderes übrigblieb, als persönlich in Erscheinung zu treten. Dies soll nun zum dritten Mal geschehen, und dabei möchte ich - konsequenterweise - wie schon in den genannten Kapiteln in der ersten Person Singular erzählen. Zum einen fände ich es sehr unangemessen, von mir selbst als er zu sprechen: Das ist ein billiger Werbetrick, den Gaius lulius Caesar für De bello Gallico zur Aufwertung seines Images verwendet haben mag - in meinem Fall könnte man von unangebrachter Pedanterie sprechen, und das bestimmt zu Recht. Es gibt aber auch noch einen anderen, vielleicht etwas absonderlich anmutenden Grund: Ich finde es ganz einfach amüsant, die Geschichte in der Art eines Doktor Sheppard darzustellen, wie eine Unterhaltung mit Poirot. Nicht, daß ich mir dabei besonders innovativ vorkäme - schließlich macht das heutzutage alle Welt -, aber es bereitet mir doch einiges Vergnügen. Und warum schreibt man letztendlich? Um Spaß zu haben, um intensiver zu leben, um sich selbst zu beweisen oder wegen der Anerkennung der anderen. Für mich gelten gleich mehrere dieser Punkte. Wie sagte schon der alte Eugène Sue? Waschechte Bösewichte sind ein seltenes Phänomen. Gehen wir einmal davon aus, ich sei einer.
Tatsache ist, daß ich, Boris Balkan, der Verfasser dieser Zeilen, unseren Gast in der Bibliothek erwartete und Corso plötzlich mit gezücktem Messer und einem gefährlichen Glanz in den Augen eintreten sah. Mir fiel natürlich sofort auf, daß er ohne Begleitung war, und das beunruhigte mich ein wenig, aber ich versuchte, die Maske der Unerschütterlichkeit zu bewahren, die ich für eine solche Situation immer parat habe. Im übrigen war die Wirkung der Szenerie, die sich Corso bot, wohl kalkuliert: die dämmrige Bibliothek, die Kerzenleuchter auf dem Tisch, hinter dem ich saß, eine Ausgabe der Drei Musketiere in meiner Hand ... Ich trug sogar eine Jacke aus rotem Samt, den man leicht mit dem Kardinalspurpur in Verbindung bringen konnte.
Mein großer Vorteil war, daß ich den Bücherjäger, mit oder ohne Begleitung, erwartet hatte, er mich aber nicht. Ich beschloß also, den Überraschungsfaktor auszunützen. Das Messer in seiner Hand und der bedrohliche Ausdruck in seinen Augen verunsicherten mich, und es schien mir geraten, mit Worten etwaigen unüberlegten Handlungen zuvorzukommen.
»Ich beglückwünsche Sie«, sagte ich und schloß das Buch, als habe mich seine Ankunft in der Lektüre unterbrochen. »Sie haben es geschafft, das Spiel bis zum Ende durchzuhalten.«
Corso starrte mich vom anderen Ende des Zimmers aus an, und ich muß gestehen, daß mir die Ungläubigkeit, die ich in seinen Zügen las, große Genugtuung bereitete.
»Spiel?« stieß er mit heiserer Stimme hervor.
»Ja, Spiel. Spannung, Ungewißheit, Geschicklichkeit, Können . Freies Handeln nach obligatorischen Regeln, das seinen Sinn in sich selbst hat und mit einem Gefühl der Spannung und Freude einhergeht, weil man sich anders verhalten darf als im normalen Leben.« Das stammte zwar nicht von mir, aber darauf brauchte ich Corso ja nicht mit der Nase zu stoßen. »Wie finden Sie diese Definition? Schon im zweiten Buch Samuel steht geschrieben: Ruft die Kinder, und laßt sie vor uns spielen. Kinder sind ideale Spieler und Leser: Sie machen alles mit größtem Ernst. Im Grunde ist ein Spiel die einzig wirklich ernsthafte Beschäftigung, die es auf der Welt gibt. Dabei haben Skeptiker nichts verloren ... So ungläubig und zweiflerisch einer auch ist, wenn er mitspielen will, hat er keine andere Wahl, als sich den Regeln zu unterwerfen. Nur wer die Regeln respektiert oder sie zumindest kennt und befolgt, kann gewinnen . Dasselbe gilt fürs Lesen: Um eine Geschichte genießen zu können, muß man die Handlung und die Figuren akzeptieren.«
Ich hielt inne, in der Annahme, mit meinem Wortschwall inzwischen die beabsichtigte beruhigende Wirkung erzielt zu haben. »Apropos ... Sie sind ja nicht allein hierhergekommen. Wo ist der andere?«
»Rochefort?« Corso verzog das Gesicht zu einer sehr unsympathischen Grimasse. »Der hatte einen Unfall.«
»Sie nennen ihn Rochefort? Das ist spaßig ... und sehr treffend. Ich sehe, daß Sie zu denjenigen gehören, die die Regeln annehmen. Aber das sollte mich eigentlich nicht überraschen.«
Corso setzte ein Grinsen auf, das mich alarmierte.
»Er wirkte ziemlich überrascht, als ich ihn das letzte Mal gesehen habe.«
»Sie beunruhigen mich etwas«, erwiderte ich mit einem zynischen Lächeln, obwohl ich wirklich sehr besorgt war. »Ich hoffe, es ist ihm nichts Schlimmes zugestoßen.«
»Er ist die Treppe hinuntergefallen.«
»Was sagen Sie da?!«
»Doch, tatsächlich. Aber regen Sie sich wieder ab. Als ich Ihren Sbirren verlassen habe, hat er noch geatmet.«
»Gott sei Dank.« Ich versuchte zu lächeln, um meinen Schreck zu verbergen, aber mir war doch sehr unwohl zumute. Offensichtlich waren hier die abgesteckten Grenzen bei weitem überschritten worden. »Sie haben also ein bißchen geschummelt? Nun gut«, sagte ich und breitete großmütig die Arme aus. »Machen Sie sich deshalb keine Sorgen.«
»Ich mache mir keine Sorgen. Aber Sie sollten es tun.«
Ich überhörte seine Bemerkung geflissentlich.
»Hauptsache, man kommt ans Ziel«, fuhr ich fort, obwohl ich einen Moment den Faden verloren hatte. »In Sachen Schummeln gibt es ja berühmte Präzedenzfälle: Ohne Ariadnes Wollknäuel hätte Theseus nie aus dem Labyrinth herausgefunden, und lason konnte das Goldene Vlies auch nur mit Medeas Hilfe rauben . Im Mahabharata, dem indischen Nationalepos, gewinnen die Kauvaras das Würfelspiel auf etwas unlautere Weise, und die Griechen setzen die Trojaner bekanntlich mit dem hölzernen Pferd schachmatt ... Sie brauchen Ihr Gewissen also nicht zu belasten.«
»Danke, aber mein Gewissen geht Sie nichts an.«
Er zog den zusammengefalteten Freibrief Miladys aus der Manteltasche und warf ihn auf den Tisch. An den wie immer etwas wacklig geratenen Großbuchstaben erkannte ich sofort meine eigene Handschrift. Der Besitzer dieses Schreibens hat auf meinen Befehl und zum Wähle des Staates gehandelt und so weiter.
»Ich hoffe«, sagte ich, während ich das Papier über die Flamme einer Kerze hielt, »daß Ihnen das Spiel wenigstens Spaß gemacht hat.«
»Mitunter.«
»Das freut mich.« Wir sahen beide zu, wie der Zettel im Aschenbecher verbrannte. »Wo die Literatur mit im Spiel ist, kann der intelligente Leser sich sogar dann vergnügen, wenn er strategisch in die Rolle des Opfers gedrängt wird. Ich bin der Meinung, daß in erster Linie Spaß zum Spielen gehört. Wie auch zum Lesen oder Schreiben einer Geschichte.«
Ich nahm die Drei Musketiere in die Hand, stand auf und spazierte ein paar Schritte durchs Zimmer, wobei ich unauffällig zur Wanduhr hinüberschielte. Bis Mitternacht fehlten noch lange 20 Minuten. Die goldgeprägten Rücken der säuberlich aneinandergereihten alten Bücher schimmerten in den Regalen. Ich versenkte mich einen Moment lang in ihren Anblick, als hätte ich Corso vergessen, und drehte mich dann wieder nach ihm um.
»Da stehen sie.« Ich wies mit einer ausholenden Armbewegung auf die Bibliothek. »Man sollte meinen, sie seien stumm, aber das stimmt nicht; sie reden miteinander, auch wenn sie offenbar gar nichts gemein haben. Sie benutzen die Autoren, um Kontakt aufzunehmen, genau wie das Ei auf die Henne zurückgreift, um weitere Eier hervorzubringen.«
Ich stellte die Drei Musketiere ins Regal zurück. Dumas war in guter Gesellschaft: zwischen den Pardaillan von Zévaco und dem Ritter im gelben Wams von Lucus de René. Um etwas Zeit zu gewinnen, griff ich nach letzterem, schlug es auf der ersten Seite auf und begann laut zu lesen:
Als es in Saint-Germain-l Auxerrois Mitternacht schlug, kamen drei Herren die Rue des Bourdonnais herunter. Sie waren in weite Umhänge gehüllt und wirkten so sicher wie der Trab ihrer Pferde ...
»Die Anfangszeilen«, sagte ich. »Immer diese herrlichen Anfangszeilen ... Erinnern Sie sich an unser Gespräch über Scaramouche? Er kam mit der Gabe des Lachens zur Welt ... Es gibt Anfangssätze, die ein ganzes Leben prägen können, glauben Sie nicht? Die Waffen und den Mann besinge ich ... zum Beispiel. Haben Sie das nie mit einem Freund gespielt? ... Am Himmelfahrtstage, nachmittags um drei Uhr, rannte ein junger Mensch ... Und dieser hier: Ich hatte es mir zur Gewohnheit gemacht, früh ins Bett zu gehen ... Und natürlich: Am 15. Mai 1796 hat General Bonaparte seinen Einzug in Mailand gehalten.«
Corso schnitt eine Grimasse.
»Sie vergessen den Satz, der mich hierher gebracht hat: Am ersten Montag des Monats April, im Jahre 1625, schien der Marktflecken Meung in einem solchen Aufruhr ...«
»Erstes Kapitel, in der Tat«, bestätigte ich. »Sie haben Ihre Sache wirklich gut gemacht.«
»Das hat Rochefort auch gesagt, bevor er die Treppe hinuntergepurzelt ist.«
Unser nachfolgendes Schweigen wurde vom dreimaligen Schlagen der Uhr unterbrochen. Corso deutete auf das Zifferblatt.
»In einer Viertelstunde ist es soweit, Balkan.«
»Ja.« Ich nickte. Die Intuition dieses Menschen war beneidenswert. »In fünfzehn Minuten beginnt der erste Montag im April.«
Ich stellte den Ritter im gelben Wams an seinen Platz zurück und begann im Zimmer auf und ab zu gehen. Corso beobachtete mich reglos und noch immer mit dem Messer in der Hand.
»Möchten Sie das nicht wegstecken?« wagte ich ihn zu fragen.
Er zögerte einen Moment, bevor er die Klinge in die Scheide zurückschob und das Messer in seine Manteltasche gleiten ließ, ohne mich aus den Augen zu verlieren. Ich dankte ihm mit einem Lächeln und wies dann wieder auf die Bibliothek.
»Mit einem Buch ist man nie allein, habe ich recht?« sagte ich, um irgend etwas zu sagen. »Jede Seite erinnert uns an einen vergangenen Tag, läßt uns die Gefühle wiedererleben, die ihn anfüllten. Glückliche Stunden mit Kreide markiert, traurige mit Kohle . Wo war ich damals? Welcher Prinz nannte mich seinen Freund, welcher Bettler seinen Bruder?« Ich stockte und suchte nach weiteren Beispielen, um die Sache rhetorisch abzurunden.
»Welcher Hurensohn seinen Kumpan?« schlug Corso vor.
Ich sah ihn mißbilligend an. Dieser Spielverderber vermasselte mir alles. Dabei hatte ich unserem Gespräch doch ein gehobenes Niveau geben wollen.
»Warum sind Sie so ruppig? Das finde ich nicht nett von Ihnen.«
»Was Sie finden, ist mir völlig egal. Eminenz.«
»Aus diesem >Eminenz< höre ich einen Vorwurf heraus«, erwiderte ich ehrlich betrübt. »Daraus muß ich schließen, daß Sie sich von Ihren Vorurteilen leiten lassen, Senor Corso ... Es war Dumas, der Richelieu in einen Bösewicht verwandelt und die Wirklichkeit auf seinen Roman zugeschnitten hat . Ich dachte, das hätte ich Ihnen bei unserer letzten Begegnung in Madrid erklärt.«
»Nichts als ein schmutziger Trick«, erwiderte Corso, ohne zu präzisieren, ob er sich auf Dumas oder auf mich bezog.
Ich hob energisch den Zeigefinger, um ihn zurechtzuweisen.
»Das war ein legitimes Mittel«, wandte ich ein. »Ein schlauer Kunstgriff des genialsten aller Romanciers. Und doch .« An diesem Punkt setzte ich ein bitteres, trauriges Lächeln auf, das durchaus ernst gemeint war. »Saint Beuve hat Dumas respektiert, aber nicht als Literaten anerkannt. Victor Hugo, sein Freund, bewunderte Dumas’ Fähigkeit, Spannung zu erzeugen, aber nicht mehr. Weitschweifig und umständlich, sagten sie. Zu wenig Stil. Sie klagten ihn an, nicht tief genug in der menschlichen Seele zu schürfen. Sie bedauerten den Mangel an Feingefühl ... Mangel an Feingefühl!«
Ich strich mit der Hand über die verschiedenen Ausgaben der Drei Musketiere, die in den Regalen aufgereiht waren.
»Ich stimme völlig mit dem guten Stevenson überein: Es gibt kein zweites so hinreißendes und schönes Loblied auf die Freundschaft wie dieses. In Zwanzig fahre nachher erscheinen die Protagonisten zunächst etwas distanziert. Sie sind reife, egoistische Männer, die das Leben bisweilen zu Niederträchtigkeiten zwingt, und kämpfen sogar in entgegengesetzten Lagern: Aramis und d’Artagnan belügen sich und heucheln, Porthos fürchtet, daß sie Geld von ihm wollen . Zu ihrer Verabredung auf der Place Royal erscheinen sie bewaffnet und sind drauf und dran, sich zu duellieren. Und als Athos’ Unvorsichtigkeit sie in England alle miteinander in Gefahr bringt, weigert sich d’Artagnan, ihm die Hand zu geben ... Im Grafen von Bragelonne kämpfen Aramis und Porthos, in der Episode mit der eisernen Maske, gegen ihre alten Kameraden . Aber das alles doch nur, weil sie lebendig sind - widersprüchliche, menschliche Wesen! Und trotzdem siegt letztendlich immer die Freundschaft. Ja, die Freundschaft . Was für eine noble Empfindung! Haben Sie Freunde, Corso?«
»Das ist eine gute Frage.«
»Für mich verkörpert Porthos in der Grotte von Locmaria den Inbegriff der Freundschaft: der Gigant, der kurz davor steht, von einem Felsbrocken erdrückt zu werden, um seine Kameraden zu retten ... Erinnern Sie sich an seine letzten Worte?«
»Die Last ist zu schwer?«
»Exakt!«
Ich muß gestehen, daß ich den Tränen nahe war. Corso war einer der Unseren. Aber auch ein nachtragender Dickkopf, der sich darauf versteift hatte, gefühllos zu bleiben.
»Sie sind Liana Taillefers Liebhaber«, sagte er.
»Ja«, gab ich zu, indem ich mich widerwillig von dem guten Porthos losriß. »Eine tolle Frau, nicht? Wenn sie auch ihre fixen Ideen hat ... Schön und loyal wie Milady de Winter. Es ist schon komisch. In der Literatur gibt es Charakterfiguren, die Millionen von Menschen bekannt sind, selbst wenn sie die
entsprechenden Bücher nie gelesen haben. In England sind es drei: Sherlock Holmes, Romeo und Robinson Crusoe; in Spanien zwei: Don Quijote und Don Juan; in Frankreich einer: d’Artagnan ...«
»Sie kommen schon wieder vom Thema ab, Senor Balkan.«
»Nein, das komme ich nicht. Ich wollte nämlich gerade noch den Namen Miladys hinzufügen. Eine außergewöhnliche Frau - wie Liana auf ihre Art. Der Mann war ihr nie gewachsen.«
»Meinen Sie Athos?«
»Nein, ich meine den armen Enrique Taillefer.«
»Ist er deswegen umgebracht worden?«
Ich vermute, daß meine Verwunderung echt wirkte. In Wirklichkeit war sie echt.
»Enrique umgebracht? Reden Sie keinen Unsinn. Er hat sich aufgehängt. Das war eindeutig Selbstmord. Er hatte etwas seltsame Vorstellungen und muß sich wohl gedacht haben, das sei ein heroischer Entschluß. Sehr bedauerlich.«
»Das glaube ich nicht.«
»Wie Sie möchten. Jedenfalls ist sein Tod der Auslöser dieser ganzen Geschichte und die indirekte Ursache dafür, daß Sie jetzt hier sind.«
»Dann erzählen Sie mir die Geschichte endlich. Aber schön langsam.«
Er hatte es verdient, soviel stand fest. Aber ich sagte ja bereits vorher, daß Corso einer von den Unseren war, auch ohne sich dessen bewußt zu sein. Mit einem Blick auf die Uhr stellte ich fest, daß es in Kürze Mitternacht schlagen würde.
»Haben Sie den Vin d’Anjou dabei?«
Er sah mich mißtrauisch an und versuchte meine Gedanken zu erraten, dann streckte er die Waffen. Mit mürrischem Gesicht zeigte er mir die Mappe, die das Manuskript enthielt, und verbarg sie dann wieder unter seinem Mantel.
»Ausgezeichnet«, sagte ich. »Und jetzt, folgen Sie mir!«
Wahrscheinlich hatte er mit einer geheimen Wandtür gerechnet, hinter der ihn wieder irgendeine teuflische Falle erwartete, denn ich sah, wie seine Hand auf der Suche nach dem Messer in die Tasche glitt. »Das werden Sie nicht brauchen«, beruhigte ich ihn.
Er schien nicht sehr überzeugt, gab aber keinen Kommentar von sich.
Ich ergriff einen der Kerzenleuchter und geleitete Corso durch den Korridor im Louistreize-Stil. An einer der Wände hing ein wunderschöner Gobelin: der mit Pfeil und Bogen bewaffnete Odysseus, nach Ithaka heimgekehrt, Pénélope und der Hund, die ihn erfreut wiedererkennen, und im Hintergrund das Gelage der Freier, die Wein trinken und nicht ahnen, was ihnen bevorsteht.
»Die Burg ist uralt und sehr geschichtsträchtig«, erzählte ich. »Sie ist von Engländern, Hugenotten und Revolutionären geplündert worden . Sogar die Deutschen hatten hier während des Krieges ein Kommando eingerichtet. Sie war total heruntergekommen, als der jetzige Besitzer sie gekauft hat: ein englischer Millionär, nicht nur ein vollendeter Gentleman, sondern auch ein reizender Mensch. Er hat die Burg restaurieren lassen und mit sehr viel Geschmack neu eingerichtet. Jetzt können sogar Touristen herein.«
»Und was haben Sie hier verloren? Mitten in der Nacht? Das sind keine Besuchszeiten.«
Wir kamen gerade an einem Fenster mit Butzenscheiben vorbei, und ich warf einen Blick hinaus. Das Gewitter hatte sich endlich verzogen. Nur jenseits der Loire, im Norden, sah man es noch wetterleuchten.
»An einem Tag im Jahr wird eine Ausnahme gemacht«, erklärte ich Corso. »Schließlich ist Meung ein ganz besonderer Ort. Nicht überall läßt man einen Roman wie die Drei Musketiere beginnen.«
Der Holzboden knarrte unter unseren Schritten. In einer Nische des Korridors stand eine Rüstung - aus dem 16. Jahrhundert. Ihr blankpolierter Brustpanzer schimmerte im Flackerlicht der Kerze. Corso schielte im Vorbeigehen hinüber, als fürchte er, es könne sich jemand darin versteckt haben.
»Die Geschichte, die ich Ihnen erzählen will, ist sehr lang«, sagte ich. »Sie beginnt vor zehn Jahren in Paris, und zwar anläßlich einer Auktion, bei der alte Dokumente versteigert werden sollten, die noch nicht einmal katalogisiert waren ... Ich schrieb damals gerade an einem Buch über den französischen Unterhaltungsroman des 19. Jahrhunderts. Durch puren Zufall sind dabei ein paar verstaubte Bündel in meine Hände gelangt. Ich habe sie durchgesehen und festgestellt, daß sie aus den alten Archiven des Le Siècle stammten. Es handelte sich fast ausschließlich um wertlose Andrucke, aber ein Päckchen mit blauen und weißen Blättern hat meine Aufmerksamkeit erregt: die Originalfassung der Drei Musketiere, handgeschrieben von Dumas und Maquet. Alle siebenundsechzig Kapitel, so, wie sie in den Druck gegeben wurden. Irgend jemand, vielleicht der Chefredakteur Baudry, hatte sie nach dem Setzen der Fahnen aufbewahrt und später vergessen ...«
Ich verlangsamte meinen Schritt und blieb schließlich mitten im Gang stehen. Corso sagte kein Wort. Das Licht des Kandelabers, den ich in der Hand hielt, beschien sein Gesicht von unten nach oben und ließ in seinen Augenhöhlen dunkle Schatten tanzen. Er schien völlig von meiner Erzählung gefangen und konnte es kaum erwarten, endlich das Geheimnis zu enthüllen, das ihn hierher geführt hatte. Aber seine rechte Hand blieb in der Tasche mit dem Messer.
»Meine Entdeckung«, fuhr ich fort und gab vor, die Hand nicht zu bemerken, »war von außerordentlicher Bedeutung. Man kannte wohl einzelne Fragmente der Originalfassung aus den Nachlässen Dumas’ und Maquets, aber niemand hätte sich träumen lassen, daß noch das gesamte Manuskript der Drei Musketiere existierte . Anfänglich dachte ich daran, meinen Fund in Form einer kommentierten Faksimile-Ausgabe zu veröffentlichen, aber dann kamen mir schwerwiegende moralische Bedenken.«
Corsos Gesicht hellte sich im Schein der Kerze einen Augenblick lang auf, er grinste.
»Moralische Bedenken? Das hätte ich Ihnen nicht zugetraut.«
Ich bewegte den Kerzenleuchter in dem vergeblichen Versuch, das höhnische Grinsen aus seinem Gesicht zu löschen.
»Mir ist es durchaus ernst, Senor Corso«, sagte ich, während wir uns wieder in Bewegung setzten. »Das Studium des Manuskripts brachte mich zu der Einsicht, daß Auguste Maquet der eigentliche Erfinder der Geschichte war. Er hat die vorbereitenden Recherchen durchgeführt und den Roman in groben Zügen zu Papier gebracht. Später hat Dumas dank seines genialen Erzähltalents dieser Rohfassung Leben eingehaucht und sie in ein Meisterwerk verwandelt. Aber überzeugen Sie davon mal die Leute, die ewig über Dumas und sein Werk lästern!« Ich machte mit der freien Hand eine wegwerfende Geste. »Jedenfalls wollte nicht ausgerechnet ich derjenige sein, der ein Heiligtum demoliert - zumal in einer Zeit der Mittelmäßigkeit und Phantasielosigkeit. Wer ist heute noch in der Lage, sich für etwas zu begeistern, wie etwa die Leserschaft der alten Feuilletonromane oder das Theaterpublikum von einst, das die Verräter auf der Bühne auspfiff und den Rittern ohne Furcht und Tadel Beifall klatschte?« Ich schüttelte traurig den Kopf. »Nein ... heute applaudieren nur noch Kinder und Menschen, die jenseits von Gut und Böse sind.«
Corso hörte mir mit aufmüpfiger und spöttischer Miene zu. Ich weiß nicht, ob er meine Ansichten insgeheim teilte oder nicht. Jedenfalls war er nachtragend und weigerte sich, mein moralisches Alibi gelten zu lassen.
»Langer Rede kurzer Sinn«, sagte er: »Sie haben das Manuskript vernichtet.«
Er lächelte süffisant und besserwisserisch.
»Reden Sie keinen Quatsch! Ich habe etwas viel Besseres getan: Ich habe einen Traum verwirklicht.«
Wir waren vor der verschlossenen Tür des Festsaals stehengeblieben, aus dem gedämpftes Stimmengewirr und Musik drang. Ich stellte den Kerzenleuchter auf einer Konsole ab, während Corso mich wieder mißtrauisch ansah: Bestimmt fragte er sich, was für ein Streich ihn wohl diesmal erwartete. Offensichtlich war ihm noch immer nicht klar, daß er wirklich vor der Auflösung des Rätsels stand.
»Erlauben Sie«, sagte ich und öffnete die Tür, »daß ich Ihnen die Mitglieder des Club Dumas vorstelle.«
Fast alle Geladenen waren bereits eingetroffen. Durch die großen Glastüren, die sich auf die Esplanade der Burg öffneten, betraten die letzten Nachzügler den Salon, der vor Menschen wimmelte. Zigarrenrauch, angeregtes Geplauder und leise Hintergrundmusik füllten die Luft. In der Saalmitte war auf einem Tisch mit weißer Tafeldecke ein kaltes Büfett angerichtet worden: Flaschen mit Anjouwein, Würste und Schinken aus Amiens, Austern aus La Rochelle, Schachteln mit Monte-Christo-Zigarren. Die Gäste standen in Grüppchen herum, tranken und unterhielten sich in den unterschiedlichsten Sprachen. Es waren insgesamt um die fünfzig Männer und Frauen, und ich konnte beobachten, wie Corso sich an die Brille faßte, als wolle er überprüfen, ob sie noch auf der Nase saß. Viele der Gesichter mußten ihm aus Presse, Kino und Fernsehen bekannt sein.
»Überrascht?« fragte ich und betrachtete ihn neugierig.
Er nickte düster und sprachlos. Mehrere der Anwesenden kamen auf uns zu, um mich zu begrüßen. Ich schüttelte Hände, verteilte Komplimente, machte den einen oder anderen Witz. Die Atmosphäre war heiter und entspannt. Corso, der neben mir herging, machte das Gesicht eines Menschen, der gerade aus dem Bett gefallen ist, und ich amüsierte mich köstlich. Ja, ich konnte es mir nicht verkneifen, ihm ein paar Gäste vorzustellen und zu beobachten, wie er ihnen fassungslos die Hand reichte. Er hatte völlig den Boden unter den Füßen verloren. Seine Selbstsicherheit bröckelte förmlich von ihm ab, und das war meine kleine Revanche. Schließlich hatte er den ersten Schritt getan, als er mit dem Vin d’Anjou unterm Arm zu mir gekommen war, entschlossen, die Dinge zu komplizieren.
»Gestatten Sie mir, daß ich Ihnen Senor Corso vorstelle. Bruno Lostia, ein Antiquitätenhändler aus Mailand. Pardon. Ja, genau. Thomas Harvey. Sie wissen schon, Juwelier Harvey: New York - London - Paris - Rom ... Und Graf von Schloßberg: Er besitzt die berühmteste private Gemäldesammlung Europas. Wir haben von allem etwas, wie Sie sehen: einen venezolanischen Nobelpreisträger, einen ehemaligen argentinischen Ministerpräsidenten, den marokkanischen Thronfolger. Wußten Sie übrigens, daß sein Vater ein leidenschaftlicher Leser Alexandre Dumas’ ist? Und schauen Sie, wer da kommt. Den kennen Sie, nicht? Semiotikprofessor in Bologna ... Die blonde Dame, die sich mit ihm unterhält, ist Petra Neustadt, die einflußreichste Literaturkritikerin Mitteleuropas. Und in der Gruppe dort drüben sehen Sie neben der Herzogin von Alba den Finanzier Rudolf Villefoz und den englischen Schriftsteller Harold Burgess. Amaya Euskal von der Gruppe Alpha Press neben dem mächtigsten Verleger der Vereinigten Staaten, Johan Cross von O & O Papers, New York ... Und an Achille Replinger, den Antiquar aus Paris, erinnern Sie sich bestimmt noch.«
Das gab Corso den Rest. Ich ergötzte mich an seinen entgleisten Gesichtszügen, obwohl er mir fast schon wieder leid tat.
Replinger hatte ein leeres Glas in der Hand und zeigte ein freundschaftliches Lächeln unter seinem Musketierschnurrbart, genau wie in seinem Laden in der Rue Bonaparte beim Begutachten des Dumas-Manuskripts. Er umarmte mich wie ein riesiger Bär, klopfte unserem Gast kameradschaftlich auf die Schulter und machte sich dann auf die Suche nach mehr Wein, wobei er schnaufte wie der pausbäckige, joviale Porthos.
»Verflucht noch mal«, flüsterte Corso und drängte sich in einem etwas abgelegenen Winkel an mich. »Was ist hier los?«
»Ich habe Ihnen doch schon gesagt, daß das eine lange Geschichte ist.«
»Dann erzählen Sie sie mir endlich!«
Wir waren inzwischen an den Tisch herangetreten, und ich schenkte uns zwei Gläser Wein ein, aber Corso lehnte seines kopfschüttelnd ab.
»Gin«, murmelte er. »Gibt es keinen Gin?«
Ich deutete auf einen Barschrank am anderen Ende des Saals, und wir machten uns zu ihm auf. Unterwegs wurden wir allerdings noch drei- oder viermal aufgehalten, weil ich weitere Gäste begrüßen mußte: einen bekannten Filmregisseur, einen libanesischen Millionär, einen ehemaligen spanischen Innenminister . Corso bemächtigte sich einer Flasche Beefeater, füllte ein Glas bis zum Rand und trank es in einem Zug halb leer. Er schüttelte sich ein wenig, und seine Augen glänzten. Die Gin-Flasche drückte er an sich, als habe er Angst, sie zu verlieren.
»Sie wollten mir was erzählen«, sagte er.
Ich schlug vor, auf die Terrasse hinauszugehen, um ungestört reden zu können, und Corso schenkte sein Glas noch einmal randvoll, bevor er mir folgte. Das Gewitter hatte sich mittlerweile vollständig verzogen. Über unseren Köpfen funkelten die Sterne.
»Ich bin ganz Ohr«, verkündete er und nahm einen großen Schluck.
Ich nippte an meinem Anjouwein und lehnte mich an die nasse Steinbalustrade.
»Gut . Ich war also in den Besitz des Manuskripts der Drei Musketiere gekommen. Das hat mich auf eine Idee gebracht«, sagte ich. »Warum nicht eine literarische Vereinigung gründen? Eine Art Fan-Club für die Verehrer Alexandre Dumas’ und des klassischen Fortsetzungs- und Abenteuerromans? Mit einigen geeigneten Kandidaten stand ich ja von Berufs wegen schon in Verbindung.«
Ich deutete in den hell erleuchteten Salon zurück. Hinter den großen Fenstern flanierten angeregt miteinander plaudernde Gäste. Die Veranstaltung war ein voller Erfolg. Ich konnte nicht verhehlen, daß ich sehr stolz auf meinen Einfall war. »Eine Gesellschaft, die sich mit dem Studium dieser Art von Literatur befaßt, die in Vergessenheit geratene Autoren und Werke ausgräbt und ihre Wiederveröffentlichung und Verbreitung fördert. Letzteres unter einem Verlagsnamen, der Ihnen nicht unbekannt sein dürfte: Dumas & Co.«
»Ja, ich kenne den Verlag«, sagte Corso. »Er hat seinen Sitz in Paris. Vor einem Monat sind die gesammelten Werke Ponson du Terrails bei ihm erschienen. Voriges Jahr war es Fantömas .Aber ich wußte nicht, daß Sie etwas damit zu tun haben.«
Ich schmunzelte.
»Das ist oberstes Gebot: keine Namen und keinen Personenkult . Sie sehen also, daß es hier um eine sehr seriöse und zugleich etwas infantile Angelegenheit geht - ein nostalgisches Literaturspiel, das sich um die Bücher dreht, von denen wir in unserer Jugend schwärmten, und bei dem wir sozusagen unsere verlorene Unschuld wiederfinden. Sie wissen das ja aus eigener Erfahrung: Wenn man einmal reif und erwachsen geworden ist, wird man zum Flaubertianer oder Stendhalianer, man ergreift die Partei Faulkners, Lampedusas, Garcia Marquez’, Durrells oder Kafkas. Jeder geht seinen eigenen Weg, manchmal streiten wir uns sogar. Aber wir alle blinzeln uns verschmitzt zu, wenn wir von bestimmten Schriftstellern und ihren magischen Büchern sprechen, die uns in die Welt der Literatur eingeführt haben, ohne an Dogmen zu binden und ohne falsche Lehren zu erteilen. Bücher, die nicht der Wirklichkeit treu sind, sondern den Träumen des Menschen. Bücher, die im wahrsten Sinne des Wortes unsere gemeinsame Heimat darstellen.«
Ich ließ diese Worte in der Luft und wartete gespannt auf ihre Wirkung. Aber Corso hob nur sein Gin-Glas, um es im Gegenlicht zu betrachten. Seine Heimat lag dort.
»Das hat früher vielleicht gegolten«, entgegnete er. »Jetzt sind die Kinder, die Jugendlichen und überhaupt das ganze Pack Heimatlose, die bloß in die Kiste glotzen.«
Ich schüttelte energisch den Kopf. Genau zu diesem Thema hatte ich zwei Wochen zuvor etwas für die Literaturbeilage von Abc geschrieben.
»Da täuschen Sie sich aber. Man tritt wieder in die alten Fußstapfen. Denken Sie nur an die vielen alten Filme, die im Fernsehen gezeigt werden - in ihnen lebt die Tradition weiter. Selbst Indiana Jones profitiert von diesem Erbe.«
Corso schnitt eine Grimasse in Richtung der erleuchteten Fenster. »Mag ja sein. Aber Sie wollten mir eigentlich von denen da drin erzählen. Ich wüßte zu gerne, wie Sie die ... rekrutiert haben.«
»Das ist kein Geheimnis«, erwiderte ich. »Ich bin seit zehn Jahren Koordinator dieser auserwählten Gesellschaft, des Club Dumas, dessen Jahresversammlung hier, in Meung, abgehalten wird. Sie sehen mit eigenen Augen, daß die Mitglieder pünktlich aus allen Ecken der Welt eintreffen. Selbst der Geringste unter ihnen ist ein hochkarätiger Leser .«
»Von Unterhaltungsromanen? Daß ich nicht lache.«
»Ich mache durchaus keine Witze, Senor Corso. Warum ziehen Sie so ein Gesicht? Sie wissen doch, daß ein Roman oder ein Film, der für den reinen Konsum geschaffen wurde, sich bisweilen in ein Meisterwerk verwandelt. Denken Sie nur an die Pickwickier, Goldfinger oder Casablanca ... Geschichten, die vor Archetypen strotzen - aber das ist es ja gerade, was das Publikum, bewußt oder unbewußt, anzieht: diese Strategie der Wiederholung bestimmter Themen mit kleinen Variationen. Hier geht es mehr um die dispositio als um die elocutio .. Und so erklärt es sich auch, daß ein Fortsetzungsroman, ja selbst die platteste Fernsehserie zu Kultobjekten werden können, und zwar sowohl für ein naives wie für ein anspruchsvolles Publikum. Der eine sucht allein die Spannung bei Sherlock Holmes, der andere bevorzugt die Pfeife, die Lupe und dieses elementar, lieber Watson, das übrigens gar nicht von Conan Doyle stammt; es taucht in keinem seiner Bücher auf. Der Trick mit der Wiederholung und Variation bestimmter Schemen ist sehr alt. Schon Aristoteles hat ihn in seiner Poetik erwähnt. Und was ist eine Fernsehserie im Grunde anderes als die modernisierte Version der klassischen Tragödie, des großen romantischen Dramas oder des hellenistischen Alexanderromans? Daher kommt es ja, daß auch ein gebildeter Leser sich ausnahmsweise mit dieser Art von Literatur vergnügen kann. Und Ausnahmen werden mitunter zur Regel.«
Ich hatte geglaubt, Corso höre mir interessiert zu, aber jetzt sah ich, daß er den Kopf schüttelte: ein Gladiator, der sich von seinem Gegner nicht in die Falle locken läßt.
»Hören Sie mit Ihren literarischen Belehrungen auf, und kommen Sie auf Ihren Club Dumas zurück«, knurrte er ungeduldig. »Auf dieses lose Kapitel ... Wo ist der Rest?«
»Dort drin.« Ich wies auf den Festsaal. »Ich habe die siebenundsechzig Kapitel des Manuskripts benützt, um die Gesellschaft zu organisieren: maximal siebenundsechzig Mitglieder, von denen jeder ein Kapitel besitzt, quasi als Namensaktie. Die Zuteilung erfolgt strikt anhand einer Kandidatenliste, und Besitzerwechsel müssen vom Vorstand genehmigt werden, dessen Präsident ich bin . Die Namen der Anwärter werden vor ihrer Zulassung ausführlich diskutiert.«
»Und wie werden die Aktien weitergegeben?«
»Sie werden überhaupt nicht weitergegeben. Wenn ein Clubmitglied stirbt oder austreten möchte, so geht seine Aktie automatisch an die Gesellschaft zurück. Der Vorstand teilt sie dann einem neuen Kandidaten zu. Kein Mitglied darf frei darüber bestimmen.«
»Und das hat Enrique Taillefer versucht, stimmt’s?«
»In gewisser Weise. Anfänglich war er ein idealer Kandidat und später ein mustergültiges Mitglied des Club Dumas ... Bis er gegen seine Regeln verstoßen hat.«
Corso leerte sein Glas und stellte es auf die Steinbrüstung. Dann starrte er eine Zeitlang schweigend in den lichtergleißenden Saal. Zum Schluß schüttelte er ungläubig den Kopf.
»Das ist kein Grund, jemanden umzubringen«, sagte er leise, als spreche er zu sich selbst. »Und ich kann mir nicht vorstellen, daß alle diese Leute ...« Er sah mich trotzig an. »Das sind bekannte und respektable Persönlichkeiten, jedenfalls im Prinzip. Die würden sich nie in so eine Sache hineinziehen lassen.«
Langsam begann auch ich die Geduld zu verlieren.
»Ich habe das Gefühl, Sie übertreiben maßlos. Enrique und ich waren seit langem miteinander befreundet. Was uns verband, war die Begeisterung für diese Art von Büchern, obwohl ich sagen muß, daß Enriques literarischer Geschmack und sein Enthusiasmus leider weit auseinanderklafften. Aber wie auch immer . Als Verleger gastronomischer Bestseller war er so erfolgreich, daß er haufenweise Geld und Zeit in sein Hobby investieren konnte. Und wenn es jemand verdient hatte, unserer Gesellschaft anzugehören, so war das er - so viel steht fest. Aus diesem Grund habe ich seinen Beitritt gefördert. Ich habe Ihnen ja schon gesagt, daß wir, wenn auch nicht den Geschmack, so doch die Begeisterung teilten.«
»Sie haben auch noch andere Sachen geteilt, wie mir scheint.«
Corsos sarkastisches Grinsen ärgerte mich ein wenig.
»Eigentlich könnte ich Sie jetzt darauf hinweisen, das sei nicht Ihre Angelegenheit«, erwiderte ich etwas verschnupft. »Aber ich will Ihnen alles erklären . Liana ist - von ihrer Schönheit ganz abgesehen - schon immer eine besondere Frau gewesen. Und darüber hinaus seit ihrer frühen Jugend eine leidenschaftliche Leserin. Wissen Sie, daß sie sich im Alter von sechzehn Jahren mit einer Lilie tätowieren ließ? Nicht auf die Schulter, wie Milady de Winter, ihr Idol, sondern auf die Hüfte, damit weder ihre Familie noch die Nonnen im Internat etwas davon merkten . Wie finden Sie das?«
»Ergreifend.«
»Mir machen Sie keinen sehr ergriffenen Eindruck. Aber ich kann Ihnen versichern, daß Liana eine bewundernswerte Frau ist. Jedenfalls sind wir, nun ja . ein Verhältnis eingegangen. Vorher sprach ich von der Heimat, die das verlorene Paradies unserer Kindheit für jeden von uns darstellt, erinnern Sie sich? Also: Lianas Heimat sind die Drei Musketiere. Sie haben ihr eine Welt eröffnet, von der sie so begeistert war, daß sie beschloß, Enrique Taillefer zu heiraten. Die beiden hatten sich zufällig auf einer Party kennengelernt, bei der sie die ganze Nacht damit verbrachten, Dumas-Zitate auszutauschen. Außerdem war er zu dieser Zeit bereits ein steinreicher Verleger.«
»Mit einem Wort: Liebe auf den ersten Blick«, spöttelte Corso.
»Ich verstehe nicht, warum Sie das in diesem Ton sagen. Die Ehe ist in der ehrlichsten Absicht geschlossen worden. Nur, daß Enrique mit der Zeit jedem auf die Nerven fällt - selbst einer so standhaften Frau wie Liana . Andererseits waren wir gute Freunde, und ich habe die beiden oft besucht. Liana .« Ich stellte mein Glas neben dem Corsos auf der Balustrade ab. »Na ja. Sie können sich ja vorstellen, wie es weiterging.«
»Das kann ich mir allerdings vorstellen!«
»Ich meine jetzt etwas anderes. Liana hat sich zu einer hervorragenden Mitarbeiterin entwickelt, so daß ich schließlich dafür plädierte, Sie in unsere Gesellschaft aufzunehmen. Das war vor vier Jahren. Ihr gehört Kapitel siebenunddreißig: Miladys Geheimnis. Sie hat es selbst ausgesucht.«
»Warum haben Sie Milady auf mich angesetzt?«
»Lassen Sie uns der Reihe nach vorgehen. In letzter Zeit war Enrique zu einem echten Problemfall geworden. Anstatt sich auf das einträgliche Geschäft mit seinen Kochbüchern zu beschränken, hatte er sich darauf versteift, einen Fortsetzungsroman zu verfassen. Aber Sie glauben ja nicht, was für einen Mist er zusammengeschrieben hat. Und nicht nur das - er hat auch noch schändlich plagiiert! Sämtliche Gemeinplätze dieser Gattung hat er sich zusammengesucht und schamlos kopiert. Er nannte sein Werk .«
»Die Hand des Toten.«
»Genau. Nicht einmal der Titel stammte von ihm. Und was das Unerhörteste ist: Er wollte, daß es bei Dumas & Co. erscheint! Natürlich habe ich versucht, ihm diesen Spleen auszureden. Der Vorstand wäre niemals damit einverstanden gewesen, diese Mißgeburt zu veröffentlichen. Außerdem hatte Enrique Geld genug, um das Buch selbst zu drucken, und das habe ich ihm auch gesagt.«
»Worauf er wahrscheinlich ziemlich sauer reagiert hat. Ich habe seine Bibliothek gesehen.«
»Sauer? Das ist gar kein Wort! Die Auseinandersetzung hat in seinem Büro stattgefunden. Ich sehe ihn noch vor mir, wie er sich - klein und pummelig - vor mir auf die Zehenspitzen stellt und mich mit irren Augen anstarrt. Er war einem Schlaganfall nahe. Sehr unangenehm, das Ganze. Was er mir nicht alles an den Kopf warf ... Er habe dieser Sache sein ganzes Leben gewidmet. Wer sei ich, um sein Werk zu beurteilen? Das fiele der Nachwelt zu. Ich sei ein voreingenommener Kritiker und unausstehlicher Pedant. Und außerdem sei ich mit seiner Frau liiert ... Das kam natürlich unerwartet. Ich hatte keine Ahnung, daß er diesbezüglich auf dem laufenden war. Aber anscheinend redet Liana im Traum und hat ihrem Mann nach und nach alle Folgen der Geschichte erzählt - unter Ausrufen wie >Potztau-send!< und Verwünschungen an die Adresse d’Artagnans und seiner Freunde, die sie haßt, als hätte sie sie persönlich kennengelernt ... Können Sie sich meine Lage vorstellen?«
»Peinlich.«
»Höchst peinlich! Obwohl das Schlimmste erst noch kommt. Enrique geriet immer mehr in Rage. Wenn er ein mittelmäßiger Schriftsteller sei, tobte er, dann könne es mit Dumas auch nicht weit her sein. Er hätte sehen wollen, was aus ihm geworden wäre ohne Auguste Maquet, den er schamlos ausgebeutet habe. Der beste Beweis dafür seien die blauen und weißen Blätter in seinem Tresor ... Unsere Diskussion wurde immer heftiger. Er schimpfte mich einen Ehebrecher, wie in den alten Tragödien, und ich nannte ihn einen Analphabeten und machte noch ein paar boshafte Bemerkungen über seinen letzten gastronomischen Verlagsrenner. Am Ende habe ich ihn sogar mit dem Pâtissier von Cyrano verglichen. >Ich werde mich rächen!< sagte er im Ton und mit den Gebärden des Grafen von Monte Christo. >Ich werde den ganzen Betrug auffliegen lassen, den sich dein verehrter Dumas da geleistet hat, um seinen Namen unter fremde Romane zu setzen. Ich gebe das Manuskript der Öffentlichkeit preis, damit die Leute sehen, wie dieser Schwindler seine Geschichten fabriziert hat. Und um die Satzung der Gesellschaft kümmere ich mich einen Dreck: Das Kapitel gehört mir, und ich verkaufe es, an wen ich Lust habe. Also mach dich auf was gefaßt, Boris!«<
»Da hat er Ihnen aber schwer zugesetzt.«
»Sie können sich gar nicht vorstellen, wozu ein verschmähter Autor in seinem Zorn fähig ist. Meine Proteste nützten nichts. Enrique hat mich aus dem Haus geworfen. Von Liana habe ich erfahren, daß er später diesen Buchhändler, La Ponte, zu sich bestellt und ihm das Manuskript geschenkt hat. Ich glaube, er ist sich so schlau und listig wie Edmund Dantes vorgekommen. Offensichtlich wollte er einen Skandal auslösen, ohne selbst davon direkt betroffen zu werden. An seinem guten Ruf sollte keiner kratzen. Und so kam es, daß Sie in die Geschichte gerieten, Senor Corso. Sie können sich denken, wie erschrocken ich war, als ich Sie plötzlich mit dem Vin d’Anjou bei mir auftauchen sah.«
»Das haben Sie aber gut vertuscht.«
»Natürlich. Liana und ich hielten das Manuskript nach Enriques Tod für verloren.«
Corso zog eine zerknitterte Zigarette aus der Manteltasche, klemmte sie zwischen die Lippen und ging auf der Terrasse auf und ab, ohne sie anzuzünden.
»Ihre Story ist absurd«, sagte er schließlich. »Kein Edmund Dantes würde sich umbringen, bevor er seine Rache ausgekostet hat.«
Ich nickte, obwohl er das nicht sehen konnte, da er mir in diesem Augenblick den Rücken zukehrte.
»Das ist auch noch längst nicht alles«, entgegnete ich. »Am Tag nach unserem Streit kam Enrique zu mir nach Hause und wollte mich noch einmal umstimmen. Aber ich hatte die Nase gestrichen voll und lasse mich sowieso nicht erpressen . Also habe ich zum tödlichen Stoß ausgeholt, freilich ohne mir der möglichen Folgen bewußt zu sein. Sein Fortsetzungsroman war nicht nur von miserabler Qualität, er war mir beim Lesen auch irgendwie bekannt vorgekommen. Als Enrique mir die zweite Szene machte, bin ich deshalb in meine Bibliothek gegangen und habe ein uraltes Buch mit dem Titel Der illustrierte Unterhaltungsroman aus dem Regal gezogen - es wurde Ende des letzten Jahrhunderts veröffentlicht und ist ziemlich unbekannt. Ich habe die erste Seite einer kurzen Erzählung aufgeschlagen, die von einem gewissen Amaury de Verona stammt und die schöne Überschrift Angélique von Gravaillac oder Die unbefleckte Ehre trägt. Als ich begann, laut den ersten Absatz zu lesen, wurde Enrique auf einmal blaß, als sei der Geist dieser Angélique aus dem Grab auferstanden. Und mehr oder weniger war er das auch. Felsenfest davon überzeugt, daß niemand sich an diese Erzählung erinnern würde, hatte Enrique sie beinahe wortwörtlich abgeschrieben. Bis auf ein Kapitel, das er unverändert von Fernândez y Gonzalez übernommen hat - nebenbei bemerkt, das beste des ganzen Romans ... Ich bedauerte es, keinen Fotoapparat zur Hand zu haben: Er schlug sich mit der Hand an die Stirn, um >Donnerschlag!< zu brüllen, aber er brachte nur ein asthmatisches Röcheln zustande, an dem er beinahe erstickt wäre. Daraufhin hat er sich auf dem Absatz umgedreht, ist nach Hause gerannt und hat sich an der Wohnzimmerlampe erhängt.«
Corso kaute an seiner kalten Zigarette.
»Später haben sich die Dinge noch etwas verwickelt«, fuhr ich fort und merkte, daß er mir nur langsam zu glauben schien. »Das Manuskript war bereits an Sie weitergereicht worden, und Ihr Freund La Ponte zeigte sich anfänglich nicht bereit, es zurückzugeben. Für mich kam es nicht in Frage, den Arsène Lupin zu spielen. Das hätte ich mir bei meinem Ansehen nicht leisten können. So habe ich Liana mit der Wiederbeschaffung des Kapitels beauftragt. Die Jahresversammlung rückte näher, und es war an der Zeit, einen Nachfolger für Enrique zu bestimmen. Leider hat Liana ein paar Fehler begangen. Zuerst hat sie Ihnen einen Besuch abgestattet«, an dieser Stelle räusperte ich mich verlegen, um nicht tiefer ins Detail gehen zu müssen, »und später hat sie versucht, La Ponte so weit zu bringen, daß er den Vin d’Anjou von Ihnen zurückverlangte. Sie wußte ja nicht, wie hartnäckig Sie sein können . Das Schlimme ist, daß Liana schon immer davon geträumt hatte, einmal ein richtig spannendes Abenteuer zu erleben - voll von Intrigen, Liebesaffären und Verfolgungsjagden, wie bei ihrem Vorbild Milady. Und diese Episode, aus dem Stoff ihrer Träume gemacht, gab ihr dazu eine willkommene Gelegenheit. Sie hat sich also voller Enthusiasmus auf Ihre Fersen geheftet. >Ich bringe dir das Manuskript in die Haut dieses Corso genähte, hat sie mir versprochen. Ich sagte ihr, sie solle nicht übertreiben, aber ich muß zugeben, daß die Hauptschuld bei mir liegt: Ich habe ihre Phantasie angeregt und damit die Milady freigesetzt, die in ihr schlummerte, seit sie zum erstenmal die Drei Musketiere gelesen hatte.«
»Sie hätte ja, verdammt noch mal, auch was anderes lesen können. Vom Winde verweht zum Beispiel, sich mit Scarlett O’Hara identifizieren und Clark Gable auf den Pelz rücken können, anstatt mir.«
»Ja. Ich muß zugeben, daß sie ein bißchen zu weit gegangen ist und ihren Auftrag zu ernst genommen hat.«
Corso kratzte sich am Hinterkopf, und es war leicht zu erraten, was er dachte: Wer die Sache wirklich ernst genommen hatte, war der andere gewesen. Der Kerl mit der Narbe.
»Wer ist Rochefort?«
»Er heißt in Wirklichkeit Laszlo Nicolavic und ist ein Schauspieler, der sich auf verschiedene Nebenrollen spezialisiert hat ... Er hat in der TV-Serie, die Andreas Frey vor zwei fahren fürs englische Fernsehen gedreht hat, den Rochefort gespielt. Überhaupt hat er nahezu alle bekannten Haudegen schon einmal verkörpert: Gonzaga in Lagardere, Levasseur in Käpt’n Blood, La Tour d’Azyr in Scaramouche, Rupert von Hentzau in Der Gefangene von Zenda ... Er ist ein großer Liebhaber dieser Gattung und ein Anwärter auf den Club Dumas. «
»Jedenfalls hat sich dieser Laszlo seine Rolle auch sehr zu Herzen genommen.«
»Ich fürchte ja. Und ich habe ihn im Verdacht, daß er Meriten anhäufen will, um seinen Beitritt in unseren kleinen Geheimbund zu beschleunigen. Ich habe ihn auch im Verdacht, manchmal den Gelegenheitsliebhaber zu spielen.« Ich setzte ein weltmännisches Lächeln auf und hoffte, es würde überzeugend wirken. »Liana ist jung, schön und leidenschaftlich. Wir wollen es einmal so sagen: Ich befriedige mit ruhigen, romantischen Ergüssen ihren Wissensdrang, und Laszlo Nicolavic kümmert sich wahrscheinlich um die prosaischeren Seiten ihres Naturells.«
»Und was weiter?«
»Viel mehr gibt es nicht zu erzählen. Nicolavic-Rochefort wollte eine günstige Gelegenheit abpassen, um Ihnen das Dumas-Manuskript abzunehmen. Deshalb ist er Ihnen von Madrid nach Toledo und nach Sintra gefolgt, während Liana mit La Ponte nach Paris ging, für den Fall, daß Rocheforts Mission schiefgehen sollte. Der Rest ist Ihnen ja bekannt: Sie wollten sich das Manuskript nicht abnehmen lassen, Milady und Rochefort haben über die Stränge geschlagen, und so sind Sie letztendlich hier gelandet.« Ich dachte eine Weile nach. »Wissen Sie was? Ich frage mich, ob ich statt nicht Sie als neues Clubmitglied vorschlagen soll.«
Corso wollte nicht einmal wissen, ob ich das ernst oder ironisch meinte. Er hatte seine verbogene Brille abgenommen und putzte sie mechanisch, aber in Gedanken war er Lichtjahre entfernt.
»Das ist alles?« hörte ich ihn endlich sagen.
»Aber ja.« Ich deutete auf den Festsaal. »Dort haben Sie den Beweis.«
Corso setzte seine Brille wieder auf und atmete tief durch, wobei sein Gesicht einen Ausdruck annahm, der mir überhaupt nicht gefiel.
»Und was ist mit dem Delomelanicon? Was ist mit der Verbindung zwischen Richelieu und den Neun Pforten ins Reich der Schatten?«
Er trat auf mich zu und klopfte mit dem Finger auf meine Hemdbrust, bis ich einen Schritt zurückwich.
»Halten Sie mich für blöd? Sie wollen mir doch nicht erzählen, Sie hätten keine Ahnung von der Beziehung zwischen Dumas und diesem Buch . dem Teufelspakt und dem ganzen Rest: der Mord an Victor Fargas in Sintra, der Brand in der Wohnung von Baronin Ungern in Paris. Haben Sie mich bei der Polizei angezeigt? Und was können Sie mir zu dem Buch sagen, das eigentlich aus drei Versionen besteht? Oder zu den neun Bildtafeln, die von Luzifer entworfen und von Aristide Torchia nach seiner Rückkehr aus Prag neu aufgelegt worden sind, mit Privileg und Genehmigung der Obrigkeiten? Was erzählen Sie mir darüber, ha?«
Es sprudelte wie ein Wasserfall aus ihm heraus, während er aggressiv das Kinn vorreckte und mich mit Blicken durchbohrte. Ich trat noch einmal einen Schritt zurück und starrte ihn entgeistert an.
»Sie haben den Verstand verloren«, protestierte ich entrüstet. »Können Sie mir erklären, wovon Sie sprechen?«
Corso hatte eine Schachtel Streichhölzer aus der Tasche gezogen und zündete sich seine Zigarette an, indem er die Flamme mit der hohlen Hand schützte. Dabei beobachtete er mich unablässig durch seine Brille hindurch, in deren Gläser sich das Feuer spiegelte. Dann begann er mir seine Version der Geschichte zu erzählen.
Als er fertig war, schwiegen wir beide. Wir lehnten nebeneinander an der feuchten Steinbalustrade und betrachteten die Lichter im Festsaal. Corsos Bericht hatte eine Zigarette lang gedauert. Den Stummel trat er mit der Schuhspitze aus.
Ich ergriff als erster das Wort.
»Und jetzt müßte ich wohl sagen >Ja, so war es< und meine Arme ausstrecken, damit Sie mir die Handschellen anlegen können. Das hätten Sie doch erwartet, oder?«
Er dauerte eine Weile, bis er mir antwortete. Den eigenen Verdacht laut ausgesprochen zu haben schien ihn nicht unbedingt in seinen Schlußfolgerungen bestätigt zu haben.
»Aber es muß eine Verbindung geben«, murmelte er.
Ich betrachtete seinen schmalen Schatten, den das aus dem Salon dringende Licht auf den Marmorboden der Terrasse zeichnete und bis über die Stufen hinaus verlängerte, die in den dunklen Garten führten.
»Ich fürchte, daß Sie Ihrer eigenen Phantasie auf den Leim gegangen sind«, sagte ich schließlich.
Er schüttelte langsam den Kopf.
»Daß Victor Fargas ertränkt wurde, habe ich mir nicht eingebildet. Und auch nicht, daß die Baronin Ungern mit ihren Büchern verbrannt ist. Diese Dinge sind wirklich passiert. Das sind Tatsachen . Die beiden Geschichten sind ineinander verflochten.«
»Sie sagen ganz richtig: die beiden Geschichten. Vielleicht verbindet sie aber nur Ihre eigene Person miteinander.«
»Kommen Sie mir nicht damit. Dieses Kapitel von Alexandre Dumas war der Auslöser von allem.« Er sah mich wütend an. »Ihr verdammter Club. Ihre >Spielchen<.«
»Schieben Sie nicht mir die Schuld in die Schuhe. Spielen ist erlaubt. Wenn wir es hier nicht mit der Realität, sondern mit einer Fiktion zu tun hätten, dann wären Sie als Leser der Hauptverantwortliche.«
»Reden Sie keinen Unsinn!«
»Das ist kein Unsinn. Aus allem, was Sie mir bisher erzählt haben, leite ich ab, daß auch Sie mit den Tatsachen und mit Ihren persönlichen Literaturkenntnissen spielerisch umgegangen sind und eine Theorie aufgestellt haben, aus der Sie schließlich die falschen Schlüsse zogen. Aber die Tatsachen sind etwas Objektives. Sie können ihnen nicht die Schuld für Ihre eigenen Fehler geben. Der Vin d’Anjou und dieses mysteriöse Buch, die Neun Pforten, haben nichts miteinander zu tun.«
»Aber Sie haben mir vorgemacht .«
»Wir - und damit meine ich Liana Taillefer, Laszlo Nicolavic und mich selbst - haben Ihnen überhaupt nichts vorgemacht. Sie waren derjenige, der auf eigene Faust die Lücken gefüllt hat, als handle es sich hier um einen Detektivroman voller Finten, die der schlaue Lucas Corso entlarvt . Keiner hat Ihnen auch nur andeutungsweise bestätigt, daß die Dinge wirklich so gelaufen sind, wie Sie glaubten. Deshalb liegt die Verantwortung ganz allein bei Ihnen, mein Freund. Schuld ist nur Ihr übertriebener Hang zur Intertextualität, also dazu, aufgrund Ihrer persönlichen literarischen Vorbildung Querverbindungen herzustellen.«
»Was blieb mir denn anderes übrig? Hätte ich Däumchen drehen und abwarten sollen? Nein. Aber wenn ich vom Fleck kommen wollte, brauchte ich eine Strategie. Und wer sich eine Strategie zurechtlegt, kommt nicht umhin, sich ein Bild von seinem Gegner zu machen, ein Feindbild zu konstruieren, das sein Vorgehen bestimmt. Wellington macht das, weil er glaubt, daß Napoleon glaubt, er mache das. Und Napoleon .«
»Napoleon hat auch Fehler begangen, zum Beispiel den, Blücher mit Grouchy zu verwechseln. Eine Strategie birgt immer gewisse Risiken - im Krieg wie in der Literatur . Hören Sie, Corso: Es gibt keine unschuldigen Leser. Wir alle
übertragen unsere persönlichen Perversitäten auf die Texte, die wir lesen. Ein Leser ist die Summe dessen, was er vorher gelesen und im Fernsehen und Kino gesehen hat. Zu den Anhaltspunkten, die der Autor gibt, wird der Leser immer noch seine eigenen hinzufügen. Und genau hier lauert die Gefahr: Das Übermaß an Literaturkenntnissen könnte auch Sie dazu verleitet haben, sich ein falsches oder irreales Bild von Ihrem Gegner zu machen.«
»Die Informationen, die ich hatte, waren falsch.«
»Nein, Corso. Das Wissen, das Bücher vermitteln, ist für gewöhnlich objektiv. Möglich, daß es von einem boshaften Autor auf eine Art und Weise aufbereitet wird, die den Leser irreführt, aber falsch ist es nie. Falsch ist Ihre Interpretation.«
Corso schien angestrengt nachzudenken. Er war ein wenig umhergegangen und stützte jetzt die Ellbogen auf das Steingeländer der Terrasse, das Gesicht dem dunklen Garten zugewandt.
»Dann muß es einen anderen Autor geben«, sagte er leise und mit zusammengebissenen Zähnen.
Er starrte reglos vor sich hin. Nach einer Weile sah ich, wie er die Mappe mit dem Vin d’Anjou unter seinem Mantel hervorzog und neben sich auf die moosbedeckte Balustrade legte.
»Diese Geschichte hat zwei Autoren«, sagte er hartnäckig.
»Schon möglich«, erwiderte ich, während ich das DumasManuskript an mich nahm. »Und vielleicht ist einer von ihnen boshafter als der andere . Mein Metier sind jedenfalls die Unterhaltungsromane. Krimis fallen nicht in mein Ressort.«