Das Verbrechen war unter Beihilfe einer Frau begangen worden.
E$a de Queiros, Das Geheimnis der Straße von Sintra
Corso saß auf der untersten Stufe der Treppe zum Kai und versuchte sich eine Zigarette anzuzünden. Aber er war noch so von dem Sturz mitgenommen, daß sein räumliches Vorstellungsvermögen versagte und er es nicht schaffte, Streichholz und Zigarettenspitze in eine Linie zu bringen. Außerdem war eines seiner Brillengläser gesprungen, so daß er ein Auge zusammenkneifen mußte, um wenigstens mit dem anderen einwandfrei zu sehen. Als die Flamme ihm die Finger verbrannte, ließ er das Streichholz auf den Boden fallen und behielt die Zigarette im Mund. Das Mädchen hatte inzwischen den über den Kai verstreuten Inhalt der Segeltuchtasche zusammengelesen und kam mit der Tasche auf ihn zu.
»Alles okay?« fragte sie in einem Ton, der weder Sorge noch Nervosität verriet, obwohl sie sich bestimmt ein wenig darüber ärgerte, daß Corso trotz ihrer Warnung wie ein Trottel in die Falle getappt war. Er nickte gedemütigt und verwirrt. Sein einziger Trost war der Gesichtsausdruck Rocheforts, bevor auch er seinen Teil abbekommen hatte. Das Mädchen war mit rücksichtsloser Härte gegen ihn vorgegangen, aber nach dem ersten, präzise gelandeten Schlag hatte sie sich nicht weiter an ihm ausgelassen und sich statt dessen mit der Segeltuchtasche beschäftigt. Rochefort war zunächst auf dem Rücken liegengeblieben, hatte sich dann stöhnend umgedreht und war auf allen vieren davongekrochen, ohne noch ein Wort zu sagen oder gar einen Gegenangriff zu wagen. Wäre es nach Corso gegangen, so hätte er ihn gepackt und ihm so lange den Hals umgedreht, bis er alles ausspuckte, was er über diese verfluchte Geschichte wußte. Aber Corso war viel zu schwach, um aufzustehen, und außerdem gar nicht so sicher, ob das Mädchen ihn hätte gewähren lassen. Seit sie Rochefort abgefertigt hatte, kümmerte sie sich nur um ihn und die Tasche.
»Warum hast du den Kerl laufenlassen?«
In der Ferne war gerade noch eine schwankende Gestalt zwischen den Barkassen zu erkennen, die wie Geisterschiffe im Nebel vertäut waren. Kurz darauf verschwand sie hinter einer Biegung des Flußdamms in der Dunkelheit. Die Vorstellung, daß der Typ mit der Narbe einen Zahn um den anderen ausspuckte, während er mit eingezogenem Schwanz davonschlich und sich fragte, wie das Mädchen es, Teufel noch mal, geschafft hatte, ihn so zuzurichten, erfüllte Corso mit tiefer Schadenfreude.
»Wir hätten diesen Schweinehund ein bißchen ausquetschen sollen«, beklagte er sich.
Sie war ihren Kapuzenmantel holen gegangen und setzte sich jetzt neben ihn, auf dieselbe Stufe, ohne sofort zu antworten. Sie wirkte erschöpft.
»Der kommt von allein wieder zu uns zurück«, sagte sie und betrachtete Corso, bevor ihr Blick auf den Fluß hinausschweifte. »Sieh zu, daß du nächstes Mal vorsichtiger bist.«
Corso nahm die feuchte Zigarette aus dem Mund und begann sie zwischen den Fingern zu zerbröseln.
»Ich dachte, daß ...«
»Alle Menschen denken immer, daß ... Bis sie auf die Schnauze fallen.«
Auf einmal merkte Corso, daß das Mädchen verletzt war. Nichts Größeres: nur ein dünner Faden Blut, der ihr aus der Nase auf die Oberlippe rann und von dort zum Kinn.
»Deine Nase blutet«, stellte er scharfsinnig fest.
»Ich weiß«, entgegnete sie gelassen und wischte es mit der Hand ab, um dann ihre blutigen Finger zu betrachten.
»Wie hat er das gemacht?«
»Eigentlich bin ich selbst schuld daran.« Sie strich die Hand an der Hose ab.
»Ich bin am Anfang auf ihn gesprungen, und dabei habe ich mir etwas weh getan.«
»Wer hat dir solche Sachen beigebracht?«
»Was für Sachen?«
»Ich habe dich gesehen, wie du dort drüben Stellung bezogen hast.« Corso imitierte plump die Geste, die sie mit den Händen vollführt hatte. »Und wie du dann auf ihn losgegangen bist.«
Er sah, daß sie schwach lächelte, während sie aufstand und sich den Hosenboden ihrer Jeans abklopfte.
»Ich habe einmal mit einem Erzengel gekämpft. Er hat gewonnen, aber ich habe ihm seine Tricks abgeguckt.«
Aus ihrer Nase tropfte noch immer Blut. Nachdem sie sich Corsos Segeltuchtasche umgehängt hatte, streckte sie die Hand aus und zog ihn hoch. Er wunderte sich über ihren festen Griff. Als er endlich wieder auf den Beinen war, taten ihm alle Knochen weh.
»Ich dachte immer, Erzengel kämpfen mit Lanzen und Schwertern.«
Sie zog das Blut durch die Nase hoch und legte den Kopf zurück, um die Blutung zum Stillstand zu bringen. Dabei sah sie ihn etwas gereizt aus den Augenwinkeln an.
»Du hast zu viele Kupferstiche von Dürer gesehen, Corso. Und das kommt dann davon.«
Über die Pont Neuf und die Straße durch den Louvre gelangten sie ohne weitere Zwischenfälle zu ihrem Hotel zurück. Auf einem beleuchteten Wegabschnitt sah Corso, daß sie immer noch blutete. Er zog ein Taschentuch heraus, aber als er sich damit ihrem Gesicht näherte, nahm sie es ihm aus der Hand und drückte es sich selbst an die Nase. Sie schritt gedankenversunken vor sich hin, ohne daß Corso erraten konnte, worüber sie nachdachte, während er sie verstörtlen von der Seite her musterte: ihren langen nackten Hals, das perfekte Profil, die matte Haut, die im milchigen Licht der Straßenlaternen vor dem Louvre schimmerte. Ihr Kopf war beim Gehen leicht nach vorn geneigt, und das gab ihr etwas Entschlossenes, ja beinahe Eigensinniges. Wenn sie um dunkle Ecken bogen, spähte sie wachsam nach allen Seiten. Später, unter den beleuchteten Arkaden der Rue de Rivoli, wirkte sie dann etwas gelöster. Ihre Nase hatte aufgehört zu bluten, und sie gab Corso das fleckige Taschentuch zurück. Jetzt schien sie es ihm sogar nachzusehen, daß er sich so idiotisch hatte austricksen lassen. Beim Gehen legte sie ihm ein paarmal die Hand auf die Schulter, als wären sie alte Kameraden, die von einem Spaziergang zurückkommen. Vielleicht war sie auch so kaputt, daß sie ein wenig Stütze brauchte. Corso, dem der Fußmarsch wieder zu einem einigermaßen klaren Kopf verholfen hatte, gefiel die Berührung zunächst. Später wurde sie ihm etwas lästig. Die Hand auf seiner Schulter weckte ein seltsames Gefühl, nicht gerade unangenehm, aber unerwartet. Es war, als wäre er innen weich, wie ein Kaubonbon.
In dieser Nacht hatte Grüber Dienst. Er nahm sich die Freiheit, einen forschenden Blick über das Paar gleiten zu lassen, über den schmutzigen, feuchten Mantel und die kaputte Brille des Bücherjägers und über das blutverschmierte Gesicht des Mädchens. Aber er zeigte keinerlei Reaktion, zog nur höflich eine Augenbraue hoch und drückte mit einer stummen Verbeugung aus, daß er ganz zu Corsos Verfügung stehe, bis dieser ihn mit einer knappen Geste beruhigte. Darauf legte der Portier einen verschlossenen Umschlag und zwei Schlüssel auf die Rezeption. Sie betraten den Lift, und Corso wollte gerade den Briefumschlag öffnen, als die Nase des Mädchens erneut zu bluten begann. Also steckte er die Nachricht in seine Manteltasche und förderte wieder das Taschentuch zutage. Im Stockwerk des Mädchens angekommen, schlug er vor, einen Arzt zu rufen, aber sie schüttelte nur den Kopf und verließ den Aufzug. Nach kurzem Zögern folgte er ihr in den Korridor. Auf dem Teppichboden hinterließ sie eine dünne Blutspur. Als sie in ihrem Zimmer waren, befahl er ihr, sich aufs Bett zu setzen, während er selbst ins Bad ging und ein Handtuch mit Wasser tränkte.
»Schieb dir das in den Nacken, und leg den Kopf zurück.« Sie gehorchte ihm wortlos. Die außergewöhnliche Energie, die sie am Seineufer bewiesen hatte, war restlos verschwunden, was auch von dem Nasenbluten kommen konnte. Corso zog ihr den Mantel und die Tennisschuhe aus, drückte sie ins Bett zurück und stopfte ihr das Kopfkissen unters Kreuz; sie ließ alles mit sich geschehen wie ein völlig erschöpftes kleines Kind. Bevor er alle Lichter löschte, bis auf die Lampe im Bad, sah er sich kurz um: Auf der Ablage unter dem Waschbeckenspiegel befand sich eine Zahnbürste, eine Tube Zahnpasta und eine kleine Flasche Shampoo. Davon abgesehen konnte er kaum persönliche Habseligkeiten entdecken, nur ihren Rucksack, der offen auf einem Sessel lag, die Postkarten, die sie am Vortag zusammen mit den Drei Musketieren gekauft hatte, einen grauen Wollpullover, zwei T-Shirts, ein paar weiße Slips, die zum Trocknen auf dem Heizkörper lagen, und natürlich ihren Kapuzenmantel. Corso sah das Mädchen etwas ratlos an. Er war unentschlossen, ob er sich auf die Bettkante oder sonstwohin setzen sollte. Das Gefühl einer heraufziehenden Gefahr, das er bereits in der Rue Rivoli gehabt hatte, meldete sich auch jetzt wieder zu Wort, in seinem Bauch oder wo auch immer. Aber er konnte sich nicht einfach aus dem Staub machen -nicht, solange es ihr schlecht ging. Schließlich blieb er einfach unentschlossen im Raum stehen. Seine Hände waren in den Manteltaschen vergraben, und eine drückte den leeren Flachmann. Er warf einen gierigen Blick auf die Minibar, die noch mit der Hotelbanderole versiegelt war. »Du warst echt gut dort unten am Fluß«, stieß er hervor, nur um irgend etwas zu sagen. »Ich habe mich noch gar nicht bei dir bedankt.«
Sie lächelte matt und schläfrig, aber ihre Augen, deren Pupillen aufgrund der schummrigen Beleuchtung geweitet waren, hatten jede Bewegung Corsos aufmerksam verfolgt.
»Was läuft hier eigentlich ab?« fragte er.
Sie gab ihm mit einem ironischen Blick zu verstehen, daß seine Frage absurd war:
»Die sind offensichtlich hinter etwas her, das du hast.«
»Das Dumas-Manuskript? Die Neun Pforten?«
Das junge Mädchen seufzte leise, als wollte sie sagen: Vielleicht geht es ja um etwas ganz anderes.
»Du bist doch ein intelligenter Mensch, Corso«, meinte sie schließlich. »Hast du denn gar keine Hypothese?«
»Hypothesen habe ich viele. Was mir fehlt, sind Beweise.«
»Man braucht nicht immer Beweise.«
»Das gilt nur für Kriminalromane: Sherlock Holmes oder Poirot reicht es, sich vorzustellen, wer der Mörder ist und wie er das Verbrechen begangen hat. Dann erfinden sie den Rest dazu und erzählen die Geschichte, als wäre sie wirklich so passiert. Watson oder Hastings applaudieren ihnen begeistert und jubeln: >Bravo, Meister, genauso ist es gewesene Und der Mörder, dieser Idiot, gesteht.«
»Ich wäre auch bereit, dir zu applaudieren.«
Diesmal steckte keine Ironie in ihrer Bemerkung. Sie beobachtete ihn gespannt und wartete auf ein Wort von ihm oder eine Geste.
Corso trat verlegen von einem Bein aufs andere.
»Ich weiß«, sagte er. Das Mädchen sah ihm unverwandt in die Augen, als habe sie tatsächlich nichts zu verbergen. »Und ich frage mich, warum.«
Beinahe hätte er noch hinzugefügt: »Das ist kein Krimi, sondern die nackte Realität«; aber er tat es nicht, denn bei den absurden Ausmaßen, die diese Geschichte mittlerweile angenommen hatte, kam ihm die Grenze zwischen Wirklichkeit und Phantasie ziemlich verwischt vor. Er, Corso, war ein Mensch aus Fleisch und Blut, er hatte einen Personalausweis und einen festen Wohnsitz, und überdies verfügte er gerade jetzt, wo ihm von der Episode auf der Treppe sämtliche Knochen weh taten, über ein ausgeprägtes Körperbewußtsein. Trotzdem erlag er zusehends der Versuchung, sich als reale Figur in einer irrealen Welt zu empfinden, und das fand er - verdammt noch mal -gar nicht witzig, denn von hier zur Vorstellung, er sei eine irreale Figur, die sich in einer irrealen Welt als real empfindet, war es nur ein winziger Schritt - der Schritt vom Normalsein zum Überschnappen. Und er fragte sich, ob irgend jemand, ein versponnener Romanschriftsteller oder ein versoffener Drehbuchschreiberling, ihn sich in diesem Moment womöglich als »irreale« Figur dachte, die sich in einer »irrealen« Welt »irreal« vorkommt. Das hätte ihm nun vollends den Rest gegeben.
Am Ende dieser komplexen Überlegungen war seine Kehle völlig ausgedörrt. Corso stand immer noch unschlüssig vor dem Mädchen, die Hände in den Manteltaschen vergraben und die Zunge wie mit Sandpapier belegt. Wenn ich irreal wäre, dachte er erleichtert, stünden mir die Haare zu Berge, und ich würde mit schweißbedeckter Stirn »O grausames Schicksal!« ausrufen oder etwas Ähnliches. Aber ich hätte nicht diesen Saudurst. Ich trinke, also bin ich. Mit diesem Gedanken stürzte er sich auf die Minibar, sprengte die Banderole, riß ein Fläschchen Gin heraus und leerte es noch im Knien auf einen Zug. Er lächelte beinahe, als er sich wieder erhob und den Kühlschrank schloß wie der Pfarrer den Tabernakel. Langsam kamen die Dinge wieder ins Lot.
Das Zimmer war dunkel. Nur aus dem Bad fiel gedämpft ein schräger Streifen Licht auf das Bett, auf dem das Mädchen lag. Er betrachtete ihre bloßen Füße, die Beine in den Jeans, das blutbefleckte T-Shirt. Danach wanderte sein Blick zu ihrem nackten braunen Hals, zu den leicht geöffneten Lippen und den weißen Schneidezähnen, die in der Dunkelheit leuchteten, zu ihren Augen, die ihn unverwandt ansahen. Corso umklammerte seinen Zimmerschlüssel in der Manteltasche und schluckte. Er mußte hier weg.
»Fühlst du dich jetzt besser?«
Sie nickte wortlos, und Corso warf einen Blick auf seine Uhr, obwohl ihm die Zeit völlig gleichgültig war. Er konnte sich nicht daran erinnern, beim Hereinkommen das Radio eingeschaltet zu haben, aber von irgendwoher kam Musik. Ein melancholisches französisches Lied. Ein Hafen und ein Barmädchen, das in einen unbekannten Matrosen verliebt war.
»Gut. Ich muß gehen.«
Die Frauenstimme im Radio leierte weiter ihr Lied. Der Matrose war - wie zu erwarten - auf Nimmerwiedersehen verschwunden, und dem wehmütigen Barmädchen blieb sein leerer Stuhl und der feuchte Abdruck seines Glases auf dem Tisch. Corso holte sein Taschentuch, das auf dem Nachtkästchen lag, und putzte sich mit einem sauberen Zipfel das beschlagene Brillenglas. In diesem Moment sah er, daß die Nase des Mädchens erneut zu bluten begann.
»Schon wieder«, sagte er.
Abermals rann ihr ein dünner Faden Blut über die Oberlippe in den Mundwinkel. Sie fuhr sich mit der Hand über die Lippen und lächelte stoisch über ihre rot verfärbten Finger.
»Macht nichts.«
»Du solltest dich von einem Arzt untersuchen lassen.«
Sie senkte ein wenig die Augenlider und schüttelte sanft den Kopf. Dicke dunkle Tropfen fielen auf das Kissen, und sie wirkte sehr hilflos, wie sie so in dem dämmrigen Zimmer lag. Corso, der noch immer seine Brille in der Hand hatte, setzte sich auf den Bettrand und beugte sich mit dem Taschentuch zu ihr. Sein Schatten, den das schräg aus dem Bad einfallende Licht an die Wand projizierte, schien einen Moment lang zwischen Licht und Dunkelheit zu schwanken, bevor er sich in einer Ecke verlor.
Da tat das Mädchen etwas Unerwartetes, Seltsames. Ohne das Taschentuch zu beachten, das er ihr hinhielt, hob sie ihre blutige Hand und zeichnete Corso von der Stirn bis zum Kinn mit den Fingern vier rote Streifen ins Gesicht. Nach dieser eigenartigen Liebkosung zog sie ihre Hand nicht zurück, sondern ließ sie sanft auf seiner Wange ruhen, warm und feucht, während er die Blutstropfen auf ihrer vierfachen Spur über seine Haut rinnen fühlte. Ihre schillernden Iris reflektierten das Licht, das durch die angelehnte Tür drang, und Corso überlief ein Schauer, als er in ihnen seinen verlorenen Schatten wiederfand.
Im Radio erklang jetzt ein anderes Lied, aber sie hörten beide nicht mehr hin. Das Mädchen roch nach Wärme und Fieber, und unter der Haut ihres nackten Halses pochte eine Ader. Licht und Schatten in dem Zimmer flossen ineinander und schufen eine dämmrige Atmosphäre, in der die Umrisse der Gegenstände sich auflösten. Sie murmelte mit kaum wahrnehmbarer Stimme unverständliche Worte vor sich hin, und aus ihren Augen sprühten winzige Funken, als ihre Hand zu Corsos Nacken glitt und das warme Blut über seinen Hals verteilte. Mit dem Geschmack eines dieser Tropfen auf der Zunge, beugte er sich zu ihr vor, den halb geöffneten weichen Lippen entgegen, aus denen jetzt ein sanftes Stöhnen hervorquoll. Es schien von weit, weit her zu kommen, schwach und monoton, als wäre es viele Jahrhunderte alt. Einen kurzen Augenblick lang hatte Lucas Corso das Gefühl, in ihrem pulsierenden Fleisch alle früheren Tode noch einmal zu erleben, als würden sie von der Strömung eines ruhigen dunklen Flusses, dessen Wasser zäh war wie Ölfarbe, ans Ufer geschwemmt. Und er bedauerte es, daß sie keinen Namen hatte, unter dem er diesen Augenblick in sein Bewußtsein hätte einprägen können.
Aber dieser Eindruck hielt nur wenige Sekunden an. Dann kam der Bücherjäger wieder zu sich und merkte, daß er, noch immer mit seinem Mantel bekleidet, auf der Bettkante saß und das verdatterte Gesicht eines Vollidioten machte. Das Mädchen hatte sich ein wenig von ihm zurückgezogen, wölbte jetzt den Rücken wie ein schönes, junges Tier und öffnete den Knopf ihrer Hose. Er beobachtete sie wohlwollend mit dieser halb skeptischen, halb erschöpften Miene, die er sich bisweilen zugestand - alles in allem eher neugierig als begehrlich. Sie zog ihren Reißverschluß nach unten und entblößte dabei ein dunkles Dreieck, das einen Kontrast zu dem weißen Baum-wollslip bildete, der zusammen mit den Jeans über die Hüften gestreift wurde. Ihre langen braunen Beine auf dem Bett brachten Corso um den Atem, wie sie vorher Rochefort um seine Zähne gebracht hatten. Als nächstes hob sie die Arme an, um sich das T-Shirt auszuziehen. Ihre Bewegungen wirkten völlig natürlich, also weder kokett noch gleichgültig, und die sanften, ruhigen Augen waren auf ihn geheftet, bis ihr Gesicht unter dem T-Shirt verschwand. Jetzt wurden die Kontraste noch intensiver: noch mehr weiße Baumwolle, die diesmal nach oben rutschte und ihren tief gebräunten Bauch freigab, das feste warme Fleisch, die schlanke Taille ... die schweren, perfekt geformten Brüste, die sich im dämmrigen Licht abzeichneten . der Halsansatz, die halb geöffneten Lippen und dann wieder diese Augen, die strahlten, als hätten sie dem Himmel das Licht geraubt. In ihnen entdeckte Corso seinen Schatten wieder, der gefangen war wie eine Seele auf dem Grund einer Kristallkugel oder eines Smaragdes.
Zu diesem Zeitpunkt wußte er mit absoluter Sicherheit, daß er nicht konnte. Es war eine jener düsteren Vorahnungen, die bestimmten Ereignissen im voraus schon den Stempel einer unausweichlichen Katastrophe aufdrücken. Man könnte es auch prosaischer ausdrücken: Corso spürte, während er seine restlichen Kleider zu dem Mantel auf den Boden warf, daß seine anfängliche Erektion eindeutig abschlaffte. Hier hatte sich jemand zu früh gefreut. Oder, wie sein Ururgroßvater, der Bonapartist, gesagt hätte, la garde recule. Und zwar unwiderruflich. Beklemmung überkam ihn, wenngleich er hoffte, daß sein peinlicher Zustand im Gegenlicht der Badezimmertür nicht auffallen würde. Unendlich vorsichtig legte er sich dann, den Bauch nach unten, neben den warmen, braunen Körper, der im Halbdunkel auf ihn wartete, um das anzuwenden, was der Kaiser in Flandern eine indirekte Annäherungstaktik genannt hätte: Sondieren des Geländes, unter Vermeidung von Berührungen der kritischen Zone. Corso begann das Mädchen zu streicheln und bedächtig auf Hals und Lippen zu küssen, um aus seiner sicheren Position heraus ein wenig Zeit zu schinden, für den Fall, daß Grouchy mit Verstärkung auftauchen sollte. Aber es rührte sich nichts, und Grouchy ließ sich nirgends blicken. Wahrscheinlich machte der mal wieder irgendwo Jagd auf Preußen, weit vom Schlachtfeld entfernt.
Und Corsos Beklemmung wurde zur Panik, als sich das Mädchen an ihn drückte, einen ihrer prächtigen, festen, warmen Schenkel zwischen die seinen zwängte und sich damit vor Ort vom Ausmaß der Katastrophe überzeugen konnte. Er bemerkte, wie sie verwirrt lächelte - ein aufmunterndes Lächeln von der Art: Los, alter Junge, ich weiß, du schaffst es. Dann begann sie ihn mit unendlicher Zärtlichkeit zu küssen, und ihre Hand glitt zielstrebig nach unten, entschlossen, eine Veränderung der Lage herbeizuführen. Aber just, als sie im Epizentrum des Dramas anlangte, erlitt Corso vollends Schiffbruch. Soff ab wie die »Titanic«. Mit dem Orchester, das auf Deck spielte, Frauen und Kinder als erste. Die folgenden zwanzig Minuten waren entsetzlich. Man kennt das ja: Als müsse man auf einmal die Sünden eines ganzen Lebens abbüßen. Die reinste Agonie: Heroische Attacken, die an der Standhaftigkeit der schottischen Füsilierregimenter scheiterten. Die Vorhut der Infanterie, die losstürmte, sobald sich auch nur der Schimmer einer Siegesmöglichkeit auftat. Überraschungsschläge der Jäger und der leichten Infanterie im vergeblichen Trachten, den Feind zu überrumpeln. Husarenscharmützel und schwere Kürassierangriffe. Alles umsonst: Wellington lachte sich in seinem unerreichbaren belgischen Kuhnest ins Fäustchen, während sein Dudelsackpfeifer frech den Marsch der Scots Grey aufspielte, und die Alte Garde, oder was noch von ihr übriggeblieben war, mit zusammengepreßten Zähnen, Nase und Mund ins Leintuch gedrückt, verzweifelt zur Armbanduhr hinüberschielte, die Corso dummerweise anbehalten hatte. Der Schweiß strömte ihm von den Haarwurzeln in den Nacken hinab, und seine verwirrten Augen suchten über die Schulter des Mädchens hinweg die Umgebung verzweifelt nach einer Pistole ab, mit der er sich einen Schuß in den Kopf hätte jagen können.
Sie schlief. Vorsichtig, um sie nicht aufzuwecken, angelte er sich seinen Mantel und zog eine Zigarette aus der Tasche. Nachdem er sie angezündet hatte, blieb er auf einen Ellbogen gestützt liegen und betrachtete das Mädchen. Sie lag nackt auf dem Rücken, den Kopf auf dem blutbefleckten Kissen nach hinten gedreht, und atmete leise durch den geöffneten Mund. Sie roch immer noch nach Fieber und warmem Fleisch. Corso betrachtete sie im indirekten Licht, das aus dem Badezimmer einfiel und ihren reglosen Körper hell-dunkel modellierte. Ein Meisterwerk der Gentechnologie, dachte er und fragte sich, welche Arten von Blut oder Rätseln, Speichel, Haut, Fleisch, Sperma und Zufall sich da im Lauf der Zeit wohl vermischt hatten, um die einzelnen Glieder der Kette zu diesem Schmuckstück zusammenzufügen. Alle Frauentypen, die das menschliche Geschlecht je hervorgebracht hatte, sämtliche Spielarten der Weiblichkeit waren in diesem achtzehn oder zwanzig Jahre jungen Körper vereint. Er beobachtete die pulsierende Ader an ihrem Hals, den kaum wahrnehmbaren Herzschlag, folgte mit den Augen der weich geschwungenen Linie, die von ihren Rückenmuskeln über die Taille zu den Hüften verlief, und streckte eine Hand aus, um mit den Fingerspitzen das kleine lockige Dreieck zwischen ihren Schenkeln zu berühren, dort, wo ihre Haut ein bißchen heller war und er in dem Versuch, ein Biwak aufzuschlagen, so kläglich versagt hatte.
Das Mädchen war sehr taktvoll gewesen und hatte die Sache nicht weiter dramatisiert, ja sie war im Gegenteil zu einer spielerischen Plänkelei übergegangen, als sie begriffen hatte, daß bei Corso einfach nichts herauszuholen war. Das hatte die Atmosphäre etwas entspannt und Corso wenigstens davon abgebracht, sich in Ermangelung einer Feuerwaffe - gab man Pferden etwa nicht den Gnadenschuß? - den Kopf so lange an die Ecke des Nachttischs zu schlagen, bis ihm der Schädelknochen barst. Eine Möglichkeit, die er in seiner Umnachtung allen Ernstes erwogen hatte und von der er erst nach einem heimlichen Faustschlag gegen die Wand abgekommen war, wobei er sich beinahe die Fingerknöchel gebrochen hätte. Von der brüsken Bewegung und der plötzlichen Anspannung seines Körpers überrascht, sah sie ihn erschrocken an. Der Schmerz und die Anstrengung, die er unternehmen mußte, um nicht laut hinauszuschreien, beruhigten Corso jedenfalls so weit, daß er geistesgegenwärtig ein verzerrtes Lächeln zustande bringen und dem Mädchen versichern konnte, das passiere ihm nur die ersten dreißig Mal. Sie war in helles Gelächter ausgebrochen, hatte sich angeschmiegt, ihm zärtlich und belustigt die Augen und den Mund geküßt. >Du bist ein Dummkopf, Corso. Das macht mir doch nichts aus. Das macht mir wirklich nichts aus.< Trotzdem hatte er das einzige getan, was unter den gegebenen Umständen möglich war: eine minuziöse Retusche an den richtigen Stellen, deren Ergebnis zwar nicht gerade glorreich ausfiel, sich aber immerhin sehen lassen konnte. Als das Mädchen wieder zu Atem gekommen war, hatte sie ihn lange schweigend angesehen und danach langsam und ausführlich geküßt, bis der Druck ihrer Lippen nachließ und sie eingeschlafen war.
Die Glut der Zigarette ließ Corsos Finger im Halbdunkel aufleuchten. Er hielt den Rauch solange er konnte in der Lunge zurück, stieß ihn auf einmal aus und sah zu, wie sich im Lichtsegment über dem Bett eine Wolke bildete. Er hörte, daß der Atem des Mädchens einen Moment lang stockte, und betrachtete sie aufmerksam. Sie runzelte die Stirn und wimmerte leise wie ein Kind, das einen bösen Traum hat. Schließlich wandte sie sich im Schlaf Corso zu, einen Arm unter der nackten Brust und eine Wange in die Hand gebettet. Wer bist du, Herrgott? fragte er sie in Gedanken wohl zum hundertsten Male und schnitt eine ärgerliche Grimasse, aber dann beugte er sich zu ihr hinunter und küßte ihr regloses Gesicht. Seine Hand strich über ihr kurzes Haar und fuhr die Konturen ihrer Taille und ihrer Hüfte nach, die sich jetzt deutlich im Gegenlicht abzeichneten. Die Schönheit dieser weich geschwungenen Linie übertraf jede Melodie, jede Skulptur, jedes Gedicht, jedes Bild. Er näherte sich ihrem warmen Hals, um den Geruch einzuatmen, und in diesem Augenblick begann sein Herz heftig zu hämmern und weckte sein Fleisch. Gemach, sagte er zu sich. Ruhig Blut und keine Panik diesmal. Schön eins nach dem anderen. Da er nicht wußte, wie lange dieser Zustand anhalten würde, löschte er im würde, löschte er im Aschenbecher auf dem Nachttisch rasch seine Zigarette, drückte sich an das Mädchen und stellte fest, daß sein Organismus zufriedenstellend auf den Reiz reagierte. Er zwängte sich zwischen ihre Schenkel und betrat endlich, wie betäubt, das feuchte Paradies, das aus Honig und warmer Sahne gemacht schien. Das Mädchen rekelte sich schläfrig und schlang die Arme um seinen Rücken. Er küßte sie auf den Hals und den Mund, dem sich ein langes, unendlich sanftes Stöhnen entrang, und spürte, daß sie ihre Hüften bewegte, um sein Eindringen zu erleichtern.
Und als er dann bis auf den Grund ihres Fleisches und seiner selbst vorstieß und sich instinktiv und völlig mühelos einen Weg bahnte zu dem im Gedächtnis verschollenen Ort, aus dem er einst hervorgegangen war, da hatte sie bereits die Augen geöffnet und sah ihn überrascht und glücklich an - ein grünes Schillern zwischen den nassen, langen Wimpern.
»Ich liebe dich, Corso. Ichliebedichichliebedichichliebedich. Ich liebe dich.« Später mußte er sich auf die Zunge beißen, um nicht einen ähnlichen Blödsinn von sich zu geben. Er sah sich selbst nun wie ein Außenstehender, verwundert und ungläubig, erkannte sich kaum wieder: Das war ein einfühlsamer Corso, der aufmerksam das Mienenspiel des Mädchens verfolgte, ihrem Herzschlag lauschte und sein Verlangen zügelte, während er ihre geheimen Triebfedern entdeckte, den Chiffrenschlüssel dieses weichen und zugleich angespannten Körpers, der eng mit seinem eigenen verschlungen war. So machten sie gut eine Stunde weiter. Irgendwann fragte Corso sie dann einmal, ob sie beide nicht etwas aufpassen sollten, und sie antwortete ihm, er könne unbesorgt sein, sie habe die Sache unter Kontrolle. Darauf stieß er tief in sie vor, sehr tief. Bis an ihr Herz.
Er wachte im Morgengrauen auf. Das Mädchen schlief an ihn geschmiegt. Corso blieb eine Weile reglos liegen, um sie nicht zu wecken, und weigerte sich, darüber nachzudenken, was zwischen ihnen geschehen war und vielleicht noch geschehen würde. Er schloß die Augen und ließ sich genüßlich gehen, die angenehme Trägheit des Moments auskostend. Der Atem des Mädchens strich über seine Haut. Irene Adler, Baker Street 223 B. Der verliebte Teufel. Ihre Silhouette im Nebel, wie sie Rochefort gegenüberstand. Der blaue Kapuzenmantel, der ausgebreitet auf den Kai sank. Sein eigener Schatten in ihren Augen. Sie schlief ruhig und entspannt, als habe sie nichts mit alledem zu tun, und Corso brachte es nicht fertig, die Bilder in seinem Gedächtnis logisch zu ordnen. Allerdings hatte er in diesem Moment auch überhaupt keine Lust auf Logik. Er war faul und zufrieden. Eine seiner Hände glitt zwischen die warmen Schenkel des Mädchens und blieb dort ruhig liegen. Wenigstens dieser Körper war real. Soviel stand fest.
Später erhob er sich vorsichtig und ging ins Bad. Vor dem Spiegel stellte er fest, daß sein Gesicht nicht nur Reste eingetrockneten Bluts aufwies, sondern daß auch - Folgeerscheinungen des Treppenscharmützels mit Rochefort - ein blau gefärbter Bluterguß die linke Schulter zierte und ein weiterer sich über zwei Rippen zog, die weh taten, wenn er ihnen mit den Fingern zu nahe kam. Nachdem er sich oberflächlich gewaschen hatte, machte er sich auf die Suche nach einer Zigarette und fand dabei in seiner Manteltasche den Umschlag, den Grüber ihm am Vorabend gegeben hatte.
Er knirschte mit den Zähnen und verfluchte sich, weil er ihn vergessen hatte. Da er aber nicht noch mehr Zeit mit Selbstvorwürfen verschwenden wollte, riß er den Umschlag auf, ging ins Bad zurück und las im Licht der Neonlampe den Zettel, der darinsteckte. Es handelte sich um eine knappe Mitteilung -zwei Namen, eine Telefonnummer und eine Adresse -, die ihm ein hämisches Grinsen entlockte. Corso betrachtete sich noch einmal im Spiegel: sein zerzaustes Haar, den dunklen Bartschatten auf den Wangen, und setzte sich dann die Brille mit dem zerbrochenen Glas auf, wie ein Ritter, der das Visier seines Helms herunterklappt. Jetzt ähnelte sein Blick wirklich dem des bösen Wolfs, der Beute wittert. Er zog sich geräuschlos an, hängte sich die Segeltuchtasche über die Schulter und warf einen letzten Blick auf das schlafende Mädchen. Womöglich wurde das ja noch ein wundervoller Tag. Buckingham und Milady sollte jedenfalls das Frühstück im Halse stecken bleiben.
Das Hotel Crillon war für Flavio La Pontes Verhältnisse eindeutig zu teuer.
»Bestimmt zahlt die Witwe«, dachte Corso, während er auf der Place de la Concorde aus dem Taxi stieg. Er durchquerte die mit Siena-Marmor verkleidete Empfangshalle und steuerte zielstrebig auf die Treppe und die Zimmernummer 206 zu. An der Tür hing ein Schild mit der Aufschrift »Bitte nicht stören« in drei Sprachen, und als er dreimal kräftig klopfte, blieb alles mucksmäuschenstill.
So wurden denn drei Einschnitte gemacht und das Eisen des
Weißen Wals im Blut der Heiden abgelöscht ...
Die Bruderschaft der Harpuniere von Nantucket war im Begriff sich aufzulösen, und Corso wußte nicht recht, ob er das bedauern sollte oder nicht. Irgendwann einmal hatten La Ponte und er zusammen eine zweite Version des Moby Dick entworfen: Ishmael bringt die Geschichte zu Papier, verschließt das Manuskript in dem kalfaterten Sarg und geht mit den übrigen Besatzungsmitgliedern der Pequod unter. Nur Quiqueg, der wilde Heide ohne intellektuelle Ansprüche, überlebt. Mit der Zeit lernt er lesen, und eines Tages vertieft er sich in den Roman seines Kameraden Ishmael, nur um festzustellen, daß dessen Darstellung der Ereignisse überhaupt nicht mit seinen eigenen Erinnerungen übereinstimmt. So macht er sich daran, eine eigene Version der Geschichte niederzuschreiben. Nennt mich Quiqueg, fängt sie an, und der Titel lautet: Ein Wal. Vom professionellen Standpunkt des Harpuniers aus betrachtet, ist Ishmael nur ein pedantischer Gelehrter, der maßlos übertreibt: Moby Dick ist ein Wal wie jeder andere und nicht für das verantwortlich zu machen, was passiert. Letztendlich läuft doch alles auf die Unfähigkeit Ahabs hinaus, der seine persönlichen Rachegelüste in den Vordergrund stellt und darüber seine beruflichen Pflichten vergißt, nämlich, Fässer mit Öl zu füllen. Denn was hat es schon zu bedeuten, wer ihm das Bein ausreißt, schreibt Quiqueg. Corso erinnerte sich noch genau an die Szene, die sich in Makarovas Bar abgespielt hatte: die burschikos wirkende, kühle Baltin lauschte interessiert den Erläuterungen La Pontes, der ihr erklärte, weshalb der Sarg vom Schiffszimmermann mit geteertem Werg abgedichtet, also kalfatert werden muß, während Zizi die beiden vom anderen Ende des Tresens aus mit eifersüchtigen Blicken bombardierte. Das waren die Zeiten gewesen, in denen sich Nikons Stimme am Apparat meldete - er sah sie noch heute mit vor Fixiermitteln triefenden Händen aus der Dunkelkammer kommen -, wenn Corso seine eigene Nummer wählte. So hatten sie es auch damals gemacht, in der Nacht, in der Moby Dick umgeschrieben worden war. Zum Schluß waren sie alle zu Corso nach Hause gegangen, hatten die Videokassette von fohn Hustons Film eingelegt und vor dem Fernseher weitergezecht. Als die Raquel auf der Suche nach ihren verlorenen Söhnen endlich auf einen anderen Waisen stößt, hatten sie noch einmal auf den alten Melville angestoßen.
Genauso war es gewesen. Und trotzdem verspürte Corso jetzt, wo er vor der Tür des Zimmers 206 stand, bei weitem nicht die Wut, die man normalerweise empfindet, wenn man drauf und dran ist, seinen besten Freund des Verrats zu bezichtigen. Das mochte daran liegen, daß er im Grunde die weitverbreitete Ansicht teilte, in der Politik, bei geschäftlichen Transaktionen und im Sex sei der Verrat nur eine Frage der Zeit. Die Politik konnte als Motiv ausgeschlossen werden, aber er war sich nicht sicher, was La Ponte letztendlich nach Paris geführt hatte, ob Sex oder Geschäfte. Gut möglich, daß es eine Kombination dieser beiden Faktoren gewesen war. Corso konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, daß Flavio sich nur für Geld in diese üble Geschichte hatte hineinziehen lassen. Er überflog in Gedanken noch einmal Liana Taillefer, wie er sie von ihrem kurzen Gefecht her in Erinnerung hatte: sinnlich und schön ... die ausladenden Hüften, das weiche, weiße Fleisch, ihr blühendes Aussehen. Kim Novak in der Version des Vamps. Klar, wenn das keine Beweggründe waren! Er dachte an seinen Freund und kam nicht umhin, anerkennend eine Augenbraue hochzuziehen.
Vielleicht las La Ponte deshalb keine Feindseligkeit in seinem Gesicht, als er barfuß, im Pyjama und mit verschlafenen Augen, die Tür öffnete. Er hatte gerade noch Zeit, überrascht den Mund aufzusperren, bevor Corso ihm mit einem gezielten Faustschlag die Kinnlade wieder schloß und ihn hinterrücks in die entgegengesetzte Zimmerecke beförderte.
Unter anderen Umständen hätte Lucas Corso die Szene vielleicht genossen: Luxussuite, Blick auf den Obelisken der Place de la Concorde, flauschiger Teppichboden und riesiges Badezimmer, La Ponte, der in einer Ecke lag, sich das schmerzende Kinn rieb und die Augen verdrehte, ferner ein Frühstückstablett auf dem großen Bett, auf dem Liana Taillefer saß, blond und starr vor Staunen. Sie hatte einen angebissenen Toast in der Hand, und aus ihrem tief ausgeschnittenen Seidennachthemd quoll einer ihrer üppigen weißen Brüste. Brustwarze mit zwei Zentimetern Durchmesser, stellte Corso nüchtern fest, als er die Tür hinter sich schloß.
»Guten Morgen«, sagte er und näherte sich dem Bett.
Liana Taillefer, die noch immer den Toast in der Hand hielt, sah ihm regungslos zu, wie er sich neben sie setzte, seine Segeltuchtasche auf den Boden stellte, einen prüfenden Blick auf das Tablett warf und sich dann eine Tasse Kaffee einschenkte. Mindestens eine halbe Minute lang sagte keiner ein Wort. Schließlich nahm Corso einen Schluck Kaffee und grinste die Frau an.
»Wenn ich mich recht entsinne«, die unrasierten Kinnbacken ließen seine Gesichtszüge noch schärfer erscheinen, sein Mund glich einer Messerklinge, »dann habe ich Sie bei unserer letzten Begegnung ziemlich grob behandelt ...«
Sie antwortete nicht. Inzwischen hatte sie den angebissenen Toast auf das Tablett zurückgelegt und ihre ausufernde Anatomie in dem Seidennachthemd verstaut. Aus ihrem Blick sprach weder Angst noch Hochmut, noch Groll, ja sie sah ihn beinahe gleichgültig an. Nach der Szene in seiner Wohnung hätte sich der Bücherjäger eigentlich Haß in diesen Augen erwartet. >Dafür werde ich Sie umbringen< und so weiter. Und beinahe hätte sie es auch geschafft. Aber die stahlblauen Augen Liana Taillefers wirkten so kalt wie zwei Pfützen Eiswasser, und das beunruhigte Corso mehr als ein Wutausbruch. Er konnte sich gut vorstellen, wie sie völlig ungerührt den Leichnam ihres Mannes betrachtete, der an der Wohnzimmerlampe hing. Armer Teufel - er dachte an das Foto, auf dem der Verleger mit einer Schürze bekleidet dastand und sich anschickte, ein Spanferkel zu zerteilen. Nettes Drehbuch, das sie ihm da alle zusammengeschrieben hatten.
»Verdammter Arsch«, grunzte La Ponte, der immer noch auf dem Boden lag und es endlich geschafft hatte, Corso einigermaßen ins Bild zu bekommen. Er zog sich schwerfällig an den Möbeln in die Höhe. Corso sah ihm interessiert zu.
»Du scheinst ja nicht sehr begeistert, mich wiederzusehen.«
»Begeistert?« Der Buchhändler massierte sich die Wange und betrachtete immer wieder seinen Handteller, als fürchte er, dort Teile seiner Zähne zu entdecken. »Ich glaube, du bist verrückt geworden. Total verrückt.«
»Noch nicht, aber bald habt ihr mich so weit. Du und deine Kumpane.« Er deutete mit dem Daumen auf Liana Taillefer. »Einschließlich der untröstlichen Witwe.«
La Ponte trat vorsichtig einen Schritt auf ihn zu, ohne ihm jedoch zu nahe zu kommen.
»Würdest du mir freundlicherweise erklären, wovon du sprichst?«
Corso streckte eine Hand nach ihm aus und begann mit Hilfe seiner Finger eine Aufzählung.
»Ich spreche von dem Dumas-Manuskript und von den Neun Pforten. Von Victor Fargas, der in Sintra ertrunken ist. Von Rochefort, der mir wie ein Schatten folgt, mich vor einer Woche in Toledo angegriffen hat und gestern abend hier, in Paris.« Corso deutete wieder auf Liana Taillefer. »Von Milady. Und von dir, egal welche Rolle du in dieser Geschichte hast.«
La Ponte war Corsos Fingern während der Aufzählung gefolgt und hatte fünfmal hintereinander geblinzelt, einmal bei jedem Finger. Am Ende faßte er sich wieder an die Wange, diesmal aber nicht vor Schmerz, sondern aus Ratlosigkeit. Er schien drauf und dran, etwas zu sagen, überlegte es sich dann aber anders. Als er sich endlich doch dazu entschloß, tat er es an Liana Taillefer gewandt.
»Was haben wir mit dieser Sache zu tun?«
Sie zuckte verächtlich mit der Schulter und gab damit zum Ausdruck, daß sie weder an Erklärungen interessiert noch zur Mitarbeit bereit war. Das Frühstückstablett neben sich, lehnte sie nach wie vor in den Kissen, ihre blutrot lackierten Fingernägel zerkrümelten eine Scheibe Toastbrot, aber abgesehen davon war die einzige Bewegung, die man an ihr wahrnehmen konnte, das Auf und Ab ihres Busens in dem großzügig dekolletierten Nachthemd. Im übrigen beschränkte sie sich darauf, Corso gegenüber die steinerne Miene eines Pokerspielers aufzusetzen, der darauf wartet, daß der andere seine Karten auf den Tisch legt.
La Ponte kratzte sich den Kopf dort, wo kaum noch Haare sprießten. Er gab kein sehr glänzendes Bild ab, wie er so in der Mitte des Zimmers stand, mit seinem zerknitterten Nadelstreifenpyjama und der linken Backe, die unter dem Bart angeschwollen war. Seine verwirrten Augen wanderten zwischen Corso und der Witwe hin und her. Schließlich blieben sie an seinem Freund hängen.
»Ich verlange eine Erklärung«, sagte er.
»Was für ein Zufall. Ich bin nämlich mit demselben Anliegen zu dir gekommen.«
La Ponte zögerte und warf Liana Taillefer noch einmal einen unsicheren Blick zu. Er fühlte sich gedemütigt, und das war auch kein Wunder. Zunächst zählte er im Geiste die drei Knöpfe seines Schlafanzugs ab, und dann starrte er auf seine nackten Füße. Sich in dieser Aufmachung einer Krise zu stellen, grenzte schon beinahe ans Pathetische. Endlich deutete er aufs Bad.
»Laß uns da reingehen«, sagte er zu Corso, bemüht, seiner Stimme einen strammen Ton zu verleihen, aber seine geschwollene Backe hinderte ihn daran, die Konsonanten deutlich auszusprechen. »Du und ich.«
Die Frau blieb nach wie vor reglos und verriet nicht die geringste Unruhe, während sie den beiden zusah wie einer langweiligen Fernsehsendung. Corso überlegte, daß man früher oder später etwas gegen sie unternehmen mußte, aber im Augenblick fiel ihm nichts ein. Nach kurzem Zaudern hob er seine Segeltuchtasche vom Boden auf und betrat vor La Ponte das Bad. Der schloß die Tür hinter ihnen.
»Dürfte ich jetzt erfahren, warum du mich geschlagen hast?«
Er sprach leise, denn er fürchtete, daß die Witwe sie vom Bett aus hören könnte. Corso legte seine Tasche ins Bidet, prüfte die Sauberkeit der weißen Handtücher, stöberte ein wenig auf der Waschbeckenablage herum und wandte sich dann völlig ruhig zu dem Buchhändler um.
»Weil du ein hundsgemeiner Verräter bist«, erwiderte er. »Du hast mir kein Wort davon gesagt, daß du in dieser Sache drinsteckst. Und du hast zugelassen, daß man mich hereinlegt, daß man mir folgt und mich verprügelt.«
»Ich stecke in überhaupt nichts drin. Und der einzige, der hier verprügelt wurde, bin ich.« Der Buchhändler untersuchte sein Gesicht im Spiegel. »O Gott! Schau an, was du gemacht hast. Ich bin ja entstellt!«
»Wenn du mir nicht alles beichtest, entstelle ich dich gleich noch mehr.«
»Beichten?« La Ponte befühlte die geschwollene Backe und sah Corso dabei von der Seite an, als habe der den Verstand verloren. »Das ist kein Geheimnis, Liana und ich haben .« Er unterbrach sich und suchte nach dem passenden Wort. »Ähem. Du hast es ja selbst gesehen.«
»Ihr habt Freundschaft geschlossen«, sagte Corso vor.
»Genau.«
»Wann?«
»Am selben Tag, an dem du nach Portugal gefahren bist.«
»Wer hat sich an wen rangemacht?«
»Praktisch ich.«
»Praktisch?«
»Ja, ich habe sie besucht.«
»Wieso?« »Weil ich ihr ein Angebot machen wollte . für die Bibliothek ihres Mannes.«
»Und das ist dir einfach so eingefallen?«
»Na ja ... Sie hat mich vorher angerufen. Das habe ich dir doch erzählt.«
»Stimmt.«
»Sie wollte das Dumas-Manuskript zurückhaben, das mir der Verblichene verkauft hatte.«
»Hat sie dir auch gesagt, warum?«
»Zum Andenken.«
»Und du hast ihr geglaubt.«
»Ja.«
»Oder besser gesagt, es war dir egal.«
»Weißt du, in Wirklichkeit .«
»Sicher. In Wirklichkeit ging es dir nur darum, sie zu bumsen.«
»Das auch.«
»Und sicher ist sie sofort gefallen.«
»Wie eine reife Birne vom Baum.«
»Klar. Und dann seid ihr nach Paris in die Flitterwochen gefahren.«
»Nicht ganz ... Sie hatte hier zu tun.«
»Und hat dich eingeladen, sie zu begleiten.«
»Exakt.«
»Einfach so, nicht? Um die Idylle fortzusetzen. Spesen auf ihre Rechnung.«
»Du hast es erraten.«
Corso schnitt eine höhnische Grimasse.
»Wie schön ist doch die Liebe, wenn zwei sich wirklich gern haben. Stimmt’s, Flavio?«
»Werd jetzt nicht zynisch. Liana ist eine außergewöhnliche Frau. Du kannst dir ja nicht vorstellen .«
»Doch, das kann ich.« »Kannst du nicht.«
»Aber wenn ich es dir doch sage.«
»Das hättest du wohl gern. Mit diesem Bombenweib.«
»Laß uns nicht vom Thema abkommen, Flavio. Wir waren in Paris stehengeblieben.«
»Genau.«
»Was habt ihr mit mir vor?«
»Überhaupt nichts. Wir wollten dir heute oder morgen mal einen Besuch abstatten. Um das Manuskript von dir zurückzuverlangen.«
»Und die Sache gütlich beizulegen.«
»Klar. Wie sonst?«
»Daß ich mich weigern könnte, es herauszurücken - die Idee ist euch nicht gekommen?«
»Na ja, Liana hatte so ihre Zweifel.«
»Und du?«
»Ich nicht.«
»Du nicht, was?«
»Ich habe da kein Problem gesehen. Schließlich sind wir Freunde. Und der Vin d’Anjou gehört mir.«
»Verstehe: Du warst ihr zweites As im Ärmel.«
»Ich weiß nicht, wovon du sprichst. Liana ist eine phantastische Frau. Und sie vergöttert mich.«
»Ja, sie scheint mir sehr verliebt.«
»Glaubst du wirklich?«
»Du bist ein Idiot, Flavio. Sie haben dich genauso reingelegt wie mich.«
Zu dieser Einsicht gelangte er so plötzlich, als habe ihn eine Alarmsirene aus dem Schlaf gerissen. Corso stieß La Ponte brüsk zur Seite und stürzte ins Schlafzimmer zurück: Liana Taillefer hatte sich halbwegs angezogen und war dabei, ihren Koffer zu packen. Einen Moment lang hefteten sich ihre eiskalten Augen auf ihn, und Corso begriff, daß sie, während er die große Klappe geschwungen hatte, die ganze Zeit über nur auf etwas gelauert hatte: ein Geräusch oder ein Zeichen. Wie eine Spinne im Zentrum ihres Netzes.
»Auf Wiedersehen, Senor Corso.«
Jetzt hatte sie wenigstens vier Worte über die Lippen gebracht. Corso, der sich noch gut an ihre tiefe, leicht heisere Stimme erinnern konnte, begriff nicht ganz, was das - abgesehen von ihrem baldigen Aufbruch - bedeuten sollte. Er machte einen weiteren Schritt auf sie zu, als er plötzlich bemerkte, daß noch jemand im Zimmer war: ein Schatten, der sich links hinter ihm aus dem Türrahmen löste. Im Bewußtsein, einen weiteren Fehler begangen zu haben, wollte er sich noch umdrehen, aber es war bereits zu spät. Er konnte gerade noch Liana Taillefer lachen hören, wie die bösen, blonden Vamps in den Filmen. Was den Schlag betraf - den zweiten in weniger als zwölf Stunden -, so saß er ebenfalls hinterm Ohr, an derselben Stelle. Rochefort nahm er nur noch verschwommen wahr. Als er auf dem Boden ankam, war er bereits bewußtlos.