XVI. Ein Hauch von Horror

»Das ist das Ärgerliche an der Sache«, sagte Porthos.

»Früher brauchte man nichts zu erklären. Man hat sich duelliert und damit basta.«

A. Dumas, Der Graf von Bragelonne


Den Kopf an die Nackenstütze des Fahrersitzes gelehnt, sah Lucas Corso auf die Landschaft hinaus. Der Wagen war in einer kleinen Haltebucht der Straße geparkt, die an dieser Stelle eine letzte Kurve beschrieb, bevor sie zur Stadt hin abfiel. Wie eine bläuliche Geisterinsel schwebte der alte, mauerumgürtete Ortskern über dem Dunst des Flusses. Es war eine Welt, in der weder Licht noch Schatten vorherrschten, eine jener kalten kastilischen Morgendämmerungen, in der sich die Dächer, Kamine und Kirchtürme nur zögernd gen Osten hin abzuzeichnen beginnen.

Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr, aber bei dem Gewitterregen in Meung war Wasser in sie eingedrungen, und das Zifferblatt war so beschlagen, daß er nichts erkennen konnte. Im Rückspiegel begegnete Corso seinen eigenen, müden Augen. Meung-sur-Loire, der erste Montag im April, mittlerweile war es Dienstag, und sie hatten das Städtchen weit hinter sich zurückgelassen. Es war eine lange Rückfahrt gewesen, so lange, daß er den Eindruck hatte, alle hinter sich gelassen zu haben: Balkan, den Club Dumas, Rochefort, Milady, La Ponte. Schatten einer Geschichte, die verblaßt, sobald man das Buch zuschlägt, oder wenn der Autor auf seiner Schreibmaschine - unterste Reihe, dritte Taste von rechts - den Schlußpunkt setzt, um die Geschichte mit diesem Willkürakt in das zurückzuverwandeln, woraus sie eigentlich besteht: simple Blätter mit Buchstabenreihen gefüllt - totes, fremd anmutendes Papier. Gestalten, die in die Anonymität zurückkehren.

In dieser Morgendämmerung, die so sehr dem Aufwachen aus einem Traum glich, blieb dem Bücherjäger - gerötete Augen, schmutzig und mit Dreitagebart - nur seine alte Segeltuchtasche mit dem letzten Exemplar der Neun Pforten. Und das Mädchen. Das war alles, was die Ebbe am Strand zurückgelassen hatte. Er hörte, wie sie leise neben ihm stöhnte, und wandte den Kopf, um sie anzusehen. Sie schlief auf dem Beifahrersitz, den Kopf an seine rechte Schulter gelehnt und mit ihrem Kapuzenmantel zugedeckt. Sie atmete ruhig durch den halb geöffneten Mund. Manchmal zuckte sie im Traum ein wenig zusammen, und dann stöhnte sie wieder, kaum vernehmbar, während sich zwischen ihren Augenbrauen eine kleine senkrechte Falte bildete, die ihr das Aussehen eines erzürnten Kindes gab. Eine Hand lag auf dem blauen Stoff und war halb geöffnet, als sei ihr soeben etwas entglitten, oder als wolle sie nach etwas fassen.

Corso dachte wieder an Meung und an die Reise. An Boris Balkan, wie er vorletzte Nacht neben ihm auf der regennassen Terrasse gestanden hatte. Mit dem Manuskript des Vin d’Anjou in Händen, hatte Richelieu gelächelt, bewundernd und mitleidig zugleich, wie ein guter, alter Feind: >Sie sind ein ungewöhnlicher Mensch, Corso ...< Ein letzter Satz als Trost oder als Verabschiedung - die einzigen ehrlich gemeinten Worte, denn der Vorschlag, sich doch den Gästen anzuschließen, war in wenig überzeugendem Ton geäußert. Nicht, weil Balkan seine Gesellschaft unangenehm gewesen wäre - er zeigte sich im Gegenteil betrübt, als sie auseinandergingen -, sondern weil er bereits voraussah, daß Corso ablehnen würde. Der Bücherjäger hatte sich lange nicht vom Fleck gerührt: Die Ellbogen auf das Steingeländer gestützt, war er allein auf der Terrasse zurückgeblieben und hatte über seine Niederlage nachgegrü-belt. Allmählich war er wieder zu sich gekommen, hatte sich umgesehen, wie um sich neu zu orientieren, und war dann durch die dunklen Gassen von Meung langsam zum Hotel zurückgeschlendert. Rochefort hatte er nicht wieder getroffen, und im Gasthof »Saint-Jacques« erfuhr er, daß auch Milady inzwischen verschwunden war. Beide waren aus seinem Leben in die nebulösen Sphären zurückgekehrt, die sie hervorgebracht hatten: fiktive Gestalten, schuldlos wie Schachfiguren. Flavio La Ponte und das Mädchen dagegen fand er mühelos wieder. Um La Ponte hatte er sich nicht die geringsten Sorgen gemacht, aber was das Mädchen betraf, so war er doch sehr froh, daß sie noch da war. Er hatte erwartet - gefürchtet -, sie zusammen mit den anderen Personen der Geschichte zu verlieren. Bevor auch sie sich im Staub der Bibliothek der Burg von Meung auflösen konnte, packte er sie rasch an der Hand, schleppte sie zum Auto und fuhr los. Zur großen Bestürzung La Pontes, der im Rückspiegel zurückblieb. Völlig verdattert, ohne Fragen zu stellen - ein in Mißkredit geratener, überflüssiger Harpunier, auf den kein Verlaß war und den man mit einer Dreitagesration Zwieback und Wasser aussetzte: Und jetzt versuchen Sie nach Batavia zu kommen, Mister Bligh. Trotzdem bremste Corso den Wagen am Ende der Straße ab, legte die Hände aufs Lenkrad und starrte reglos auf den Asphalt vor den Scheinwerfern, während das Mädchen ihn von der Seite aus fragend ansah. Eigentlich war La Ponte ja auch keine reale Figur. Er legte also mit einem Seufzer den Rückwärtsgang ein, fuhr zurück und ließ den Buchhändler einsteigen, der während des ganzen Tages und der folgenden Nacht den Mund nicht aufmachen sollte, bis sie ihn in Madrid an einer Ampel absetzten. Ja, er protestierte nicht einmal, als Corso ihm mitteilte, das Dumas-Manuskript könne er vergessen. Viel gab es da auch nicht zu sagen.

Corso betrachtete die Segeltuchtasche zwischen den Füßen des schlafenden Mädchens. Natürlich schmerzte ihn auch dieses Gefühl der Niederlage, das er wie einen Messerstich empfand. Er war enttäuscht, weil er alle Regeln des Spiels befolgt hatte - legitime certaverit - und trotzdem auf den falschen Weg geraten war. Weil der Sieg, gerade zu dem Zeitpunkt, als er greifbar und fühlbar schien, in Bruchstücke zerfallen war. Bestenfalls eine gewonnene Schlacht auf einem Nebenschauplatz. Corso hatte den Eindruck, gegen Phantasmen gekämpft, mit Schatten geboxt oder in die Stille geschrien zu haben. Vielleicht spähte er deshalb seit einer guten Weile mißtrauisch auf die im Nebel schwebende Stadt hinunter, in der Hoffnung, daß sie auf festem Boden aufsetzen würde, bevor er sie betrat.

Der Atem des Mädchens an seiner Schulter ging ruhig und regelmäßig. Er betrachtete ihren nackten Hals, der unter dem Kapuzenmantel hervorleuchtete, und streckte dann die linke Hand aus, bis er ihr warmes Fleisch unter seinen Fingern pulsieren spürte. Sie roch wie immer nach junger Haut und Fieber. Es fiel ihm leicht, in Gedanken die langen, schlanken Linien mit den weichen Rundungen nachzuzeichnen, bis hinunter zu den weißen Tennisschuhen und zu der Segeltuchtasche. Irene Adler. Corso wußte immer noch nicht, unter welchem Namen er an sie denken sollte, aber er erinnerte sich an ihren nackten Körper, an die sanfte Wölbung ihrer Hüfte, die sich im Dämmerlicht des Hotelzimmers abzeichnete, an die halb geöffneten Lippen. Still und unglaublich schön, heiter wie ein ruhiger See, völlig in ihrer Jugend aufgegangen und zugleich eine jahrhundertealte Weisheit ausstrahlend. Und in ihren klaren Augen, die ihn eindringlich aus der Dunkelheit ansahen und schillerten, als hätten sie das Licht des Himmels eingefangen, sein eigenes Schattenbild.

Jetzt sahen ihn diese Augen wieder an, smaragdgrün zwischen langen Wimpern. Das Mädchen war aufgewacht, hatte sich schläfrig an seiner Schulter gerieben, sich dann aufgesetzt und erschrocken umgeblickt.

»Hallo, Corso.«

Der Kapuzenmantel rutschte auf den Boden. Unter dem weißen Baumwoll-T-Shirt zeichnete sich ihr perfekter Oberkörper ab, geschmeidig wie ein junges Tier. »Was machen wir hier?«

»Warten.« Er wies auf die Stadt: Es sah immer noch aus, als werde sie vom Dunst des Flusses getragen. »Bis sie real wird.«

Das Mädchen schaute in die angedeutete Richtung, ohne gleich zu verstehen, was er meinte. Aber bald erschien ein Lächeln auf ihren Lippen.

»Vielleicht wird sie das nie«, sagte sie.

»Dann bleiben wir hier oben. So schlecht ist der Platz doch gar nicht . mit dieser seltsamen, unwirklichen Welt zu unseren Füßen.« Er sah das Mädchen an und schwieg ein Weile, bevor er fortfuhr. »Alles werde ich dir geben, wenn du mich aus freiem Willen anbetest ... Irgendwas in der Art wolltest du mir doch gleich versprechen, oder?«

Das Lächeln des Mädchens war voller Zärtlichkeit. Sie neigte nachdenklich den Kopf und sah Corso in die Augen: »Nein. Ich bin arm.«

»Ja, das weiß ich.« Es stimmte, und um das zu wissen, brauchte er nicht erst in ihren leuchtenden Augen zu lesen. »Dein Gepäck, der Sitzplatz im Zug nach Lissabon ... Komisch. Ich war überzeugt, daß ihr dort, am anderen Ende des Regenbogens, über unbegrenzte Mittel verfügt.« Er verzog den Mund grinsend zu einem Strich, dünn wie die Klinge des Messers, das er noch immer in der Tasche trug. »Das Gold von Peter Schlemihl und so.«

»Dann hast du dich geirrt.« Sie preßte eigensinnig die Lippen zusammen. »Ich habe nur mich selbst.«

Das war auch wahr, und Corso wußte es ebenfalls von Anfang an. Sie log nie. Sie war naiv und weise zugleich, einfach ein verliebtes junges Mädchen auf der Jagd nach einem Schatten.

»Das sehe ich.« Er tat, als schwinge er einen Füllfederhalter durch die Luft. »Und du gibst mir kein Dokument zum Unterschreiben?«

»Ein Dokument?«

»Ja, früher hat man Pakt dazu gesagt. Jetzt ist es wahrscheinlich ein Vertrag mit viel Kleingedrucktem, habe ich recht? Im Streitfall wenden sich die Vertragspartner an das Gericht von Soundso. Schau mal, das ist lustig. Ich wüßte wirklich gerne, welches Gericht für diese Art von Prozessen zuständig ist.«

»Red keinen Quatsch.«

»Warum hast du mich ausgesucht?«

»Ich bin frei.« Sie seufzte melancholisch, als habe sie bereits dafür bezahlt, das sagen zu dürfen. »Und ich kann wählen. Das kann jeder.«

Corso kramte in seiner Manteltasche, bis er das zerknitterte Zigarettenpäckchen fand. Es enthielt nur noch eine Zigarette. Er zog sie raus, sah sie unentschlossen an und steckte sie dann wieder zurück. Vielleicht . nein, sicher würde er sie später dringender benötigen.

»Du hast alles von Anfang an gewußt«, sagte er. »Das waren zwei Geschichten, die nicht das geringste miteinander zu tun hatten. Deshalb hast du dich nie für die Dumas-Variante interessiert ... Milady, Rochefort, Richelieu waren nichts als Komparsen für dich. Jetzt verstehe ich auch deine verblüffende Passivität. Bestimmt hast du dich schrecklich gelangweilt. Du hast in deinen Musketieren herumgeblättert und mich auf den falschen Spielfeldern ziehen lassen.«

Das Mädchen sah durch die Windschutzscheibe hindurch auf die Stadt in ihrem bläulichen Dunstschleier. Sie hob die Hand, wie um ein Gegenargument vorzubringen, ließ sie dann aber wieder fallen, als habe das, was sie sagen wollte, sowieso keinen Sinn.

»Ich konnte kaum etwas anderes tun, als dir zur Seite zu stehen«, sagte sie nach einer Weile. »Bestimmte Wege muß jeder allein gehen. Hast du noch nie etwas vom freien Willen gehört?« Ihr Lächeln war traurig. »Manche von uns bezahlen ihn sehr teuer.«

»Aber du hast dich nicht immer rausgehalten. Als ich an der Seine von Rochefort überfallen wurde: Warum hast du mir da geholfen?«

Sie berührte mit einem Fuß die Segeltuchtasche.

»Der Typ war hinter dem Dumas-Manuskript her - aber die Neun Pforten waren auch in der Tasche. Ich wollte lästige Interferenzen vermeiden.« Sie zuckte mit den Schultern. »Außerdem konnte ich nicht mitansehen, wie er dich schlägt.«

»Und in Sintra? Dort hast du mir gesagt, was Fargas passiert ist.«

»Klar. Da war das Buch ja auch im Spiel.«

»Und die Sache mit dem Stelldichein in Meung .«

»Davon wußte ich nichts. Das habe ich einfach aus dem Roman abgeleitet.«

»Ich dachte, ihr seid allwissend.«

»Dann hast du eben falsch gedacht.« Sie sah ihn ärgerlich an. »Überhaupt begreife ich nicht, warum du ständig im Plural von mir sprichst. Ich bin seit langem allein.«

Seit Jahrhunderten, dachte Corso. Und er hätte es beschwören können: Jahrhunderte der Einsamkeit - da war keine Täuschung möglich. Er hatte sie nackt umarmt, sich im Licht ihrer Augen verloren. Er war in diesem Körper drin gewesen, hatte ihre Haut geschmeckt, das sanfte Pulsieren ihres Halses auf den Lippen gespürt. Er hatte sie leise wimmern hören wie ein verängstigtes Kind oder ein gefallener, einsamer Engel auf der Suche nach Wärme. Und er hatte sie mit geballten Fäusten schlafen und unter Alpträumen leiden sehen, Alpträume von strahlenden blonden Engeln in ihren Rüstungen, unerbittlich, dogmatisch wie Gott selbst, der sie im Gänseschritt aufmarschieren ließ.

Durch sie konnte er Nikon jetzt, im nachhinein, gut verstehen, ihre Hirngespinste, die verzweifelte Gier, mit der sie sich ans Leben klammerte. Ihre Angst, ihre Schwarzweißfotos, ihr vergebliches Bemühen, die ererbten Erinnerungen an Auschwitz zu bannen, die Nummer, die sie ihrem Vater in die Haut tätowiert hatten, die Schwarze Ordnung, die alt ist wie der Geist des Menschen und der Fluch, der auf ihm lastet. Denn Gott und der Teufel konnten dasselbe sein - es war alles nur eine Frage des Blickwinkels.

Trotzdem blieb Corso grausam, genau wie er es mit Nikon gewesen war. Die Last war zu schwer für seine schwachen Schultern, und die Großherzigkeit eines Porthos besaß er nicht.

»Das war also deine Mission?« fragte er das Mädchen. »Über die Neun Pforten zu wachen? Dann glaube ich aber kaum, daß du einen Orden dafür bekommst.«

»Du bist ungerecht, Corso.«

Beinahe dieselben Worte. Das war wieder Nikon, hilflos den Stürmen des Lebens ausgeliefert, klein und zerbrechlich. An wen würde sie sich jetzt wohl in der Nacht klammern, um ihren Alpträumen zu entrinnen?

Er betrachtete das junge Mädchen. Vielleicht war die Erinnerung an Nikon sein persönlicher Fluch, aber er war nicht bereit, sich widerspruchslos damit abzufinden. Im Rückspiegel stand sein verkrampfter Mund.

»Ungerecht? Wir haben zwei der drei Bücher verloren. Und dann diese unsinnigen Todesfälle: Fargas und die Baronin Ungern. Du hättest sie verhindern können«, sagte er in vorwurfsvollem Ton, obwohl ihm die beiden im Grunde egal waren.

Sie schüttelte ernst den Kopf und wich seinem Blick keine Sekunde lang aus.

»Es gibt Dinge, die sich nicht vermeiden lassen, Corso. Es gibt Schlösser, die brennen, und Menschen, die hängen müssen, Hunde, die dazu prädestiniert sind, sich gegenseitig zu zerfleischen, Tugenden, die geköpft werden müssen, und Tore, die man aufmachen muß, damit andere sie passieren können ...« Sie neigte den Kopf zur Seite. »Meine Mission - wie du es nennst - war, dafür zu sorgen, daß du deinen Weg sicher gehst.«

»Das war aber ein langer Weg, um letztendlich wieder am Ausgangspunkt anzukommen.« Corso deutete auf die dunstige Stadt. »Und jetzt muß ich da rein.«

»Du mußt nicht. Keiner zwingt dich dazu. Du kannst die ganze Geschichte vergessen und abhauen.«

»Ohne die Antwort zu kennen?«

»Ohne dich der Probe zu unterziehen. Die Antwort trägst du in dir selbst.«

»Was für eine schöne Phrase. Laß sie in meinen Grabstein meißeln, wenn ich in der Hölle brate.«

Das Mädchen klopfte ihm aufs Knie - nicht aggressiv, eher freundschaftlich.

»Sei kein Idiot, Corso. Viel öfter, als man glaubt, sind die Dinge genau das, was man sich eigentlich wünscht. Sogar der Teufel kann verschiedene Gestalten annehmen. Oder Erscheinungsformen.«

»Gewissensbisse, zum Beispiel.«

»Ja. Aber auch das Wissen und die Schönheit«, sie sah besorgt auf die Stadt hinunter, »oder die Macht und den Reichtum.«

»Das Endergebnis ist jedenfalls immer dasselbe: Verdammnis.« Er unterzeichnete wieder in der Luft einen imaginären Vertrag. »Man bezahlt mit der Unschuld seiner Seele.«

Das Mädchen seufzte erneut.

»Du hast vor langem bezahlt, Corso. Und du bezahlst immer noch. Schon seltsam, diese Angewohnheit, immer alles am Ende abrechnen zu wollen, als gehe es um den letzten Akt in einer Tragödie . Jeder Mensch schleppt von Anfang an seinen Fluch mit sich herum. Und was den Teufel betrifft, so ist er nur der Zorn Gottes, die Wut eines Diktators, der in seiner eigenen Falle gefangen ist. Geschichte aus der Sicht der Sieger.«

»Wann ist es passiert?«

»Vor unendlich langer Zeit. Und es war sehr hart. Ich habe hundert Tage und hundert Nächte gekämpft ohne Rast und ohne Hoffnung.« Um ihre Mundwinkel spielte ein sanftes, kaum wahrnehmbares Lächeln. »Das ist mein einziger Stolz, Corso, bis zum bitteren Ende durchgehalten zu haben. Ich bin zurückgewichen, ohne mich je abzuwenden - unter vielen anderen, die ebenfalls vom Himmel gefallen sind. Heiser davon, meinen Mut, meine Angst, meine Erschöpfung hinauszuschreien . Endlich fand ich mich nach der Schlacht in wüstem Ödland wieder - ausgestorben und kalt, wie es die Ewigkeit ist . Manchmal stoße ich heute noch auf Spuren dieses Kampfes oder auf alte Kameraden, die mit gesenktem Blick an mir vorübergehen.«

»Warum ausgerechnet ich? Warum hast du dir nicht einen aus dem anderen Lager ausgesucht, einen von den Siegern? Ich gewinne nur Schlachten im Maßstab 1:5000.«

Das Mädchen wandte sich von ihm ab und ließ den Blick in die Ferne schweifen. In diesem Moment tauchte die Sonne am Horizont auf, und ihr erster Strahl zerschnitt den Morgennebel wie eine rötlich blitzende Klinge.

Als Corso zu ihr hinsah, wurde ihm schwindelig von dem gleißenden Licht, das die grünen Augen reflektierten.

»Weil die Intelligenz niemals siegt. Und einen Trottel zu verführen, lohnt die Mühe nicht.«

Sie küßte ihn - sehr langsam und unendlich zärtlich. Als habe sie eine ganze Ewigkeit auf diesen Moment gewartet.

Allmählich begann der Nebel sich aufzulösen, und die in der Luft schwebende Stadt schien endlich auf dem Boden aufzusetzen. Nun zeichnete sich bereits - grau und ockerfarben - der Alcazar in der Morgendämmerung ab, der Turm der Kathedrale, die Steinbrücke mit ihren Pfeilern im dunklen Wasser des Flusses. Wie eine seltsam gespreizte Hand spannte sie sich von einem Ufer zum anderen.

Corso drehte den Zündschlüssel, fuhr an und ließ das Auto im Leerlauf die verlassene Straße hinunterrollen. Je tiefer sie kamen, desto mehr zog sich die aufgehende Sonne von ihnen zurück, als werde sie oben auf dem Hügel festgehalten. Die Stadt rückte immer näher, während sie langsam in die Welt der kalten Farbtöne und der immensen Einsamkeit eintauchten, die sich zwischen den letzten Resten des bläulichen Dunstes hielt.

Unter dem Steinbogen am Beginn der Brücke bremste Corso ab und zögerte einen Augenblick: Seine Hände lagen auf dem Lenkrad, der Kopf war zur Seite geneigt, der Unterkiefer nachdenklich nach vorn geschoben - das gespannte, wachsame Profil eines Jägers. Er nahm seine Brille ab und putzte sie, ohne Hast, die Augen starr auf die Brücke gerichtet, die -selbst verschwommen - etwas Abweisendes an sich hatte. Das Mädchen beobachtete ihn von der Seite, aber Corso wagte es nicht, den Kopf zu drehen. Er setzte seine Brille wieder auf und rückte sie mit dem Zeigefinger auf der Nase zurecht, aber die Landschaft machte ihm auch mit scharfen Umrissen keinen sehr vertrauenserweckenden Eindruck. Von hier aus schien das andere Ufer düster und weit entfernt. Der dunkle Fluß unter den Pfeilern erinnerte ihn an die schwarzen Wasser der Lethe. Corso hatte das deutliche Gefühl, als lauere in den letzten Schatten der Nacht eine akute Gefahr. Er spürte seinen Pulsschlag, als er die rechte Hand auf den Schaltknüppel legte.

Noch hast du Zeit umzudrehen, sagte er sich. Dann wird nichts von dem, was geschehen ist, jemals geschehen sein, und nichts von dem, was passieren wird, jemals passieren. Und der praktische Nutzen des von Gott oder dem Teufel geprägten Nunc scio, Jetzt weiß ich, war noch lange nicht erwiesen. Was hatten diese Überlegungen für einen Sinn? Im Grunde wußte er genau, daß er sich in zwei Minuten auf der anderen Seite der Brücke und des Flusses befinden würde. Verbum dimissum custodiat arcanum. Corso starrte noch einmal zum Himmel hinauf, um nach einem Bogenschützen mit oder ohne Pfeil im Köcher Ausschau zu halten, dann legte er den ersten Gang ein und trat sachte aufs Gaspedal.

Außerhalb des Wagens war es kalt, er schlug seinen Mantelkragen hoch. Er fühlte den Blick des Mädchens auf seinem Rücken ruhen, während er, ohne sich noch einmal umzudrehen, die Straße überquerte und sich mit den Neun Pforten unterm Arm entfernte. Sie hatte ihm nicht angeboten, ihn zu begleiten, und eine innere Stimme sagte ihm, daß es so besser war.

Der Palacio reichte beinahe von einer Querstraße zur nächsten und beherrschte mit seiner wuchtigen grauen Steinfassade einen schmalen Platz, der von mittelalterlichen Häusern eingerahmt wurde. Mit ihren verschlossenen Türen und Fenstern erinnerten die Gebäude an reglose, taubstumme Komparsen. Vom Dach des Palacios ragten vier Wasserspeier herab: ein Ziegenbock, ein Krokodil, ein Gorgonenhaupt und eine Schlange. Das schmiedeeiserne Tor, über dem sich ein Mude-jarbogen mit Davidstern wölbte, führte von der Straße in den Innenhof mit den zwei venezianischen Marmorlöwen und dem runden Brunnen, der mit Eisenplatten abgedeckt war. Dem Bücherjäger war dieser Ort bestens vertraut, aber er hatte beim Betreten noch nie ein so mulmiges Gefühl gehabt wie jetzt. Er mußte an ein altes Zitat denken: Vielleicht durchqueren Männer, von vielen Frauen liebkost, das Tal der Schatten mit weniger Reue oder mit weniger Angst. So oder ähnlich mußte es lauten, aber er war vielleicht nicht genug liebkost worden: Sein Mund war wie ausgedörrt, und er hätte seine Seele für eine halbe Flasche Bols gegeben. Und was die Neun Pforten betraf, sie waren so schwer, als enthielten sie nicht neun Holzschnitte, sondern neun Bleiplatten.

Die Stille war absolut und wurde, auch als er das Tor aufstieß, durch nichts unterbrochen. Die Sohlen seiner Schuhe riefen nicht das geringste Echo hervor, während er über die ausgetretenen Steinfliesen des Innenhofes schritt, die im Lauf der Jahrhunderte verwittert waren. Von hier führte, von einem schmalen Tonnengewölbe überspannt, eine steile Treppe empor. An ihrem Ende befand sich eine schwere, dunkle Tür mit mächtigen Ziernägeln, verschlossen: die letzte Tür. Corso entblößte einen Augenblick sein sarkastisches Wolfsgrinsen: unfreiwilliger Autor und zugleich Opfer des eigenen Scherzes oder Fehlverhaltens. Ein Versagen, das sorgfältig und rücksichtslos vorausgeplant war, mit all diesen versteckten, hinterhältigen Aufforderungen zum Weitermachen. Prognosen, die sich später als falsch herausstellten, um letztendlich vom Text selbst bestätigt zu werden. Wie die Konstruktion eines komplizierten Romans, was es aber nicht war. Oder doch?

Real schien im Augenblick jedenfalls nur sein Abbild auf dem brünierten Metallschild zu sein, das auf die Tür geschraubt war: ein Zerrspiegel, der einen Namen, einen Nachnamen und eine Silhouette enthielt, Corsos eigene Silhouette. Reglos hob sie sich vom Licht ab, das er hinter sich ließ - im Bogengang der Treppe, die in den Innenhof hinunterführte und von dort auf die Straße hinaus. Das war die letzte Station seiner seltsamen Reise zur Kehrseite der Schatten.

Er läutete. Einmal, zweimal, dreimal, ohne eine Reaktion von innen. Die Messingklingel war wie tot und leitete keinerlei hörbares Signal in das Haus weiter. Seine linke Hand berührte das zerknitterte Päckchen mit der letzten Zigarette in der Manteltasche, aber Corso widerstand auch jetzt der Versuchung. Er drückte ein viertes Mal auf den Klingelknopf. Und ein fünftes Mal. Schließlich schlug er mit der Faust an die Tür, kräftig, zweimal hintereinander. Da öffnete sie sich auf einmal - nicht mit einem unheimlichen Quietschen, sondern völlig lautlos, als wären die Angeln frisch geölt. Und auf der Schwelle erschien - auf die selbstverständlichste Art der Welt - Varo Borja.

»Tag, Corso.«

Borja schien nicht überrascht, ihn wiederzusehen. Sein kahler Schädel und die Stirn waren schweißbedeckt, das Gesicht war unrasiert, die Weste offen, und die Ärmel seines Hemds hatte er bis über die Ellbogen aufgekrempelt. Er wirkte erschöpft. Über seinen Wangenknochen zeichneten sich tiefe Ringe ab, als habe er die ganze Nacht nicht geschlafen, aber seine Augen glänzten ungewöhnlich - fiebrig, eindringlich. Er fragte seinen Besucher nicht, was er um diese Uhrzeit von ihm wolle, und bekundete kein Interesse für das Buch, das Corso unterm Arm hatte. Mehrere Sekunden rührte er sich überhaupt nicht vom Fleck und starrte ihn an, wie jemand, der bei einer diffizilen Arbeit unterbrochen oder aus Tagträumereien gerissen worden war und so schnell wie möglich wieder allein gelassen werden möchte.

Das war der Mann. Corso nickte innerlich, während ihm seine eigene Dummheit bewußt wurde. Varo Borja, natürlich: Millionär, weltberühmter Buchantiquar, angesehener Bibliophiler und methodischer Mörder. Mit beinahe wissenschaftlichem Interesse begann der Bücherjäger dieses Gesicht zu studieren, das er schon so oft gesehen hatte. Jetzt versuchte er, einzelne Züge zu isolieren, Merkmale zu entdecken, die ihn schon früher hätten warnen müssen - Spuren, die ihm entgangen waren, Winkel des Wahnsinns, des Grauens oder der Schatten in dieser vulgären Physiognomie, die er einmal zu kennen geglaubt hatte. Aber er konnte nichts finden, nur diesen fiebrigen, verklärten Blick, der weder Neugier noch Leidenschaft verriet, entrückt war in eine Bilderwelt, in welcher der Störenfried vor seiner Haustür nichts verloren hatte. Und doch trug Corso sein Exemplar des verfluchten Buches unterm Arm. Und er, Varo Borja, war ihm nachgeschlichen wie eine gefährliche Schlange und hatte im Schatten eben dieses Buches Victor Fargas und die Baronin Ungern getötet. Nicht nur um die siebenundzwanzig Holzschnitte und damit die neun richtigen Bildtafeln zusammenzubekommen, sondern auch um alle Spuren zu verwischen, auf daß es fortan nie wieder jemandem gelingen würde, das von Aristide Torchia aufgegebene Rätsel zu lösen. Varo Borja hatte den Bücherjäger in dieser ganzen Intrige nur benützt, um eine Hypothese zu bekräftigen, die sich als richtig herausstellen sollte: die Hypothese vom Buch, das eigentlich aus dreien bestand. Nebenbei war er zudem ein praktischer »Blitzableiter« für die Polizei. Corso mußte sich nachträglich zu seinem eigenen Instinkt gratulieren, denn jetzt fiel ihm auch wieder das seltsame Gefühl ein, das ihn beim Anblick des Deckengemäldes in der Quinta da Soledade beschlichen hatte - die Opferung Isaaks. Klar: der Sündenbock war er! Und der Buchhändler, der Victor Fargas zweimal im Jahr besuchte, um ihm einen Teil seiner Schätze abzukaufen, war natürlich Varo Borja. Während er sich noch in der Villa des Bibliophilen aufhielt, hatte Borja bereits in Sintra auf der Lauer gelegen und die letzten Details seines Planes ausgeheckt - in Erwartung, daß der Bücherjäger ihm seine These bestätigen würde, nämlich, daß alle drei Exemplare der Neun Pforten notwendig waren, um das Rätsel des Buchdruckers Torchia zu knacken. Für Borja war die Quittung gedacht gewesen, in der nur der Name des Käufers fehlte. Und deshalb hatte Corso ihn zu Hause, in Toledo, nicht telefonisch erreichen können. Freilich hatte Borja ihn dann noch in derselben Nacht - vor dem letzten Besuch bei Fargas - im Hotel angerufen und ein Auslandsgespräch vorgetäuscht. Und der Bücherjäger hatte ihm nicht nur seine Vermutungen bestätigt, sondern gleich auch noch den Schlüssel des Geheimnisses mitgeliefert und damit das Todesurteil über Victor Fargas und die Baronin Ungern verhängt.

Alle Teile des unheilvollen Puzzles paßten zusammen. Wenn Corso von zufälligen Übereinstimmungen mit der Intrige des Club Dumas absah - die falschen Bezüge, die er selbst hergestellt hatte -, so war Varo Borja der Schlüssel zu all den unerklärlichen Ereignissen dieses zweiten Erzählstrangs. Der diabolische Drahtzieher. Corso war nahe dran, in schallendes Gelächter auszubrechen, nur die tödlichen Folgen dieses verdammten Komplotts hielten ihn davon ab.

»Ich bringe Ihnen Ihr Buch zurück«, sagte er und hielt dem Antiquar die Neun Pforten hin.

Varo Borja nickte zerstreut, während er den Band entgegennahm, ohne auch nur einen Blick darauf zu werfen. Er drehte nur ein wenig den Kopf zur Seite, als lausche er auf irgendein Geräusch hinter seinem Rücken, im Inneren des Hauses. Nach einer Weile wandte er sich wieder zu Corso um und blinzelte, verwundert, daß er noch da war.

»Sie haben mir das Buch gegeben. Was wollen Sie noch?«

»Den Lohn für meine Arbeit.«

Der Antiquar starrte ihn verständnislos an. Offensichtlich war er mit seinen Gedanken weit weg. Schließlich zuckte er gleichgültig mit den Achseln, drehte sich um, schlurfte ins Haus zurück und überließ es Corso, die Tür zu schließen, im Eingang stehenzubleiben oder unverrichteter Dinge wieder abzuziehen.

Corso folgte ihm durch das Vestibül und einen langen Korridor in das Zimmer mit der Sicherheitstür. Die Fensterläden waren geschlossen, und die Möbel hatte man zur Seite geschoben, um den schwarzen Marmorboden frei zu machen. Die Glastüren einiger Bücherschränke standen offen. Dutzende von Kerzen, die beinahe abgebrannt waren, erleuchteten das Zimmer. Überall tropfte Wachs - auf das Sims des erloschenen Kamins, auf den Boden, auf die Möbel und sonstigen Einrichtungsgegenstände des Zimmers. Die rötlichen Flammen flak-kerten bei jeder Bewegung und beim geringsten Luftzug. Es roch wie in einer Kirche oder Krypta.

Varo Borja, der sich nach wie vor nicht um Corso kümmerte, blieb in der Mitte des Raumes stehen. Dort war, genau zu seinen Füßen, ein Kreidekreis von etwa einem Meter Durchmesser auf den Boden gezeichnet. Der Kreis enthielt ein Quadrat, das seinerseits in neun Kästchen unterteilt war. Römische Ziffern und seltsame Gegenstände umgaben ihn: ein Stück Schnur, eine Wasseruhr, ein rostiges Messer, ein Silberarmband in Form eines Drachens, ein goldener Ring, glühende Kohle in einem kleinen Metallgefäß, eine Glasampulle, ein Häufchen Erde, ein Stein. Aber es war noch mehr über den Fußboden verstreut, und Corso verzog mißbilligend das Gesicht: Viele der Bücher, die er erst kürzlich, sauber aneinandergereiht, in ihren Vitrinen bewundert hatte, lagen jetzt schmutzig und zerstört auf den Marmorfliesen herum, herausgerissene, lose Blätter, unterstrichen und mit rätselhaften Zeichen besudelt. Auf mehreren der wertvollen Exemplare brannten Kerzen, deren Wachs in dicken Tropfen auf die Einbände oder aufgeschlagenen Seiten floß - manche Kerzen waren bereits so weit heruntergebrannt, daß sie sogar schon das Papier angesengt hatten. Inmitten dieses Durcheinanders entdeckte der Bücherjäger die Holzschnitte aus den Neun Pforten, die Victor Fargas und der Baronin Ungern gehört hatten. Sie waren ebenfalls wachsbefleckt und mit mysteriösen Anmerkungen versehen.

Corso traute seinen Augen kaum. Er ging in die Hocke, um die Überreste der Verheerung aus der Nähe zu betrachten. Eine der Bildtafeln aus den Neun Pforten - die Nummer VI mit dem Gehängten, der am rechten Fuß baumelte - war von der Flamme eines Kerzenstummels bereits zur Hälfte verzehrt worden. Zwei Exemplare der Tafel VII - eine mit schwarzem, die andere mit weißem Schachbrett - lagen neben dem aus seinem Einband gerissenen Buchblock eines Theatrum diabolicum von 1512. Ein anderer Holzschnitt, die Nummer I, spickte zwischen den Seiten eines De magna imperfectaque opéra von Valerie Lorena hervor - ein Wiegendruck von höchster Rarität, den Corso vor wenigen Tagen noch gerade nur mit den Fingerspitzen hatte berühren dürfen. Jetzt lag er zerrissen und zerfetzt auf dem Boden.

»Fassen Sie nichts an«, hörte er Varo Borja sagen. Er stand noch immer vor dem Kreidekreis und blätterte geistesabwesend in seinem Exemplar der Neun Pforten herum. Dabei machte er jedoch den Eindruck, durch die Seiten hindurch auf das gemalte Quadrat und den Kreis zu blicken, oder gar noch durch diese hindurch in die Abgründe der Erde.

Corso betrachtete ihn einen Augenblick reglos, wie man jemanden betrachtet, den man zum erstenmal sieht. Dann erhob er sich langsam, wobei die Kerzen um ihn herum ins Flackern gerieten.

»Ist doch egal, was ich anfasse«, sagte er und deutete auf die Bücher und Blätter, mit denen der Boden übersät war. »Nach dem, was Sie da angerichtet haben.«

»Was wissen Sie schon, Corso? Nichts. Sie glauben zu verstehen, aber Sie haben keinen blassen Schimmer. Sie sind ein Ignorant. Einer von diesen Dummköpfen, die das Chaos dem Zufall zuschreiben und keine Ahnung vom Walten einer geheimen Ordnung haben.«

»Hören Sie mir auf mit diesem Quatsch. Sie haben eine Bibliothek zerstört, und dazu hatten Sie nicht das Recht. Dazu hat keiner das Recht.«

»Sie irren sich. Erstens gehören diese Bücher mir, aber was noch viel wichtiger ist, sie sind zum Gebrauch bestimmt. Viel mehr als einen künstlerischen oder ästhetischen Wert haben sie einen praktischen Wert . Wer einen bestimmten Weg auswählt und beschreitet, muß dafür sorgen, daß ihm kein anderer folgt. Diese Bücher haben ihren Zweck bereits erfüllt.«

»Verdammter Spinner! Sie haben mich von Anfang an betrogen!«

Varo Borja schien ihm gar nicht zuzuhören. Er hatte die Neun Pforten aufgeschlagen in der Hand und starrte auf die Bildtafel I.

»Betrogen?« fragte er in verächtlichem Ton und machte sich nicht einmal die Mühe, Corso dabei anzusehen. »So viel Ehre kommt Ihnen gar nicht zu. Ich habe Ihre Dienste gemietet, ohne Ihnen Gründe zu nennen oder Sie in meine Pläne einzuweihen. Ein Knecht hat nicht Anteil an den Entscheidungen dessen, der ihn bezahlt . Ihre Aufgabe war es, das Wild aufzustöbern, das ich erlegen wollte, und nebenbei für die technischen Folgen gewisser Taten einzustehen, die unvermeidlich waren. Ich vermute, daß Ihnen die portugiesische und die französische Polizei bereits auf der Spur sind.«

»Und Sie?«

»Mich berührt das alles nicht, ich bin in Sicherheit. In einer kleinen Weile wird nichts mehr Bedeutung für mich haben.«

Mit diesen Worten riß er vor den entsetzten Augen Corsos die Seite mit dem Holzschnitt aus den Neun Pforten aus.

»Was tun Sie da?«

Varo Borja ließ sich nicht beirren und fuhr in seinem Zerstörungswerk fort.

»Ich verbrenne meine Schiffe, breche Brücken hinter mir ab und betrete die terra incognita, das unerforschte Land . « Er hatte eine nach der anderen alle neun Bildtafeln aus dem Buch gerissen und betrachtete sie jetzt aufmerksam. »Schade, daß Sie mir dorthin, wo ich nun hingehe, nicht folgen können ... Aber wie lautet die Legende des vierten Bildes: Das Schicksal ist für jeden ein anderes.«

»Wohin wollen Sie?«

Der Antiquar warf sein verstümmeltes Buch zu den anderen auf den Boden. Dann starrte er abwechselnd auf die neun Bildtafeln und den Kreidekreis, als ließen sich geheimnisvolle Bezüge zwischen ihnen herstellen.

»Ich gehe, jemanden zu treffen«, war seine kryptische Antwort. »Ich gehe den Stein suchen, den der Große Architekt verstoßen hat - den wahren Grundstein der Philosophie. Und der Macht. Der Teufel liebt das Verwandlungsspiel, Corso: Als schwarzer Hund begleitet er den Faust, und als falscher Engel des Lichts versucht er den Widerstand des heiligen Antonius zu brechen. Vor allem jedoch langweilt ihn die Dummheit, und er haßt die Monotonie . Wenn ich Zeit und Lust hätte, würde ich Ihnen ein paar von den Büchern zeigen, die da vor Ihnen liegen. In mehreren ist nachzulesen, daß einer alten Überlieferung zufolge der Antichrist auf der Iberischen Halbinsel in Erscheinung treten wird, in einer Stadt, in der sich drei Kulturen überlagern. Die Stadt liegt am Ufer eines Flusses, der wie mit einer Axt in den Boden geschlagen wurde: der Tajo.«

»Das also haben Sie im Sinn?«

»Ja, und ich bin beinahe am Ziel angelangt. Bruder Torchia hat mir den Weg gewiesen: Tenebris Lux.«

Er hatte sich über den Kreis auf dem Boden gebeugt und einige der Bildtafeln um sich herum angeordnet, während er andere zerknüllt oder zerrissen und weggeworfen hatte. Die Kerzen beleuchteten sein Gesicht von unten und verliehen ihm ein gespenstisches Aussehen.

»Hoffentlich stimmt jetzt alles«, murmelte er nach einer Weile, und seine Miene glich einem einzigen dunklen Schatten. »Die alten Meister der Schwarzen Kunst, die den Buchdrucker Torchia in die schrecklichsten und geheimsten Arcana eingeführt haben, kannten den Weg ins Reich der Nacht ... Die Schlange, die sich in den Schwanz beißt, umschließt den Ort. Verstehen Sie? Die Schlange, die sich in den Schwanz beißt, das ist der ouroboros der griechischen Alchimisten, die Schlange vom Titelblatt, der magische Kreis, die Quelle der Erkenntnis. Der Kreis, in den alles eingeschrieben wird.«

»Ich will mein Geld.«

Varo Borja schien überhaupt nicht gehört zu haben, was Corso sagte. »Haben diese Dinge nie Ihre Neugier geweckt?« fuhr er fort und sah ihn mit seinen schwarz umflorten Augen an. »Hat es Sie nie interessiert, Nachforschungen anzustellen, zum Beispiel über die Konstante Teufel - Schlange - Drachen, die seit dem Altertum in sämtlichen Texten zu diesem Thema vorkommt?«

Er hatte ein Glasgefäß genommen, einen Kelch mit schlangenförmigen Henkeln, und führte es jetzt zum Mund, um ein paar Schluck daraus zu trinken. Corso stellte fest, daß es sich um eine dunkle Flüssigkeit handelte, die an sehr starken, schwarzen Tee erinnerte.

»Serpens aut draco qui caudam devoravit.« Varo Borja lächelte ins Leere, während er sich die Lippen mit dem Handrük-ken abwischte. Trotzdem blieb auf seinem Mund und auf seiner linken Wange eine dunkle Spur zurück. »Schlangen und Drachen bewachen die Schätze: den Baum der Erkenntnis im Paradies, die Äpfel der Hesperiden, das Goldene Vlies ...« Seine Stimme klang hohl, entrückt, als beschreibe er einen Traum. »Schon die alten Ägypter haben Schlangen oder Drachen dargestellt, die sich in den Schwanz beißen, um auszudrücken, daß sie aus sich selbst hervorgegangen sind und sich selbst genügen . Unermüdliche Wächter - stolz und weise. Verschwiegene Drachen, die den Unwürdigen töten und sich nur dem beugen, der gekämpft hat, wie die Regeln es vorschreiben. Hüter des verlorenen Worts, der magischen Formel, die dem Menschen die Augen öffnet und ihn Gott gleichmacht.«

Corso schob den Unterkiefer vor. Er stand aufrecht im Zimmer, regungslos und dürr in seinem Mantel. Das Licht der Kerzen höhlte seine unrasierten Wangen aus und tanzte auf seinen geschlossenen Augenlidern. Seine Hände waren in den Taschen. Eine berührte das Päckchen mit der letzten Zigarette, die andere umklammerte das geschlossene Springmesser neben dem Flachmann.

»Geben Sie mir mein Geld, habe ich gesagt. Ich will hier weg.« Seine Stimme hatte einen drohenden Unterton, aber es war schwer zu erraten, ob Varo Borja ihn wahrnahm. Corso sah, wie er langsam und widerwillig zu sich kam.

»Geld?« fragte er ihn mit geringschätzigem Blick. »Wovon sprechen Sie, Corso? Begreifen Sie denn nicht, was im nächsten Moment hier passieren wird? Sie haben ein Mysterium vor Augen, von dem Tausende von Menschen jahrhundertelang nur träumen konnten. Wissen Sie, wie viele sich foltern, verbrennen und vierteilen ließen, nur um sich dem zu nähern, was Sie gleich erleben werden? Natürlich können Sie mich nicht begleiten. Sie werden still dastehen und zusehen. Aber selbst der mieseste Meuchelmörder freut sich über den Triumph seines Auftraggebers.«

»Bezahlen Sie mich endlich. Und gehen Sie zum Teufel.«

Varo Borja würdigte ihn keines Blickes. Er ging um den Kreis herum und verrückte einige der Gegenstände, die neben den Zahlen lagen.

»Sehr treffend bemerkt. Das paßt zu Ihrer rüden Art. Wenn ich nicht so beschäftigt wäre, würde ich Ihnen sogar ein Lächeln schenken. Nur daß Sie sich aufgrund Ihrer Unwissenheit auch ungenau ausdrücken: Es ist nämlich der Teufel, der zu mir kommt, und nicht umgekehrt.« Er hielt inne und drehte den Kopf zur Seite, als vernehme er in der Ferne bereits das Geräusch von Schritten. »Ich höre ihn schon kommen.«

Er sprach mit zusammengebissenen Zähnen und murmelte dabei mit heiserer Stimme immer wieder seltsame Formeln. Manchmal hatte es den Anschein, als spreche er nicht zu Corso, sondern zu einer unsichtbaren dritten Person, die sich in ihrer Nähe, in einem dunklen Winkel des Zimmers, aufhielt: »Du mußt acht Pforten durchqueren, bevor du zu dem Drachen kommst ... Begreifen Sie? Acht Pforten, und dann ist man bei dem Tier, dem Hüter des geheimen Worts: die Nummer neun, die das letzte Geheimnis bewahrt . Der Drache schläft mit offenen Augen, er ist der Spiegel der Erkenntnis ...

Acht Tafeln und eine. Oder eine und acht. Das stimmt, und zwar nicht zufällig, genau mit der Zahl überein, die Johannes der Evangelist dem Tier zuschreibt: die 666.«

Corso sah, wie der Antiquar niederkniete und mit einem Stück Kreide Ziffern auf den schwarzen Marmorfußboden schrieb:



Danach richtete er sich wieder auf und sah Corso triumphierend an. Einen Moment lang fiel der Schein der Kerzen in seine Augen. Die Pupillen waren unnatürlich geweitet. Wahrscheinlich hatte er mit der dunklen Flüssigkeit irgendeine Droge genommen. Die Farbe seiner Iris war nicht mehr zu erkennen, sie war völlig schwarz, und das Weiße seiner Augen hatte den rötlichen Schimmer der Kerzen angenommen.

»Neun Bildtafeln oder neun Pforten.« Jetzt war sein Gesicht wieder eine einzige dunkle Maske. »Die sich nicht jedem öffnen ...Zu jeder Pforte gehören zwei Schlüssel. Aus jeder Bildtafel läßt sich eine Nummer, ein magisches Element und ein Schlüsselwort ablesen, wenn man sie im Lichte der Vernunft studiert, der Kabbala, der okkulten Wissenschaft, der echten Philosophie . Wenn man sich des Lateinischen und seiner Bezüge zum Griechischen und Hebräischen bedient.«

Er zeigte Corso ein Blatt Papier mit seltsamen Wörtern und Chiffren. »Hier, lesen Sie, wenn Sie möchten. Obwohl Sie das wahrscheinlich nie verstehen werden.«



Auf seiner Stirn und um seine Mundwinkel herum bildeten sich Schweißperlen, als würden auch im Inneren seines Körpers Kerzen brennen. Nun begann er langsam und vorsichtig, um den Kreis herumzugehen. Dabei blieb er ein paarmal stehen und bückte sich, um einzelne Gegenstände leicht zu verrücken: das rostige Messer, das Drachenarmband. »Die Elemente mußt du im Sinn der aufgehenden Sonne auf die Haut der Schlange legen«, rezitierte er und fuhr dabei den Kreidekreis mit dem Finger nach, ohne ihn zu berühren. »Ich lege die neun Elemente um den Kreis herum, und zwar im Sinn der aufgehenden Sonne: von rechts nach links.«

Corso machte einen Schritt auf ihn zu. »Ich will mein Geld. Wie oft muß ich Ihnen das noch sagen.«

Varo Borja reagierte nicht. Er hatte ihm den Rücken zugedreht und deutete auf das Quadrat, das in den Kreis eingezeichnet war. »Die Schlange wird das Zeichen des Saturn verschlingen .Das Zeichen des Saturn ist das einfachste und älteste der magischen Quadrate: Die Zahlen von eins bis neun werden auf neun Kästchen verteilt, und zwar derart, daß sie vertikal, horizontal und diagonal addiert immer dieselbe Summe ergeben.«

Borja ging in die Hocke und zeichnete die neun Zahlen mit Kreide in das Quadrat ein.

Der Bücherjäger machte noch einen Schritt nach vorn und trat dabei auf ein Blatt, das mit Zahlen übersät war.




Auf dem versengten Titelblatt eines De occulta Philosophia von Agrippa von Nettesheim erlosch knisternd der Rest einer Kerze. Varo Borja war immer noch auf den Kreidekreis und das Quadrat konzentriert. Er betrachtete beide angespannt, mit vor der Brust verschränkten Armen und gesenktem Kinn, wie ein Spieler, der sich seinen nächsten Zug auf einem seltsamen Schachbrett überlegt.

»Da gibt es etwas . «, murmelte er, als helfe es ihm, seine Gedanken laut auszusprechen. »Ein kleines Detail, das in den alten Schriften nicht erwähnt wird - jedenfalls nicht ausdrücklich . Wenn ich die Zahlen des Quadrats von oben nach unten oder von unten nach oben, von rechts nach links oder von links nach rechts, oder auch diagonal addiere, so kommt als Summe immer 15 heraus. Wenn ich aber den kabbalistischen Chiffrenschlüssel anwende, dann habe ich es mit einer l und einer 5 zu tun, die zusammengezählt 6 ergeben . Und diese 6 umgibt auf allen vier Seiten das magische Quadrat in der Schlange, die wir auch den Drachen oder das Tier nennen können.«

Corso brauchte nicht einmal selbst zu überprüfen, ob diese Rechnung stimmte. Er hatte den Beweis vor sich auf dem Boden liegen und zwar in Form eines weiteren mit Zahlen und Zeichen übersäten Blatts.



Varo Borja war vor dem Kreis in die Hocke gegangen. Die Schweißtropfen auf seinem Gesicht reflektierten das Licht der Kerzen. Er hatte ein Blatt Papier in der Hand und starrte auf die seltsamen Worte, die darauf angeordnet waren:

»Öffne das Siegel neunmal, heißt es bei Torchia ... Das bedeutet, daß ich die Schlüsselwörter auf die Kästchen mit ihrer jeweiligen Zahl verteilen muß, und dabei ergibt sich eine Sequenz.«



»Und wenn ich sie nun in die Schlange oder den Drachen eintrage«, er löschte die Nummern aus den Kästchen des Quadrats und ersetzte sie durch die entsprechenden Worte, »dann kommt zur Schande Gottes folgendes dabei heraus.«



»Es ist vollbracht«, flüsterte Borja, während er die letzten Buchstaben schrieb. Seine Hand zitterte, und einer der Schweißtropfen auf seiner Stirn rollte zur Nasenspitze hinab und fiel auf die Kreidezeichnung. »Torchias Anleitung zufolge müßte jetzt im Spiegel der Weg zu erkennen sein, der mich zu dem verlorenen Wort führt . zu dem Wort, welches das Licht aus der Finsternis bringt. Diese Sätze sind auf Latein - für sich genommen bedeuten sie gar nichts, aber in ihrem Inneren verbirgt sich die reine Essenz des Verbum dimissum, die Formel, mit der sich der Satan rufen läßt: unser Vorgänger, unser Spiegel und unser Helfer.«

Der Antiquar kniete jetzt mitten in dem Kreis, umgeben von den Zeichen, Wörtern und Gegenständen, die er auf dem Quadrat angeordnet hatte. Seine Hände, an denen Wachs vermischt mit Kreide und Tinte klebte, zitterten so stark, daß er die Finger ineinander verschlingen mußte. Er lachte wie ein Wahnsinniger, mit zusammengepreßten Zähnen, hochmütig und völlig von sich selbst eingenommen. Aber Corso wußte, daß er nicht wahnsinnig war. Er sah sich um, wohl wissend, daß ihm nicht mehr viel Zeit blieb, und trat auf Varo Borja zu, konnte sich aber nicht dazu entschließen, den Fuß in den Kreidekreis zu setzen, in dem der Antiquar kniete.

Borja warf ihm einen hämischen Blick zu, denn er ahnte seine Befürchtungen.

»Los, Corso. Wir lesen zusammen. Haben Sie Angst ... oder haben Sie Ihr Latein vergessen?«

Licht und Schatten wechselten immer schneller auf seinem Gesicht ab, als habe das Zimmer begonnen, sich um ihn zu drehen.

»Brennen Sie nicht darauf, zu erfahren, was sich in diesen Worten verbirgt? Auf der Rückseite der Bildtafel, die dort zwischen den Seiten des Valerio Lorena steckt, finden Sie die Übersetzung. Halten Sie sie an den Spiegel, wie die Meister der Kunst es vorschreiben! Dann wissen Sie wenigstens, wofür Fargas und die Baronin Ungern sterben mußten.«

Corso betrachtete das Buch von Lorena - ein alter, stark abgegriffener Wiegendruck mit Pergamenteinband. Dann bückte er sich vorsichtig, beinahe ängstlich, als fürchte er, es mit einer tödlichen Falle zu tun zu haben, und zog schließlich mit den Fingerspitzen die Bildtafel heraus. Es handelte sich um die Tafel Nummer I aus dem Exemplar der Baronin Ungern: drei Türme anstelle von vier. Die Rückseite war beschrieben:



»Nur Mut, Corso!« Die Stimme des Antiquars klang heiser und gefährlich. »Sie haben nichts zu verlieren ... Halten Sie das Blatt an den Spiegel.«

Ganz in der Nähe lag zwischen geschmolzenen Kerzenstummeln, die nahezu erloschen waren, tatsächlich ein Spiegel auf dem Boden - ein altes, barockes Stück aus Silber mit kunstvoll gearbeitetem Griff. Die Spiegelfläche war stellenweise schon blind, aber Corso konnte sich trotzdem noch darin erkennen, wenn auch in einer seltsamen Perspektive: weit weg, wie am Ende eines langen Korridors, der in rötliches Flackerlicht getaucht war. Nicht ein, sondern zwei Bilder sah er, den Helden und seine unendliche Müdigkeit, Bonaparte, todkrank an seinen Felsen auf Sankt Helena geschmiedet. Nichts zu verlieren, hatte Varo Borja gesagt. Eine desolate, kalte Welt, in der die Grenadiere von Waterloo - einsame Gerippe - Wache standen an den dunklen Wegen des Vergessens. Corso sah sich selbst vor der letzten Tür: Er hatte den Schlüssel in der Hand, genau wie der Eremit auf der zweiten Bildtafel, und der Buchstabe Teth kroch ihm wie eine Schlange über die Schulter.

Das Glas knirschte unter seiner Sohle, als er den Fuß darauf setzte, langsam, ohne Aggressivität, und dann zerbrach der Spiegel mit einem leisen Klirren. Die Scherben brachen das Bild in unzählige kleine Korridore, an deren Enden ebenso viele reglose Corsos zu erahnen waren. Aber sie waren viel zu weit weg und viel zu undeutlich, als daß ihr Schicksal ihn bekümmert hätte.

»Schwarz ist die Schule der Nacht«, hörte er Varo Borja sagen. Er kniete immer noch in seinem Kreidekreis, kehrte ihm den Rücken zu und beachtete ihn nicht mehr. Corso bückte sich nach einer Kerze und hielt ihre Flamme an eine Ecke des Holzschnitts Nummer l mit den zwölf in Spiegelschrift geschriebenen Worten auf der Rückseite. Dann ließ er die Türme der Burg, das Pferd, den Ritter, der den Betrachter zum Schweigen gemahnte, in seinen Fingern verbrennen. Schließlich gab er den letzten Fetzen frei, der sich sekundenschnell in Asche verwandelte, vom warmen Luftstrom der Kerzen emporgetragen wurde und davonflog. Darauf betrat er den Kreis und faßte Varo Borja am Arm.

»Ich will mein Geld. Sofort.«

Der Antiquar ignorierte ihn, völlig verloren in den Schatten, die zusehends Besitz von ihm ergriffen. Plötzlich bückte er sich, nervös und beunruhigt, und verrückte einige der Gegenstände auf dem Boden, als stimme etwas mit ihrer Verteilung nicht. Dann begann er, nach kurzem Zögern, rätselhafte Worte zu einem unheimlichen Gebet aneinanderzureihen:

»Abaddon, Behemoth, Foras, Baphomet...«

Corso packte ihn an der Schulter und schüttelte ihn heftig, aber Varo Borja zeigte weder Empörung noch Furcht. Er versuchte auch nicht, sich zu verteidigen, sondern fuhr fort, die Lippen wie ein Schlafwandler zu bewegen oder wie ein inbrünstig betender Märtyrer, der nicht auf das Gebrüll der Löwen oder das Schwert des Henkers achtet.

»Zum letzten Mal. Mein Geld!«

Es war sinnlos. Er sah nur zwei leere Augen vor sich, die durch ihn hindurchblickten, als existiere er nicht. Sie waren dunkel wie Brunnenschächte und starrten ausdruckslos in die Abgründe des Schattenreichs.

»Leviathan, Baal, Marchocias ...«

Der beschwört die Teufel, schoß es Corso durch den Kopf. Der Welt entrückt kniete dieser Mensch in seinem Kreidekreis und rief die Teufel bei ihrem Namen herbei - ohne sich durch Corsos Anwesenheit, ja nicht einmal durch seine Drohgebärden im geringsten stören zu lassen.

»Camael, Belial...«

Nur als ihn der erste Schlag traf, unterbrach er sich kurz; eine saftige Rückhand, bei der sein Gesicht auf die linke Schulter flog. Seine Augen irrten orientierungslos umher, bis sie sich auf einen unbestimmten Punkt im Universum hefteten.

»Samael, Astaroth ...«

Als er die zweite Ohrfeige bekam, floß ihm bereits blutiger Speichel aus einem Mundwinkel. Corso zog seine rot verschmierte Hand angewidert zurück. Er hatte das Gefühl, in eine schleimige, feuchte Masse zu schlagen. Er atmete ein paarmal tief durch und zählte zehn Herzschläge ab, bevor er die Zähne zusammenbiß, die Fäuste ballte und von neuem zuschlug. Jetzt troff noch mehr Blut aus Borjas verrenktem Mund, aber er fuhr fort, wie in Trance sein Gebet zu leiern. Um seine geschwollenen Lippen spielte ein verzücktes Lächeln. Corso packte ihn am Hemdkragen, riß ihn brutal aus dem Kreis und versetzte ihm noch einen Kinnhaken. Erst dann stieß Varo Borja einen tierischen Schrei der Angst und des Schmerzes aus und riß sich mit ungeahnter Energie von ihm los, um auf allen vieren in den Kreis zurückzukriechen. Dreimal wurde er von Corso wieder herausgezerrt, und dreimal kehrte er hartnäckig in den Kreidekreis zurück. Beim dritten Mal hinterließ er eine Blutspur auf dem Siegel Saturns mit seinen Zeichen und Buchstaben.

»Sic dedo me ... «

Irgend etwas funktionierte nicht. Corso sah im Flackerlicht der Kerzen, wie der Antiquar ratlos innehielt und mit verstörtem Blick die Anordnung der Gegenstände in und um den magischen Kreis überprüfte. Aber seine Frist schien nahezu abgelaufen, denn aus der Wasseruhr flossen die letzten Tropfen Wasser aus. Borja wiederholte noch einmal seine letzten Worte mit mehr Nachdruck und berührte dabei drei der neun Kästchen des Quadrats.

»Sic dedo me ...«

Corso hatte einen beißenden Geschmack im Mund. Während er seine blutverschmierten Hände am Mantelsaum abwischte, ließ er den Blick hoffnungslos durchs Zimmer schweifen. Noch mehr abgebrannte Kerzen erloschen knisternd, und der Rauch der verkohlten Dochte schlängelte sich spiralförmig in dem rötlichen Dämmerlicht empor. Wie die Schlange, die sich in den Schwanz beißt, dachte er mit bitterer Ironie. Dann trat er an den Schreibtisch, der zusammen mit den anderen Möbeln an die Wände geschoben worden war, warf die Dinge, die darauf herumlagen, auf den Boden und durchwühlte die Schubladen. Aber er fand kein Geld. Nicht einmal ein Scheckheft. Nichts.

»Sic exeo me ...«

Der Antiquar setzte seine Litanei fort. Corso warf einen letzten Blick auf ihn: Varo Borja kniete im Zentrum des magischen Kreises, das entstellte Gesicht andächtig über den Boden geneigt, und öffnete mit verklärtem Lächeln die letzte der neun Pforten. Seine blutigen Lippen bildeten einen diabolischen, dunklen Strich wie von einem Messerschnitt.

»Schweinehund«, sagte Corso. Und damit war der Vertrag für ihn aufgelöst.

Er stieg die überwölbte Treppe hinunter, dem grauen Tageslicht entgegen, das sich am Ende der Stufen abzeichnete. Im Innenhof angelangt, blieb er neben dem Brunnen mit den venezianischen Löwen vor dem Tor zur Straße stehen und sog genüßlich die saubere, frische Morgenluft ein. Dann fischte er das zerknitterte Päckchen aus seiner Manteltasche und klemmte sich die letzte Zigarette zwischen die Lippen, ohne sie jedoch anzuzünden. So blieb er eine Weile still stehen, während sich der erste Strahl der aufgehenden Sonne, die er beim Eintritt in die Stadt hinter sich gelassen hatte, durch die grauen Steinfassaden des Platzes hindurch einen Weg zu ihm bahnte und das schmiedeeiserne Torgitter auf seinem Gesicht tanzen ließ. Der horizontal einfallende Strahl war so grell, daß Corso die übermüdeten, angestrengten Augen zusammenkneifen mußte. Als die Sonne dann höher stieg, drangen mehr Strahlen in den Innenhof und breiteten sich langsam um die venezianischen Löwen herum aus, die ihre Mähnen aus Marmor neigten, als würden sie von der Sonne gestreichelt. Das anfänglich nur zart schimmernde Licht verwandelte sich in eine Wolke aus Goldstaub, die Corso einhüllte. Da hörte er vom Ende der Treppe her, jenseits der letzten Tür ins Reich der Schatten, dort, wo das Licht dieser friedlichen Morgendämmerung niemals hindringen würde, einen Schrei - einen herzzerreißenden, unmenschlichen Schrei, einen Schrei des Entsetzens und der Verzweiflung, in dem kaum noch die Stimme Varo Borjas wiederzuerkennen war.

Ohne sich umzudrehen, stieß Corso das Tor auf und trat auf die Straße hinaus. Er hatte das Gefühl, sich wie mit Siebenmeilenstiefeln zu entfernen - gerade so, als gehe er in wenigen Sekunden eine Strecke zurück, für die er auf dem Herweg ewige Zeit gebraucht hatte.

In der Mitte des sonnenüberfluteten Platzes blieb er geblendet stehen. Das Mädchen saß immer noch im Auto, und der Bücherjäger wurde von einem tiefen, egoistischen Jubelschauer erfaßt, als er feststellte, daß sie sich nicht mit den letzten Schatten der Nacht verflüchtigt hatte. Sie lächelte ihm voller Zärtlichkeit zu, unglaublich jung und schön, mit ihrer Jungenfrisur, der braungebrannten Haut, den ruhigen Augen, die erwartungsvoll auf ihn gerichtet waren. Und der phantastische Goldglanz, den die schillernden grünen Augen verstrahlten, dieses Licht, vor dem die dunklen Winkel der alten Stadt, die Silhouetten der Kirchtürme und die gotischen Torbogen des Platzes zurückwichen, spiegelte sich in ihrem Lächeln, als Corso auf sie zuging. Nach ein paar Schritten senkte er resigniert den Kopf, bereit, sich von seinem eigenen Schatten zu verabschieden. Aber er hatte keinen Schatten zwischen den Füßen.

In dem von vier Wasserspeiern bewachten Haus hatte Varo Borja aufgehört zu schreien. Oder vielleicht schrie er noch, aber an irgendeinem düsteren Ort, der zu weit entfernt war, als daß seine Schreie noch bis auf die Straße gedrungen wären. Nunc scio: Jetzt weiß ich. Corso fragte sich, ob die Brüder Ceniza wohl Kunstharz oder Holz verwendet hatten, um die fehlende Bildtafel - Laune eines Kindes oder Barbarei eines

Sammlers - für Borjas Exemplar nachzudrucken. Wenn er an ihre geschickten, blassen Hände dachte, neigte er allerdings zur zweiten Möglichkeit: in Holz geschnitten und ohne jeden Zweifel von der Bibliografia von Mateu abgenommen. Deshalb gingen Varo Borjas Rechnungen nicht auf: In allen drei Exemplaren war die letzte Abbildung falsch. Ceniza sculpsit. Aus Liebe zur Kunst.

Er grinste mit zusammengebissenen Zähnen, wie ein grausamer Wolf, als er den Kopf senkte, um seine letzte Zigarette anzuzünden. Diese Art von Streichen spielen einem die Bücher nun einmal, sagte er sich. Und jeder hat den Teufel, den er verdient.

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