Milady lächelte, und d’Artagnan fühlte, daß er für dieses
Lächeln blindlings in sein Verderben rennen würde.
A. Dumas, Die drei Musketiere
Es gibt natürlich Witwen, die untröstlich sind, aber es gibt auch Witwen, die ein erwachsener Mann mit dem größten Vergnügen trösten würde. Liana Taillefer gehörte zweifelsohne zur zweiten Kategorie. Sie war groß, blond, hellhäutig und sehr träge in ihren Bewegungen: die Art von Frau, die eine Zigarette herauszieht und eine Ewigkeit verstreichen läßt, bevor sie den ersten Rauch ausbläst. Und die gelassene Selbstsicherheit, mit der sie ihrem männlichen Gegenüber dabei in die Augen sah, erwuchs ihr aus einer gewissen Ähnlichkeit mit Kim Novak, aus ihren - beinahe übertrieben - großzügigen Körpermaßen sowie aus einem Bankkonto, über das sie als Universalerbin des verstorbenen Verlegers Taillefer verfügte und für das die Bezeichnung »solvent« nur eine schüchterne Untertreibung war. Kaum zu glauben, was für eine Unmenge Geld sich mit der Herausgabe von Kochbüchern verdienen läßt. Die tausend besten Dessert-Rezepte aus der Mancha, zum Beispiel. Oder der Klassiker: Geheimnisse am Grill, fünfzehnte Auflage, bereits wieder vergriffen.
Ihre Wohnung befand sich in einem alten Palacio des Marqués de los Alumbres, der in Luxusappartements umgewandelt worden war. Was die Innenausstattung betraf, so mußte der Geschmack der Eigentümer vor allem von viel Geld und wenig Zeit beeinflußt worden sein. Nur so ließ sich erklären, daß in derselben Vitrine, nebeneinander, Porzellan aus Lladro - ein kleines Mädchen mit Ente, wie Lucas Corso leidenschaftslos feststellte - und Meißener Hirtenfigürchen ausgestellt waren, für die irgendein schlauer Antiquitätenhändler den verblichenen Enrique Taillefer oder seine Ehegattin vermutlich tüchtig zur Ader gelassen hatte. Natürlich gab es auch einen Biedermeier-Sekretär und einen Steinway-Flügel, vor dem ein hundsteurer Orientteppich lag; des weiteren ein riesiges und sehr bequem wirkendes weißes Ledersofa. Auf ihm überkreuzte in diesem Augenblick Liana Taillefer ihre außergewöhnlich wohlgeformten Beine, die der enge schwarze Trauerrock ins rechte Licht rückte. Da sie saß, endete er knapp oberhalb ihrer Knie und ließ sinnliche Kurven erahnen, stromaufwärts, wo es dem Schatten und dem Mysterium entgegenging, wie sich Lucas Corso bei der Erinnerung an diese Szene später ausdrük-ken sollte. Hier sei betont, daß seine Bemerkung durchaus ernst zu nehmen war, denn bei Corso handelte es sich nur scheinbar um einen jener verschrobenen Typen, bei denen man sich denkt, sie leben mit einer alten Mutter zusammen, die Socken strickt und ihrem Sohn am Sonntag eine Tasse heiße Schokolade ans Bett bringt; ein Sohn, wie man ihn manchmal in Filmen hinter einem Sarg hergehen sieht, unter strömendem Regen, mit geröteten Augen und trostlos »Mama« murmelnd, wie eine hilflose Waise. In Wirklichkeit war Corso in seinem ganzen Leben nie hilflos gewesen, und von einer Mutter war auch nie die Rede. Jeder, der ihn näher kennenlernte, fragte sich früher oder später, ob er wohl jemals eine Mutter gehabt hatte.
»Es tut mir leid, Sie in einem so ungelegenen Moment belästigen zu müssen«, sagte Corso. Er hatte der Witwe gegenüber Platz genommen, im Mantel, die Segeltuchtasche auf den Knien. Steif saß er auf der Kante eines Sessels, während Liana Taillefers Augen - stahlblau, groß und kalt - ihn von oben bis unten musterten, bemüht, ihn irgendeiner ihr bekannten Spezies von Mann zuzuordnen. Corso war sich der Situation bewußt und unterwarf sich bereitwillig ihrer Prüfung, ohne zu versuchen, einen bestimmten Eindruck zu erzielen. Er kannte die Prozedur, und in diesem Moment wurden seine Aktien an der Wertbörse der Witwe Taillefer eher niedrig notiert. Das reduzierte das Interesse an ihm auf eine Art herablassender Neugierde nach zehnminütiger Wartezeit und vorausgegangenem Scharmützel mit einem Dienstmädchen, das ihn für einen Hausierer gehalten und beinahe zur Tür hinausgeworfen hätte. Nun schielte die Witwe jedoch bereits ab und zu auf den Aktenordner, den Corso aus seiner Segeltuchtasche gezogen hatte, und der Wind begann sich zu drehen. Was Corso betraf, so bemühte er sich, Liana Taillefers Blick durch seine verbogene Brille hindurch standzuhalten, wobei er peinlich die tosende Meerenge mied - Skylla und Charybdis: Corso war Humanist -, die Beine im Süden, und den Busen im Norden, den er nach längerem Überlegen junonisch nannte - junonisch war das richtige Wort, sagte er sich mit Blick auf das, was den schwarzen Angorapullover geradezu furchterregend wölbte.
»Es wäre mir eine große Hilfe«, murmelte er schließlich, »wenn Sie mir sagen könnten, ob Sie etwas von der Existenz dieses Dokuments wußten.«
Er reichte ihr den Ordner und streifte dabei ungewollt ihre Finger mit den langen, blutrot lackierten Nägeln. Vielleicht streiften die Finger aber auch ihn. Wie dem auch sei, dieser leichte Kontakt deutete jedenfalls an, daß Corsos Aktien im Steigen waren. Er gab sich also Mühe, verlegen zu wirken, indem er sich das Stirnhaar kratzte, gerade so unbeholfen wie nötig, um zu signalisieren, daß es nicht zu seinen Spezialitäten gehörte, schöne Witwen zu behelligen. Die stahlblauen Augen betrachteten jetzt nicht den Ordner, sondern ihn und flimmerten auf einmal interessiert.
»Warum sollte ich etwas davon gewußt haben?« fragte die Witwe. Ihre tiefe, etwas heisere Stimme deutete auf eine schlecht verbrachte Nacht. Sie hatte immer noch nicht den Plastikdeckel des Ordners aufgeschlagen und fuhr fort, Corso zu betrachten. Sie erwartete wohl noch mehr Erklärungen. Corso rückte sich die Brille auf der Nasenwurzel zurecht und setzte ein betrübtes Gesicht auf, das der Situation entsprechen sollte. Sie befanden sich noch in der protokollarischen Phase, so daß er das wirkungsvolle Lächeln des ehrlichen Kaninchens für den geeigneten Moment aufsparte.
»Bis vor kurzem hat es Ihrem Mann gehört.« Er zögerte einen Augenblick, bevor er seinen Satz abrundete. »Gott habe ihn selig.«
Sie nickte langsam, als erkläre das alles, und öffnete die Mappe. Corso blickte auf die Wand hinter ihr. Zwischen einem unverkennbaren Tapies und einem anderen Ölgemälde mit unleserlicher Signatur hing dort das gerahmte Stickbild eines Kindes mit bunten Blümchen, Namen und Datum: Liana Lasauca. Schuljahr 1970-71. Corso wäre geneigt gewesen, es als rührend zu bezeichnen, wenn die Blumen, die gestickten kleinen Vögel und das Mädchen mit seinen Söckchen und den blonden Zöpfen ihn nur in irgendeiner Art gefühlvoll gestimmt hätten. Aber das war nicht der Fall. So ließ er seinen Blick zu einem anderen, kleineren Rahmen aus Silber wandern, auf dem der verstorbene Verleger Enrique Taillefer - ein goldenes Probierglas um den Hals und mit einer Schürze bekleidet, in der er entfernt an einen Freimaurer erinnerte - in die Kamera lächelte. Er hielt einen seiner Verlagsrenner aufgeschlagen in der rechten Hand und in der erhobenen Linken ein Messer, mit dem er sich gerade anschickte, ein Spanferkel auf segoviani-sche Art zu zerteilen. Mit seinem dicken Bauch wirkte er pummelig und gemütlich, ja direkt glücklich beim Anblick des Tierchens, das auf der Anrichteplatte alle viere von sich streckte. Corso sagte sich, daß sein frühzeitiger Abgang ihm wenigstens einen Haufen Cholesterin- und Harnsäureprobleme erspart habe. Er fragte sich auch, mit kaltem, technischem Interesse, was Liana Taillefer zu Lebzeiten ihres Gatten wohl unternommen habe, wenn sie einen Orgasmus brauchte. Allein aufgrund dieses Gedankens warf er einen weiteren, kurzen Blick auf die Beine und den Busen der Witwe, bevor er sich sagte, daß sie zu sehr Frau war, um sich mit einem Spanferkel zufriedenzugeben.
»Das ist das Manuskript von Dumas«, sagte sie, und Corsu richtete sich ein wenig auf, wachsam und hellhörig. Liana Taillefer klopfte mit einem ihrer roten Fingernägel auf die Plastikhüllen, mit denen die Seiten geschützt waren. »Das berühmte Kapitel. Klar kenne ich das.« Als sie den Kopf über den Ordner beugte, fiel ihr das Haar vors Gesicht, und durch diesen blonden Vorhang hindurch sah sie ihren Besucher mißtrauisch an. »Wie kommen Sie dazu?«
»Ihr Mann hat es verkauft. Ich prüfe, ob es echt ist.«
Die Witwe zuckte mit den Schultern.
»Soweit ich weiß, ist es echt.« Sie seufzte gedehnt, während sie ihm den Ordner zurückgab. »Verkauft, sagen Sie? Seltsam ...« Sie schien nachzudenken. »Enrique lagen diese Papiere sehr am Herzen.«
»Vielleicht erinnern Sie sich daran, wo er sie erworben haben könnte.«
»Keine Ahnung. Ich glaube, es war ein Geschenk.«
»Hat er Originalhandschriften gesammelt?«
»Die einzige, von der ich weiß, war diese.«
»Hat er Ihnen gegenüber nie die Absicht geäußert, sie zu verkaufen?«
»Nein. Sie sind der erste, der mir etwas davon erzählt. Wer ist der Käufer?«
»Ein Buchhändler, mit dem ich befreundet bin. Er möchte sie versteigern, sobald mein Gutachten vorliegt.«
Liana Taillefer beschloß, ihm etwas mehr Interesse zu widmen, Corsos Aktien erfuhren einen weiteren, leichten Aufschwung an der lokalen Börse. Er nahm seine Brille ab, um sie mit dem zerknitterten Taschentuch zu putzen. Ohne Gläser wirkte er schutzlos, das wußte er nur zu gut. Jeder verspürte dann so etwas wie das Bedürfnis, ihm beim Überqueren der Straße behilflich zu sein.
»Ist das Ihre Arbeit?« fragte sie ihn. »Handschriften begutachten?«
Corso bejahte. Ohne Brille hatte er die Witwe ein wenig verschwommen und dabei doch näher vor Augen.
»Unter anderem. Aber ich forsche auch nach Buchraritäten, Stichen und ähnlichen Dingen. Und dafür kassiere ich.«
»Wieviel kassieren Sie?«
»Das kommt ganz darauf an.« Er setzte die Brille auf, worauf sich die Umrisse der Frau wieder scharf auf seiner Netzhaut abzeichneten. »Manchmal viel, manchmal wenig: Der Markt hat seine Schwankungen.«
»Eine Art Detektiv, nicht?« meinte sie in belustigtem Ton. »Ein Bücherdetektiv.«
Das war der richtige Moment, um ein Lächeln aufzusetzen. Er tat es, seine Schneidezähne entblößend und mit einer Bescheidenheit, die auf den Millimeter kalkuliert war. Adoptieren Sie mich auf der Stelle, signalisierte sein Lächeln.
»Ja, so könnte man es, glaube ich, nennen.«
»Und Sie besuchen mich im Auftrag Ihres Kunden .«
»Genau.« Jetzt konnte er es sich erlauben, mehr Selbstsicherheit an den Tag zu legen, und so klopfte er mit den Fingerknöcheln auf das Manuskript. »Schließlich stammt das von hier. Aus Ihrem Hause.«
Sie nickte langsam, während sie die Mappe betrachtete, und schien nachzudenken.
»Eigenartig«, sagte sie nach einer Weile. »Ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß Enrique dieses Manuskript verkauft hat. Obwohl sein Verhalten in den letzten Tagen seltsam war ... Wie, sagten Sie, heißt der Buchhändler? Der neue Eigentümer?«
»Das habe ich Ihnen nicht gesagt.«
Die Witwe sah ihn von oben nach unten an, überrascht, aber gelassen. Sie schien es nicht gewohnt zu sein, den Männern mehr als drei Sekunden Zeit zu lassen, um ihre Wünsche zu befriedigen.
»Dann tun Sie es jetzt.«
Corso ließ ein wenig Zeit verstreichen, gerade soviel, wie nötig war, bis die Nägel Liana Taillefers ungeduldig auf der Armlehne des Sofas zu trommeln begannen.
»Er heißt La Ponte«, erklärte er schließlich. Das war ein weiterer Trick von ihm, es so einzurichten, daß die anderen für sich als Triumphe verbuchten, was in Wirklichkeit triviale Zugeständnisse von seiner Seite waren. »Kennen Sie ihn?«
»Natürlich kenne ich den, der war sozusagen der Lieferant meines Mannes.« Sie runzelte mißmutig die Stirn. »Er kam laufend hier an, um Enrique mit diesen dämlichen Zeitungsromanen zu versorgen. Ich nehme an, daß er eine Quittung besitzt ... Davon hätte ich gerne eine Kopie, wenn Sie nichts dagegen haben.«
Corso nickte zerstreut, während er sich leicht zu ihr hinüberbeugte.
»War Ihr Mann ein großer Liebhaber von Alexandre Dumas?«
»Von Dumas, sagen Sie?« Liana Taillefer lächelte. Sie hatte ihr Haar zurückgeworfen, und ihre Augen glänzten jetzt spöttisch. »Kommen Sie mit.«
Sie richtete sich unendlich langsam auf und strich sich den Rock glatt, wobei sie sich umsah, als habe sie auf einmal den Zweck ihrer Bewegung vergessen. Obwohl sie Schuhe mit flachen Absätzen trug, war sie um einiges größer als Corso. Sie schritt ihm voraus in das angrenzende Arbeitszimmer. Wäh-rend Corso ihr folgte, betrachtete er ihren Rücken, der breit war wie der einer Schwimmerin, und die schmale Taille, die hart an der Grenze zur Wespentaille war. Er schätzte sie auf dreißig. Sie schien auf dem besten Wege, sich in eine jener nordischen Matronen zu verwandeln, in deren Hüften die Sonne nie untergeht, wie im Reich Kaiser Karls V.
»Wenn es nur Dumas gewesen wäre«, sagte sie und wies ins Innere des Arbeitszimmers. »Sehen Sie sich das an.«
Corso gehorchte. Die Holzregale an den Wänden bogen sich unter dem Gewicht gebundener Wälzer. Er spürte, wie seine Speicheldrüsen zu arbeiten begannen. Ein beruflich bedingter Reflex. Er machte ein paar Schritte auf die Regale zu und faßte sich an die Brille: Die Gräfin von Charny, A. Dumas, acht Bände, La Novela Ilustrada, Herausgeber Vicente Blasco Ibänez. Die beiden Dianen, A. Dumas, drei Bände. Die drei Musketiere, A. Dumas, Miguel Guijarro, Stiche von Ortega, vier Bände. Der Graf von Monte Christo, A. Dumas, vier Bände, Juan Ros, Stiche von A. Gil. Des weiteren vierzigmal Rocambole, von Ponson du Terrail. Zévacos Les Pardaillan, vollständig. Und noch mehr Dumas, neben neun Bänden von Victor Hugo und ebenso vielen von Paul Féval, dessen Buckliger in einer Luxusausgabe vorlag, mit Saffianlederband und Goldschnitt. Dann Dickens’ Pickwickier in der Übersetzung von Benito Pérez Galdôs, zwischen mehreren Werken von Barbey d’Aurevilly und Eugène Sues Geheimnisse von Paris. Und dann noch mehr Dumas - Die Fünfundvierzig, Das Halsband der Königin, Die Genossen Jehus - und Mérimées Mateo Falcone. Fünfzehn Bücher von Sabatini, mehrere von Conan Doyle, Mayne Reid und Patricio de la Escosura ...
»Beeindruckend«, meinte Corso. »Wieviel Bände stehen hier?«
»Ich weiß es nicht. Zweieinhalb- bis dreitausend. Fast alles gebundene Erstausgaben von Fortsetzungsromanen, die vorher in Zeitungen erschienen sind . Daneben auch illustrierte Ausgaben. Mein Mann hat sie geradezu zwanghaft gesammelt und jeden Preis dafür bezahlt.«
»Ein echter Liebhaber, wie ich sehe.«
»Liebhaber?« Liana Taillefer zeigte ein undefinierbares Lächeln. »Für ihn war es die reinste Sucht.«
»Ich dachte, die Gastronomie .«
»Mit Kochbüchern hat er das Geld verdient. Enrique hatte etwas vom König Midas: In seinen Händen verwandelte sich jede billige Rezeptsammlung in einen Verkaufsschlager. Aber sein Herz gehörte diesen alten Fortsetzungsromanen. Er konnte sich stundenlang hier einschließen, nur um sie in die Hand zu nehmen. Sie sind gewöhnlich auf schlechtem Papier gedruckt, und er war von dem Gedanken besessen, sie konservieren zu müssen. Sehen Sie das Thermometer und das Hygrometer? Aus seinen Lieblingsschmökern konnte er ganze Seiten auswendig zitieren. Manchmal sind ihm sogar Ausdrücke wie >Alle Wettere, >Tod und Teufel< und ähnliches herausgerutscht. Die letzten Monate hat er damit verbracht, zu schreiben.«
»Einen historischen Roman?«
»Nein, einen Fortsetzungsroman. Selbstverständlich mit sämtlichen Gemeinplätzen, die zu dieser Gattung gehören.« Sie ging zu einem der Regale und entnahm ihm ein schweres Manuskript: fadengeheftete Druckbogen, die mit großen, runden Schriftzügen einseitig beschrieben waren. »Wie finden Sie den Titel?«
»Die Hand des Toten oder der Page Annas von Österreich«, las Corso laut. »Der Titel ist zweifellos, ähem ...«, er fuhr sich mit dem Finger eine Augenbraue nach, während er das angemessene Wort suchte, »vielversprechend.«
»Und langweilig, wie der ganze Text«, fügte sie hinzu, indem sie das Manuskript an seinen Platz zurücklegte. »Und voll von Anachronismen. Und absolut schwachsinnig, das kann ich
Ihnen versichern. Glauben Sie mir, ich weiß, wovon ich spreche. Nach jeder Schreibsitzung hat er mir Seite für Seite vorgelesen, vom Anfang bis zum Ende.« Sie klopfte wütend auf den Buchtitel, der in schönen Großbuchstaben ausgeführt war. »Mein Gott. Wie ich diesen Pagen und seine Königin, diese Hure, zum Schluß gehaßt habe!«
»Wollte Ihr Mann das veröffentlichen?«
»Na, klar. Und unter einem Pseudonym. Vermutlich hätte er dafür Tristan de Longueville, Paulo Florentini oder irgend etwas in dem Stil gewählt. Solche Spinnereien waren typisch für ihn.«
»Und sich zu erhängen? War das auch typisch für ihn?«
Liana Taillefer starrte auf die bücherbedeckten Wände und schwieg. Ein etwas künstliches Schweigen, sagte sich Corso. Ein Schweigen wie von einer Schauspielerin, die so tut, als ob sie nachdenkt, während sie in Wirklichkeit eine kurze Pause einlegt, um desto überzeugender in ihrem Dialog fortzufahren.
»Ich werde wohl nie herausbekommen, was wirklich vorgefallen ist«, antwortete sie schließlich, und ihre Selbstsicherheit war auch jetzt wieder umwerfend. »Während der letzten Woche war er ungesellig und deprimiert; er hat dieses Arbeitszimmer kaum noch verlassen. Und dann hat er eines Abends die Tür zugeschlagen und ist aus dem Haus gerannt. Im Morgengrauen kam er wieder zurück. Ich war im Bett und habe ihn kommen hören. Später wurde ich vom Geschrei des Dienstmädchens geweckt: Enrique hatte sich an der Lampe erhängt.«
Jetzt sah sie Corso an, gespannt auf den Effekt. Der Bücherjäger dachte an das Foto mit der Schürze und dem Spanferkel und fand, daß sie nicht übermäßig betrübt wirkte. Obwohl er sie irgendwann bei einem Blinzeln ertappte, als hätte sie Mühe, eine Träne zu unterdrücken, blieben ihre Augen völlig trocken. Aber das hieß gar nichts. Ganze Generationen von gefühlsanfälliger Schminke haben die Frauen gelehrt, sich zu kontrollieren. Und die Schminke Liana Taillefers, ein heller Lidschatten, der die Farbe ihrer Augen betonte, war perfekt.
»Hat er einen Brief hinterlassen?« fragte Corso. »Das tun Selbstmörder für gewöhnlich.«
»Nein. Die Arbeit hat er sich erspart. Keine Erklärung, keine einzige Zeile. Nichts. Diese Rücksichtslosigkeit hat dazu geführt, daß ich von einem Richter und ein paar Polizisten mit Fragen bombardiert wurde. Höchst unangenehm.«
»Das kann ich mir vorstellen.«
»Sicher. Dazu gehört nicht viel.«
Für Liana Taillefer war die Begegnung hiermit abgeschlossen. Sie begleitete Corso, der seine Segeltuchtasche umgehängt und den Manuskriptordner unter den Arm geklemmt hatte, zur Tür und reichte ihm dort die Hand. Corso ergriff sie und fühlte einen festen Druck. Er kam nicht umhin, Liana Taillefer in Gedanken eine gute Note zu geben. Weder lustige Witwe noch völlig dem Schmerz ausgeliefert, noch kalt in der Art >ein Idiot ist gegangen< oder >endlich alleine< oder >du kannst aus dem Schrank kommen, Liebling<. Daß im Schrank jemand war, ließ sich allerdings vermuten, aber das ging Corso nichts an. Wie ihn auch der Selbstmord Enrique Taillefers nichts anging, so seltsam er anmuten mochte. Und er war bei Gott seltsam, mit dem Pagen der Königin und dem gehefteten Manuskript, das da noch hineinspielte. Aber das war, wie auch die schöne Witwe, nicht seine Sache. Jedenfalls im Moment.
Er sah Liana Taillefer an. >Ich wüßte zu gerne, wer sich augenblicklich an dir gütlich tut<, dachte er mit gelassener, technischer Neugier und erstellte im Geiste ein Phantombild: reif, stattlich, gebildet, wohlhabend. Mit fünfundachtzigprozen-tiger Wahrscheinlichkeit handelte es sich um einen Freund des Verblichenen. Er fragte sich auch, ob der Selbstmord des Verlegers womöglich damit zusammenhing, aber dann ekelten ihn die eigenen Gedanken. War es nun berufliche Deformation oder was auch immer, jedenfalls hatte er schon die Angewohnheit, wie ein Polizist zu denken. Schlagartig wurde ihm das klar. Man weiß tatsächlich nie, welch düstere Abgründe der Perversion oder der Dummheit die eigene Seele birgt.
»Ich möchte Ihnen dafür danken«, sagte er, während er das rührendste Nette-Häschen-Lächeln seines gesamten Repertoires aufsetzte, »daß Sie sich so viel Zeit für mich genommen haben.«
Sein Lächeln ging ins Leere, die Witwe blickte auf das Manuskript von Dumas.
»Nichts zu danken. Es würde mich natürlich interessieren, wie die Geschichte ausgeht.«
»Ich halte Sie auf dem laufenden ... Noch etwas. Haben Sie vor, die Sammlung Ihres Mannes zu erhalten, oder gedenken Sie, sich davon zu trennen?«
Sie sah ihn verblüfft an. Corso wußte aus Erfahrung, was passierte, wenn ein Bibliophiler starb: Vierundzwanzig Stunden nach dem Sarg verließ seine Bibliothek durch dieselbe Tür das Haus. Es wunderte ihn, daß sich noch kein Geier von der Konkurrenz hatte blicken lassen. Schließlich gab Liana Taille-fer selbst offen zu, daß sie die literarischen Neigungen ihres Gatten nicht teilte.
»Ehrlich gesagt hatte ich noch gar keine Zeit, darüber nachzudenken ... Würden Sie sich denn für diese Romane interessieren?«
»Eventuell.«
Sie zögerte einen Moment. Vielleicht zwei Sekunden länger als nötig.
»Ich muß mich erst noch mit meiner neuen Situation abfinden«, sagte sie schließlich mit einem entsprechenden Seufzer. »Lassen Sie mir ein paar Tage Zeit.«
Corso legte die Hand aufs Geländer und begann die Treppe hinunterzusteigen. Stufe für Stufe, langsam, als empfinde er ein gewisses Unbehagen, wie jemand, der das Gefühl hat, etwas vergessen zu haben. Er hatte nichts vergessen, das wußte er, aber als er den ersten Treppenabsatz erreicht hatte, sah er hoch und begegnete dem Blick von Liana Taillefer, die noch immer auf der Türschwelle stand und ihn beobachtete. Sie wirkte besorgt und zugleich neugierig, oder es schien ihm nur so. Und während er weiter hinunterstieg, rückte der Ausschnitt dessen, was er sehen konnte, langsam nach unten. Nachdem der forschende Blick ihrer stahlblauen Augen daraus verschwunden war, erschien ein letztes Mal Liana Taillefers Körper, ihr Busen, ihre Hüften, schließlich die leicht gespreizten Beine aus festem, weißem Fleisch, beeindruckend und unerschütterlich wie die Säulen eines Tempels.
Corsos Kopf drehte sich noch, als er das Hausportal durchschritt und auf die Straße hinaustrat. Es gab mindestens fünf Fragen, die nach einer Antwort verlangten und deshalb ihrer Wichtigkeit nach geordnet werden mußten. Er blieb vor dem schmiedeeisernen Tor des Retiro, des berühmten Madrider Stadtparks, stehen und blickte zufällig nach links, auf der Suche nach einem Taxi. Wenige Meter entfernt war ein riesiger Jaguar geparkt. Der Chauffeur in dunkelgrauer, fast schwarzer Livree lehnte an der Kühlerhaube und las die Zeitung. In diesem Moment sah er von dem Blatt auf und begegnete den Augen Corsos. Er war nicht mehr als eine Sekunde, in denen sich ihre Blicke kreuzten, dann wandte sich der Chauffeur wieder seiner Lektüre zu. Er hatte dunkles Haar, einen Schnurrbart, und auf einer seiner Wangen befand sich eine lange, blasse Narbe, die von oben nach unten verlief. Sein Äußeres kam Corso bekannt vor. Hatte nicht der Mann so ausgesehen, der in Makarovas Bar die Dicke am Spielautomaten abgelöst hatte? Obwohl es noch etwas anderes sein mußte. Sein Anblick weckte in Corso eine entfernte, ungenaue Erinne-rung, aber da tauchte schon ein freies Taxi auf, dem ein Typ mit Lodenmantel und Aktenköfferchen von der andern Straßenseite aus Zeichen machte. Corso nützte es aus, daß der Taxifahrer in seine Richtung sah, trat rasch vom Bordstein auf die Straße hinunter und schnappte dem andern den Wagen vor der Nase weg.
Im Wagen lehnte er sich bequem zurück, bat den Fahrer, das Radio leiser zu stellen, und sah in den Verkehr hinaus. Jedesmal, wenn er die Wagentür eines Taxis hinter sich schloß, genoß er den Frieden wie eine Waffenruhe zwischen sich und der Außenwelt. Er lehnte den Kopf zurück und betrachtete die Straße.
Es war Zeit, an ernste Dinge zu denken: wie an das Buch der neun Pforten oder an die Reise nach Portugal, die erste Etappe seiner Arbeit. Aber Corso konnte sich nicht konzentrieren. Die Begegnung mit der Witwe Enrique Taillefers hatte zu viele Fragen offengelassen, und das bereitete ihm eine seltsame Unruhe. Irgend etwas glitt ihm da aus der Hand. Und noch etwas: Es bedurfte mehrerer roter Ampeln, bis ihm klar wurde, daß das Bild des Jaguar-Chauffeurs seine Gedanken durchkreuzte. Das störte ihn gewaltig. Er wußte hundertprozentig, daß er ihn bis zu dem Moment in Makarovas Bar noch nie im Leben gesehen hatte. Aber in seinem Innern bohrte eine Erinnerung, so irrational es auch war. Ich kenne dich, sagte er sich. Da bin ich mir sicher. Irgendwann, vor langer Zeit, bin ich mal einem Typen wie dir begegnet. Und ich weiß, daß du da bist. Irgendwo, im dunklen Teil meines Gedächtnisses.
Grouchy ließ sich nirgends blicken, aber das war auch gar nicht mehr nötig. Bülows Preußen zogen sich von den Anhöhen um Chapelle-Saint-Lambert zurück, die leichte Kavallerie Suber-vies auf den Fersen. Zur linken Flanke hin, keinerlei Problem: Die roten Verbände der schottischen Infanterie boten nach dem
Überfall der französischen Kürassiere ein Bild des Jammers. Im Zentrum hatte die Division Jerömes endlich Hougoumont eingenommen. Und nördlich von Saint-Jean sammelten sich langsam, aber unerbittlich die blauen Bataillone der guten Alten Garde, während Wellington sich herrlich ungeordnet in das kleine Dorf Waterloo zurückzog. Jetzt brauchte man ihm nur noch den Gnadenstoß zu versetzen.
Lucas Corso überflog das Terrain. Die Lösung war natürlich Ney. Der Tapferste unter den Tapferen. Er stellte ihn an die Front, zusammen mit Erlon und der Division Jerömes oder was von ihr übriggeblieben war, und ließ ihn auf der Straße nach Brüssel au pas de charge vorrücken. Als sie mit den britischen Formationen in Berührung kamen, lehnte Corso sich ein wenig in den Stuhl zurück und hielt den Atem an, völlig im klaren darüber, welche Entscheidungen seine Tat zur Folge hatte: Er hatte soeben, in knapp einer halben Minute, über Leben und Tod von 22 000 Männern verfügt. Dieses Gefühl auskostend, ergötzte er sich am Anblick der kompakten, blauen und roten Glieder, am sanften Grün des Waldes von Soigne, an den braunen Flecken der Hügel. Was für eine grandiose Schlacht, bei Gott!
Der Zusammenprall war hart. Erlons Armeekorps löste sich auf wie Schnee an der Sonne, aber Ney und die Männer Jerömes behaupteten ihre Stellung. Die Alte Garde rückte vor und machte unterwegs alles dem Erdboden gleich, und die englischen Bataillone verschwanden eines nach dem andern von der Landkarte. Wellington blieb keine andere Wahl, als zum Rückzug zu blasen, und Corso versperrte ihm den Weg nach Brüssel mit der französischen Kavallerie-Reserve. Danach holte er langsam und mit Vorbedacht zum Gnadenstoß aus. Er packte Ney mit Daumen und Zeigefinger und ließ ihn drei Sechsecke auf dem Spielplan vorrücken. Dann zählte er nach, wieviel Streitkräfte dem jeweiligen Lager übrigblieben, und sah in der Tabelle nach: Das Verhältnis war acht zu drei. Wellington war erledigt. Das Schicksal ließ ihm nur mehr eine winzige Chance. Corso warf einen Blick auf die ÄquivalenzTabelle und stellte fest, daß eine Drei genügen würde. Trotzdem verspürte er einen Anflug von Nervosität, als er zu den Würfeln griff, um den entsprechenden, kleinen Schicksalsfaktor zu bestimmen. Jedenfalls kam der Faktor fünf heraus. Er lächelte, während er dem blauen Napoleon-Figürchen mit dem Nagel freundschaftlich auf die Schulter klopfte. Ich kann mir vorstellen, wie du dich fühlst, Kamerad. Wellington und seine letzten fünftausend Unglücksraben waren tot oder gefangen, und der Kaiser hatte soeben die Schlacht von Waterloo gewonnen. Allons enfants! Die Geschichtsbücher konnten alle miteinander zum Teufel gehen.
Er gähnte ausgiebig. Neben dem Spielplan, auf dem im Maßstab 1:5000 das Schlachtfeld dargestellt war, lag zwischen diversen Nachschlagewerken, graphischen Darstellungen, einer Kaffeetasse und einem Aschenbecher voller Zigarettenstummel seine Armbanduhr auf dem Tisch und zeigte drei Uhr früh. Vom Barschrank herüber winkte Johnnie Walker ihm verschmitzt zu, während er auf seinem roten Etikett - rot wie ein britischer Uniformrock - ausschritt. >Blonder Lümmel<, dachte Corso. Ihm war es vollkommen gleichgültig, daß soeben mehrere tausend seiner Landsmänner ins flandrische Gras gebissen hatten.
Er kehrte dem Engländer den Rücken, um sich einer noch ungeöffneten Flasche Bols Gin zuzuwenden, die auf einem Regal an der gegenüberliegenden Wand zwischen dem Memorial von St. Helena in zwei Bänden und einer französischen Ausgabe von Rot und Schwarz eingezwängt stand, legte letzteres auf den Tisch, schlug wahllos eine Seite auf und begann zu lesen; gleichzeitig goß er sich Gin in ein Glas.
Rousseaus Bekenntnisse bestimmten sein Weltbild. Das Bulletin der Großen Armee und das Memorial von St. Helena vervollständigten seinen >Koran<. Für diese drei Bücher hätte er sich umbringen lassen. Er glaubte zeitlebens an nichts anderes.
Corso trank stehend, in kleinen Schlucken, und streckte dabei seine steifen Glieder. Dann warf er einen letzten Blick auf den Kampfplatz, wo der Schlachtenlärm nach dem Gemetzel langsam verebbte. Er trank und fühlte sich wie ein träumender, berauschter Gott, der mit Menschen umgeht wie mit Zinnsoldaten. Vor Augen stand ihm Lord Arthur Wellesley, der Herzog von Wellington, wie er Marschall Ney sein Schwert übergab. Er sah tote junge Soldaten im Dreck, Pferde ohne Reiter und einen Offizier der Scots Grey, der röchelnd unter der zerstörten Lafette einer Kanone lag und einen goldenen Anhänger mit Frauenbildnis und blonder Haarsträhne in den blutüberströmten Fingern hielt. Jenseits des Schattens, in dem er versank, ertönten die Klänge des letzten Walzers. Und die Tänzerin betrachtete ihn vom Kaminsims aus, mit ihrem goldenen Flitter, der die Flammen des Feuers reflektierte, bereit, dem Teufelchen aus der Schnupftabaksdose in die Hände zu fallen. Oder dem Krämer an der Ecke.
Waterloo. Jetzt konnten sie getrost ruhen, die Gebeine des alten Grenadiers, seines Ururgroßvaters. Er dachte sich ihn auf irgendeinem der kleinen blauen Felder des Spielplans, entlang des braunen Strichs, der die Straße nach Brüssel darstellte. Sein Gesicht war rußig und sein Schnurrbart vom Mündungsfeuer versengt. Heiser und fiebrig schleppte er sich nach drei Tagen Bajonettkampf davon. Er hatte einen abwesenden Blick, den Corso in Gedanken vertausendfachte, auf alle Männer in allen Kriegen übertrug. Und er hielt erschöpft seinen durchlöcherten Bärenfelltschako auf dem Gewehrlauf in die Höhe, wie seine
Kameraden. Lang lebe der Kaiser. Das einsame, aufgedunsene, verkrebste Gespenst Bonapartes war gerächt. Ruhe es in Frieden. Hipp, hipp, hurra.
Er schenkte sich ein weiteres Glas Bols ein, prostete schweigend dem Säbel zu, der an der Wand hing, und trank auf die Gesundheit des treuen Schattens von Grenadier Jean-Pax Corso, 1770-1854, Ehrenlegion, Ritter des Ordens von Sankt Helena, unbeugsamer Bonapartist bis zum Tode, französischer Konsul in derselben Mittelmeerstadt, in der ein Jahrhundert später sein Ururenkel zur Welt kommen sollte. Und den Geschmack des Gins im Mund, begann er, das einzige Erbe zu zitieren, das vom einen an den andern weitergereicht worden war, über jenes Jahrhundert hinweg und über die Corsos, die nun mit ihm ausstarben:
So will ich liegen und horchen still, wie eine Schildwach’, im Grabe, bis einst ich höre Kanonengebrüll und wiehernder Rosse Getrabe.
Dann reitet mein Kaiser wohl über mein Grab, viel Schwerter klirren und blitzen; dann steig’ ich gewaffnet hervor aus dem Grab -den Kaiser, den Kaiser zu schützen!
Er lachte leise vor sich hin, nahm den Telefonhörer ab und wählte La Pontes Nummer. In dem stillen Zimmer war nur das Geräusch der Wählscheibe zu hören, die sich drehte, Bücher umgaben ihn, und seinem dunklen Glasbalkon gegenüber glänzten regennasse Dächer. Der Ausblick von dort war nicht besonders schön, außer an Winterabenden, wenn die Strahlen der untergehenden Sonne durch die Heizungs- und Verkehrsabgase drangen und die Luft sich in einen dicken Vorhang aus roten und ockerfarbenen Flammen verwandelte. Der Arbeits-tisch mit dem Computer und dem Waterloo-Spielbrett war vor diesem Panorama aufgestellt, dicht an den Balkon herangerückt, an dessen Scheiben in dieser Nacht Regentropfen herabglitten. An den Wänden hingen weder Andenken noch Fotos. Nur der Säbel der Alten Garde in seiner Scheide aus Messing und Leder. Wenn Besucher zu ihm kamen, so wunderten sie sich, außer den Büchern und dem Säbel keinerlei Spuren eines Privatlebens in diesem Zimmer zu entdecken, keinen jener Ankerpunkte der Erinnerung oder Vergangenheit, die sich jedes menschliche Wesen unbewußt schafft. Genau wie die Gegenstände, die in dieser Wohnung fehlten, war die Welt, aus der Lucas Corso stammte, seit langer Zeit erloschen. Keines der würdevollen Gesichter, die ab und zu in seinem Gedächtnis auftauchten, hätte ihn im Falle einer Auferstehung wiedererkannt, und vielleicht war das auch besser so. Es war, als habe der Bewohner dieser Räume nie etwas besessen und also auch nichts weitergeben können. Als habe er immer sich selbst genügt, mit dem, was er auf dem Leib trug, ein gelehrter Stadtvagabund, der alle seine Habseligkeiten im Futter seines Mantels mit sich herumträgt. Und doch behaupten die wenigen Auserwählten, die erlebt haben, wie Corso in einer jener rötlichen Abenddämmerungen, den Blick vom Gin getrübt, auf seinem verglasten Balkon sitzt und geblendet in die untergehende Sonne starrt, daß seine Miene eines tolpatschigen, hilflosen Kaninchens echt wirkt.
La Ponte meldete sich mit schlaftrunkener Stimme am Telefon. »Ich habe gerade Wellington zu Brei zermalmt«, teilte Corso ihm mit.
Nach einigem Schweigen antwortete La Ponte, das freue ihn sehr. Das perfide Albion, die Nierenpastete und die Münzheizung in den schäbigen Hotels. Dieser Sepoy Kipling und das ganze Bettelpack von Balaklawa, Trafalgar und den Falklands. Und was Corso betraf, so wolle er ihn nur daran erinnern, daß es - das Telefon blieb stumm, während La Ponte nach seiner Uhr tastete - drei Uhr morgens sei.
Danach faselte er unzusammenhängendes Zeug, aus dem nur zwei Worte deutlich zu verstehen waren: »Mistkerl« und »Arschloch«, in dieser Reihenfolge.
Corso lachte immer noch, als er den Hörer wieder auflegte. Einmal hatte er La Ponte per R-Gespräch von einer Auktion in Buenos Aires angerufen, bloß um ihm einen Witz zu erzählen: von der Nutte, die so häßlich war, daß sie als Jungfrau starb. »Ha.ha. Sehr gut. Aber meine Telefonrechnung stecke ich dir in den Hintern, wenn du zurückkommst, verdammter Idiot.« Und einmal, vor vielen Jahren, an dem Morgen, an dem er die Augen aufgeschlagen und Nikon im Arm gehalten hatte, war es sein erstes gewesen, zum Telefon zu greifen und La Ponte zu erzählen, daß er eine wundervolle Frau kennengelernt habe und daß alles ganz danach aussah, als sei er verliebt. Corso war in der Lage, wann immer er wollte, die Augen zu schließen und Nikon vor sich zu sehen, wie sie langsam aufwachte, das offene Haar übers Kissen verteilt. Den Hörer ans Ohr gepreßt, hatte er sie La Ponte beschrieben und eine seltsame Rührung empfunden, eine rätselhafte, ungeahnte Zärtlichkeit, während er am Telefon sprach, sie zuhörte und ihn schweigend betrachtete; und er hatte gewußt, daß die Stimme am andern Ende der Leitung - »freut mich, Corso, alter Junge, Gott sei Dank, war ja auch höchste Zeit, freut mich für dich« - aufrichtig war, während sie an seinem Erwachen, an seinem Triumph, an seinem Glück teilnahm. An diesem Morgen hatte er La Ponte so gerne gehabt wie Nikon. Vielleicht auch sie so gerne wie ihn.
Seit damals war viel Zeit vergangen. Corso löschte das Licht. Draußen in der Nacht rauschte unablässig der Regen. Im Schlafzimmer setzte er sich auf die Kante des leeren Betts, zündete eine letzte Zigarette an und wartete reglos im Dunkeln auf den Nachhall ihrer Atemzüge zwischen den Laken. Danach streckte er eine Hand nach dem Kissen aus, um ihr Haar zu streicheln, das nicht mehr da war. Er trauerte nichts in seinem Leben nach. Nichts, außer Nikon. Der Regen war stärker geworden, die Wassertropfen auf der Fensterscheibe brachen das spärliche Außenlicht und streuten bewegliche Punkte auf das Bettuch, schwarze Rinnsale, winzige Schatten, die abwärts trudelten, ziellos wie die Fetzen eines Lebens.
»Lucas.«
Er sprach seinen Namen laut aus, genau wie Nikon es immer getan hatte, die einzige, die ihn grundsätzlich beim Vornamen genannt hatte. Diese fünf Buchstaben waren ein Symbol für das zerstörte Vaterland, das sie vor langer Zeit einmal beide ersehnt hatten. Corso konzentrierte seine Aufmerksamkeit auf die rote Glut der Zigarette in der Dunkelheit. Er hatte geglaubt, Nikon sehr zu lieben, früher, als er sie schön und intelligent fand, unfehlbar wie eine päpstliche Enzyklika, leidenschaftlich wie ihre Schwarzweißfotografien: Kinder mit großen Augen, alte Leute, Gassenköter mit treuherzigem Blick. Als er sie für die Freiheit kämpfen und Manifeste zugunsten inhaftierter Intellektueller, unterdrückter Völker und ähnliches unterschreiben sah. Auch zugunsten der Robben. Einmal hatte sie es geschafft, daß sogar er unter irgend etwas über Robben seine Unterschrift setzte.
Er stand leise auf, um das Gespenst, das neben ihm schlief, nicht zu wecken, und lauschte auf den Rhythmus ihres Atems, den er manchmal tatsächlich zu hören glaubte. »Du bist so tot wie deine Bücher, du hast nie jemanden geliebt, Corso«. Es war das erste und letzte Mal, daß sie nur seinen Nachnamen aussprach, das erste und letzte Mal, daß sie ihm ihren Körper verweigerte, bevor sie für immer ging. Auf die Suche nach dem Kind, das er nie gewollt hatte.
Er öffnete das Fenster und fühlte die feuchte Kälte der Nacht.
Während ihm Regentropfen ins Gesicht fielen, zog er noch einmal an seiner Zigarette und ließ sie dann auf die Straße fallen, ein roter Punkt, der in der Dunkelheit verglühte, eine unterbrochene - oder unsichtbare - Bahn in den Schatten.
Diese Nacht würde es auch über anderen Gegenden regnen. Über den letzten Spuren Nikons. Über den Feldern um Waterloo, dem Ururgroßvater Corsos und seinen Kameraden. Über dem Grab Julien Sorels, der guillotiniert worden war, weil er geglaubt hatte, die Zeit der Helden sei nach dem Verschwinden Bonapartes endgültig vorbei. Ein Irrtum. Lucas Corso wußte es besser, er wußte, daß es immer noch möglich war, sich ein Schlachtfeld zu suchen und sich seinen Lohn als Söldner zu verdienen, der luzid blieb, selbst wenn die Schlacht verloren war. Im dunklen Raunen Tausender von Verlierern, die auf dem Rückzug waren, hielt er standhaft Wache zwischen Gespenstern aus Papier und Leder.