X. Nummer drei

Er stand im Ruf, ein herzloser Mensch zu sein.

R. Sabatini, Scaramouche


Corso besaß die seltene Fähigkeit, mit einem Trinkgeld oder auch nur mit einem Lächeln auf Anhieb Komplizen zu gewinnen, die ihm bedingungslos ergeben waren. Wir haben bereits gesehen, daß er mit seiner teils echten, teils gespielten Tolpat-schigkeit, der Schnute eines sympathischen, neunmalklugen Trickfilmkaninchens und mit seiner leicht zerstreuten, hilflosen Art die Leute für sich einnahm. Wie zum Beispiel einige von uns, als wir ihn kennenlernten. Oder Grüber, den Portier des Louvre Concorde, mit dem Corso seit fünfzehn Jahren bekannt war. Grüber - rasierter Nacken und permanentes Pokerface -war wortkarg und unerschütterlich. Mit sechzehn Jahren hatte er als kroatischer Freiwilliger in der 18. SS-Division »Horst Wessel« gekämpft und sich 1944, auf dem Rückzug, mit einer russischen Kugel im Rückgrat das Eiserne Kreuz zweiter Klasse und für den Rest des Lebens drei steife Wirbel eingehandelt. Das war auch der Grund, weshalb er sich hinter der Rezeptionstheke bewegte, als trage er ein Stahlkorsett.

»Ich möchte Sie um einen Gefallen bitten, Grüber.«

»Zu Ihren Diensten.«

Es fehlte wenig, und Grüber hätte strammgestanden und die Hacken zusammengeschlagen. Die tadellos sitzende, bordeauxrote Jacke mit den goldenen Schlüsselchen auf dem Revers betonte noch das militärische Aussehen des alten Exilkroaten und war ganz nach dem Geschmack jener mitteleuropäischen Kunden, die nach dem Niedergang des Kommunismus und der Entzweiung der slawischen Horden hier in Paris nach den Champs-Elysées schielten und vom Vierten Reich träumten.

»La Ponte, Flavio. Spanische Nationalität. Und Herrero, Liana; vielleicht auch unter dem Namen Taillefer oder De Taillefer eingetragen ... Ich möchte wissen, ob sich die beiden in einem Pariser Hotel aufhalten.«

Er schrieb die Namen auf ein Kärtchen, das er Grüber mit einem Fünfhundertfrancsschein über die Theke zuschob. Wenn Corso Trinkgelder verteilte oder jemanden bestach, so tat er das immer mit einem leichten Schulterzucken, das sagen sollte: »heute mir, morgen dir«, und seiner Geste etwas Freundschaftliches gab, so daß man kaum noch auseinanderhalten konnte, wer hier wem einen Dienst erwies. Grüber, der ein höfliches merci m ’sieu murmelte, wenn Spanier von Eurocolor Iberia, Italiener mit gräßlichen Krawatten oder Nordamerikaner mit TWA-Taschen und Baseballmützen ihm jämmerliche zehn Francs zusteckten, fegte den Schein mit einer eleganten Bewegung vom Tisch, um ihn, ohne mit der Wimper zu zucken und ohne sich zu bedanken, in seiner Jackentasche verschwinden zu lassen. Das alles mit der würdevoll distanzierten Miene eines Croupiers, die er nur jenen wenigen Kunden gegenüber aufsetzte, die - wie Corso - die Regeln des Spiels noch beherrschten. Für Grüber, der sein Handwerk gelernt hatte, als die Gäste sich noch durch das Hochziehen einer Augenbraue beim Personal verständlich zu machen gewußt hatten, war das gute alte Europa der internationalen Hotels auf eine winzige Enklave von Eingeweihten zusammengeschrumpft.

»Sind der Herr und die Dame gemeinsam abgestiegen?« »Keine Ahnung.« Corso schnitt eine Grimasse und stellte sich vor, wie La Ponte in einem bestickten Frotteemantel aus dem Bad kam und die Witwe Taillefer sich in einem seidenen Neglige auf der Bettdecke rekelte. »Aber das würde mich auch interessieren.«

Grüber neigte kaum merklich den Kopf.

»Es wird ein paar Stunden dauern, bis ich Ihnen Bescheid geben kann, Senor Corso.«

»Ich weiß.« Er wandte den Kopf zum Korridor, der die Empfangshalle mit dem Restaurant verband und wo das Mädchen stand, ihren Kapuzenmantel unterm Arm, die Hände in den Taschen ihrer Jeans vergraben. Es betrachtete sich eine Vitrine mit Parfüms und Seidentüchern. »Und was sie betrifft ...«

Der Portier zog eine Karteikarte unter der Theke hervor.

»Irene Adler«, las er. »Englischer Paß, vor zwei Monaten ausgestellt. Neunzehn Jahre alt. Wohnhaft in London, Baker Street 223 B.«

»Machen Sie sich nicht über mich lustig, Grüber.«

»Das würde ich mir nie erlauben, Senor Corso. Aber so steht es in den Papieren.«

Um die Lippen des alten SS-Mannes spielte der Anflug eines Lächelns, eine kaum wahrnehmbare Andeutung. Corso hatte ihn nur einmal richtig lächeln sehen: am Tag, als die Berliner Mauer gefallen war. Er betrachtete sein streichholzkurzes weißes Haar mit dem Bürstenschnitt, den steifen Hals und die symmetrisch auf den Rand der Theke gestützten Hände - das gute alte Europa, oder was noch davon übrig war. Grüber war zu alt, um in seine Heimat zurückzukehren und womöglich festzustellen, daß nichts mehr so war, wie er es in Erinnerung hatte: weder die Altstadt von Zagreb noch die gastfreundlichen blonden Bäuerinnen, die nach frischem Brot dufteten, noch die weiten grünen Ebenen mit ihren Flüssen und Brücken, die zweimal explodiert waren: in Grübers Jugend, als er vor den Partisanen Titos geflohen war, und im Oktober 1991, als man sie vor den Nasen der serbischen Tschetniks in die Luft gejagt hatte. Corso malte sich aus, wie Grüber in seinem Zimmer die bordeauxrote Jacke mit den goldenen Schlüsselchen auf dem Revers ablegte, als wäre es der österreichisch-ungarische Uniformrock, und dann mit Montenegriner Wein einem zerschlissenen Porträt von Kaiser Franz Joseph zuprostete. Todsicher legte er dazu eine Schallplatte mit dem Radetzky-Marsch auf, und später sah er sich dann Sissi-Filme auf Video an und holte sich einen runter.

Das Mädchen hatte sich von der Vitrine abgewandt und sah jetzt zu Corso herüber. Baker Street 223 B, wiederholte er im Geiste und war nahe daran, in hemmungsloses Gelächter auszubrechen. Es hätte ihn kein bißchen überrascht, wenn jetzt auch noch ein Page dahergekommen wäre und ihm ein Kärtchen von Milady de Winter überreicht hätte, eine Einladung zum Tee auf Château d’If, oder ein Treffen mit Richelieu, Professor Moriarty und Rupert von Hentzau. Wo er sich schon einmal im literarischen Milieu bewegte, wäre das die natürlichste Sache der Welt gewesen.

Er ließ sich ein Telefonbuch geben und suchte die Nummer der Baronin Ungern heraus, ging, ohne auf den fragenden Blick des Mädchens zu achten, in die Telefonkabine der Empfangshalle und verabredete sich für den nächsten Tag. Er versuchte es auch noch bei Varo Borja in Toledo, aber dort nahm niemand ab.

Im Fernsehen lief ein Film ohne Ton: Gregory Peck unter Seehunden, Schlägerei im Tanzsaal eines Hotels, zwei Schoner, die mit geblähten Segeln durchs schäumende Meer glitten, Bord an Bord gen Norden, der echten Freiheit entgegen, die erst zehn Meilen vor der Küste beginnt. Diesseits der Mattscheibe stand auf dem Nachttisch eine Flasche Bols Gin Wache, deren Pegel weit unter die Wasserlinie gesunken war, zwischen den Neun Pforten und dem Dumas-Manuskript: ein versoffener alter Grenadier am Abend vor der Schlacht.

Lucas Corso nahm seine Brille ab und rieb sich die von Gin und Zigarettenrauch geröteten Augen. Auf dem Bett lagen, wie von einem Archäologen angeordnet, die Überreste der Nummer zwei, die er bei Victor Fargas aus dem Kamin gefischt hatte. Es war nicht viel: Die Deckel hatten aufgrund ihres Lederbezugs weniger gelitten als der Rest, bei dem es sich fast ausschließlich um verkohlte Blattränder mit einzelnen, kaum noch lesbaren Textpassagen handelte. Corso griff nach einem der brüchigen Fetzen: s; non obig.nem me. ips.sfecere, f.r q.qe die, üb. do vitam m.m sicut t.m ... Das Fragment gehörte zum unteren Teil eines Blattes, und nachdem er es eine Zeitlang eingehend studiert hatte, suchte er im Exemplar Nummer eins die entsprechende Stelle heraus. Er fand sie und noch eine weitere, die ebenfalls identisch war, auf der Seite 89. Dasselbe versuchte er nun mit allen Bruchstücken, die nur irgendwie zu identifizieren waren, und hatte bei sechzehn von ihnen Erfolg. Zweiundzwanzig konnte er nicht unterbringen, weil sie entweder zu klein oder zu stark beschädigt waren, und bei elf Fragmenten handelte es sich um Blattränder, von denen er einen einzigen - dank einer krumm geratenen 7, die er als die letzte einer dreistelligen Zahl erkannte - als zur Seite 107 gehörig identifizierte.

Corso drückte seine Zigarette im Aschenbecher aus. Ihre Glut verbrannte ihm bereits die Lippen. Danach angelte er sich die Ginflasche vom Nachttisch und nahm einen ausgiebigen Schluck. Er trug ein altes Khakihemd mit großen Taschen, dessen Ärmel er bis über die Ellbogen aufgekrempelt hatte, und eine lumpige Krawatte. Im Fernsehen umarmte der Mann aus Boston am Steuerrad des Schiffs eine russische Prinzessin, und beide bewegten stumm die Lippen und waren glücklich, sich unter einem Technicolor-Himmel zu lieben. Der Verkehr, der zwei Stockwerke tiefer in Richtung Louvre floß, ließ die Fensterscheiben leise vibrieren, aber sonst war in dem Zimmer nichts zu hören.

Ende gut, alles gut ... das war auch so ein Spleen von Nikon gewesen. Wenn sich das Filmpaar - Wolken und Violinen im Hintergrund - am Schluß küßte und »The End« auf dem Bildschirm flackerte, hatte sie oft gerührt dagesessen wie ein sentimentales kleines Mädchen. Corso erinnerte sich daran, wie sie sich im Kino manchmal an ihn gelehnt hatte oder zu Hause vor dem Fernseher, den Mund mit Käsewürfeln vollgestopft, und lange still vor sich hin weinte, ohne die Augen von der Mattscheibe zu wenden. Es gab Szenen, die sie besonders ergriffen hatten: Paul Henreid, der in Ricks Café die Marseillaise singt, Rutger Hauer, der am Ende von Blade Runner sterbend den Kopf sinken läßt, John Wayne und Maureen O’Hara vor dem Kamin in Innisfree, Custer mit Arthur Kennedy am Abend vor Little Big Hörn, Henry Fonda unterwegs zum O. K. Corral oder Mastroianni, der im Park eines Kurbades bis zur Hüfte in einem Becken watet, um den Sonnenhut einer Dame herauszufischen, und dabei nach rechts und links grüßt, elegant, unerschütterlich und in ein Paar schwarzer Augen verliebt. Nikon hatte sich ihrer Tränen nicht geschämt, ja sie war stolz darauf gewesen. >Wenn ich weine, spüre ich, daß ich lebendig bin<, sagte sie später lachend und trocknete sich die Augen, > ... daß ich ein Teil der Welt bin. Und das freut mich. Filme sind ein Gemeinschaftserlebnis. Wenn ich an Kino denke, denke ich an Kinder, die begeistert Beifall klatschen, weil das Siebte Kavallerie-Regiment auftaucht. Und Kino im Fernsehen ist sogar noch besser, weil man sich die Filme zu zweit anguckt und kommentieren kann. Deine Bücher dagegen sind etwas für Egoisten. Für Einzelgänger. Manche von ihnen kann man nicht einmal lesen, weil sie auseinanderfallen würden, sobald man sie aufschlägt. Wer sich nur für Bücher interessiert, braucht niemand anderen, und das macht mir angst.< Eine imaginäre Nikon schluckte ihren letzten Käsewürfel und beobachtete ihn mit halb geöffneten Lippen, als suche sie auf seinem Gesicht nach den ersten Anzeichen einer Krankheit, die bestimmt bald zum Ausbruch kommen würde. >Manchmal machst du mir angst.<

Ende gut, alles gut. Corso drückte auf die Fernbedienung und löschte den Bildschirm. Jetzt war er in Paris, und Nikon fotografierte irgendwo in Afrika oder auf dem Balkan Kinder mit traurigen Augen. Einmal hatte er geglaubt, sie in einer Bar im Fernsehen wiederzuerkennen, im Verlauf einer Nachrichtensendung, ganz flüchtig: Ihre Silhouette zeichnete sich gegen einen Vorhang aus Rauch und Flammen ab, während sie inmitten eines Bombardements, zwischen entsetzt durcheinanderlaufenden Flüchtlingen, aufrecht dastand, das Haar zu einem Zopf geflochten, ihre Kameras umgehängt. Nikon. Unter all den universalen Lügenstories, die sie kritiklos hinnahm, war die mit dem glücklichen Ende die absurdeste. Und wenn sie nicht gestorben sind ... Als wäre das Ergebnis dieser Gleichung definitiv und unanfechtbar. Keine Frage mehr, wie lange die Liebe währt, das Glück, nicht der leiseste Verdacht, daß auch die Ewigkeit in einzelne Menschenleben zerfällt, in Jahre, Monate. Sogar in Tage. Bis zum bitteren Ende - dem zwischen Corso und Nikon nämlich - hatte Nikon es abgelehnt, sich auch nur vorzustellen, daß der Held vielleicht schon zwei Wochen später mit seiner Yacht gegen ein Felsriff krachen und in der Südsee ertrinken konnte. Oder daß die Heldin drei Monate später von einem Auto überfahren würde. Oder daß überhaupt alles ganz anders lief, als sie es sich in ihrer Phantasie ausmalte. Gab es nicht tausend Möglichkeiten? Der eine nahm sich vielleicht eine Geliebte, der andere wurde plötzlich von Groll und Überdruß gepackt, der dritte hätte am liebsten alles wieder ungeschehen gemacht. Wie viele Nächte der Tränen, der Stille, der Einsamkeit würden jenem berühmten Kuß folgen? Welcher Krebs würde den Helden töten, noch bevor er das vierzigste Lebensjahr erreichte? Wovon würde die Heldin leben, bevor sie mit neunzig Jahren in einem Altersheim starb? Was würde aus dem schmucken Offizier werden, wenn seine Schlachten keinen mehr interessierten und seine ruhmreichen Wunden sich in scheußliche Narben verwandelten? Ein Penner? Ein klägliches Häufchen Elend? Wer konnte sagen, welche Dramen sie durchmachten, die Helden, wenn sie alt waren und nur noch herumgeschubst wurden, hilflos ausgeliefert den Stürmen der Welt, der Dummheit und Grausamkeit, der niederträchtigen Natur des Menschen? >Manchmal machst du mir angst<, Corso.

Fünf Minuten vor elf hatte er das Rätsel um Victor Fargas’ Kamin gelöst, was freilich nicht hieß, daß damit alles geklärt gewesen wäre. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr und gähnte. Dann überflog er noch einmal die Fragmente, die auf dem Bett verteilt waren. Als er den Kopf wieder hob, begegne-te er seinem eigenen Blick im Spiegel. Im Holzrahmen steckte die alte Postkarte mit den Husaren vor der Kathedrale zu Reims. Corso betrachtete sich - ungekämmtes Haar, dunkle Bartschatten auf den Wangen, ein verbogenes Brillengestell -und lachte leise. Eines jener heimtückischen, boshaft klingenden Wolfslachen, die er für besondere Momente aufsparte. Und das war ein solcher. Sämtliche Fragmente der Neun Pforten, die er hatte identifizieren können, gehörten zu Textseiten. Von den neun Bildtafeln und der Titelseite keine Spur. Das ließ zwei Vermutungen zu: Entweder sie waren verbrannt, oder aber - und das schien plausibler - irgend jemand hatte sie aus dem Buch herausgerissen und eingesteckt, bevor er den Rest ins Feuer warf. Egal, wer dieser jemand war, er - oder sie -mußte sich jedenfalls für ziemlich schlau halten . Oder sollte er nicht besser sagen, mußten sich für sehr schlau halten? Ja, vielleicht war es nach der unerwarteten Vision La Pontes und Liana Taillefers tatsächlich Zeit, sich an den Gebrauch der dritten Person Plural zu gewöhnen. Jetzt ging es vor allem darum herauszufinden, ob es sich bei den Fährten, die er da aufgespürt hatte, um Fehler des Gegners handelte oder um ausgeklügelte Ablenkungsmanöver. Und da gerade von Ablenkungsmanövern die Rede ist: Es klopfte, und als Corso die Tür öffnete - nicht ohne vorher das Exemplar Nummer eins und den Dumas-Ordner rasch unter die Bettdecke gesteckt zu haben -, stand das Mädchen auf der Schwelle. Sie war barfuß und trug ein weißes T-Shirt über ihren Jeans.

»Hallo, Corso. Ich hoffe, du hast nicht vor, heute nacht noch auszugehen.«

Sie blieb im Korridor stehen, die Daumen in den Taschen ihrer enganliegenden Hose, und runzelte die Stirn in Erwartung schlechter Nachrichten.

»Nein, heute brauchst du keine Wache mehr zu schieben.«

Sie lächelte erleichert.

»Ich falle um vor Müdigkeit.«

Corso wandte ihr den Rücken zu und ging zu einem Nachttisch, auf dem die Flasche stand. Als er sah, daß sie leer war, begann er in der Minibar herumzukramen, bis er triumphierend ein Fläschchen Gin hochhielt. Er goß es in ein Glas und benetzte sich die Lippen. Das Mädchen stand immer noch im Türrahmen.

»Sie haben die Holzschnitte geklaut. Alle neun.« Corso deutete mit der Hand, in der er das Glas hielt, auf die Fragmente der Nummer zwei. »Den Rest haben sie ins Feuer geworfen, um den Diebstahl zu vertuschen. Dabei wurde aber achtgegeben, daß einzelne Fragmente übrig bleiben. So kann das Buch identifiziert und offiziell für verbrannt erklärt wDaieMädchen neigte den Kopf zur Seite und betrachtete ihn.

»Du bist schlau.«

»Klar bin ich das. Deswegen haben sie mich ja mit dieser Sache beauftragt.«

Jetzt entschloß sich das Mädchen, doch einzutreten. Corso betrachtete ihre nackten Füße neben dem Bett. Ihre Augen wanderten über die verkohlten Papierfetzen.

»Fargas hat das Buch jedenfalls nicht verbrannt«, stellte er fest. »Dazu wäre er niemals in der Lage gewesen . Was haben sie mit ihm gemacht? Einen Selbstmord inszeniert, wie mit Enrique Taillefer?«

Das Mädchen erwiderte nichts. Sie hatte eines der Fragmente in die Hand genommen und versuchte zu entziffern, was darauf geschrieben stand.

»Beantworte dir deine Fragen selbst«, sagte sie nach einer Weile, ohne ihn anzusehen. »Deswegen haben sie dich doch mit dieser Sache beauftragt, oder?«

»Und du?«

Sie las und bewegte dabei stumm die Lippen, als wäre ihr der Text vertraut. Als sie das Fragment wieder auf die Bettdecke zurücklegte, schlich sich ein vielsagendes, nostalgisches Lächeln in ihre Mundwinkel, das überhaupt nicht zu ihrem jungen Gesicht passen wollte.

»Das weißt du doch: Ich bin hier, um auf dich achtzugeben. Du brauchst mich.«

»Was ich brauche, ist mehr Gin.«

Er fluchte mit zusammengebissenen Zähnen und nahm den letzten Schluck aus der Flasche, um seinen Ärger hinunterzuspülen oder seine Verwirrung. Smaragdgrün und schneeweiß, die Augen und das Lächeln in dem sonnenverbrannten Gesicht, der schlanke, nackte Hals, auf dem eine feine Ader pulsierte. Verdammt und zugenäht! Was soll der Quatsch, Corso? Weiß kaum noch, wo ihm der Kopf steht, und befaßt sich mit braunen Armen, zierlichen Handgelenken, schmalen, langen Fingern. Gibt sich mit solchem Unsinn ab. Plötzlich fiel ihm auf, daß sich unter dem T-Shirt des Mädchens zwei herrliche Brüste abzeichneten, die er bisher noch gar nicht recht in Augenschein genommen hatte. Seine Intuition sagte ihm, daß sie braun und schwer waren, dunkles Fleisch unter dem weißen Baumwoll-hemd, eine Haut, auf der Licht und Schatten spielten. Und dann wunderte er sich wieder über ihre Größe. Sie war mindestens so groß wie er.

»Wer bist du?«

»Der Teufel«, sagte sie. »Der verliebte Teufel.«

Dann brach sie in schallendes Gelächter aus. Das Buch von Cazotte lag neben dem Memorial von St. Helena auf der Kommode. Das Mädchen betrachtete es, ohne es zu berühren. Dann legte sie einen Finger auf seinen Deckel und sah Corso an.

»Glaubst du an den Teufel?«

»Ich werde dafür bezahlt, daß ich an ihn glaube. Wenigstens für die Dauer dieses Auftrags.«

Sie nickte bedächtig mit dem Kopf, als hätte sie seine Antwort schon erwartet, und beobachtete Corso mit halb geöffneten Lippen, neugierig, als laure sie auf ein Zeichen oder eine Geste, die nur sie zu deuten verstand.

»Weißt du, warum mir dieses Buch gefällt?«

»Nein. Sag es mir.«

»Weil die Heldin aufrichtig ist. Sie wendet ihre Liebe nicht einfach als List an, um in den Besitz einer Seele zu gelangen. Biondetta ist jung und ohne Falsch, sie liebt an Alvaro dieselben Dinge, die der Teufel am Menschen bewundert: seinen Mut, seine Unabhängigkeit ...« Ihre Wimpern verschleierten einen Moment lang die schillernde Iris. »Seinen Wissensdrang und seine Geistesschärfe.«

»Du scheinst mir ja ziemlich gut informiert. Was weißt du von diesen Dingen?«

»Viel mehr, als du dir vorstellen kannst.«

»Ich stelle mir überhaupt nichts vor. Ich beziehe meine Kenntnisse darüber, was der Teufel mag und was er verabscheut, ausschließlich aus der Literatur: Das verlorene Para-dies, die Divina Commedia, Die Brüder Karamasow und natürlich Faust.« Er machte eine vage Geste. »Mein Luzifer ist ein Luzifer aus zweiter Hand.«

Das Mädchen setzte ein spöttische Miene auf.

»Und welcher von ihnen gefällt dir am besten? Der von Dante?«

»Um Himmels willen! Der ist ja wirklich grauenerregend. Viel zu mittelalterlich für meinen Geschmack.«

»Mephistopheles?«

»Nein, auch nicht. Der tut so affektiert und erinnert mich mit seinen billigen Tricks immer an einen Winkeladvokaten. Ein richtiger Schlauberger ... Außerdem kann ich Typen nicht leiden, die dauernd grinsen.«

»Und was ist mit dem aus den Brüdern Karamasow?«

Corso verzog angewidert das Gesicht.

»Ein Fiesling. Vulgär wie ein Beamter mit schmutzigen Fingernägeln.« Er hielt inne und dachte eine Weile nach. »Ich glaube, mir ist der gefallene Engel von Milton am liebsten«, sagte er dann und sah sie fragend an. »Das war es doch, was du hören wolltest, nicht?«

Sie lächelte geheimnisvoll. Ihre Daumen hingen immer noch in den Taschen ihrer Bluejeans, die hauteng an ihren Hüften anlagen. Er hatte noch nie jemanden gesehen, dem Jeans so gut standen wie ihr. Natürlich brauchte es dazu auch diese langen Beine: die Beine einer jungen Tramperin, Rucksack im Straßengraben und alles Licht der Welt in den verhexten grünen Augen.

»Wie stellst du dir Luzifer vor?« fragte sie ihn.

»Keine Ahnung.« Der Bücherjäger dachte einen Moment lang nach, bevor er gleichgültig mit der Schulter zuckte. »Schweigsam und verschlossen, denke ich. Gelangweilt.« Er schnitt eine säuerliche Grimasse. »Auf seinem Thron mitten in einem öden Saal, im Zentrum eines wüsten, kalten und monotonen Reichs,

in dem nie etwas passiert.«

Sie betrachtete ihn stumm.

»Du überraschst mich, Corso«, sagte sie endlich und wirkte echt beeindruckt.

»Warum? Jeder kann Milton lesen. Sogar ich.«

Er sah, wie sie langsam um das Bett herumging, im Halbkreis, immer dieselbe Entfernung einhaltend, bis sie zwischen ihm und der Lampe stand, die das Zimmer erhellte. Damit hatte sie - ob zufällig oder absichtlich - eine Position eingenommen, in der ihr Schatten auf die Fragmente der Neun Pforten fiel, die über die Bettdecke verteilt waren.

»Du hast soeben den Preis genannt.« Im Schein des von hinten kommenden Lichts zeichneten sich jetzt nur die Umrisse ihres Kopfes ab, während das Gesicht im Schatten lag. »Stolz, Freiheit . Wissen. Am Anfang oder am Ende muß man für alles bezahlen. Sogar für den Mut, glaubst du nicht? Findest du nicht auch, daß sehr viel Mut dazu gehört, Gott die Stirn zu bieten?«

Ihre Worte waren nur ein Flüstern in der Stille, die durch die Tür- und Fensterritzen kroch und sich langsam im Zimmer ausbreitete. Selbst das Rauschen des Verkehrs, draußen auf der Straße, schien verstummt zu sein. Corso betrachtete abwechselnd die beiden Silhouetten: eine in Form ihres Schattens, der sich auf dem Bett und auf den Buchfragmenten abzeichnete, die andere leiblich und aufrecht im Schein der Lampe. Und in diesem Augenblick fragte sich Corso, welche der beiden wohl realer war.

»Mit all diesen Erzengeln«, fügte sie oder ihr Schatten hinzu. Verachtung und Groll klangen aus dem Satz, und beinahe war es Corso, als höre er einen abfälligen Seufzer aus ihm heraus. »Schön. Perfekt. Diszipliniert wie Nazis.«

In diesem Moment wirkte sie überhaupt nicht jung. Ja, sie schien eine jahrhundertealte Müdigkeit mit sich herumzuschleppen - ein unheimliches Erbe, die Bürde einer Schuld, die Corso in seiner Verwunderung und Konfusion nicht zu interpretieren wußte. Vielleicht war letzten Endes weder der Schatten auf dem Bett noch die Silhouette real, die sich im Gegenlicht der Lampe abzeichnete.

»Im Prado hängt ein Bild, erinnerst du dich, Corso? Männer, die mit nichts als einem Messer bewaffnet sind, und Reiter, die mit Säbeln auf sie eindringen. Ich habe mir immer vorgestellt, daß der rebellierende Engel vor seinem Fall dieselben verirrten Augen hatte, wie diese Unglücklichen mit ihren Messern. Aus ihrem Blick spricht der Mut der Verzweiflung.«

Sie war beim Sprechen ein wenig zur Seite getreten, nur wenige Zentimeter, aber dabei war auch ihr Schatten in Bewegung geraten und hatte sich Corso genähert, als besitze er einen eigenen Willen.

»Was weißt du von diesen Dingen?« fragte er sie zum zweitenmal.

»Mehr, als mir lieb ist.«

Ihr Schatten bedeckte jetzt alle Fragmente des Buches und berührte beinahe den von Corso. Der Bücherjäger zog sich instinktiv zurück, so daß ein schmaler Streifen Licht zwischen beider Schatten verblieb.

»Stell ihn dir vor«, fuhr sie versonnen fort. »Ganz allein in seinem leeren Palast schmiedet der schönste aller gefallenen Engel seine Ränke, widmet sich mit größter Sorgfalt einer Routinebeschäftigung, die er im Grunde verabscheut, die ihm aber wenigstens hilft, seine Verzweiflung zu vergessen. Sein Scheitern . « Das Lachen des Mädchens klang freudlos und leise, als käme es von weit, weit her. »Er hat Heimweh nach dem Himmel.«

Ihre Schatten waren sich jetzt ganz nahe, beinahe ineinander und mit den Papierfetzen verschmolzen, die das Feuer im Kamin der Quinta da Soledade überlebt hatten: das Mädchen und Corso, dort, auf der Bettdecke, zwischen den neuen Pforten ins Reich anderer Schatten oder vielleicht auch derselben. Verkohlte Fragmente, unvollständige Chiffrenschlüssel und ein Geheimnis, das mehrfach verschleiert worden war: von einem Buchdrucker, von der Zeit und vom Feuer. Enrique Taillefer baumelte am Seidengürtel seines Morgenmantels von der Wohnzimmerlampe. Victor Fargas schwamm, das Gesicht nach unten, im trüben Wasser eines Teiches. Aristide Torchia brannte auf dem Campo dei Fiori und rief den Vater an, aber sein Blick war nicht zum Himmel gerichtet, sondern zur Erde unter seinen Füßen. Und der alte Dumas saß oben auf dem Gipfel der Welt und schrieb Romane, während hier unten, in Paris, ganz in der Nähe des Ortes, an dem Corso sich in diesem Augenblick befand, ein anderer Schatten, der Schatten eines Kardinals, dessen Bibliothek zu viele Bücher über den Teufel enthielt, auf der Kehrseite des Geheimnisses die Fäden einer Intrige spann.

Das Mädchen, oder ihre Silhouette im Gegenlicht, bewegte sich auf den Bücherjäger zu. Minimal, gerade nur einen Schritt, aber der genügte, um seinen Schatten auf dem Bett völlig unter dem ihren zu begraben.

»Noch viel schlimmer steht es um diejenigen, die ihm gefolgt sind.« Corso begriff nicht sofort, wovon sie sprach. »Die er mit sich in die Tiefe gerissen hat: Soldaten, Boten, amtliche oder freiwillige Diener. Auch Söldner, wie du ... Den meisten von ihnen war nicht einmal klar, worum es ging. Daß es galt, zwischen Unterwerfung und Freiheit zu wählen, zwischen der Seite des Schöpfers und der Seite des Menschen. Sie sind ihrem Anführer aus purer Routine, aus der absurden Loyalität treuer Krieger heraus, in die Rebellion und in den Untergang gefolgt.«

»Wie die zehntausend Söldner des Xenophon«, warf Corso spöttisch ein.

Sie schwieg, als wundere sie sich über seine treffende Bemerkung.

»Vielleicht irren sie noch immer verloren durch die Welt«, murmelte sie nach einer Weile, »und warten darauf, daß ihr Anführer sie wieder heimbringt.«

Der Bücherjäger bückte sich nach einer Zigarette und gewann dabei seinen Schatten zurück. Dann knipste er eine zweite Lampe an, die neben ihm auf dem Nachttisch stand.

Das Licht löste die dunkle Silhouette des Mädchens auf und beschien ihr Gesicht. Ihre leuchtenden Augen waren auf ihn gerichtet, und sie wirkte jetzt wieder sehr jung.

»Ergreifend«, sagte Corso. »Alle diese alten Krieger, die das Meer suchen.«

Er sah, wie sie blinzelte, als verstehe sie nicht recht, wovon er sprach, jetzt, wo ihr Gesicht nicht mehr im Schatten lag. Auch vom Bett waren alle Schatten verschwunden: Die Fragmente des Buches waren nichts als verkohlte Papierfetzen, die der leiseste Luftzug durcheinandergewirbelt hätte.

Sie lächelte. Irene Adler, Baker Street 223 B. Das Café in Madrid, der Zug, der Morgen in Sintra ... Die verlorene Schlacht, die Anabasis der besiegten Heerschar: zu viele Erinnerungen für ein so junges Leben. Sie lächelte verschmitzt und unschuldig zugleich, wie ein kleines Kind, mit leichten Spuren der Erschöpfung unter den Augen. Schläfrig und warm.

Corso schluckte. Ein Teil seiner selbst hätte sich am liebsten auf sie gestürzt, um ihr das weiße T-Shirt von der braunen Haut zu reißen, den Zippverschluß ihrer Jeans nach unten zu zerren und sie aufs Bett zu werfen, auf die Fetzen des Buches, mit denen sich die Schatten beschwören ließen. Um in ihr warmes Fleisch einzutauchen und mit Gott und dem Teufel abzurechnen, mit der unerbittlichen Zeit, mit seinen eigenen Phantasmen, mit dem Tod und mit dem Leben. Aber er beschränkte sich darauf, eine Zigarette anzuzünden und schweigend den Rauch auszustoßen.

Sie beobachtete ihn lange, als warte sie auf etwas - eine Geste, ein Wort. Dann sagte sie »gute Nacht« und schickte sich an zu gehen. Als sie bereits auf der Türschwelle stand, drehte sie sich noch einmal um, hob langsam eine Hand, den Handteller nach innen, und wies mit Zeige- und Mittelfinger nach oben. Und dabei lächelte sie, zärtlich und komplizenhaft zugleich, naiv und weise. Wie ein gefallener Engel, der wehmütig zum Himmel zeigt.

Auf den Wangen von Baronin Frida Ungern erschienen nette Grübchen, wenn sie lächelte. Ja, in Wirklichkeit zeigte ihr Gesicht einen Ausdruck permanenter Freundlichkeit, als habe sie während der letzten siebzig Jahre ununterbrochen gelächelt. Corso, der ein ausgesprochen frühreifer Leser gewesen war, wußte von klein auf, daß es viele Arten von Hexen gibt: Stiefmütter, böse Feen, schöne und perverse Königinnen, sogar heimtückische alte Weiber mit Warzen auf der Nase. Aber es wollte ihm trotz der vielen Geschichten, die er über die greise Baronin gehört hatte, nicht gelingen, sie einer der üblichen Kategorien zuzuordnen. Sie hätte zu jenen betagten Damen gehören können, die sich - wie in einen Traum eingebettet -am Rande der Realität bewegen, ohne von den unangenehmen Seiten des Daseins tangiert zu werden . Wenn die Tiefgründigkeit ihrer intelligenten, flinken und mißtrauischen Augen diesem ersten Eindruck nicht widersprochen hätte. Und wenn der rechte Ärmel ihrer Strickweste nicht leer heruntergehangen wäre, weil ihr der Arm oberhalb des Ellbogen amputiert worden war. Im übrigen war sie klein und pummelig und hatte viel von einer Französischlehrerin eines Pensionats für vornehme Fräuleins. Aus der Zeit, als es noch vornehme Fräuleins gab. Das war es wenigstens, was Corso durch den Kopf ging, während er ihr graues Haar betrachtete, das im Nacken aufgesteckt war, und die maskulin wirkenden Halbschuhe, zu denen sie kurze weiße Söckchen trug.

»Corso, nicht? Freut mich, Sie kennenzulernen, Monsieur.« Sie reichte ihm die linke und einzige Hand, die winzig war wie alles an ihr, und setzte ihr Grübchenlächeln auf. Ihr Handschlag war überraschend energisch. Der leichte Akzent, den sie beim Sprechen hatte, klang eher deutsch als französisch. Corso erinnerte sich, irgendwo etwas von einem gewissen »von Ungern« gelesen zu haben, der sich Anfang der zwanziger Jahre in der Mandschurei oder in der Mongolei einen Namen gemacht hatte: eine Art Kriegsherr, der an der Spitze eines zerlumpten Söldnerheers bis zuletzt gegen die Rote Armee gekämpft hatte. Mit Panzerzügen, Plünderungen, Metzeleien und ähnlichen Greueln, einschließlich Epilog im Morgengrauen, vor einem Exekutionskommando. Ob er etwas mit ihr zu tun hätte?

»Das war ein Großonkel meines Mannes. Seine Familie ist vor der Revolution nach Frankreich emigriert. Es ist ihr sogar gelungen, ein bißchen Geld herüberzuretten.« Aus ihren Worten klang weder Stolz noch Wehmut. Das waren andere Zeiten, andere Leute, anderes Blut, sagte die Geste der alten Dame. Fremde, die gestorben waren, noch bevor sie das Licht der Welt erblickt hatte.

»Ich bin in Deutschland geboren. Meine Familie hat unter den Nazis alles verloren. Nach dem Krieg habe ich mich hier in Frankreich verheiratet.« Sie brach vorsichtig das welke Blatt einer Topfpflanze ab, die auf dem Fenstersims stand, und lächelte ein wenig. »Der Mottenkugelgeruch meiner Schwiegereltern war mir immer zuwider: das Heimweh nach St. Petersburg, der Geburtstag des Zaren . Als müßten sie Totenwache halten.«

Corso betrachtete ihren Schreibtisch, auf dem sich dicke Wälzer häuften, und die berstend vollen Wandregale. Er schätzte die Zahl der Bücher auf tausend, und das nur in diesem Zimmer, wo allem Anschein nach die seltensten oder wertvollsten Exemplare aufbewahrt wurden, angefangen von modernen Ausgaben bis hin zu alten, ledergebundenen Stükken.

»Und was ist damit?« fragte er mit Blick auf die vielen Bücher.

»Das ist etwas anderes. Damit werden ernsthafte Studien betrieben, kein Kult. Diese Werke sind Arbeitsmaterial.«

Schlechte Zeiten, dachte Corso, wenn die Hexen, oder wie immer man sie nennen wollte, von ihren Schwiegereltern erzählen und ihre Giftkessel gegen Bibliotheken, Karteikästen und einen Platz auf den Bestsellerlisten der größten Tageszeitungen eintauschen. Durch die offene Tür konnte er sehen, daß auch die anderen Zimmer und der Gang mit Büchern vollgestopft waren. Bücher und Pflanzen. Überall standen Blumentöpfe herum: vor den Fenstern, auf dem Boden, in den Holzregalen. Die Wohnung war sehr groß und sehr teuer, mit Blick auf die Seine und - früher einmal - auf die Scheiterhaufen der Inquisition. An verschiedenen Lesetischen saßen junge Leute, die nach Studenten aussahen, und die Wände waren von oben bis unten mit Büchern bedeckt. Zwischen grünen Blättern glänzten die Vergoldungen alter Einbände. Die Stiftung Ungern ist die bedeutendste Fachbibliothek für okkulte Wissenschaften in ganz Europa. Corso warf einen Blick auf die Bände in seiner Nähe: Daemonolatriae Libri von Nikolas Remy. Compendium Maleficarum, Francesco Maria Guazzo. De Daemonialitate et Incubus et Sucubus, Ludovico Sinsitrari ... Außer einem der besten Kataloge über Dämonologie und der Stiftung, die den Namen ihres verblichenen Gatten trug, besaß die Baronin auch einen soliden Ruf als Autorin von Büchern über Schwarze Magie und Hexerei. Ihr letztes Werk: Die nackte Isis, gehörte seit drei Jahren zu den meistverkauften Büchern. Kein geringerer als der Papst hatte - unbeabsichtigt -die Werbetrommel gerührt, indem er den Text offiziell anprangerte, weil er unheimliche und unheilige Bezüge herstelle zwischen der heidnischen Göttin und der Mutter Gottes: acht Auflagen in Frankreich, zwölf in Spanien, und siebzehn im katholischen Italien.

»Woran arbeiten Sie im Augenblick?«

»Der Teufel: Geschichte und Legende. Eine Art perverser Biographie, die Anfang des Jahres fertig wird.«

Corso war vor einer Bücherreihe stehengeblieben, in der er das Disquisitionum Magicarum von Martin del Rio entdeckt hatte, und zwar alle drei Bände der Lovainer Erstausgabe, 1599-1600: ein Klassiker der Schwarzen Magie.

»Wo haben Sie das erstanden?«

Frida Ungern zögerte einen Augenblick, unschlüssig, ob sie ihm diese Information geben sollte oder nicht.

»1989, auf einer Versteigerung in Madrid. Ich habe es Ihrem Landsmann Varo Borja weggeschnappt, und das hat mich einige Mühe gekostet.« Sie seufzte, als wäre sie noch immer erschöpft von dieser Anstrengung. »Und sehr viel Geld. Ohne die Unterstützung von Paco Montegrifo hätte ich es nie bekommen, ein reizender Mensch. Kennen Sie ihn?«

Corso grinste scheel. Und ob er Montegrifo, den Direktor der spanischen Filiale von Claymore, kannte! Sie arbeiteten sogar oft zusammen, besonders wenn es um etwas zweifelhafte, aber sehr rentable Operationen ging, wie den Verkauf einer Cosmographia von Ptolemäus an einen Schweizer Sammler. Eine Handschrift aus dem Jahre 1456, die erst vor kurzem unter mysteriösen Umständen aus der Universitätsbibliothek von Salamanca verschwunden war. Irgendwie war sie in Montegri-fos Hände gelangt, und der hatte sich an Corso in seiner Eigenschaft als Mittelsmann gewandt. Nachdem die Gebrüder Ceniza noch einen allzu verräterischen Stempel entfernt hatten, war die Sache diskret und sauber abgewickelt worden. Corso selbst hatte als Bote fungiert und das Buch nach Lausanne befördert. Alles inklusive für eine Kommission von dreißig Prozent.

»Ja, ich kenne den Herrn.« Er strich mit den Fingern über die Rücken der drei Bände des Disquisitionum Magicarum und fragte sich dabei, wieviel Montegrifo wohl dafür verlangt hatte, die Versteigerung zugunsten der Baronin zu manipulieren. »Und was den Martin del Rio betrifft, so habe ich bisher nur einen davon gesehen, in der Jesuitenbibliothek in Bilbao. Es ist dieselbe Ausgabe, wenn auch in einem einzigen Lederband zusammengefaßt.«

Beim Sprechen wanderte seine Hand an der Buchreihe entlang nach links: Es waren interessante Exemplare darunter, mit wertvollen Einbänden aus Velin, Chagrin oder Pergament. Aber viele waren mittelmäßig oder in schlechtem Zustand und wirkten sehr abgenützt. In fast allen steckten Lesezeichen in Form weißer Pappstreifen, die in winziger, spitzer Schrift eng beschrieben waren. Arbeitsmaterial. Corso hielt inne, als sein Finger bei einem Buch anlangte, das ihm bestens vertraut war: schwarz, ohne Titel, fünf Bünde auf dem Rücken. Die Nummer drei. »Seit wann haben Sie das?«

Corso wußte natürlich, daß diese heikle Geschichte ein behutsames Vorgehen nahelegte. Aber er hatte die ganze Nacht über der Asche der Nummer zwei verbracht und konnte nicht verhindern, daß die Baronin Ungern einen seltsamen Unterton in seiner Stimme wahrnahm. Er merkte, daß sie ihn trotz der gutmütigen Grübchen in ihrem jugendlich wirkenden Greisengesicht mißtrauisch ansah.

»Die Neun Pforten? Ich weiß nicht. Sehr lange.«

Ihre linke Hand bewegte sich rasch und sicher. Sie zog das Buch mühelos aus dem Regal, stützte es auf ihren Unterarm und öffnete es mit zwei Fingern beim Vorsatz, der Innendeckel war mit mehreren teils sehr alten Exlibris geschmückt. Das letzte hatte die Form einer Arabeske mit dem Namen »von Ungern«. Das Datum war in Tinte darüber geschrieben, und sie nickte, während sie es las, als könne sie sich jetzt wieder erinnern.

»Ein Geschenk meines Mannes. Ich habe sehr jung geheiratet, und er war doppelt so alt wie ich ... Das Buch hat er 1949 gekauft.«

Das ist der Nachteil an den modernen Hexen, dachte Corso. Sie haben auch keine Geheimnisse mehr. Alles liegt offen auf der Hand und kann in einem x-beliebigen »Who’s who« oder in einer Illustrierten nachgelesen werden. Und wenn sie sich dreimal Baronin nannten: Sie waren einfach durchschaubar geworden. Vulgär. Torquemada wäre unter diesen Bedingungen vor Langeweile verrückt geworden.

»Hat sich Ihr Gatte auch für dieses Thema interessiert?«

»Keine Spur. Der hat überhaupt keine Bücher gelesen. Aber er hat mir jeden Wunsch erfüllt - wie der Geist aus der Wunderlampe.« Einen Augenblick schien es, als wolle sie sich mit dem leeren Ärmel ihrer Strickjacke an den Kopf fassen. »Ein wertvolles Buch oder eine teure Perlenkette, das machte für ihn keinen Unterschied ...« Sie hielt inne und lächelte wehmütig. »Er war ein lustiger Mensch und hat es fertiggebracht, die Frauen seiner besten Freunde zu verführen. Und er konnte exzellente Champagner-Cocktails zubereiten.«

Sie schwieg einen Moment lang und sah sich um, als befände sich irgendwo in dem Zimmer noch ein Glas, das ihr Mann dort abgestellt hatte.

»Das alles«, fuhr sie fort, indem sie mit einer ausholenden Armbewegung auf die Bibliothek deutete, »habe ich alleine zusammengetragen. Buch um Buch. Sogar die Neun Pforten habe ich selbst ausgewählt, nachdem ich sie im Katalog eines verarmten alten Petain-Anhängers entdeckt hatte. Mein Mann

hat nur den Scheck unterschrieben.«

»Warum ausgerechnet der Teufel?«

»Weil ich ihm eines Tages begegnet bin. Ich war damals fünfzehn Jahre alt und habe ihn vor mir gesehen, wie ich Sie jetzt sehe. Er trug einen steifen Kragen, Stock und Hut, und er war sehr hübsch. Er sah aus wie John Barrymore als Baron Gaigern ... Ich habe mich rettungslos in ihn verliebt.« Die winzige Hand in der Westenjacke versteckt, starrte sie versonnen vor sich hin und schmunzelte. »Vielleicht habe ich mich deshalb nie über die Seitensprünge meines Mannes beklagt.«

Corso spähte um sich, als wollte er sich vergewissern, daß sie auch wirklich allein im Zimmer waren, und beugte sich dann vertraulich zu ihr hinüber.

»Noch vor dreihundert Jahren hätte man sie für ein solches Geständnis verbrannt.«

Die Baronin unterdrückte ein Kichern und gab ein zufriedenes Gurren von sich, während sie sich auf die Zehenspitzen stellte und seinem Ohr näherte.

»Vor dreihundert Jahren hätte ich niemandem dieses Geständnis gemacht«, flüsterte sie geheimnisvoll. »Aber ich kenne genug Leute, die mich mit dem größten Vergnügen auf den Scheiterhaufen bringen würden.« Ihre Grübchen begleiteten ein erneutes Lächeln. Diese Frau lächelt immer, entschied Corso bei sich. Aber ihre heiter glänzenden Augen blieben wachsam auf ihn gerichtet. »Und das mitten im 20. Jahrhundert.«

Sie reichte ihm die Neun Pforten und beobachtete ihn aufmerksam, wie er das Buch langsam durchblätterte. Er gab sich alle Mühe, seine Ungeduld zu verbergen. Am liebsten hätte er sofort begonnen, nach möglichen Unterschieden in den Bildtafeln zu suchen, die im übrigen vollständig waren, wie er mit einem heimlichen Seufzer der Erleichterung feststellte. Die Bibliographie von Mateu enthielt also einen Fehler: In keinem der drei Exemplare fehlte die letzte Bildtafel. Die Nummer drei war stärker beschädigt als das Exemplar Varo Borjas und auch als das von Victor Fargas, bevor es durchs Feuer gegangen war: Nahezu alle Seiten hatten Flecken, da der untere Teil des Buches einmal feucht geworden war. Auch der Einband hätte gründlich restauriert werden müssen, aber wenigstens schien das Exemplar vollständig zu sein.

»Möchten Sie etwas trinken?« fragte die Baronin. »Ich kann Ihnen Kaffee oder schwarzen Tee anbieten.«

Kein Zaubertrank, kein Wurzelgebräu, dachte Corso resigniert. Nicht einmal ein banaler Kräutertee.

»Kaffee, bitte.«

Es war ein sonniger Tag, und der Himmel über den nahe gelegenen Türmen von Notre-Dame strahlte azurblau. Corso ging zu einem Fenster und schob die Scheibengardinen etwas zurück, um das Buch in besserem Licht betrachten zu können. Zwei Etagen tiefer saß das Mädchen in seinem blauen Kapuzenmantel auf einer Bank zwischen den kahlen Bäumen des Seineufers und las ein Buch. Er wußte, daß es die Drei Musketiere waren, denn die trug sie bei sich, als sie einander beim Frühstück getroffen hatten. Später war der Bücherjäger die Rue de Rivoli entlanggegangen, wohl wissend, daß ihm das Mädchen in einer Entfernung von fünfzehn bis zwanzig Schritten folgte. Aber er hatte sie absichtlich ignoriert, und sie war nicht näher gekommen. Jetzt merkte er, daß sie die Augen hob. Obwohl sie Corso zweifellos sehen konnte, wie er mit den Neun Pforten in der Hand am Fenster stand, gab sie durch nichts zu verstehen, daß sie ihn erkannt hatte, und beschränkte sich darauf, reglos heraufzuschauen, bis er sich ins Innere des Zimmers zurückzog. Als Corso später noch einmal hinausblickte, hatte sie den Kopf wieder über ihren Roman gebeugt.

Es gab eine Sekretärin, eine Frau mittleren Alters mit einer dicken Hornbrille, die zwischen den Büchern und Tischen umherhuschte, aber Frida Ungern servierte den Kaffee persönlich: zwei Tassen auf einem silbernen Tablett, das sie geschickt balancierte. Ein Blick von ihr genügte, um Corso davon abzubringen, ihr seine Hilfe anzubieten. Sie ließen sich beide an ihrem Schreibtisch nieder, wo sie das Tablett sicher zwischen Büchern, Blumentöpfen, Akten und Notizzetteln abstellte.

»Wie sind Sie auf die Idee mit der Stiftung gekommen?« »Steuererleichterungen ... Außerdem kommen mich hier viele Leute besuchen, und ich mache interessante Bekanntschaften, die mir auch für meine Studien nützlich sind .« Sie setzte ein melancholisches Lächeln auf. »Ich bin die letzte Hexe und habe mich einsam gefühlt.«

»Hexe? Aber was sagen Sie denn da . « Corso setzte das passende Gesicht auf: schlagfertiges, nettes Häschen. »Ich habe Ihre Isis gelesen.«

Die Baronin hielt die Kaffeetasse in der linken Hand und hob ein wenig den Stumpf des anderen Arms, während sie gleichzeitig den Kopf neigte, als wolle sie ihr Haar im Nacken ordnen. Diese Geste wirkte überhaupt nicht geziert. Sie war spontan und zugleich alt wie die Welt selbst . eine unbewußte Koketterie der alten Dame. »Und hat sie Ihnen gefallen?« »Sehr.«

»Anderen überhaupt nicht. Wissen Sie, was der Osservatore Romano beanstandet hat? Daß ich den Index der Inquisition unterschlagen habe.« Sie deutete mit dem Kinn auf die Neun Pforten, die Corso neben sich auf den Tisch gelegt hatte. »Sie haben schon recht: In anderen Zeiten wäre ich bei lebendigem Leibe verbrannt worden, wie der Ärmste, der dieses Evangelium nach Beelzebub verfaßt hat.« »Glauben Sie wirklich an den Teufel, Baronin?« »Nennen Sie mich nicht Baronin. Das klingt lächerlich.« »Wie möchten Sie denn angesprochen werden?« »Ich weiß nicht. Frau Ungern. Oder Frida.« »Glauben Sie an den Teufel, Frau Ungern?« »Meinen Sie, ich hätte ihm mein Leben, meine Bibliothek, diese Stiftung und viele Jahre Arbeit gewidmet, wenn ich nicht an ihn glaubte?« Sie musterte Corso neugierig. Er hatte seine Brille abgenommen, um die Gläser zu putzen, und das hilflose Lächeln, das er dabei aufsetzte, vervollständigte den Effekt. »Und Sie?«

»Das werde ich in letzter Zeit von allen gefragt.«

»Klar. Schließlich stellen Sie Nachforschungen über ein Buch an, dessen Lektüre eine gewisse Art von Glauben voraussetzt.«

»Mit meinem Glauben ist es nicht weit her«, gestand Corso und riskierte einen Anflug von Ehrlichkeit - genau den Grad von Offenheit, der sich für gewöhnlich auszahlte. »In Wirklichkeit arbeite ich für Geld.«

Ihre Grübchen wurden tiefer. Vor fünfzig Jahren muß sie sehr schön gewesen sein, dachte Corso. Damals, als sie Geister beschwor, oder was auch immer, und noch beide Arme dran waren . klein und temperamentvoll . Man sah es ihr heute noch an.

»Schade«, erwiderte Frida Ungern. »Andere, die kostenlos gearbeitet haben, waren felsenfest davon überzeugt, daß es den Protagonisten dieses Buches tatsächlich gibt. Albertus Magnus, Raimundus Lullus, Roger Bacon, sie alle haben nie über die Existenz des Teufels diskutiert, sondern nur über die Beschaffenheit seiner Attribute.«

Corso rückte seine Brille zurecht und setzte ein haarscharf dosiertes Lächeln auf.

»Das waren noch andere Zeiten.«

»Nun, wir brauchen gar nicht so weit zurückzugehen. Der Teufel existiert nicht nur als Symbol des Bösen, sondern in leibhaftiger Form ...Was sagen Sie dazu? Das hat Papst Paul VI. im Jahr 1974 geschrieben.«

»Und der war ein Profi«, gab Corso schulterzuckend zu. »Wenn der es nicht wußte .«

»In Wahrheit hat er bloß ein altes Dogma bekräftigt: Die Existenz des Teufels ist 1215 im vierten Laterankonzil festgelegt worden.« Sie unterbrach sich und warf ihm einen zweifelnden Blick zu. »Interessieren Sie diese Daten? Ich weiß, daß ich den Leuten mit meiner Gelehrtheit ganz schön auf den Wecker gehen kann.« Und wieder erschienen die Grübchen. »Ich wollte schon immer die Klassenbeste sein. Das kluge Mäuschen.«

»Und das waren Sie bestimmt. Haben Sie auch Auszeichnungen bekommen?«

»Natürlich. Und die anderen Mädchen haben mich deswegen gehaßt.«

Sie lachten beide, und der Bücherjäger wußte, daß er Frida Ungern jetzt auf seiner Seite hatte. Er zog also zwei Zigaretten aus der Manteltasche und bot ihr eine davon an, aber sie lehnte ab und machte eine vorwurfsvolle Miene. Corso ging nicht darauf ein und zündete sich eine Zigarette an.

»Zwei Jahrhunderte später«, fuhr die Baronin fort, während Corso noch über das brennende Streichholz gebeugt war, »verkündete Papst Innozenz VIII. in der Bulle Summis Deside-rantes Affectibus, daß Westeuropa mit Dämonen und Hexen verseucht sei. Daraufhin verfaßten die beiden Dominikanermönche Kramer und Sprenger den Malleus Maleficarum: den >Hexenhammer< der Inquisitoren .«

Corso hob den Zeigefinger. »Lyon, 1519. Oktavformat, Fraktur, ohne Autorenangabe.«

»Nicht schlecht.« Frida Ungern sah ihn überrascht an. »Ich besitze eine jüngere Ausgabe.« Sie deutete auf eines der Bücherregale. »Dort steht er, sehen Sie? Er ist auch in Lyon publiziert, aber erst 1669. Die Editio princeps stammt aus dem Jahr 1486.« Sie kniff mißmutig die Augen zusammen. »Kramer und Sprenger waren hirnlose Fanatiker. Ihr Malleus ist heller Unsinn. Man könnte sogar darüber lachen, wenn in seinem

Namen nicht Tausende von Unglücklichen gefoltert und verbrannt worden wären.«

»Wie Aristide Torchia.«

»Ja, zum Beispiel. Obwohl der wahrhaftig kein Unschuldsengel war.«

»Was wissen Sie über ihn?«

Die Baronin wackelte mit dem Kopf, leerte ihre Kaffeetasse und wackelte dann wieder etwas.

»Die Torchias waren eine wohlhabende Kaufmannsfamilie aus Venedig. Sie handelten mit spanischem und französischem Büttenpapier. Aristide wurde als junger Mann nach Holland geschickt, wo er bei den Elzeviers in die Lehre ging. Die Elzeviers waren Geschäftsfreunde seines Vaters. Von Holland ist er dann nach Prag umgesiedelt.«

»Das wußte ich nicht.«

»Na, sehen Sie. Prag: Die europäische Hauptstadt der Magie und der Geheimwissenschaften, wie es vier Jahrhunderte zuvor Toledo gewesen war. Fällt Ihnen etwas auf? Torchia nimmt sich ein Zimmer in >Maria Schneec, dem Stadtviertel der Magie, ganz in der Nähe des Jungmannplatzes, auf dem die Statue von Jan Hus steht. Erinnern Sie sich, was Hus am Fuße des Scheiterhaufens gesagt hat?«

»Aus meiner Asche wird ein Schwan aufsteigen, den ihr nicht verbrennen könnt?«

»Genau. Es ist einfach, sich mit Ihnen zu unterhalten, und das ist vorteilhaft für Ihre Arbeit.« Die Baronin atmete unfreiwillig ein wenig Rauch von Corsos Zigarette ein und sah ihn etwas unwillig an, aber das störte Corso nicht im geringsten. »Wo waren wir stehengeblieben? Ach, ja. Prag, zweiter Akt: Torchia zieht jetzt ins Judenviertel um, in eine Wohnung gleich neben der Synagoge. In diesem Stadtteil gibt es Fenster, hinter denen die ganze Nacht Licht brennt - dort suchen die Kabbalisten nach der Beschwörungsformel für den Golem. Später zieht Torchia noch einmal um, diesmal in das Mal a-Strana-Viertel ...« Sie lächelte ihn komplizenhaft an. »Wonach klingt Ihnen das?«

»Nach einer Pilgerfahrt. Oder Studienreise, wie man es heute nennen würde.«

»Genau dieser Meinung bin ich nämlich auch.« Die Baronin nickte zufrieden. Corso war mittlerweile gänzlich von ihr adoptiert und nahm auf ihrer persönlichen Wertskala einen Ehrenplatz ein. »Es kann kein Zufall sein, daß Torchia seine Unterkünfte ausgerechnet an den drei Punkten wählt, an denen sich das okkulte Wissen der damaligen Zeit konzentriert. Und das in einem Prag, in dessen Straßen die Schritte Agrippas und Paracelsus’ nachhallen, in dessen Bibliotheken sich die letzten noch erhaltenen Handschriften der chaldäischen Magie befinden, die pythagoreischen Schlüssel, die nach dem Gemetzel von Metapont verschollen waren.« Sie beugte sich ein wenig zu ihm hinüber und setzte eine vertrauliche Miene auf: Miss Marple, die sich anschickt, ihrer besten Freundin zu verraten, daß sie Zyankali im Teegebäck entdeckt hat. »In diesem Prag, Senor Corso, hocken in finsteren Arbeitsstuben Männer, die die Carmina beherrschen, also die Kunst der magischen Wörter, die Nekromantie, die Kunst, sich mit den Toten in Verbindung zu setzen.« Sie hielt den Atem an, bevor sie hauchte: »Und die Goetia ... «

»Die Kunst der Teufelsbeschwörung.«

»Ja.« Die Baronin lehnte sich wohlig schaudernd in den Stuhl zurück. Ihre Augen glänzten. Jetzt war sie in ihrem Element. Ihre Stimme überschlug sich beinahe beim Sprechen, als habe sie zu wenig Zeit, um alles loszuwerden, was sie wußte. »Tor-chia lebte in jenen Monaten an einem Ort, an dem viele seltene Texte und Abbildungen aufbewahrt werden, die Kriege, Feuersbrünste und Verfolgungen überlebt haben . So auch die Reste des magischen Buches, mit dem sich die Türen des Wissens und der Macht öffnen lassen: das Delomelanicon, die Anleitung zur Beschwörung der Schatten.«

Sie sprach in heimlichtuerischem, beinahe theatralischem Ton, begleitete ihre Worte jedoch mit einem Lächeln. Es hatte den Anschein, als nehme sie die Sache selbst nicht so richtig ernst oder wolle Corso raten, einen gesunden Abstand zu wahren.

»Am Ende seiner Lehrjahre«, fuhr sie fort, »begibt Torchia sich wieder nach Venedig ... Passen Sie gut auf, das ist wichtig: Trotz der Risiken, die ihn in Italien erwarten, verläßt der Drucker das relativ sichere Prag, um in seine Heimatstadt zurückzukehren und dort eine Reihe verbotener Bücher zu veröffentlichen. Genau die bringen ihn dann auf den Scheiterhaufen. Seltsam, nicht?«

»Das sieht ja ganz nach einer Mission aus.«

»Ja. Aber in wessen Auftrag? . « Die Baronin schlug die Neun Pforten auf der Titelseite auf. »Dieses >mit Privileg und Genehmigung der Obrigkeiten< gibt zu denken, finden Sie nicht? Es ist sehr wahrscheinlich, daß Torchia in Prag einer Geheimsekte beigetreten ist, die ihn mit der Verbreitung einer Botschaft beauftragt hat ... eine Art Apostolat.«

»Das Evangelium nach Beelzebub, von dem Sie vorher gesprochen haben.«

»Ja, vielleicht. Fest steht, daß Torchia die Neun Pforten im ungünstigsten Augenblick veröffentlicht hat. Zwischen 1550 und 1666 haben der humanistische Neuplatonismus und die hermetisch-kabbalistische Bewegung ihre Schlachten verloren und sind in einem Meer teuflischer Gerüchte untergegangen . Leute wie Giordano Bruno und John Dee wurden verbrannt oder starben als Verfolgte im bittersten Elend. Mit dem Triumph der Gegenreformation ist die Inquisition gewachsen wie ein bösartiges Geschwür. Ursprünglich zur Bekämpfung der Ketzerei geschaffen, hatte sie sich zu diesem Zeitpunkt auf Hexen, Magier und Wahrsager spezialisiert, um ihre unheilvolle Existenz zu rechtfertigen. Ein Buchdrucker, der gar mit dem Teufel im Bunde stand, war für die Inquisitoren natürlich ein gefundenes Fressen. Dazu muß allerdings gesagt werden, daß Torchia es ihnen auch wirklich leicht gemacht hat. Hören Sie sich das an« - Frida Ungern blätterte ein wenig in dem Buch herum -: »Pot. m.vere im.go ...«, zitierte sie und sah Corso an. »Ich habe viele Passagen übersetzt - der Text ist ziemlich einfach zu entschlüsseln. Ich könnte Wachsfiguren beleben, heißt es hier zum Beispiel. Und den Mond aus den Angeln heben oder tote Gerippe wieder mit Fleisch versehen. Wie finden Sie das?«

»Infantil . Ganz schön dumm, sich wegen so etwas verbrennen zu lassen.«

»Vielleicht, aber man kann nie wissen . Mögen Sie Shakespeare?«

»Kommt darauf an.«

»Es gibt mehr Dinge im Himmel und auf Erden, als Eure Schulweisheit sich träumt.«

»Hamlet. Ein ziemlich unsicherer Junge.«

»Nicht jeder hat es verdient oder ist in der Lage, sich Zugang zu diesen okkulten Dingen zu verschaffen, Senor Corso. >Ein Geheimnis erfahren und es bewahren<, lautet die alte Regel.«

»Und Torchia hat sie nicht befolgt.«

»Sie wissen sicherlich, daß Gott der Kabbala zufolge einen schrecklichen Namen besitzt, der geheim ist.«

»Das Tetragrammaton.«

»Genau. In seinen vier Buchstaben ruht die Harmonie und das Gleichgewicht des Universums. Der Erzengel Gabriel hat Mohammed gewarnt: Gott ist mit siebzigtausend Schleiern aus Licht und Nebel verhüllt. Und sollten die gelüftet werden, so würde selbst ich vernichtet. Aber Gott besitzt nicht als einziger einen solchen Namen. Auch der Teufel hat seinen: eine fürch-terliche, unheilbringende Buchstabenkombination, mit der man ihn rufen kann . und entsetzliche Ereignisse entfesselt.«

»Das ist nichts Neues. Dafür gab es schon lange vor dem Judentum und Christentum einen Namen: die Büchse der Pandora.«

Die Baronin betrachtete ihn zufrieden, als wolle sie ihm jeden Augenblick das Musterschüler-Diplom verleihen.

»Sehr gut, Senor Corso. In der Tat verbringen wir unser Leben und die Jahrhunderte damit, über dieselben Dinge zu reden - nur daß wir ihnen unterschiedliche Namen geben: Isis und die Jungfrau Maria, Mithras und Jesus Christus, der 25. Dezember als Weihnachtstag oder Fest der Wintersonnenwende. Denken Sie bloß an Gregor den Großen, der hat den Missionaren schon im 7. Jahrhundert empfohlen, die heidnischen Feste für die christlichen Feiertage zu verwenden.«

»Das war purer Geschäftsinstinkt. Im Grunde ging es um eine simple Marktoperation: anderen die Kundschaft abspenstig machen. Aber erzählen Sie mir doch, was Sie von Pandorabüchsen, Teufelspakten und ähnlichem wissen.«

»Die Kunst, Teufel in Gefäße oder Bücher einzuschließen, ist sehr alt . Gervasius von Tilbury und Gerson erwähnen sie bereits im 13. und 14. Jahrhundert. Und die Tradition der Teufelspakte ist sogar noch älter: Sie reicht vom Henoch-Buch über die Kabbala bis hin zu den Schriften der Kirchenväter wie des heiligen Hieronymus. Und vergessen wir nicht den Bischof Theophilus, zufälligerweise ein >großer Liebhaber der Weisheit^ den historischen Faust und Roger Bacon. Oder Papst Silvester II., dem nachgesagt wird, er habe den Sarazenen ein Buch geraubt, das alles Wissenswerte enthielt.«

»Dann geht es also darum, Weisheit zu erlangen.«

»Klar. Aus reinem Vergnügen geht keiner am Rande des Abgrunds spazieren. Die gelehrte Dämonologie setzt Luzifer mit der Erkenntnis gleich. In der Genesis erreicht der Teufel in Schlangengestalt, daß der Mensch aufhört, ein debiler Trottel zu sein, und Bewußtsein, Urteilsvermögen, Luzidität erlangt . mit all den Qualen und der Unsicherheit, die dieses Wissen und diese Freiheit mit sich bringen.«

Die nächtliche Unterhaltung mit dem Mädchen war noch zu frisch, als daß Corso nicht unwillkürlich an sie gedacht hätte. Er griff nach den Neun Pforten und ging, unter dem Vorwand, sie noch einmal bei besserem Licht untersuchen zu wollen, zum Fenster, aber das Mädchen war nicht mehr da. Überrascht suchte er die Straße in beiden Richtungen ab, das Flußufer und die Steinbänke unter den Bäumen - vergeblich. Das beunruhigte ihn ein wenig, aber er hatte keine Zeit, sich den Kopf zu zerbrechen, denn Frida Ungern redete bereits wieder auf ihn ein:

»Mögen Sie Rätsel? Probleme, die es zu knacken gilt? Im Grunde genommen geht es nämlich bei dem Buch, das Sie da in der Hand haben, genau darum. Wie alle intelligenten Wesen liebt der Teufel Spiele, Rätselaufgaben, Hindernisläufe, bei denen die Schwachen und Beschränkten auf der Strecke bleiben und nur die überragenden Geister ans Ziel gelangen. Die Initiierten.«

Corso war inzwischen wieder an den Tisch getreten und hatte das Buch offen auf den Tisch gelegt, so daß man die Titelseite sehen konnte: die um einen Baum gewundene Schlange, die sich in den Schwanz beißt. »Wer in dieser Schlange nur einen Wurm sieht, der sich selbst verschlingt, der hat es nicht verdient, mehr zu erfahren.«

»Was kann man mit diesem Buch machen?« fragte Corso.

Die Baronin legte sich einen Finger auf die Lippen, wie der Ritter auf dem Holzschnitt Nummer I. Sie lächelte.

»Der Johannes der Apokalypse sagt, daß unter der Herrschaft des zweiten Tieres, vor der letzten und entscheidenden Schlacht von Armageddon, niemand kaufen oder verkaufen kann, wenn er nicht das Zeichen hat, nämlich den Namen des Tieres oder die Zahl seines Namens. Und Lukas erzählt uns am Ende seines Berichts über die Versuchungen Jesu, daß der dreifach abgewiesene Teufel sich eine Zeitlang zurückzieht und einen günstigeren Augenblick abwartet. Für die ganz Ungeduldigen hat er jedoch verschiedene Wege zum Wissen offengelassen. Einschließlich der Anleitung, wie man zu ihm selbst gelangen kann. Wie man mit ihm einen Pakt schließt.«

»Also seine Seele verkauft.«

Frida Ungern kicherte geheimnisvoll: Miss Marple beim Kaffeeklatsch, wie sie mit ihren Freundinnen über den Teufel tratscht. Du weißt ja noch gar nicht das Neueste über Satan. Das muß ich dir unbedingt erzählen, Peggy.

»Der Teufel ist aus Schaden klug geworden«, sagte sie. »Als er noch jung und naiv war, hat er Fehler begangen, einige Seelen sind ihm in letzter Minute durch die falsche Tür entwischt und haben sich dank der Liebe, der Barmherzigkeit Gottes und ähnlicher Spitzfindigkeiten gerettet. So daß er am Ende nicht darum herumkam, eine Klausel einzuführen, die die bedingungslose Übergabe von Körper und Seele unmittelbar nach Ablauf der Frist vorsieht und keinerlei Vorbehalte einräumt, weder den Anspruch auf zukünftige Erlösung noch das Rechtsmittel der göttlichen Begnadigung. Diese Klausel kommt in den Neun Pforten natürlich auch vor.«

»Miese Welt«, sagte Corso, »wenn sogar Luzifer auf den Trick mit dem Kleingedruckten zurückgreifen muß.«

»Verstehen Sie ihn. Heutzutage wird mit allem geblufft, sogar mit der Seele. Seine Kunden wurden vertragsbrüchig und versuchten, sich dünnzumachen. Der Teufel hatte die Nase voll, und das mit Recht.«

»Was enthält das Buch sonst noch? Was bedeuten die neun Holzschnitte?«

»Im Prinzip handelt es sich um Hieroglyphen, die entschlüsselt werden müssen. In Verbindung mit dem Text verhelfen sie zur Macht. Sie verbergen die magische Formel für den Namen, mit dem sich der Teufel beschwören läßt.«

»Und funktioniert die Formel?«

»Nein. Sie ist falsch.«

»Haben Sie es selbst ausprobiert?«

Frida Ungern wirkte empört.

»Aber ich bitte Sie! Sie glauben doch nicht im Ernst, daß eine Frau mit siebzig Jahren an spiritistischen Sitzungen teilnimmt und versucht, den Satan auf den Plan zu rufen! Die Galane altern auch, und wenn sie in ihrer Jugend dreimal wie John Barrymore ausgesehen haben. Eine Enttäuschung in meinem Alter, wissen Sie, was das bedeuten würde? Nein, nein, da bleibe ich lieber meinen Jugenderinnerungen treu.«

Corso tat überrascht.

»Ich dachte, Sie und der Teufel ... Ihre Leser halten Sie für eine Art schwärmerischer Hexe.«

»Dann irren sie sich gewaltig. Was ich beim Teufel suche, ist Geld, keine Emotionen.« Ihr Blick wanderte durchs Zimmer und dann zum Fenster. »Ich habe das ganze Vermögen meines Mannes für diese Bibliothek ausgegeben und lebe einzig von meinen Urheberrechten.«

»Die aber bestimmt nicht zu verachten sind. Schließlich sind Sie die unumstrittene Königin der Kaufhausbuchabteilungen .«

»Schon, aber das Leben ist teuer, Senor Corso. Sehr teuer, vor allem, wenn man sich mit Leuten wie unserem Freund Monte-grifo arrangieren muß, um an die seltenen Exemplare ranzukommen, die einem noch fehlen. Mit dem Teufel läßt sich heutzutage gutes Geld verdienen, das ist alles. Ich bin jetzt siebig, und in diesem Alter kann man seine Zeit nicht mit Altjungfer-Spinnereien verplempern. Verstehen Sie, was ich meine?«

Jetzt war es Corso, der lächelte.

»Bestens.«

»Wenn ich Ihnen sage«, fuhr die Baronin fort, »daß dieses Buch eine Fälschung ist, so deshalb, weil ich es gründlich studiert habe. Irgend etwas funktioniert daran nicht. Es hat Lücken, Leerstellen. Das meine ich natürlich im übertragenen Sinne, denn die Ausgabe selbst ist komplett. Mein Exemplar hat Madame de Montespan gehört, einer Geliebten Ludwigs XIV. und satanischen Oberpriesterin, die es geschafft hat, die Schwarze Messe zu einem festen Bestandteil des höfischen Lebens zu machen. Es gibt einen Brief der Montespan an ihre Freundin und Vertraute Madame de Peyrolles, in dem sie sich über die Mängel eines Buches beschwert und ausdrücklich schreibt: Es behandelt sämtliche Themen, die auch von den Weisen als notwendig erachtet werden, und doch enthält es Unklarheiten, eine Art Spiel mit Worten, die man nie in die richtige Reihenfolge bekommt.«

»Wem hat es noch gehört?«

»Dem Grafen von Saint-Germain, der es später Cazotte verkauft hat.«

»Jacques Cazotte?«

»Genau. Er hat den Verliebten Teufel geschrieben und ist 1792 guillotiniert worden. Kennen Sie das Buch?«

Corso nickte vorsichtig. Die Bezüge waren so offensichtlich, daß sie fast schon wieder unmöglich erschienen.

»Ja, ich habe es einmal gelesen.«

Irgendwo in der Wohnung klingelte ein Telefon, und man hörte die Schritte der Sekretärin im Gang. Danach trat wieder Stille ein.

»Was die Neun Pforten betrifft«, fuhr die Baronin fort, »so haben sich seine Spuren in den Tagen der revolutionären Tumulte hier in Paris verloren. Zwar wird es noch ein paarmal erwähnt, aber die Angaben sind immer sehr ungenau: Gérard de Nerval zitiert es beiläufig in einem seiner Artikel und behauptet, es im Haus eines Freundes gesehen zu haben ...«

Corso blinzelte kaum merklich hinter seinen Brillengläsern.

»Gehörte nicht auch Dumas zu seinen Freunden?« fragte er alarmiert.

»Doch, aber Nerval sagt nicht, bei welchem Freund er es gesehen hat. Fest steht nur, daß bis zum Verkauf des Pétain-Anhängers keiner mehr das Buch zu Gesicht bekommen hat. Und seither steht es hier, in meiner Bibliothek.«

Corso hörte ihr nicht mehr zu. Der Legende zufolge hatte Gérard de Nerval sich mit dem Schnürband des Mieders von Madame de Montespan erhängt. Oder war es das Band der Maintenon gewesen? Aber ob es nun der einen oder der anderen gehört hatte, jedenfalls stellte er unwillkürlich die Verbindung zum Gürtel von Enrique Taillefers Morgenmantel her.

Das Erscheinen der Sekretärin unterbrach ihn in seinen Gedanken. Corso werde am Telefon verlangt. Er entschuldigte sich und ging an den Lesetischen vorbei in den Gang hinaus, der ebenfalls mit Büchern und Pflanzen vollgestopft war. Auf einem kleinen Ecktisch stand ein altmodischer Telefonapparat aus Metall, dessen Hörer ausgehängt war.

»Ja, bitte?«

»Corso? Hier ist Irene Adler.«

»Das höre ich«, sagte er mit einem Blick in den leeren Korridor. Die Sekretärin war verschwunden. »Ich habe mich schon gewundert, daß du nicht mehr auf deinem Posten bist. Von wo rufst du an?«

»Von der Bar an der Ecke. Das Haus wird von einem Mann überwacht. Deshalb bin ich hierher gekommen.«

Corso atmete einmal tief durch. Dann suchte er mit den Zähnen ein Nagelhäutchen am Daumen und biß es ab. Früher oder später mußte es ja so weit kommen, sagte er sich mit zerknirschter Resignation: Dieser Mensch gehörte mittlerweile richtiggehend zum Hintergrundbild oder zur Bühnenausstattung. Dann stellte er eine Frage, von der er wußte, daß sie eigentlich überflüssig war:

»Wie sieht er aus?«

»Dunkelhaarig, mit Schnurrbart und einer großen Narbe im Gesicht.« Die Stimme des Mädchens klang gelassen. Sie schien weder aufgeregt zu sein noch irgendeine Gefahr zu wittern. »Er sitzt in einem grauen BMW, der auf der anderen Straßenseite parkt.«

»Hat er dich gesehen?«

»Das weiß ich nicht. Er ist seit einer Stunde dort und in der Zeit zweimal aus dem Auto gestiegen: einmal, um die Namensschildchen neben dem Hausportal durchzugehen, und das andere Mal, um Zeitungen zu kaufen.«

Corso spuckte das Nagelhäutchen aus und lutschte am schmerzenden Daumen.

»Hör mal. Ich habe keine Ahnung, was dieser Typ will, und ich weiß auch nicht, ob ihr beiden womöglich unter einer Decke steckt. Aber es gefällt mir nicht, daß er in deiner Nähe ist. Das gefällt mir überhaupt nicht. Du gehst also auf der Stelle ins Hotel zurück.«

»Red keinen Quatsch, Corso. Ich gehe hin, wo ich hingehen muß.«

Bevor sie einhängte, fügte sie noch »Grüße an Treville« hinzu, und Corso stöhnte halb verdrossen, halb sarkastisch auf, denn er hatte genau dasselbe gedacht, und diese Übereinstimmung paßte ihm überhaupt nicht. Er starrte auf den Hörer, ohne ihn auf die Gabel zurückzulegen. Klar: Sie las ja Die drei Musketiere - das hatte er vorher sogar vom Fenster aus sehen können. Wahrscheinlich war sie beim dritten Kapitel angelangt: D’Artagnan, der soeben in Paris eingetroffen ist und sich in der Audienz mit Herrn de Treville befindet, dem Hauptmann der Musketiere des Königs, erblickt vom Fenster aus Roche-fort, stürzt Hals über Kopf die Treppe hinunter, um ihn zu fassen, und gerät dabei mit Athos’ Schulter, Porthos’ Wehrgehänge und Aramis’ Taschentuch aneinander. Grüße an Treville. Ob ihr diese geistreiche Bemerkung spontan in den Sinn gekommen war? Als Witz nicht schlecht, aber Corso war nicht zum Lachen zumute.

Nachdem er eingehängt hatte, blieb er eine Weile nachdenklich im Korridor stehen. Vielleicht erwartete man sich ja gerade das von ihm: daß er mit gezücktem Säbel die Treppe hinunterstürmte und dem Lockvogel Rochefort hinterherlief. Selbst der Anruf des Mädchens konnte Bestandteil des Plans sein, oder -wenn er um ein paar Ecken herum dachte - auch das Gegenteil, also eine Warnung vor diesem Plan, vorausgesetzt natürlich, daß es einen Plan gab. Und vorausgesetzt, daß das Mädchen -Corso hatte zu viel Erfahrung, um für irgend jemanden die Hand ins Feuer zu legen - in lauterer Absicht handelte.

Schlechte Zeiten, sagte er sich wieder. Verrückte Zeiten. Bücher, Kino, Fernsehen, unterschiedliche Leseniveaus - was nützte das alles, wenn man noch immer nicht in der Lage war zu sagen, ob man es mit dem Original oder mit einer Kopie zu tun hatte, ob man im Spiegelkabinett vor dem echten Abbild stand oder vor seiner seitenverkehrten Version oder vor einer Summe aus beiden. Welche Absichten verfolgte der Verfasser? Heutzutage war es ebensogut möglich, ein Ignorant wie ein Besserwisser zu sein. Ein Grund mehr, den Ururgroßvater Corso mit seinem Grenadierschnurrbart zu beneiden, eingehüllt in den Pulvergeruch flandrischer Schlachtfelder. Damals war eine Fahne noch eine Fahne gewesen, der Kaiser eben der Kaiser, und eine Rose war eine Rose war eine Rose. Aber wie auch immer, eins stand für Corso auch jetzt, hier, in Paris, fest: Selbst als anspruchsvoller Leser konnte er von niemandem dazu gezwungen werden, dieses Spiel über eine gewisse Grenze hinaus mitzumachen. Was zu weit ging, ging zu weit.

Er hatte weder das Alter noch die Naivität, noch die Lust, sich auf einem Terrain zu schlagen, das der Gegner ausgewählt hatte - drei Duelle, innerhalb von zehn Minuten vereinbart, am Karmeliterkloster oder wo auch immer. Im geeigneten Augenblick würde er schon von selbst an Rochefort herantreten und ihm seine Aufwartung machen, am besten von hinten und mit einem Brecheisen in der Hand. Das schuldete er ihm noch seit dem Vorfall in Toledo, ganz zu schweigen von den Zinsen, die der Kerl sich in Sintra angehäuft hatte. Corso war einer, der seine Schulden kaltblütig beglich. Und ohne jede Eile.

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