XI. Am Seineufer

Es scheint mir, daß dieses Rätsel gerade aus dem Grund als unlösbar gilt, weshalb man es eigentlich für leicht lösbar halten sollte.

E. A. Poe, Die Morde in der Rue Morgue


»Der Schlüssel ist denkbar einfach«, sagte Frida Ungern. »Es werden ähnliche Abkürzungen benützt wie in den alten lateinischen Handschriften. Vielleicht, weil Aristide Torchia den größten Teil des Textes wortwörtlich von einem anderen Manuskript abgeschrieben hat, möglicherweise von dem berühmten Delomelanicon. Wer sich auch nur annähernd in der Sprache der Hermetiker auskennt, kann die Bildunterschrift des ersten Holzschnitts ohne weiteres entschlüsseln: NEM. PERV.T QVI N.N LEG. CER.RIT heißt natürlich NEMO PERVENIT QUI NON LEGITIME CERTAVERIT.«

»Wer nicht kämpft, wie die Regeln es vorschreiben, wird nie an sein Ziel gelangen. «

Sie waren bei der dritten Tasse Kaffee angelangt, und nun bestand kein Zweifel mehr, daß die Baronin ihn - wenigstens im übertragenen Sinne - adoptiert hatte. Er sah, wie sie zufrieden nickte.

»Sehr gut ... Können Sie auch die Darstellung deuten?« »Nein«, log Corso, ohne mit der Wimper zu zucken. Er hatte soeben entdeckt, daß aus der mauerbewehrten Stadt, auf die der Reiter sich zubewegte, nicht vier, sondern drei Türme aufragten. »Bis auf die Geste des Ritters, die mir ziemlich eloquent scheint.«

»Das ist sie auch: Er wendet sich, den Finger auf den Lippen, an seinen Adepten und gemahnt ihn zum Schweigen ... Das entspricht dem tacere der okkulten Philosophie. Die Stadtmauer im Hintergrund schließt drei Türme ein: das Geheimnis. Beachten Sie, daß ihr Tor verschlossen ist. Es muß zuerst geöffnet werden.«

Corso blätterte gespannt weiter: Der Eremit auf der zweiten Tafel hatte seine Schlüssel in der rechten Hand. Unter dem Holzschnitt stand CLAVS. PATT.

»CLAUSAE PATENT«, entzifferte die Baronin mühelos. »Öffnet das Geschlossene, die verschlossenen Türen ... Der Eremit versinnbildlicht Wissen, Studium, Weisheit. Und achten Sie auf den schwarzen Hund neben ihm: Der Legende zufolge soll auch Agrippa ständig von einem solchen begleitet worden sein. Der treue Hund. Denken Sie an Plutarch, an Goethes Faust, an Bram Stokers Dracula: Der Teufel tritt immer in Gestalt eines schwarzen Hundes auf . Und hier, die Laterne: Das ist die Laterne des Philosophen Diogenes, der für seine Bedürfnislosigkeit bekannt war. Er hat den mächtigen Alexander einzig darum gebeten, keinen Schatten auf ihn zu werfen, ihm aus der Sonne, aus dem Licht zu gehen.«

»Und was bedeutete der Buchstabe Teth?«

»Da bin ich mir nicht ganz sicher.« Sie klopfte sacht auf den Holzschnitt. »Der Eremit aus dem Tarot, der diesem hier sehr ähnelt, wird manchmal mit einer Schlange dargestellt oder mit einem Stock, der sie verkörpert. In der okkulten Philosophie sind die Schlange und der Drache die Hüter des Wundergartens oder des Goldenen Vlieses und schlafen mit offenen Augen. Sie sind der Spiegel der Künste.«

»Ars diavoli«, sagte Corso aufs Geratewohl, und die Baronin nickte mit einem geheimnisvollen Lächeln. In Wirklichkeit wußte Corso aus Fulcanelli und anderen Quellen, die er vor langer Zeit einmal gelesen hatte, daß der Begriff Spiegel der Kunst nicht aus der Dämonologie, sondern aus der Alchimie stammte. Er fragte sich, wieviel Scharlatanerie sich wohl hinter den gelehrten Erläuterungen verbarg, mit denen seine Ge-sprächspartnerin ihn förmlich überschwemmte, so daß er sich vorkam wie ein Goldsucher, der mit seinem Sieb bis zum Bauchnabel im Fluß steht. Mit irgend etwas muß man die fünfhundert Seiten eines Bestsellers ja füllen, dachte er und seufzte innerlich.

Aber Frida Ungern war bereits zur dritten Tafel übergegangen:

»Hier lautet die Bildunterschrift VERB. D.SVM C.S.T AR-CAN. Das heißt: VERBUM DIMISSUM CUSTODIAT ARCANUM, was wir etwa so übersetzen könnten: Das verlorene Wort birgt das Geheimnis. Und die Bildtafel ist äußerst bedeutungsvoll: eine Brücke, die Verbindung zwischen dem hellen und dem dunklen Ufer. Der Sinn der Brücke ist von der griechischen Mythologie bis heute immer derselbe: Sie kann die Erde mit dem Himmel verbinden oder mit der Hölle, genau wie der Regenbogen. Um sie überqueren zu können, muß man vorher natürlich das turmbewehrte Tor öffnen, das den Zugang zu ihr versperrt.«

»Und wie interpretieren Sie den Bogenschützen, der sich in den Wolken versteckt?«

Diesmal gelang es ihm kaum, einen ruhigen Ton beizubehalten. In den Exemplaren eins und zwei hatte der Bogenschütze einen leeren Köcher umhängen. In der Nummer drei dagegen steckte ein Pfeil darin. Frida Ungern deutete mit dem Finger auf die Abbildung.

»Der Bogen ist die Waffe des Apollon und der Diana, das Licht der höchsten Macht, der Zorn der Götter oder Gottes. Der Bogenschütze symbolisiert den Feind, der einem beim Überqueren der Brücke auflauert.« Sie beugte sich vertraulich zu ihm hinüber. »Hier steht er für eine schreckliche Warnung. Es ist gefährlich, mit diesen Dingen zu spielen.«

Corso nickte, während er bis bis zum vierten Holzschnitt weiterblätterte. Er sah im Geiste Schleier zerreißen. Die Türen begannen sich mit unheilvollem Quietschen zu öffnen. Jetzt hatte er den Schelm und das gemauerte Labyrinth vor sich, mit der Bildunterschrift FOR. N.N OMN. A.QVE. Frida

Ungern übersetzte sie so: Das Schicksal ist für jeden anders, FORTUNA NON OMNIBUS AEQUE.

»Diese Figur entspricht dem Narren aus dem Tarot«, erklärte sie ihm. »Der Narr Gottes im Islam. Er hat natürlich auch seinen Stock, also die symbolische Schlange, in der Hand. Er ist der mittelalterliche Schelm, der Joker aus dem Kartenspiel, mit dem jede beliebige Karte ersetzt werden kann. Achten Sie auf die Würfel neben ihm: Er verkörpert das Schicksal, den Zufall, das Ende von allem, den erwarteten oder unerwarteten Ausgang. Im Mittelalter waren die Narren Privilegierte. Sie durften Dinge tun, die anderen verboten waren, und hatten den Auftrag, die Herrschenden an ihre Sterblichkeit zu erinnern, daran, daß ihr Ende so unausweichlich war wie das der anderen Menschen .«

»Die Bildunterschrift besagt aber genau das Gegenteil«, wandte Corso ein. »Das Schicksal ist für jeden anders.«

»Natürlich. Wer rebelliert, wer seine Freiheit wahrnimmt und bereit ist, ein Risiko einzugehen, der kann sich ein anderes Schicksal verdienen. Genau davon handelt dieses Buch, und so läßt sich auch der Narr erklären, das Paradigma der Freiheit. Er ist der einzige wirklich freie Mensch und zugleich der weiseste. In der okkulten Philosophie wird der Narr mit dem Quecksilber der Alchimisten gleichgesetzt. Er ist der Götterbote, der die Seelen durch das Reich der Schatten geleitet .«

»Das Labyrinth.«

»Ja. Da haben Sie es.« Frida Ungern deutete auf das Bild. »Und wie Sie sehen, ist die Eingangstür verschlossen.«

Die Ausgangstür auch, stellte Corso mit einer Gänsehaut fest, bevor er auf der Suche nach dem nächsten Bild neun Seiten weiterblätterte.

»Die Legende hier ist einfacher. Das ist die einzige, an die ich mich rantraue«, sagte er: »FR.ST.A. Lassen Sie mich raten ... Ich würde sagen, hier fehlen ein >u< und ein >r< ... FRUSTRA. Das heißt: vergeblich.«

»Sehr gut. Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen, Senor Corso, und die Allegorie stimmt völlig mit diesem Motto überein: Der Geizige zählt sein Geld, ohne an den Tod zu denken, der hinter ihm steht und zwei wichtige Symbole in den Händen hält: Sanduhr und Heugabel.«

»Warum eine Heugabel und keine Sense?«

»Weil der Tod mäht und der Teufel erntet.«

Jetzt kamen sie zur sechsten Tafel, auf der ein Mann an einem Fuß von einer Mauerzinne hing. Frida Ungern zog ein beinahe gelangweiltes Gesicht, als wäre der Sinn dieser Abbildung nur zu offensichtlich:

»DIT.SCO M.R. steht für DITESCO MORI: Ich bereichere mich mit dem Tod. Das kann der Teufel mit Fug und Recht von sich behaupten. Finden Sie nicht?«

»Doch, sicher ... Das ist schließlich sein Beruf.« Corso strich mit dem Finger über die Bildtafel. »Was symbolisiert der Erhängte?«

»An erster Stelle das Arcanum Nummer zwölf aus dem Tarot. Aber es gibt auch andere Interpretationen. Ich neige dazu, diese Abbildung als Sinnbild für das Opfer zu deuten, das man für jede Veränderung bringen muß ... Kennen Sie Odins Runenlied aus der Edda?

Ich weiß, daß ich hing am windigen Baum neun lange Nächte

Und wo wir schon dabei sind, Verbindungen herzustellen«, fuhr die Baronin fort: »Luzifer, der Vorkämpfer der Freiheit, leidet aus Liebe zum Menschen. Und er verhilft ihnen zur

Erkenntnis, indem er sich selbst opfert.« »Was können Sie mir über die siebte Tafel erzählen?« »DIS.S RTI.R MAG., dem ersten Anschein nach nicht einfach zu deuten. Aber ich leite daraus einen alten Sinnspruch ab, der ganz dem Geschmack der hermetischen Philosophen entspricht: DISCIPULUS POTIOR MAGISTRO.«

»Der Schüler übertrifft den Meister?«

»Ja, so ungefähr . Auf diesem Bild spielen ein König und ein Bettler zusammen Schach, auf einem Brett, das nur helle Felder hat, während neben ihnen ein schwarzer und ein weißer Hund, das Böse und das Gute, erbittert miteinander raufen. Zum Fenster scheint der Mond herein, der zugleich die Dunkelheit und die Mutter versinnbildlicht. Denken Sie an die mythologische Vorstellung, daß die Seelen nach dem Tod beim Mond Zuflucht suchen ... Sie haben doch meine Isis gelesen, nicht? Die Farbe Schwarz symbolisiert die Finsternis, die Schattenchimären, die Erde, die Nacht, den Tod und in der Wappenkunde den Säbel ... Dem Schwarz der Göttin Isis steht die Farbe der Jungfrau Maria gegenüber, die in ihrem blauen Mantel auf dem Mond steht. Nach dem Tod kehren wir zu ihr zurück, in die Dunkelheit, aus der wir kommen, in die Dunkelheit, die etwas Ambivalentes hat, weil sie zugleich Schutz und Gefahr darstellt. Für die Hunde und den Mond gibt es ebenfalls noch eine andere Interpretation: Die Jagdgöttin Artemis, die bei den Römern Diana heißt, war berüchtigt für die Art und Weise, in der sie sich an denen rächte, die sich in sie verliebten oder ihre Weiblichkeit ausnützen wollten . Ich vermute, Sie wissen, was ich meine.«

Corso, der an Irene Adler dachte, nickte langsam.

»Ja. Sie hat die Spanner in Hirsche verzaubert und dann ihre Hunde auf sie gehetzt.« Er mußte wider Willen einmal schlukken. Die beiden auf Leben und Tod miteinander kämpfenden Hunde des Holzschnitts erschienen ihm auf einmal in einem sehr unheimlichen Licht: Er und Rochefort? »Um sie von ihnen zerreißen zu lassen.«

Die Baronin warf ihm einen unbekümmerten Blick zu. Den Kontext schuf er, nicht sie.

»Was die achte Bildtafel betrifft«, fuhr Frida Ungern fort, »so ist ihre Grundbedeutung ziemlich einfach zu verstehen: VIC. I.T VIR. ergibt das hübsche Motto VICTA IACET VIR-TUS. Und das meint soviel wie: Die Tugend liegt besiegt darnieder. Die Tugend wird von dem Mädchen verkörpert, das kurz davor steht, von diesem schmucken jungen Mann in seiner Ritterrüstung enthauptet zu werden, während sich im Hintergrund unerbittlich das Glücks- oder Schicksalsrad dreht - langsam aber kontinuierlich. Die drei Figuren auf ihm symbolisieren die drei Stadien, die im Mittelalter mit folgenden Worten bezeichnet wurden: regno (ich regiere), regnavi (ich habe regiert), regnabo (ich werde regieren).«

»Dann bleibt also nur noch eine Tafel.«

»Ja, die letzte und bedeutsamste aller Allegorien. N.NC SC.O TEN.BR. LVX läßt sich eindeutig als NUNC SCIO TE-NEBRIS LUX entschlüsseln: Jetzt weiß ich, daß die Finsternis das Licht hervorbringt. In Wirklichkeit haben wir es mit einer Szene aus der Johannesoffenbarung zu tun. Das letzte Siegel ist erbrochen, die geheime Stadt steht in Flammen, und nun ist die Zeit der Großen Hure Babylon gekommen, die auf dem siebenköpfigen Drachen ihren triumphalen Einzug hält, nachdem sie den schrecklichen Namen des Tieres oder die Zahl seines Namens ausgesprochen hat.«

»Ich finde eigentlich, daß sich das nicht lohnt«, sagte Corso. »So viel Mühsal, um zum Schluß vor dieser Horrorvision zu stehen.«

»Aber darum geht es hier doch gar nicht. Die Darstellungen sind so etwas wie Chiffren oder Hieroglyphen. Genau wie in einem ganz banalen Bilderrätsel die Zahl 2, die Zeichnung eines Tellers Suppe und eines Würfels den Ausdruck zwei Brühwürfel ergeben, läßt sich mit diesen Tafeln, den Bildunterschriften und dem Text des Buches eine Sequenz festlegen, ein Ritual. Die Formel, die das Zauberwort enthält. Das verbum dimissum oder wie immer Sie es nennen möchten.«

»Und schon erscheint der Teufel.«

»Theoretisch, ja.«

»In welcher Sprache ist die Beschwörungsformel? Lateinisch, Hebräisch, Griechisch?«

»Das weiß ich nicht.«

»Und der Fehler, von dem Madame de Montespan spricht, worin besteht der?«

»Ich habe Ihnen doch schon gesagt, daß ich das auch nicht weiß. Alles, was ich herausbekommen konnte, ist, daß der Zelebrant ein magisches Feld schaffen muß, innerhalb dessen er die gefundenen Worte anordnet, und zwar in einer ganz bestimmten Reihenfolge, die ich nicht kenne, die sich aber mit Hilfe der Textseiten 158 und 159 der Neun Pforten bestimmen läßt. Sehen Sie.«

Sie zeigte ihm eine Textpassage in lateinischen Kürzeln. Die betreffende Stelle war mit einem schmalen Kärtchen gekennzeichnet, das mit der winzigen, spitzen Schrift der Baronin in Bleistift versehen war.

»Haben Sie es geschafft, den Text zu entschlüsseln?«

»Ja. Das glaube ich wenigstens.« Sie reichte ihm das Kärtchen mit ihrer Übersetzung. »Hier, lesen Sie.«

Corso rückte seine Brille zurecht.


Die Schlange, die sich in den Schwanz beißt, windet sich

um das Labyrinth,

in dem du acht Pforten durchqueren mußt, bevor du zu

dem Drachen gelangst,

dem Hüter des geheimen Worts.

Zu jeder Pforte gehören zwei Schlüssel:

Der erste ist Luft und der zweite Materie, aber beide verkörpern dasselbe Prinzip.

Die Materie legst du im Sinn der aufgehenden Sonne auf die Haut der Schlange,

und auf ihren Bauch legst du das Siegel des Saturn.

Neunmal mußt du das Siegel öffnen, und wenn der Spiegel den Weg anzeigt,

findest du das verlorene Wort, welches das Licht aus der Finsternis bringt.


»Wie finden Sie das?« fragte die Baronin.

»Ein bißchen schaurig. Ich verstehe kein Wort. Und Sie?« »Auch nicht viel mehr.« Sie blätterte bekümmert in dem Buch. »Dabei geht es nur darum, eine Methode zu begreifen, eine Formel herauszufinden. Aber irgend etwas funktioniert an der Geschichte nicht. Und ich sollte eigentlich wissen, was.«

Corso zündete sich eine weitere Zigarette an, ohne einen Kommentar abzugeben. Er kannte bereits die Antwort auf diese Frage: die Schlüssel des Eremiten, die Sanduhr ... der Labyrinthausgang, das Schachbrett, der Heiligenschein ... und noch vieles mehr. Während Frida Ungern ihm den Sinn der Allegorien erklärte, hatte er neue Unterschiede entdeckt, die seine Hypothese bestätigten: Jedes Exemplar war anders. Das Spiel mit den Fehlern ging weiter, und er mußte sich dringend an die Arbeit machen. Aber nicht so, mit der Baronin auf der Pelle. »Ich würde das Buch gerne in Ruhe studieren«, sagte er. »Kein Problem. Ich habe Zeit in Hülle und Fülle und schaue Ihnen gerne zu, wie Sie arbeiten.«

Corso räusperte sich verlegen. Jetzt waren sie, wie befürchtet, am heiklen Punkt angelangt.

»Ich arbeite besser für mich.«

Das klang nach einem groben Fehltritt. Über Frida Ungerns

Stirn senkte sich eine düstere Wolke.

»Ich fürchte, ich habe Sie nicht recht verstanden«, sagte sie mit einem argwöhnischen Blick auf seine Segeltuchtasche. »Verlangen Sie etwa, daß ich Sie allein lasse?«

»Darum würde ich Sie bitten.« Corso schluckte und bemühte sich, ihrem Blick so lange wie möglich standzuhalten. »Die Angelegenheit, mit der ich mich da beschäftige, ist vertraulich.«

Die Baronin blinzelte leicht. Die Wolke über ihrer Stirn kündigte ein Gewitter an, und der Bücherjäger wußte, daß im nächsten Augenblick alles den Bach hinuntergehen konnte.

»Sie sind natürlich Ihr eigener Herr.« Frida Ungerns Stimme hätte die Topfpflanzen im Zimmer zum Erfrieren bringen können. »Aber vergessen Sie nicht, daß Sie sich hier in meinem Haus befinden und daß dieses Buch mir gehört.«

Jeder andere hätte sich an diesem Punkt vielmals entschuldigt und den Rückzug angetreten. Aber Corso unternahm nichts dergleichen. Er blieb sitzen, rauchte gelassen weiter und sah die Baronin an. Nach einer Weile lächelte er reserviert: ein Poker spielendes Kaninchen, das noch eine Karte verlangt.

»Ich glaube, ich habe mich nicht richtig ausgedrückt.« Sein Lächeln war noch nicht ganz verschwunden, als er einen gut verpackten Gegenstand aus der Segeltuchtasche zog. »Mir geht es lediglich darum, das Buch ein bißchen genauer zu untersuchen und ein paar Notizen zu machen.« Er klopfte leicht auf seine Tasche, während er Frida Ungern mit der anderen Hand den eingewickelten Gegenstand reichte. »Ich habe alles Nötige dabei, Sie werden sehen.«

Die Baronin öffnete das Päckchen und betrachtete schweigend seinen Inhalt. Es handelte sich um ein dickes Faszikel in deutscher Sprache - Berlin, September 1943 - mit dem Titel Iden: eine monatlich erscheinende Zeitschrift der LoheGesellschaft, die während des Dritten Reichs von Anhängern der Magie und Astrologie gegründet worden war und den nationalsozialistischen Machthabern nahegestanden hatte. Auf einer Seite, die Corso mit einem Papierstreifen gekennzeichnet hatte, gab es verschiedene Fotos, und auf einem von ihnen lächelte Frida Ungern in die Kamera. Sie hatte noch beide Arme und stand eingehakt zwischen zwei Männern: Der zu ihrer Rechten war in Zivil und wurde im Begleittext der Fotografie als persönlicher Astrologe des Führers ausgewiesen, während man sie - das werte Fräulein Frida Wender - als seine Assistentin vorstellte. Der Mann zu ihrer Linken trug eine Metallbrille und machte einen ziemlich schüchternen Eindruck. Er steckte in der schwarzen Uniform der SS, und man brauchte nicht erst die Bildunterschrift zu lesen, um Reichsführer Heinrich Himmler zu erkennen.

Als Frida Ungern, geborene Wender, ihre Augen von der Zeitschrift hob und dem Blick des Bücherjägers begegnete, hatte sie überhaupt nichts von einer netten Oma. Aber sie fing sich sofort wieder und nickte langsam, während sie sorgfältig die Seite aus dem Heft heraustrennte und in winzige Stücke riß. Auch die Hexen und die Baroninnen und die alten Damen, die in Zimmern voller Bücher und Topfpflanzen arbeiten, haben ihren Preis, dachte Corso, wie jeder Mensch. Victa iacet virtus. Und warum hätte es auch anders sein sollen.

Als Corso endlich allein war, richtete er sich an einem Tisch vor dem Fenster ein. Er zog das Dossier aus der Tasche, legte die Neun Pforten vor sich hin und schlug sie bei der Titelseite auf. Bevor er zu arbeiten begann, lüftete er ein wenig die Gardine und warf einen Blick hinaus. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite war ein BMW geparkt. Rochefort stand also beharrlich Wache. Corso schaute auch zu der Bar an der Ecke hinüber, aber das Mädchen war nicht zu sehen.

Dann wandte er sich dem Buch zu: Beschaffenheit des Papiers, Drucktiefe der Holzschnitte und Errata. Mittlerweile wußte er, daß die drei Exemplare nur formal miteinander identisch waren: schwarzer Ledereinband ohne Titel, fünf Bünde, Pentagramm auf dem Deckel, Anzahl der Blätter, Verteilung der Bildtafeln ... Mit Eselsgeduld ging er Seite um Seite durch und vervollständigte die komparativen Tabellen, die er mit der Nummer eins begonnen hatte. Auf Seite 81 fand er neben der unbedruckten Rückseite des fünften Holzschnitts ein Karteikärtchen der Baronin, auf dem eine weitere Textpassage entschlüsselt und übersetzt war:

Du erklärst dich einverstanden mit dem Bündnispakt, den wir schließen, indem ich mich an dich ausliefere. Und du versprichst mir die Liebe der Frauen und die Unschuld der Jungfern und die Keuschheit der Nonnen, die Würden, die Genüsse und die Reichtümer der Mächtigen, der Adligen und Geistlichen. Ich werde alle drei Tage huren und mich köstlichem Rausch hingeben. Dafür verpflichte ich mich, einmal im Jahr diesen Vertrag zu erneuern, den ich mit meinem Blut unterzeichne. Ich werde dich anbeten und mit den Füßen auf den kirchlichen Sakramenten herumtrampeln. Ich brauche weder Strang noch Schwert, noch Gift zu fürchten und werde zwischen Pestkranken und Aussätzigen umhergehen können, ohne daß mein Fleisch den geringsten Schaden nimmt. Vor allem aber werde ich jene Erkenntnis erlangen, um deretwil-len meine Urahnen auf das Paradies verzichtet haben. Dieser Pakt bevollmächtigt dich, mich aus dem Buch des Lebens zu streichen und in das schwarze Buch des Todes einzutragen. Und ab sofort werde ich zwanzig Jahre glücklich auf der Erde der Menschen leben. Und nach Ablauf dieser Frist werde ich dir in dein Reich folgen und Gott verfluchen.

Auf der Rückseite des Kärtchens war auch ein Absatz von einer anderen Seite übersetzt:

Ich werde deine Diener, meine Brüder, an einem Merkmal erkennen, das sie an irgendeiner Stelle ihres Körpers tragen, hier oder dort, eine Narbe oder ein Zeichen, das du ihnen aufgeprägt hast.

Corso fluchte leise und andauernd, als murmle er ein Gebet. Dann betrachtete er die vielen Bücher, die ihn umgaben, ihre abgegriffenen, dunklen Rücken, und hatte plötzlich das Gefühl, als dringe aus ihrem Inneren ein seltsames Rumoren an sein Ohr. Jeder einzelne dieser geschlossenen Bände war eine Tür, hinter der sich Schatten bewegten, Stimmen und Geräusche, die sich aus düsteren Tiefen einen Weg zu ihm bahnten. Und bei dieser Vorstellung lief es ihm kalt über den Rücken. Wie einem hundsgewöhnlichen Spiritisten.

Es war Nacht, als er das Haus der Baronin verließ. Unter dem Portal blieb er einen Augenblick stehen, um nach rechts und links zu spähen, aber er konnte nichts Verdächtiges erkennen. Der graue BMW war verschwunden. Von der Seine stieg feiner Nebel auf, der über die steinerne Uferbrüstung quoll und sich auf das feuchte Kopfsteinpflaster legte. Die gelblichen Lichter der Straßenlaternen, die in regelmäßigen Abständen die Uferstraße erhellten, spiegelten sich auf dem Boden und beschienen die leere Bank, auf der das Mädchen gesessen hatte.

Corso ging zur Bar an der Ecke, ohne ihr zu begegnen, und dort angekommen, suchte er ihr Gesicht vergeblich unter denen, die sich am Tresen und an den kleinen Tischen im hinteren Teil des Lokals drängten. Sein Gefühl sagte ihm, daß hier etwas nicht stimmte, daß in diesem Puzzle ein Teil am falschen Platz lag. Seit dem Telefonanruf, mit dem das Mäd-chen ihn vor Rochefort gewarnt hatte, läutete in seinem Kopf eine Alarmglocke. Die Ereignisse der letzten Tage hatten seinen Instinkt geschärft, und deshalb witterte er eine nicht zu greifende Gefahr, draußen, auf der verlassenen Straße und in den Dunstschwaden, die vom Fluß heraufzogen und sich bis an die Tür des Lokals ausbreiteten. Er versuchte die unheilvollen Ahnungen mit einem Schulterzucken abzuschütteln, kaufte ein Päckchen Gauloises und zog sich zwei Gläser Gin rein, eins unmittelbar nach dem andern, ohne mit der Wimper zu zucken, bis sich seine Nasenlöcher weiteten. Alles nahm wieder seinen angestammten Platz im Universum ein, das Kameraobjektiv stellte sich scharf. Die Alarmglocke war jetzt kaum noch zu hören, und die Geräusche der Außenwelt drangen wie durch ein dickes Kissen an sein Ohr. Mit einem dritten Glas Gin in der Hand setzte er sich an einen freien Fenstertisch und blickte durch die beschlagene Scheibe auf die Straße hinaus. Der feine Nebel, der vom Ufer heraufschwebte und über die Pflastersteine kroch, wurde nur dann und wann von den Rädern eines Autos aufgewirbelt. So blieb Corso eine Viertelstunde sitzen und hielt Ausschau nach irgend etwas, das verdächtig sein könnte. Die Segeltuchtasche hatte er sich zwischen die Füße geklemmt. Sie enthielt einen Großteil der Antworten auf Varo Borjas Rätsel - der Bibliophile gab sein Geld nicht umsonst aus.

Als erstes hatte Corso das Problem mit den Varianten in acht der neun Bildtafeln gelöst. Das Exemplar Nummer drei enthielt im Vergleich zu den beiden anderen Exemplaren zusätzliche Abweichungen in Abbildung I, III und VI. Auf dem ersten Holzschnitt ragten statt vier nur drei Türme aus der mauerbewehrten Stadt auf, in die der Ritter unterwegs war. Die Abweichung in der dritten Tafel bestand darin, daß der Köcher des Bogenschützen einen Pfeil enthielt, während er in den Exemplaren aus Toledo und Sintra leer war. Und auf der sechsten Abbildung hatte der Erhängte den Strick um den rechten Fuß, in den anderen beiden Exemplaren dagegen um den linken Fuß. Die komparative Tabelle, die er in Sintra begonnen hatte, ließ sich also folgendermaßen vervollständigen:



Die neun Bildtafeln stimmten also nur dem Anschein nach überein. In Wirklichkeit gab es immer eine, die sich durch irgendein Detail von den anderen beiden unterschied - die neunte Tafel einmal ausgenommen. Diese Abweichungen waren über alle drei Exemplare verteilt, und zwar durchaus nicht willkürlich, wie es zunächst erscheinen mochte. Um das zu erkennen, mußte man nur die Varianten in den Namensinitialen studieren, mit denen auf den Holzschnitten der inventor und der sculptor gekennzeichnet waren, also der Urheber des Originalentwurfs und der ausführende Künstler: A. T. und L. F.












Wenn man die beiden Tabellen miteinander verglich, so konnte man eine Übereinstimmung entdecken: Jede Tafel, die sich in der Darstellung durch irgendein Detail von ihren beiden Pendants unterschied, wies auch eine Abweichung in den Initialen des inventor auf. Aristide Torchia war durchwegs als sculptor genannt, was hieß, daß er eigenhändig für alle drei Exemplare die Holzstöcke geschnitten hatte, von denen später die Drucke gezogen worden waren. Dagegen trat er nur in neunzehn von siebenundzwanzig Fällen auch als inventor auf, als Urheber der Vorlagen. Die verbleibenden acht Tafeln - zwei im Borja-Exemplar und jeweils drei im Fargas- und Ungern-Exemplar -gingen auf den Entwurf eines anderen zurück, eines Künstlers, dessen Initialen L. E waren und sich phonetisch sehr stark einem bestimmten Namen annäherten: Luzifer.

Türme, Hand, Pfeil, Labyrinthausgang, Sand, Fuß des Erhängten, Schachbrett, Heiligenschein: Hier lagen die Abweichungen. Acht Details, acht korrekte Bildtafeln, die zweifellos dem dunklen Delomelanicon entnommen waren, und neunzehn irgendwie abgeänderte und damit unbrauchbar gemachte Tafeln, auf drei Exemplare verteilt, die nur von Text und Einband her identisch waren. Demnach war keines der drei Bücher völlig falsch oder wirklich echt. Aristide Torchia hatte seinen Folterern die Wahrheit gesagt, wenn auch nicht die ganze. Es hatte in der Tat nur ein einziges Buch überlebt. Versteckt, vor dem Scheiterhaufen sicher und profanen Händen unzugänglich. Und die Bildtafeln waren der Schlüssel. Es blieb ein Buch, das in dreien verborgen war, und wenn der Schüler den Meister übertraf und die Regeln der Kunst beherrschte, so konnte er es mit Hilfe des Schlüssels wieder zusammensetzen.

Corso befeuchtete seine Lippen mit Gin und starrte in die Dunkelheit über der Seine, jenseits der Laternen, die kurze Strecken der Uferstraße erhellten und unter den entlaubten Bäumen tiefschwarze Schatten schufen. Er empfand keine Siegeseuphorie, ja nicht einmal Genugtuung darüber, eine schwierige Aufgabe gelöst zu haben. Die Gemütsverfassung, in der er sich jetzt befand, kannte er nur zu gut: Es war die kalte, luzide Ruhe, die ihn überkam, wenn er es endlich geschafft hatte, ein Buch zu ergattern, dem er monatelang auf der Spur gewesen war, wenn er es fertiggebracht hatte, einem Konkurrenten zuvorzukommen, sich ein unverkäuflich geglaubtes Exemplar unter den Nagel zu reißen oder aus einem Haufen wertlosen Ramsches ein Goldkörnchen herauszupicken. Er erinnerte sich an Nikon, wie sie zu einer anderen Zeit und an einem anderen Ort auf dem Teppich vor dem Fernseher saß -Audrey Hepburn und ein Journalist: zwei Verliebte in Rom -,





Videokassetten beschriftete und sich langsam im Takt der Musik wiegte, die großen dunklen Augen, aus denen nie das Staunen wich, unverwandt auf ihn gerichtet. Das war bereits die Phase gewesen, in der bisweilen Härte und Vorwurf aus ihrem Blick sprachen, Vorboten der Einsamkeit, die sich über ihnen zusammenbraute wie ein Unwetter oder eine fristlose Kündigung. >Der Jäger mit seinem Fange, hatte Nikon leise festgestellt, beinahe überrascht von ihrer Entdeckung. Vielleicht hatte sie ihn in jener Nacht zum erstenmal in diesem Licht gesehen: Corso - ein nach Atem ringender, griesgrämiger Wolf, der nach langer Hetzjagd seine Beute verschmäht. Ein Raubtier ohne Hunger und ohne Leidenschaft, dem es vor Fleisch und Blut nicht graute. Das kein anderes Ziel hatte als die Jagd selbst. Tot wie deine Beute, Lucas Corso. Wie dieses brüchige alte Papier, das du zu deinem Banner erkoren hast. Verstaubte Kadaver, die du so wenig liebst wie mich, mit denen dich nichts verbindet und die dich verdammt noch mal einen Dreck scheren.

Er fragte sich flüchtig, was wohl Nikons Reaktion gewesen wäre, wenn sie ihn so erlebt hätte: hier, am Tisch in der Bar, mit einem Kribbeln in der Leistengegend und völlig ausgetrocknetem Mund, wie er die Straße beobachtete, ohne sich zum Gehen entschließen zu können, weil er in der Wärme, im Licht, im Zigarettenqualm und im Stimmengewirr des Lokals vorübergehend sicher war vor seinen dunklen Ahnungen, vor der namen- und gestaltlosen Gefahr, die sich durch die dämpfende Wand des Gins hindurch langsam einen Weg zu ihm bahnte - wie der unheimliche Dunst, der von der Seine herankroch. Die Moorlandschaft von Devonshire stieg in ihm auf -ganz in Schwarzweiß. Ja, Nikon hätte das zu schätzen gewußt: der erstarrte Basil Rathbone und aus der Ferne das Heulen des Hundes von Baskerville.

Endlich gab er sich einen Ruck. Er leerte sein Glas, legte eine Münze auf den Tisch, hängte sich seine Segeltuchtasche über die Schulter und trat ins Freie hinaus. Dort schlug Corso seinen Mantelkragen hoch, schaute nach rechts und links und überquerte die Straße. Dann ging er an der Steinbrüstung des Quais entlang, an der Bank vorbei, auf der das Mädchen gelesen hatte. Vom Fluß glänzten die Lichter eines vorbeigleitenden Frachtkahns herauf und umgaben ihn mit einem schmutzigen, gelben Nebelhof.

Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen, nur dann und wann ein Auto, das vorüberfuhr. Auf Höhe der Rue Mazarine winkte er einem Taxi, aber es blieb nicht stehen. Also ging er noch ein Stück weiter, bis zur Rue Guenegaud, um dort die Pont Neuf in Richtung Louvre zu überqueren. Der Nebel und die düsteren Häuserfassaden gaben dem ganzen Szenarium etwas Zeitloses und Schwermütiges. Corso war unruhig wie ein Wolf, der Gefahr wittert. Er drehte den Kopf nach allen Seiten und schnupperte in die Luft. Als er bei der Brücke angekommen war, hängte er seine Segeltuchtasche auf die andere Seite, um für den Notfall die rechte Hand frei zu haben, und blieb verwundert stehen: Genau an dieser Stelle - XI. Kapitel: Der Knoten schürzt sich - sieht d’Artagnan zwei Gestalten aus der Rue Dauphine treten, die ebenfalls zum Louvre unterwegs sind und auf dieselbe Brücke zusteuern. Constance Bonacieux in Begleitung eines Herrn, der sich als der Herzog von Buckingham herausstellt und dem sein nächtliches Abenteuer beinahe einen Degenstich des Gascogners einbringt:

Ich liebe, Milord, und war eifersüchtig.

Und wenn dieses Gefühl der Gefahr nur Einbildung war, eine hinterhältige Falle, die ihm die unheimliche Umgebung und seine eigene Phantasie stellten, weil er zu viele Romane gelesen hatte? Den Telefonanruf des Mädchens und den grauen BMW vor dem Haus hatte er sich aber nicht eingebildet. In einiger Entfernung begann eine Turmuhr zu schlagen, und Corso atmete einmal tief durch. Irgendwie kam ihm das alles lächerlich vor.

Genau in diesem Augenblick stürzte sich Rochefort auf ihn. Er tauchte so urplötzlich aus der Finsternis auf, als wäre er dem Fluß entstiegen, obwohl er Corso in Wirklichkeit auf dem Kai unterhalb der Steinbrüstung gefolgt war, um bei erster Gelegenheit über eine Treppe heraufzukommen. Das mit der Treppe begriff Corso erst so richtig, als er sie kopfüber hinunterpolterte. Er hatte noch nie Gelegenheit gehabt, einen Treppensturz mitzumachen, und dachte, das würde länger dauern, Stufe um Stufe, wie im Kino, aber es ging alles sehr rasch. Nach dem ersten professionellen Faustschlag hinters rechte Ohr verlor die neblige Nacht vollends ihre Konturen, und er nahm sich selbst und seine Umgebung wahr, als habe er nicht drei Gläser, sondern eine ganze Flasche Gin intus. Eigentlich ein Vorteil, denn so hielt sich der Schmerz, für den die Kanten der Stufen verantwortlich waren, in Grenzen. Als er unten ankam, war er mit Quetschungen übersät, aber bei Bewußtsein, höchstens ein wenig verwundert, kein splash gehört zu haben. Aber schließlich war er auch nicht im Wasser gelandet. Vom Boden aus, den Kopf auf dem nassen Pflaster des Kais, die Füße noch auf den letzten Stufen der Treppe, sah er nach oben und erkannte vage die schwarze Silhouette Rocheforts, der drei Stufen auf einmal nehmend auf ihn zugeflogen kam.

Jetzt bist du dran, Corso, war der einzige Gedanke, den er fassen konnte. Dann jedoch tat er zweierlei: Als erstes versuchte er, seinem Angreifer einen Tritt zu versetzen, just als er ihn über sich hatte. Aber der Ausschlag war zu schwach und ging daneben. So blieb ihm nur noch der alte Familienreflex: Kopf einziehen und abwarten, daß das Geschützfeuer in der Abenddämmerung erlischt. Zum Dunst des Flusses gesellte sich der Nebelschleier unmittelbar vor seinen Augen, seit er beim Sturz die Brille verloren hatte. Corso schnitt eine Grimasse: Ein Unglück kam selten allein. Er zog also den Kopf ein und rollte sich um seine Tasche herum zusammen. Der Tragegurt war ihm von der Schulter gerutscht, hatte sich aber irgendwie in seinem Arm verfangen. Er war sicher, daß sein Ururgroßvater ihm von der anderen Seite der Lethe zusah und seine Reaktion guthieß. Ob sie Rochefort auch gefiel, war schwieriger zu entscheiden, fest stand nur, daß er, wie einst Lord Wellington, der traditionellen britischen Schlagkraft alle Ehre machte: Corso vernahm entfernt einen Schmerzensschrei - zumal aus seiner eigenen Kehle -, als der andere ihm einen sauberen, gezielten Tritt in die Nieren versetzte.

Die Zukunftsaussichten waren also nicht sehr rosig. Corso schloß resigniert die Augen und wartete darauf, daß irgend jemand das Blatt wenden würde. Er hörte aus nächster Nähe den Atem Rocheforts, der sich über ihn gebeugt hatte und in der Tasche herumwühlte, um sie ihm dann mit einem heftigen Ruck zu entreißen. Das ließ Corso die Augen wieder aufschlagen, und in seinem Gesichtsfeld erschien abermals die Treppe. Da sein Kopf aber auf dem Pflasterboden lag, sah er sie horizontal, in verzerrter Perspektive und ziemlich verschwommen. Aus diesem Grund begriff er nicht gleich, ob das Mädchen hinaufging oder herunterkam. Er nahm lediglich wahr, daß sie sich ihm mit unglaublicher Geschwindigkeit näherte. Ihre langen Jeansbeine sprangen im Zickzack über die Stufen, und der blaue Mantel blähte sich im Wind, oder flatterte vielmehr, Nebel aufwirbelnd, zu einer Seite des Bildes hin, wie der Mantel des Phantoms der Oper.

Er kniff neugierig die Augen zusammen und bewegte ein wenig den Kopf, um die ganze Szene in den Blick zu bekommen. Aus den Augenwinkeln sah er Rochefort, natürlich von unten nach oben, wie er einen Satz zur Seite machte, während das Mädchen die letzten Stufen auf einmal nahm und sich auf ihn warf. Dabei stieß sie einen kurzen, trockenen Schrei aus, der schärfer war als die Kante einer Glasscherbe. Corso hörte ein dumpfes Geräusch - paff oder vielleicht dump - und Rochefort verschwand von der Bildfläche, als sei er mit einer Schleuder wegkatapultiert worden. Jetzt konnte er nur noch die leere Treppe sehen, aber es gelang ihm schließlich, den Kopf mühsam zum Ufer hin zu drehen und die linke Backe aufs Pflaster zu legen. Das Bild war immer noch verzerrt: auf einer Seite der Boden, auf der anderen der schwarze Himmel, unten die Brücke und oben die Seine, aber wenigstens sah er jetzt Rochefort und das Mädchen. Den Bruchteil einer Sekunde hob sie sich vom dunstigen Schein der Brückenlaternen ab: Sie stand reglos da, die Beine leicht gespreizt, die Hände nach vorn gestreckt, als bitte sie um einen Moment Ruhe, weil sie einem fernen Lied lauschen wollte, dessen Melodie sie zu faszinieren schien. Rochefort kauerte vor ihr, ein Knie und eine Hand auf dem Boden, wie einer von diesen Boxern, die sich nicht zum Aufstehen entschließen können, während der Ringrichter schon »acht, neun, zehn« zählt. Das von der Brücke kommende Licht schien auf die Narbe an seiner Wange, und Corso konnte gerade noch seine völlig verdatterte Miene sehen, bevor das Mädchen wieder diesen schrillen, messerscharfen Schrei ausstieß, sich auf die Zehenspitzen erhob, mit einem Bein -scheinbar völlig mühelos - einen Halbkreis beschrieb und Rochefort brutal mitten ins Gesicht trat.

Загрузка...