Zufall? Herrgott noch mal, daß ich nicht lache.
Mit dieser Erklärung lassen sich nur Idioten abspeisen.
M. Zevaco, Les Pardaillan
GEBRÜDER CENIZA
BUCHBINDER UND RESTAURATOREN
ANTIQUARISCHE BÜCHER
Die Holztafel hing an einem Fenster, das blind vor Staub war -ein rissiges Firmenschild mit verwitterter Schrift. Die Werkstatt der Gebrüder Ceniza befand sich in einer düsteren Madrider Gasse, im Hochparterre eines vierstöckigen Altbaus, dessen Rückseite mit Gerüsten abgestützt war.
Lucas Corso läutete zweimal, erhielt aber keine Antwort. Nach einem Blick auf die Uhr lehnte er sich an die Hauswand und richtete sich auf ein längeres Warten ein. Schließlich kannte er die Gewohnheiten von Pedro und Pablo Ceniza. Um diese Uhrzeit standen sie zwei Straßen weiter am Marmortresen der Bar La Taurina, tranken einen halben Liter Wein zum Frühstück und sprachen über Bücher und Stierkämpfe -Zecher, Junggesellen, griesgrämig und unzertrennlich.
Zehn Minuten später sah er sie nebeneinander daherschlurfen. Die grauen Staubmäntel flatterten wie Leichentücher um ihre skeletthaften, gekrümmten Körper, die sich ein Leben lang über Druckerpressen und Stempel gebeugt, Bogen geheftet und Fileten vergoldet hatten. Sie waren beide noch unter Fünfzig, aber man konnte sie leicht zehn Jahre älter schätzen, wenn man ihre eingefallenen Wangen betrachtete, ihre Augen und Hände, die von der handwerklichen Kleinarbeit angegriffen waren, ihre fahle Haut, auf die das Pergament, mit dem sie umgingen, abgefärbt zu haben schien. Die Ähnlichkeit zwischen den beiden Brüdern war verblüffend: Sie hatten dieselbe große Nase, dieselben an den Schädel geklebten Ohren, dasselbe schüttere Haar, das sie ohne Scheitel nach hinten kämmten. Das einzige, worin sie sich auffällig unterschieden, war ihre Körpergröße und ihre Gesprächigkeit. Pablo, der Jüngere, war größer und schweigsamer als sein Bruder. Pedro hatte einen rasselnden Raucherhusten, und seine Hand, mit der er eine Zigarette nach der anderen anzündete, zitterte immer leicht.
»Was für eine Überraschung, Senor Corso. Freut uns, Sie wiederzusehen.«
Sie stiegen ihm voraus eine Holztreppe mit ausgetretenen Stufen hinauf. Pablo Ceniza steckte den Schlüssel ins Schloß der Tür, die sich knarrend öffnete, und betätigte den Lichtschalter. In der Werkstatt herrschte wie immer ein heilloses Durcheinander. Neben der mächtigen alten Druckerpresse stand ein Zinktisch, auf dem sich alles mögliche befand: Werkzeuge, Druckbogen, die halb geheftet oder bereits mit einem Rücken versehen waren, Papierschneidemaschinen, gefärbtes Leder, Leimtöpfe, Streicheisen und andere Arbeitsutensilien. Und natürlich stapelten sich überall Bücher: Bücher mit Saffian-, Chagrin- oder Kalbsledereinbänden, Bücher, die abholbereit zu Stößen geschichtet waren, und Bücher ohne oder mit unbezogenen Deckeln, die erst noch fertiggestellt werden mußten. Auf Holzbänken und in Regalen warteten antike Bände, denen die Feuchtigkeit oder der Bücherwurm zugesetzt hatten, auf ihre Restaurierung. Es roch nach Papier, nach Buchbinderleim und neuem Leder. Corso weitete genüßlich die Nasenflügel. Dann zog er das Buch aus seiner Tasche und legte es auf den Tisch.
»Ich wüßte gerne, was Sie davon halten.«
Es war nicht das erstemal, daß er bei ihnen Rat einholen kam. Pedro und Pablo Ceniza näherten sich langsam, beinahe scheu. Wie üblich ergriff der Ältere als erster das Wort:
»Die Neun Pforten ...« Er berührte das Buch, ohne es zu verrücken; seine knochigen, nikotinverfärbten Finger strichen darüber, als habe er es mit lebender Haut zu tun. »Ein schönes Buch. Und sehr rar.«
Pedro Ceniza hatte graue Mausäuglein. Grauer Staubmantel, graues Haar, graue Augen - alles an ihm war grau. Beim Anblick des Buches bekam sein Mund einen gierigen Ausdruck.
»Haben Sie es vorher schon einmal zu Gesicht bekommen?« fragte Corso.
»Ja, vor weniger als einem fahr, als wir im Auftrag von Claymore zwanzig Bücher aus der Bibliothek von Don Gualte-rio Terrai restauriert haben.«
»In welchem Zustand gelangte es in Ihre Hände?«
»In ausgezeichnetem Zustand. Senor Terrai wußte, wie man mit Büchern umgeht. Fast alle waren gut erhalten. Nur ein Teixeira hat uns ein bißchen mehr Arbeit gemacht. Aber die anderen, das hier eingeschlossen, brauchten wir nur oberflächlich zu säubern.«
»Es soll gefälscht sein«, sagte Corso unvermittelt.
Die beiden Brüder sahen sich an.
»Gefälscht, gefälscht . « murmelte der Ältere mißmutig. »Dieses Wort wird viel zu leicht in den Mund genommen.«
»Viel zu leicht«, echote der andere.
»Sogar von Ihnen, Senor Corso. Und das überrascht uns. Ein Buch zu fälschen ist unrentabel - das lohnt bei weitem nicht den Aufwand. Ich meine natürlich eine richtige Fälschung, kein Faksimile, mit dem man Bauerntölpel übers Ohr haut.«
Corso bat mit einer beschwichtigenden Geste um Nachsicht.
»Ich will ja nicht behaupten, das ganze Buch sei eine Fälschung, aber vielleicht ist es teilweise gefälscht. Es kommt öfter vor, daß Exemplare, denen eine oder mehrere Seiten fehlen, mit Kopien aus anderen Exemplaren vervollständigt werden, die komplett sind.«
»Natürlich: Das ist das Abc unseres Berufes. Aber verwechseln Sie bitte nicht das Hinzufügen einer Fotokopie oder eines Faksimiles mit der Vervollständigung eines lückenhaften Buches nach .« Er wandte sich an seinen Bruder, ohne Corso aus den Augen zu lassen. »Sag du es ihm, Pablo.«
»Nach allen Regeln der Kunst«, erläuterte der jüngere Ceniza.
Corso setzte eine komplizenhafte Miene auf: ein Kaninchen, das eine halbe Mohrrübe teilt.
»Das könnte aber hier der Fall sein.«
»Wer sagt das?«
»Sein Besitzer. Und der ist gewiß kein Bauerntölpel.«
Pedro Ceniza zuckte mit der schmalen Schulter und zündete sich an der Glut seiner letzten Zigarette eine neue an. Beim ersten Zug wurde er von einem Hustenanfall gepackt, aber er rauchte unbeirrt weiter.
»Hatten Sie schon Gelegenheit, Ihr Exemplar mit einem als echt eingestuften zu vergleichen?«
»Die werde ich bald haben. Aber vorher wollte ich Ihre Meinung hören.«
»Das hier ist ein wertvolles Buch, und wir üben keine exakte Wissenschaft aus.« Er wandte sich erneut an seinen Bruder. »Stimmt’s, Pablo?«
»Wir üben eine Kunst aus«, bekräftigte der andere.
»Da hören Sie es. Es täte uns leid, Sie enttäuschen zu müssen, Senor Corso.«
»Sie werden mich nicht enttäuschen. Wer wie Sie in der Lage ist, von dem einzigen bekannten Exemplar des Speculum Vitae eine Fälschung anzufertigen, die so gut ist, daß sie in einem der renommiertesten Kataloge Europas als authentisch geführt wird ... Wer das schafft, der weiß, was er in der Hand hat.«
Die beiden setzten ein säuerliches Grinsen auf - gleichzeitig, als wären sie synchronisiert.
»Es ist nie bewiesen worden, daß wir das waren«, sagte endlich Pedro Ceniza. Er rieb sich die Hände und warf verstohlene Blicke auf das Buch.
»Nie«, wiederholte sein Bruder mit einem Anflug von Melancholie in der Stimme - als bedauere er es, einer Gefängnisstrafe und damit der offiziellen Anerkennung der eigenen Urheberschaft entgangen zu sein.
»Das stimmt«, gab Corso zu. »Und Beweise fehlen auch im Fall von Geoffrey Chaucer, der dem Katalog der Sammlung Manoukian zufolge von Marius Michel gebunden wurde. Oder im Fall der Polyglotten Bibel des Barons Bielke, deren fehlende drei Seiten von Ihnen so perfekt imitiert wurden, daß die Experten es noch heute nicht wagen, ihre Echtheit in Zweifel zu ziehen .«
Pedro Ceniza hob seine gelbliche Hand mit den ungewöhnlich breiten Fingernägeln.
»Ich glaube, wir müssen hier etwas klarstellen, Senor Corso. Es gibt Leute, die Bücher in kommerzieller Absicht fälschen, und Leute, die es aus Liebe zu ihrem Handwerk tun, denen es einzig darum geht, etwas zu kreieren, oder - wie im Großteil der Fälle - im wahrsten Sinne des Wortes zu >rekreieren< .«
Der Buchbinder blinzelte ein wenig und lächelte dann verschmitzt. Seine kleinen Mausaugen glänzten, als er sie wieder auf die Neun Pforten heftete. »Obwohl ich mich nicht daran erinnere, und mein Bruder sicher auch nicht, an diesen Arbeiten beteiligt gewesen zu sein, die Sie als bewundernswert bezeichnen.«
»Ich sagte perfekt.«
»Ach ja? Egal.« Er führte sich die Zigarette zum Mund und sog so kräftig daran, daß seine hohlen Wangen noch mehr einfielen. »Aber wer auch immer der Urheber oder die Urheber waren, glauben Sie mir, daß diese Arbeit für ihn oder sie ein persönliches Vergnügen war - eine innere Genugtuung, die sich nicht mit Geld bezahlen läßt .«
»Sine pecunia«, kommentierte sein Bruder.
Pedro Ceniza blies den Rauch seiner Zigarette lässig durch die Nase und den halb geöffneten Mund aus.
»Nehmen wir zum Beispiel diesen Speculum, den die Sorbonne als echtes Exemplar gekauft hat. Schon allein das Papier, der Satz, der Druck und die Bindung müssen mindestens fünfmal so viel gekostet haben wie der Gewinn, den die Autoren oder Fälscher, wie Sie es nennen, daraus gezogen haben. Es gibt Leute, die das nicht verstehen können ... Stellen Sie sich einen Maler vor, der das Talent Velazquez’ besitzt und in der Lage ist, seine Gemälde nachzuahmen: Woran liegt ihm wohl mehr? Daran, Geld zu machen, oder daran, seine Bilder zwischen Las Meninas und der Schmiede Vulkans im Prado aufgehängt zu sehen?«
Corso stimmte ihm rückhaltlos zu. Acht Jahre lang hatte der Speculum der Brüder Ceniza zu den wertvollsten Werken der Pariser Bibliothek gezählt. Und die Entdeckung, daß es sich um eine Fälschung handelte, war keinesfalls das Verdienst von Experten, sondern Zufall gewesen. Ein Mittelsmann, der geplaudert hatte.
»Werden Sie immer noch von der Polizei belästigt?«
»Nein, fast nie. Vergessen Sie nicht, daß der Skandal in Frankreich ausgebrochen ist. Unsere Namen wurden zwar auch damit in Verbindung gebracht, aber nachweisen konnte uns keiner etwas.« Pedro Ceniza setzte erneut ein schiefes Lächeln auf. »Mit der Polizei stehen wir auf gutem Fuße. Sie zieht uns sogar zu Rate, wenn es darum geht, gestohlene Bücher zu identifizieren.« Er deutete mit der qualmenden Zigarette auf seinen Bruder: »Keiner versteht es so gut wie Pablo, Bibliotheksstempel, Exlibris oder Besitzervermerke aus einem Buch verschwinden zu lassen - manchmal verlangen sie von ihm, diese Arbeit im entgegengesetzten Sinne durchzuführen. Sie wissen schon: Leben und leben lassen.«
»Was halten Sie von den Neun Pforten?«
Der ältere der beiden Brüder sah den anderen an, dann das Buch und schüttelte den Kopf.
»Seinerzeit ist uns nichts Ungewöhnliches daran aufgefallen. Wir haben es zwar nicht gründlich studiert, aber gewisse Unstimmigkeiten springen einem sofort ins Auge.«
»Uns jedenfalls«, präzisierte sein Bruder.
»Und jetzt?«
Pedro Ceniza zog ein letztesmal an seiner Zigarette, die zu einem winzigen Stummel geschrumpft war, und ließ sie dann auf den Boden fallen, zwischen seine Schuhe, wo sie vollends verglomm. Das Linoleum war mit Brandlöchern übersät.
»Gut erhaltener venezianischer Einband aus dem 17. Jahrhundert . « Die beiden Brüder beugten sich über das Buch, aber nur der ältere von ihnen berührte die Seiten mit seinen blassen, kalten Händen. Man hätte sie für Präparatoren halten können, die vor einem Tierkadaver stehen und beratschlagen, wie er wohl am besten auszustopfen sei. »Schwarzes Maroquinleder mit goldgeprägten Pflanzenornamenten .«
»Etwas nüchtern für Venedig«, meinte Pablo Ceniza.
Sein Bruder pflichtete ihm mit einem neuerlichen Hustenanfall bei.
»Wahrscheinlich hat sich der Künstler in Anbetracht des Themas zurückgehalten.« Er sah Corso an. »Haben Sie schon die Deckel untersucht? Die Ledereinbände aus dem 16. und 17. Jahrhundert bergen mitunter Überraschungen. Die Pappe für die Buchdeckel wurde aus losen Blättern hergestellt, die man mit Leim tränkte und dann preßte. Oft wurden dazu Druckproben desselben Buches verwendet, oder gar noch ältere Drucke . Manche Deckel sind heute mehr wert als die Bücher, zu denen sie gehören - man hat da unglaubliche Funde gemacht.« Er deutete auf ein paar Blätter, die auf dem Tisch lagen. »Dort haben Sie ein Beispiel. Erzähl du ihm, was das ist, Pablo.«
»Kreuzzugsbullen aus dem fahr 1483 ...«, erklärte der Angesprochene mit einem ordinären Grinsen, als gehe es nicht um totes Papier, sondern um pikantes pornographisches Material. »In den Deckeln wertloser Gedenkbücher aus dem 16. Jahrhundert.«
Pedro Ceniza war immer noch auf die Neun Pforten konzentriert: »Der Einband scheint mir in Ordnung«, sagte er. »Es paßt alles zusammen. Ein kurioses Buch, nicht wahr? Rücken mit fünf Bünden, kein Titel, dafür aber dieses mysteriöse Pentagramm auf dem Vorderdeckel . Torchia, Venedig 1666. Womöglich hat er es selbst gebunden. Tadellose Arbeit.«
»Was meinen Sie zu dem Papier?«
»Jetzt erkenne ich Sie wieder, Senor Corso. Das ist eine gute Frage.« Der Buchbinder fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, als wolle er ihnen damit etwas Wärme verleihen. Danach packte er die Schnittkanten der Seiten mit dem Daumen und ließ sie durchsausen, wobei er angestrengt auf ihren Klang lauschte - genau wie Corso es schon bei Varo Borja getan hatte. »Ausgezeichnetes Papier! Überhaupt nicht zu vergleichen mit der Zellulose, die man jetzt verwendet . Kennen Sie die durchschnittliche Lebenserwartung eines Buches, das heutzutage gedruckt wird? Sag du es ihm, Pablo.«
»Siebzig Jahre«, erwiderte der andere in vorwurfsvollem Ton, als läge die Schuld daran bei Corso. »Siebzig schäbige Jahre.«
Der ältere Bruder suchte zwischen den Utensilien auf dem Tisch herum, bis er eine besonders starke Speziallupe gefunden hatte, mit der er an das Buch heranging.
»Bis in hundert Jahren«, murmelte er, während er ein Blatt anhob und es mit zusammengekniffenen Augen gegen das Licht betrachtete, »wird beinahe alles, was sich heute in den Buchhandlungen befindet, verschwunden sein. Aber diese Bände hier, die zweihundert oder gar fünfhundert Jahre alt sind, werden unversehrt überleben . Wir haben eben nicht nur die Welt, sondern auch die Bücher, die wir verdienen. Stimmt’s, Pablo?«
»Scheißbücher auf Scheißpapier.«
Pedro Ceniza nickte zustimmend mit dem Kopf und fuhr fort, die Neun Pforten mit seiner Lupe zu untersuchen.
»Da hören Sie es . Zellulosepapier vergilbt, wird mit der Zeit spröde wie eine Hostie, bis es schließlich ganz zerfällt. Es altert und stirbt.«
»Das hier ist aber kein Zellulosepapier«, sagte Corso und deutete auf die Neun Pforten. Der Buchbinder war immer noch dabei, die Blätter gegen das Licht zu betrachten.
»Nein, das ist einwandfreies Büttenpapier. Es wird aus Hadern gemacht und ist gegen die Zeit ebenso gefeit wie gegen die menschliche Dummheit ... Moment, stimmt nicht. Das ist Leinenpapier. Echtes Leinenpapier.« Er hob den Blick von der Lupe und sah seinen Bruder an. »Komisch ... Das kann nicht aus Venedig kommen. Stark, spongiös, faserig ... Vielleicht aus Spanien?«
»Aus Valencia«, sagte der andere. »Jativa-Leinen.«
»Genau - damals eines der besten in Europa. Die Italiener haben es viel importiert. Denkbar, daß der Künstler eine Partie davon an Land gezogen hat . Der Mann wollte seine Sache offensichtlich gut machen.«
»Ja, er ist äußerst gewissenhaft zu Werk gegangen«, meinte Corso. »Und dafür hat er mit dem Leben bezahlt.«
»Das gehörte zu seinen Berufsrisiken.« Pedro Ceniza nahm die zerknitterte Zigarette an, die Corso ihm hinhielt, und zündete sie augenblicklich an, ohne sich um seinen Husten zu kümmern. »Aber um auf das Papier zurückzukommen: Bekanntlich läßt sich damit schlecht etwas vormachen. Wir hätten auf alle Fälle ein Ries zeitgenössisches, weißes Papier benötigt, und selbst das hätten wir noch entsprechend behandeln müssen. Sie wissen ja, daß sich die Blätter eines Buches im Lauf der Zeit bräunlich verfärben, daß die Druckerschwärze oxidiert . Sicher, wir können die Seiten, die wir hinzufügen wollen, fleckig machen oder in schwarzen Tee tauchen und nachdunkeln. Aber das ist alles nicht so einfach. Nach einer fachgerechten Restaurierung oder Ergänzung mit authentisch wirkenden Seiten muß ein Buch aussehen wie aus einem Guß. Und dabei kommt es vor allem auf die Details an. Habe ich recht, Pablo? Diese verdammten Details!«
»Wie lautet also Ihre Diagnose?«
»Nun, wenn man genau gegeneinander abwägt, was möglich, was unmöglich und was wahrscheinlich ist, gelangt man zu dem Ergebnis, daß der Einband des Buches aus dem 17. Jahrhundert stammt. Das bedeutet nicht, daß die Blätter, die das Buch enthält, ursprünglich zu diesem Einband gehören - aber nehmen wir es einmal an. Was das Papier betrifft, so hat es ähnliche Eigenschaften wie andere Partien, die genau datiert sind. Es scheint also auch zeitgenössisch zu sein.«
»Okay. Einband und Papier sind echt. Kommen wir zum Text und zu den Abbildungen.«
»Hier wird die Sache etwas komplizierter. Von der Warte des Typographen aus betrachtet gibt es zwei Möglichkeiten. Erstens: Das Buch ist echt. Aber Sie sagen ja, sein Besitzer habe beweiskräftige Gründe, das zu bestreiten - somit wäre diese Alternative zwar möglich, aber wenig wahrscheinlich. Wenn es sich dagegen - und das wäre die andere Variante um eine Fälschung handelt, dann tun sich zwei Wege auf. Zunächst: Der ganze Text ist frei erfunden, apokryph, aber auf Papier der Zeit gedruckt und unter Verwendung alter Deckel gebunden. Das ist vorstellbar, scheint jedoch unwahrscheinlich oder, besser gesagt, wenig überzeugend. Die Herstellungskosten für das Buch wären viel zu hoch gewesen . Die zweite Möglichkeit kommt der Annahme einer Fälschung eher entgegen: Das Buch könnte kurze Zeit nach der ersten Ausgabe gefälscht worden sein. Ich denke da an einen leicht modifizierten Nachdruck, den man als Erstausgabe hingestellt hat, obwohl er in Wirklichkeit nicht 1666 angefertigt wurde, dem angegebenen Erscheinungsjahr, sondern zehn oder zwanzig Jahre später. Nur, warum das Ganze?«
»Weil die erste Auflage von der Inquisition verbrannt worden ist«, erwiderte Pablo Ceniza.
»Das wäre eine Erklärung«, stimmte Corso zu. »Irgend jemand, der im Besitz der von Aristide Torchia benützten Klischees und Typen war, hat das Buch nachgedruckt.«
Der ältere der beiden Brüder war dabei, mit einem Bleistift etwas auf ein Blatt zu kritzeln.
»Möglich. Aber ich finde die anderen Alternativen oder Hypothesen plausibler ... Stellen Sie sich zum Beispiel vor; daß es sich bei dem Buch um ein authentisches, aber lückenhaftes Exemplar handelt, aus dem ein paar Seiten herausgerissen wurden oder verlorengegangen sind, und daß jemand mit Papier der Zeit, einer guten Drucktechnik und sehr viel Geduld die fehlenden Seiten ersetzt hat. In diesem Fall gäbe es wieder zwei Möglichkeiten: Entweder die hinzugefügten Seiten wurden aus einem anderen, vollständigen Exemplar kopiert, oder aber sie sind frei erfunden, da es keine Originale gab, die als Vorlage hätten dienen können.« Der Buchbinder zeigte Corso, was er gezeichnet hatte. »Hier hätten wir es dann mit einer echten Fälschung zu tun, wie Sie auch auf diesem Schema sehen können.«
Während Corso und der jüngere Bruder die Zeichnung betrachteten, blätterte Pedro Ceniza noch einmal die Neun Pforten durch.
»Ich will Ihnen sagen, was ich glaube«, meinte er, als die beiden sich ihm zuwandten. »Wenn gefälschte Seiten in das Buch eingefügt worden sind, dann muß das entweder in der Zeit des Erstdrucks geschehen sein oder aber in unseren Tagen.
Die Zeitspanne dazwischen können wir ausschließen, da es bis vor kurzem unmöglich war, alte Schriftstücke mit einer solchen Perfektion zu reproduzieren.«
Corso gab ihm das Schema zurück.
»Angenommen, Sie haben es mit einem lückenhaften Exemplar zu tun, das Sie mit modernen Techniken vervollständigen wollen ... Wie würden Sie vorgehen?«
Die Brüder Ceniza seufzten im Gleichtakt, tief und professionell: Allein bei dem Gedanken an eine solche Möglichkeit lief ihnen das Wasser im Munde zusammen. Beide hatten jetzt den Blick auf die Neun Pforten geheftet.
»Gut«, hob der Ältere an. »Stellen wir uns also vor, wir hätten dieses Buch von 168 Seiten, und die Seite 100 würde fehlen ... 100 und 99 natürlich, denn schließlich hat jedes Blatt zwei Seiten. Und wir möchten diese Seite ersetzen. Das Kunststück besteht darin, einen Zwilling aufzutreiben.«
»Einen Zwilling?«
»So nennt man das im Fachjargon«, erklärte Pablo Ceniza. »Ein anderes, vollständiges Exemplar.«
»Oder eins, in dem wenigstens die beiden Seiten erhalten sind, die wir kopieren müssen. Wenn möglich, vergleichen wir auch den ganzen Zwilling mit unserem lückenhaften Exemplar, um festzustellen, ob es Unterschiede in der Drucktiefe gibt oder ob die Typen in einem abgenützter sind als im anderen ... Sie kennen das ja: Zu einer Zeit, in der die Lettern beweglich waren und sich im Handdruck schnell abnützten oder beschädigt wurden, konnten das erste und das letzte Exemplar ein und derselben Auflage unter Umständen große Unterschiede aufweisen . verbogene oder kaputte Typen, unterschiedliche Schwärzungen und ähnliches. Diese Untersuchung würde uns später in die Lage versetzen, kleine Mängel aus der einzufügenden Seite auszumerzen oder im Gegenteil anzubringen, um sie den restlichen Seiten anzugleichen ... Als nächstes würden wir eine plastische Photolithographie anfertigen. Und von dieser würden wir einen Polymer- oder Zinkabdruck machen.«
»Ein Klischee aus Kunstharz oder Metall«, sagte Corso.
»Genau. So perfekt die modernen Reprotechniken auch sind, man würde mit ihnen nie dasselbe Resultat erzielen wie mit den alten Holz- oder Bleidruckformen, also diesen charakteristischen Reliefcharakter auf dem Papier. Deshalb müssen wir die ganze Seite in formbarem Material wie Kunstharz oder Metall reproduzieren und ein Klischee herstellen, dessen technische Eigenschaften mit denen der alten Druckplatte vergleichbar sind, die 1666 aus beweglichen Lettern zusammengesetzt wurde. Dann kommt dieses Klischee in die Presse, und wir machen einen Handabzug, genau wie vor vierhundert Jahren ... Natürlich auf Papier der Zeit, das vorher und nachher mit den entsprechenden Methoden künstlich gealtert wird. Schließlich würden wir auch die Zusammensetzung der Druckfarbe eingehend studieren und sie mit chemischen Substanzen derart präparieren, daß sie mit der alten Druckfarbe identisch ist. Und damit ist das Verbrechen auch schon perfekt.«
»Was aber, wenn es kein Original der Seite gibt? Keine Vorlage, nach der die beiden fehlenden Seiten kopiert werden können?«
Die Brüder Ceniza lächelten selbstsicher und wie immer unisono.
»Dann«, erwiderte der Ältere, »wird die Arbeit erst richtig spannend.«
»Forschung und Phantasie«, fügte der andere hinzu.
»Und natürlich Wagemut, Senor Corso. Gehen wir davon aus, daß Pablo und ich dieses lückenhafte Exemplar der Neun Pforten haben. In diesem Fall verfügen wir mit den restlichen 166 Seiten über einen ganzen Katalog von Lettern und Zeichen, die der ursprüngliche Drucker benützt hat. Wir verwenden diesen Katalog als Vorlage, um ein vollständiges Alphabet zusammenzustellen. Dieses Alphabet übertragen wir dann auf Photopapier, weil das einfacher zu handhaben ist, und vervielfältigen jeden Buchstaben so oft wie es nötig ist, um die ganze Seite zu setzen. Noch kunstgerechter wäre es natürlich, die Typen aus Blei zu gießen, wie es die Drucker früher gemacht haben . Aber das ist für uns leider zu aufwendig und zu teuer. Wir müssen wohl oder übel mit den modernen Techniken vorliebnehmen. Wir schneiden also mit einer Klinge die einzelnen Buchstaben aus, und dann setzt Pablo von Hand die beiden Seiten, Zeile für Zeile, genau wie ein Setzer aus dem 17. Jahrhundert. Wenn das geschehen ist, machen wir noch einmal einen Probeabzug auf Papier, korrigieren unregelmäßige Abstände zwischen den einzelnen Buchstaben und ähnliche kleine Fehler - oder bauen im Gegenteil Mängel ein, wie sie in den Buchstaben, Linien und Seiten des Originaltextes vorkommen. Zum Schluß fertigen wir ein Negativ an und davon eine plastische Druckplatte: das endgültige Klischee.«
»Und wenn es sich bei den fehlenden Seiten um Illustrationen handelt?«
»Das ist egal. Wenn wir über die Originalzeichnung verfügen, ist das Reproduktionsverfahren sogar noch einfacher. Mit Holzschnitten wie diesen hier, deren Linien klarer sind als die von Kupferstichen oder Radierungen, läßt sich saubere Arbeit leisten.«
»Nehmen wir an, die Originalzeichnung sei verschollen.«
»Das wäre auch kein Problem. Wenn wir sie aus Beschreibungen kennen, fertigen wir sie danach an. Wenn nicht, erfinden wir sie. Natürlich nach eingehendem Studium der anderen, erhaltenen Bildtafeln. Das kann jeder bessere Zeichner.«
»Und der Druck?«
»Sie wissen ja selbst, daß Holzschnitte im Hochdruckverfahren vervielfältigt werden: Die Zeichnung wird zuerst auf einen längs der Faser geschnittenen, weiß grundierten Holzstock übertragen. Dann wird sie mit dem Messer herausgeschnitten, so daß sie erhaben stehenbleibt, eingefärbt und auf Papier abgezogen . Wer einen Holzschnitt reproduzieren will, hat zwei Möglichkeiten: Entweder er überträgt die Zeichnung auf Kunstharz, oder er arbeitet selbst mit Holz, genau wie die Künstler vor Hunderten von Jahren; in diesem Fall wird direkt vom Holzstock gedruckt . Da mein Bruder ein ausgezeichneter Holzschneider ist, würden wir nach dieser handwerklichen Methode verfahren. Kunst soll Kunst nachahmen, wo immer möglich.«
»Das ist sauberer«, warf Pablo ein.
Corso zwinkerte ihm komplizenhaft zu.
»Wie mit dem Speculum der Sorbonne.«
»Kann schon sein, daß sein oder seine Urheber dieselben Ansichten vertreten wie wir . Was meinst du, Pablo?«
»Jedenfalls waren sie Romantiker«, erwiderte der andere.
»Das mit Sicherheit.« Corso deutete auf das Buch. »Und jetzt geben Sie Ihr Urteil ab.«
»Ich würde sagen, daß es echt ist«, erwiderte Pedro Ceniza, ohne zu zögern. »Nicht einmal wir wären in der Lage, etwas so Perfektes zustande zu bringen. Sie sehen ja selbst, es stimmt alles: Qualität des Papieres, Stockflecken auf den Seiten, einheitliche Tönung, Unregelmäßigkeiten im Auftrag der Druckfarbe, Typographie . Es ist nicht ausgeschlossen, daß nachträglich fehlende Seiten eingefügt worden sind, aber ich halte das für unwahrscheinlich. Wenn das Buch gefälscht ist, dann muß es sich um eine Fälschung der Zeit handeln - das wäre die einzige Erklärung. Wieviel Exemplare sind denn bekannt? Drei? Sicher haben Sie schon die Möglichkeit in Betracht gezogen, daß alle drei gefälscht sind.«
»Ja, das habe ich. Was halten Sie von den Bildtafeln?«
»Seltsam sind sie, soviel steht fest. Mit all diesen Zeichen ... Aber sie stammen auch aus derselben Zeit. Die Drucktiefe der
Klischees ist identisch. Ebenso die Druckfarbe, die Tönung des Papiers ... Vielleicht liegt der Schlüssel nicht darin, wie und wann sie gedruckt wurden, sondern in ihrer Aussage. Tut mir leid, daß wir Ihnen nicht weiterhelfen können.«
»Sie irren sich.« Corso schickte sich an, das Buch zu schließen. »In Wirklichkeit haben Sie mir sehr viel weitergeholfen.«
Pedro Ceniza hielt ihn zurück.
»Noch etwas, obwohl Ihnen das bestimmt schon aufgefallen ist: die Zeichen des Holzschneiders.«
Corso sah ihn verwirrt an.
»Ich verstehe nicht . Was meinen Sie?«
»Die mikroskopisch kleinen Signaturen am Fuß einer jeden Abbildung ... Zeig du sie ihm, Pablo.«
Der jüngere Bruder rieb sich die Hände an seinem Staubmantel, als wären sie verschwitzt, was jedoch unmöglich war. Dann beugte er sich mit der Lupe über die Neun Pforten und zeigte Corso ein paar Seiten.
»Jeder Holzschnitt«, erklärte er ihm, »ist mit den üblichen Abkürzungen versehen: inv. für invenit mit den Initialen des Malers, von dem der Entwurf stammt, und sculp. für sculpsit -der Holzschneider . Schauen Sie her: Auf sieben der neun Bildtafeln kommt die Abkürzung A. Torch. als sculp. und inv. vor. Somit ist klar, daß der Drucker selbst sieben Bildtafeln entworfen und geschnitten hat. Aber auf den anderen beiden taucht er nur als sculp. auf. Das heißt also, daß er diese nur geschnitten hat. Und daß der Autor der Originalzeichnungen, der inv., ein anderer war: jemand mit den Namensinitialen L. E«
Pedro Ceniza, der den Erläuterungen seines Bruders kopfnikkend gefolgt war, zündete sich schon wieder eine Zigarette an.
»Nicht schlecht, was?« Hustend stieß er den Rauch aus. Seine schlauen Mausäuglein funkelten verschmitzt, während er Corso ansah. »Dieser Drucker war nicht alleine, wenn auch nur er verbrannt worden ist.«
»Nein«, sagte sein Bruder mit einem düsteren Lachen. »Irgend jemand hat geholfen, den Scheiterhaufen aufzuschichten.«
Am Abend desselben Tages bekam Corso noch Besuch von Liana Taillefer. Die Witwe erschien ohne Voranmeldung, und zwar genau zur Dämmerstunde, als der Bücherjäger in einem verwaschenen Baumwollhemd und einer alten Kordhose auf seinem verglasten Balkon saß und die rot- und ockerfarben glühenden Dächer der Stadt betrachtete. Das war vielleicht nicht der günstigste Augenblick, und unter Umständen hätte sich viel von dem, was danach passierte, vermeiden lassen, wenn sie zu einer anderen Uhrzeit aufgetaucht wäre. Aber sicher werden wir das nie erfahren. Fest steht nur folgendes: Corso saß auf seinem Balkon, und sein Blick wurde trüber, je tiefer der Pegel seines Gin-Glases sank, als es plötzlich läutete und Liana Taillefer auf der Schwelle der Wohnungstür erschien
- groß, blond, atemberaubend, in ihrem englischen Trenchcoat, unter dem sie ein maßgeschneidertes Kostüm und schwarze Seidenstrümpfe trug. Das Haar hatte sie im Nacken aufgedreht und unter einem tabakfarbenen Borsalino-Hut mit breiter Krempe versteckt, der ihr schräg auf dem Kopf saß. Das wirkte sehr verwegen und stand ihr ausgezeichnet, was sie selbst am besten zu wissen schien. Sie machte den Eindruck einer schönen Frau, die gerne Aufsehen erregt.
»Was verschafft mir die Ehre?« fragte Corso - ein törichter Satz, aber zu dieser Uhrzeit und mit dem Gin, den er bereits intus hatte, konnte er sich keine brillanten Dialoge mehr abverlangen. Liana Taillefer hatte bereits das Zimmer durchquert und stand jetzt vor dem Schreibtisch, auf dem neben dem Computer und den Diskettenboxen das Dumas-Manuskript lag.
»Arbeiten Sie immer noch daran?«
»Klar.«
Sie wandte sich von dem Vin d’Anjou ab, um ihren Blick ruhig durch das Zimmer schweifen zu lassen, über die vielen Bücher, die sich auf dem Fußboden stapelten und die Wandregale füllten. Corso begriff, daß sie Fotos suchte, Andenken, irgendwelche Indizien, die ihr geholfen hätten, ihn zu taxieren. Da sie aber nichts dergleichen fand, zog sie verdrießlich und arrogant eine Augenbraue hoch. Schließlich blieben ihre Augen an dem Säbel der Alten Garde hängen.
»Sammeln Sie Degen?«
Logische Schlußfolgerung nannte man so etwas. Durch Induktion gewonnen. Corso verzeichnete erleichtert, daß Liana Taillefers Talent, peinliche Situationen zu überbrücken, weit hinter dem Eindruck zurückblieb, den sie nach außen hin vermittelte. Es sei denn, sie nahm ihn auf den Arm. Er setzte also vorsichtshalber nur ein sehr zurückhaltendes Lächeln auf.
»Ich sammle diesen hier. Das ist ein Säbel.«
Sie nickte mit ausdrucksloser Miene, und es war nicht zu erraten, ob sie eine mittelmäßige oder eine gute Schauspielerin war.
»Ein Familienerbstück?«
»Nein, gekauft«, log Corso. »Ich dachte, der paßt gut an die Wand. Immer nur Bücher - das wird mit der Zeit langweilig.«
»Warum haben Sie überhaupt keine Bilder, keine Fotos?«
»Weil es niemanden gibt, an dessen Andenken mir etwas liegt.« Er dachte an das silbergerahmte Foto des verstorbenen Taillefer, auf dem er mit Schürze bekleidet vor einem Spanferkel stand. »In Ihrem Fall ist das natürlich etwas ganz anderes.«
Sie beobachtete ihn scharf. Als wolle sie den Grad an Frechheit bestimmen, der sich in seinen Worten verbarg. Ihre blauen Augen blitzten wie Stahl und waren so kalt, daß Corso ein Frösteln überlief. Sie ging ein wenig herum, verweilte vor ein paar Büchern, betrachtete die Stadtlandschaft jenseits des Balkons und wandte sich dann wieder dem Schreibtisch zu.
Einer ihrer Finger mit den blutrot lackierten Nägeln strich über den Ordner, der das Dumas-Manuskript enthielt. Vielleicht wartete sie darauf, daß Corso irgendeinen Kommentar abgab, aber der Bücherjäger schwieg und beschränkte sich darauf, geduldig zu warten. Wenn sie etwas wollte - und das war offensichtlich -, dann sollte sie ihre schmutzige Arbeit selbst erledigen. Er war nicht bereit, ihr die Sache zu erleichtern.
»Darf ich mich setzen?«
Wieder diese heisere Stimme. Der Nachklang einer schlechten Nacht, erinnerte sich Corso. Er blieb abwartend in der Mitte des Zimmers stehen, die Hände in den Hosentaschen vergraben. Liana Taillefer legte Hut und Trenchcoat ab, sah sich unendlich langsam um und wählte ein altes Sofa aus. Sie schlenderte darauf zu, ließ sich träge nieder - der Rock ihres maßgeschneiderten Kostüms erwies sich in dieser Position als ausgesprochen kurz - und überkreuzte die Beine in einer Art, die den stärksten Mann umgehauen hätte, nicht nur Corso, und das selbst, wenn er nüchtern gewesen wäre.
»Ich bin gekommen, um über ein Geschäft mit Ihnen zu sprechen.«
Das war klar. Ohne Absicht fuhr man solche Geschütze nicht auf. Corso mangelte es keineswegs an Selbstwertgefühl, aber dumm war er nicht.
»Sprechen Sie nur«, sagte er. »Haben Sie schon mit Flavio La Ponte zu Abend gegessen?«
Keine Reaktion. Die Witwe blieb völlig gelassen und fuhr fort, ihn von oben herab zu betrachten.
»Nein, noch nicht«, antwortete sie schließlich ruhig. »Ich wollte vorher Sie treffen.«
»Nun, jetzt haben Sie mich ja getroffen.«
Liana Taillefer lehnte sich etwas tiefer in das Sofa zurück. Ihre Hand ruhte auf einem Riß des zerschlissenen Lederbezugs, durch den die Roßhaarfüllung zum Vorschein kam.
»Sie arbeiten für Geld«, sagte sie.
»Ganz recht.«
»Verkaufen sich dem Meistbietenden.«
»Manchmal.« Corso entblößte einen Eckzahn. Jetzt, wo er sich auf seinem Terrain befand, konnte er auf die Kaninchenmasche verzichten. »Normalerweise verpachte ich mich. Wie Humphrey Bogart im Film. Wie die Nutten.«
Für eine Witwe, die als kleines Mädchen in der Schule Bilder gestickt hatte, blieb Liana Taillefer erstaunlich unberührt von seiner unflätigen Ausdrucksweise.
»Ich möchte Ihnen einen Auftrag anbieten.«
»Wie schön. Zur Zeit werden mir von allen Seiten Jobs angeboten.«
»Ich werde Sie sehr gut dafür bezahlen.«
»Toll. Derzeit wollen mich auch alle gut bezahlen.«
Die Witwe hatte ein langes Roßhaar aus der kaputten Armlehne des Sofas gezogen und wickelte es sich zerstreut um den Zeigefinger.
»Was zahlt Ihnen Ihr Freund La Ponte?«
»Flavio? Nichts. Der läßt sich keinen roten Heller abknöpfen.«
»Warum arbeiten Sie dann für ihn?«
»Sie haben es ja selbst gesagt. Weil er mein Freund ist.«
Corso hörte, wie sie das Wort nachdenklich wiederholte.
»Aus Ihrem Mund klingt das komisch«, sagte sie dann mit einem kaum wahrnehmbaren Lächeln, das Verachtung und Neugier zugleich verriet. »Haben Sie auch Freundinnen?«
Corso ließ seinen Blick langsam und unverschämt von ihren Knöcheln zu ihren Schenkeln hinaufwandern.
»Ich habe Erinnerungen. Ihre zum Beispiel könnte mir heute nacht gute Dienste leisten.«
Liana Taillefer ertrug seine Vulgarität mit stoischer Gelassenheit. Vielleicht war Corsos Anspielung aber auch zu subtil für sie.
»Nennen Sie mir eine Zahl«, sagte sie kalt. »Ich will das Manuskript meines Mannes zurückhaben.«
Das Geschäft ließ sich gut an. Corso setzte sich der Witwe gegenüber in einen Sessel. Von hier war der Ausblick auf ihre schwarzbestrumpften Beine besser: Sie hatte die Schuhe abgestreift und die Füße auf den Teppich gestellt.
»Letztes Mal schienen Sie mir nicht so interessiert.«
»Ich habe es mir noch einmal genau überlegt. Dieses Manuskript hat für mich einen . Wie soll ich sagen?«
»Sentimentalen Wert?« fragte Corso spöttisch.
»So etwas Ähnliches.« Ihre Stimme klang jetzt herausfordernd. »Aber nicht, wie Sie meinen.«
»Und was wären Sie bereit, dafür zu tun?«
»Das habe ich Ihnen schon gesagt. Sie bezahlen.«
Corsos Lippen verzogen sich zu einem frechen Grinsen.
»Sie beleidigen mich. Ich bin ein Profi.«
»Sie sind ein Profisöldner, und die wechseln das Lager, wie es kommt. Ich lese auch Bücher.«
»Mir fehlt es nicht an Geld.«
»Ich spreche jetzt nicht von Geld.«
Sie hatte sich in das Sofa zurückgelegt und rieb sich mit einem Fuß den Rist des anderen. Corso sah durch die schwarzen Seidenstrümpfe hindurch ihre rot lackierten Zehen. Ihr Rock rutschte mit jeder Bewegung höher und gab bereits ein kleines Stück weißes Fleisch frei, oberhalb der schwarzen Strumpfbänder, dort, wo alle Rätsel zu einem einzigen, uralten Rätsel verschmelzen. Der Bücherjäger hob mühsam den Blick. Die stahlblauen Augen fixierten ihn immer noch.
Er nahm seine Brille ab, erhob sich und ging auf das Sofa zu. Die Frau beobachtete ihn, ohne mit der Wimper zu zucken, selbst als er so dicht vor ihr stand, daß ihre Knie sich berührten. Und dann hob Liana Taillefer eine Hand und legte ihre rot lackierten Nägel genau auf den Reißverschluß seiner Kordhose. Wieder spielte ein kaum wahrnehmbares, verächtliches und selbstsicheres Lächeln um ihre Lippen, als Corso sich endlich über sie beugte und ihren Rock bis zum Bauchnabel hochschob.
Mehr als ein Nehmen und Geben war es ein gegenseitiger Überfall, als benützten beide die Gelegenheit, auf dem Sofa eine alte Rechnung zu begleichen - ein harter Kampf unter gleichwertigen Gegnern, mit dem passenden Stöhnen im richtigen Augenblick, dem einen oder anderen durch die Zähne gepreßten Fluch und den Nägeln der Frau, die sich erbarmungslos in Corsos Rücken krallten. Und das alles auf einer Handbreit Raum, ihr Rock über den kräftigen, breiten Hüften, die er mit verkrampften Händen umklammerte, während sich ihm die Schnallen ihres Strumpfhalters in die Leisten gruben. Er schaffte es nicht einmal, ihre Brüste zu sehen, obwohl er sie ein paarmal anzufassen bekam - festes Fleisch, das heiß und üppig aus ihrem BH quoll, unter der Seidenbluse und der maßgeschneiderten Kostümjacke, die Liana Taillefer im Eifer des Gefechts nicht hatte ausziehen können. Und jetzt lagen sie da, Arme, Beine und Kleider ineinander verheddert, atemlos, erschöpft wie zwei Ringkämpfer. Und Corso, der sich fragte, wie er aus diesem Schlamassel wieder herauskommen sollte. »Wer ist Rochefort?« fragte er, bereit, es zu einem Eklat kommen zu lassena Taillefer sah ihn aus zehn Zentimeter Entfernung an. Die untergehende Sonne warf einen rötlichen Schimmer auf ihr Gesicht, das blonde Haar hatte sich gelöst und lag wirr über das Ledersofa verteilt. Zum erstenmal wirkte sie entspannt.
»Niemand Wichtiges«, erwiderte sie, »jetzt, wo ich das Manuskript zurückbekomme.«
Corso küßte ihren zerknitterten Ausschnitt, um sich von ihm
und seinem Inhalt zu verabschieden. Er ahnte, daß er dazu nicht so schnell wieder Gelegenheit bekommen würde.
»Was für ein Manuskript?« fragte er, um irgend etwas zu sagen, und bemerkte, wie ihr Blick im selben Moment hart und ihr Körper unter ihm steif wurde.
»Der Vin d’Anjou.« Ihre Stimme verriet einen Anflug von Nervosität. »Sie geben ihn mir doch zurück, oder?«
Corso gefiel der Ton nicht, mit dem sie auf einmal zum »Sie« zurückkehrte. Er glaubte sich vage erinnern zu können, daß sie sich während des Scharmützels geduzt hatten.
»Das habe ich nicht gesagt.«
»Ich dachte ...«
»Sie haben falsch gedacht.«
Der Stahl in ihren Augen blitzte auf. Wutentbrannt schnellte sie in die Höhe, indem sie ihn mit einer brüsken Hüftbewegung von sich warf.
»Gemeiner Kerl!«
Corso, der drauf und dran gewesen war, in Gelächter auszubrechen und die Angelegenheit mit ein paar zynischen Witzen abzutun, fühlte sich gewaltsam nach hinten geschleudert und knallte mit den Knien auf den Boden. Während er sich aufrappelte und seinen Gürtel wieder zumachte, baute Liana Taillefer sich bleich und furchtbar vor ihm auf, mit verrutschter Bluse, die wundervollen Schenkel noch immer entblößt, und verpaßte ihm eine so saftige Ohrfeige, daß sein linkes Trommelfeld dröhnte wie nach einem Kanonenschuß aus nächster Nähe.
»Elender Schuft!«
Der Bücherjäger geriet ins Taumeln. Betäubt sah er sich um wie ein Boxer auf der Suche nach irgend etwas, woran er sich festklammern konnte, um nicht auf die Matte zu gehen. Liana Taillefer kreuzte sein Blickfeld, aber er nahm sie kaum wahr: Sein Ohr schmerzte höllisch. Er stierte mit dumpfem Blick auf den Säbel von Waterloo, als er das Geräusch von berstendem Glas vernahm. Kurz darauf sah er sie wieder im rötlich schimmernden Gegenlicht des Fensters. Sie hatte ihren Rock nach unten gezogen und hielt in der einen Hand das DumasManuskript und in der anderen den Hals einer zerbrochenen Flasche. Die gläserne Schnittkante näherte sich seinem Hals.
In einer Reflexbewegung riß er den Arm hoch und trat einen Schritt zurück. Die Gefahr löste einen Adrenalinschub in ihm aus, so daß er geistesgegenwärtig die Hand Liana Taillefers zur Seite schlug und ihr einen Fausthieb auf den Hals versetzte, der ihr den Atem nahm und sie jäh stoppte. Die nächste Szene war etwas friedlicher: Corso hob das Manuskript und die kaputte Flasche vom Boden auf, und Liana Taillefer saß wieder auf dem Sofa und hielt sich mit beiden Händen den schmerzenden Hals. Das Haar fiel ihr jetzt wirr ins Gesicht, und sie rang unter aufgebrachten Schluchzern mühsam nach Luft.
»Dafür werde ich Sie umbringen, Corso«, hörte er sie endlich sagen. Mittlerweile war die Sonne am anderen Ende der Stadt ganz untergegangen, und die Schatten der Nacht krochen bis in die letzten Winkel der Wohnung. Lucas Corso machte das Licht an, reichte der Frau verlegen Mantel und Hut und ging zum Telefon, um ihr ein Taxi zu rufen. Die ganze Zeit über vermied er es, ihr in die Augen zu sehen. Später, als er ihre Schritte im Treppenhaus verhallen hörte, stellte er sich ans Fenster und sah eine Weile auf die dunklen Dächer hinab, die sich im Schein des langsam aufgehenden Mondes abzeichneten.
>Dafür werde ich Sie umbringen, Corso.<
Er schenkte sich ein großes Glas Gin ein. Liana Taillefers fratzenhaft entstelltes Gesicht, ihr wutverzerrter Mund wollten ihm nicht aus dem Kopf. Wie Dolche hatten ihre Augen ihn durchbohrt, und das war kein Scherz gewesen: Sie hatte ihn wirklich töten wollen. Wieder wurden Erinnerungen in ihm wach. Langsam stiegen sie in ihm empor, ohne daß er diesmal sein Gedächtnis sonderlich anzustrengen brauchte. Schließlich stand klar und deutlich ein Bild vor seinen Augen, von dem er genau wußte, wo es hingehörte. Auf seinem Schreibtisch lag die Faksimileausgabe der Drei Musketiere. Er öffnete sie, suchte die Szene und fand sie auf Seite 129: Inmitten von umgestoßenen Möbeln sprang Milady wie eine Furie vom Bett und ging mit gezücktem Dolch auf den nur mit seinem Hemd bekleideten d’Artagnan los, der erschrocken zurückwich und sie mit der Spitze seines Degens in Schach hielt.