Woher er kommt, weiß ich nicht.
Aber wohin er geht, das kann ich Euch sagen:
Er geht zur Hölle.
A. Dumas, Der Graf von Monte Christo
Corso kam mit Einbruch der Dunkelheit nach Hause. Die geprellte Hand in seiner Manteltasche pochte schmerzhaft. Er ging ins Bad, hob seinen zerknüllten Schlafanzug und ein Frotteetuch vom Boden auf und hielt sein Handgelenk fünf Minuten unters kalte Wasser. Danach öffnete er in der Küche zwei Konservenbüchsen und aß im Stehen zu Abend.
Es war ein seltsamer Tag gewesen, seltsam und gefährlich. Corso dachte immer noch etwas verwirrt über seine Erlebnisse nach, wenngleich er im Grunde eher neugierig als besorgt war. Er nahm unvorhergesehenen Ereignissen gegenüber die Haltung eines Fatalisten ein, der gelassen daraufwartet, daß das Leben den nächsten Schritt tut. Dieser Abstand zum Geschehen, diese Neutralität, schloß von vornherein aus, daß er sich für irgend etwas verantwortlich fühlte. Bis zum heutigen Vormittag in der schmalen Gasse von Toledo hatte er immer nur die Rolle des Vollstreckers gespielt. Die Opfer waren andere gewesen. Wenn er jemanden belog oder mit ihm verhandelte, so geschah dies in völlig distanzierter Weise, ohne moralischen Bezug zu Menschen oder Dingen, die lediglich Gegenstand seiner Arbeit waren. Lucas Corso blieb am Rande - ein Söldner, der sich für seine Dienste bezahlen ließ, mit der Sache an sich aber nichts zu tun hatte. Ein Außenstehender. Wahrscheinlich erlaubte ihm gerade diese Haltung, sich immer in Sicherheit zu fühlen, genau wie wenn er seine Brille abnahm und die Menschen und Dinge vor seinen Augen verschwam-men: hatten sich ihre festen Umrisse einmal aufgelöst, so konnte er sie einfach ignorieren - als existierten sie überhaupt nicht. Nun kündigten jedoch der konkrete Schmerz in seiner Hand und die Ahnung einer Gefahr, die gewaltsam in sein Leben, nicht in das eines anderen, einzubrechen drohte, besorgniserregende Änderungen an. Lucas Corso, der so oft den Henker gespielt hatte, war an die Rolle des Opfers nicht gewöhnt. Und das machte ihn ratlos.
Seine verletzte Hand brannte, seine verkrampften Muskeln schmerzten, und seine Kehle war wie ausgedörrt. Er öffnete also eine Flasche Gin und suchte in der Segeltuchtasche nach Aspirintabletten. Davon trug er immer einen kleinen Vorrat mit sich herum, neben Bleistiften und Kugelschreibern, halb vollgeschriebenen Notizheften, einem Schweizer Offiziersmesser, Paß und Geld, einem prallen Telefonbüchlein sowie eigenen und bestellten Büchern. Mit dieser Ausstattung konnte er jederzeit wie eine Schnecke mit ihrem Haus verschwinden, ohne etwas zurückzulassen. Die Segeltuchtasche ermöglichte es ihm, ein provisorisches Lager aufzuschlagen, wo immer der Zufall oder seine Arbeit ihn auch hinführten: in Flughäfen, Bahnhöfen, staubigen Buchhandlungen und Hotelzimmern, die in seiner Erinnerung zu einem einzigen Raum mit austauschbaren Wänden verschmolzen. Erwachen ohne Anhaltspunkte, Herzklopfen in der Dunkelheit, wenn er nach dem Lichtschalter tastete und das Telefon umstieß, Konfusion. Augenblicke, die sich dem Leben und dem Bewußtsein entziehen. Corso war sich dann in nichts sicher, nicht einmal seiner selbst, wenn er die Augen aufschlug, während der ersten dreißig Sekunden, in denen der Körper schneller wach wird als das Denk- oder Erinnerungsvermögen.
Er setzte sich vor den Computer, ordnete seine Notizhefte und verschiedene Nachschlagewerke auf einem Tisch zu seiner Linken an. Die Neun Pforten und das Dossier von Varo Borja legte er nach rechts. Dann lehnte er sich in den Stuhl zurück, zündete eine Zigarette an und ließ sie fünf Minuten lang in seinen Fingern vor sich hinqualmen, ohne sie zum Mund zu führen. Während dieser Zeit tat er nichts als schluckweise den restlichen Gin zu trinken, auf den leeren Bildschirm zu starren und auf das Pentagramm, das den Deckel des Buches schmückte. Endlich gab er sich einen Ruck, drückte den Zigarettenstummel in einem Aschenbecher aus, rückte seine verbogene Brille auf der Nase zurecht und begann zu arbeiten. Varo Borjas Dossier stimmte mit Crozets Enzyklopädie der Drucker und der kuriosen Buchraritäten überein:
TORCHIA, Aristide. Venezianischer Buchdrucker, Graveur und Buchbinder (l620-1667). Signet: eine Schlange und ein Baum, in den der Blitz einschlägt. Lehre in der Werkstatt der Elzeviers in Leiden (Holland). Nach Venedig zurückgekehrt, gibt er eine Reihe von kleinformatigen Werken (Duodezformat, Sedezformat) zu Themen der Philosophie und des Okkultismus heraus, die großen Anklang finden.
Besonders hervorzuheben sind Die Geheimnisse der Weisheit von Nicola Tamisso (3 Bde., Duodezformat, Venedig 1650) und ein kurioser Schlüssel zum Gefängnis der Gedanken (1 Bd., 132 x 75 mm, Venedig 1653). Die drei Bücher über die Kunst von Paolo d’Este (6 Bde., Oktavformat, Venedig 1658), Ausführliche Erklärung der Hieroglyphen und Arcana (1 Bd., Oktavformat, Venedig 1659), ein Nachdruck von Bernardo Trevisanos Das Zauberwort (1 Bd., Oktavformat, Venedig 1661) und Die neun Pforten ins Reich der Schatten (1 Bd., in Folio, Venedig 1666). Der Druck des letztgenannten Buches führt zu seiner Verhaftung durch die Inquisition. Seine Werkstatt wird mit dem gesamten gedruckten oder noch zu druk-kenden Material zerstört. Torchia erleidet dasselbe Schicksal wie sein Werk. Wegen Schwarzer Magie und Hexerei zum Tode verurteilt, stirbt er am 17. Februar 1667 auf dem Scheiterhaufen.
Corso legte den Ordner beiseite, um die erste Seite des Buches zu studieren, das den Venezianer das Leben gekostet hatte. DE UMBRARUM REGNI NOVEM PORTIS lautete der Titel. Darunter folgte das sogenannte Signet, das Zeichen des Druk-kers, das manchmal nur die Form eines simplen Monogramms hat, aber auch eine komplizierte Illustration sein kann. Im Fall Aristide Torchias bestand es aus einem Baum, von dem der Blitz einen Ast abspaltet. Eine Schlange, die sich in den eigenen Schwanz beißt, ein ouroboros, kringelte sich um seinen Stamm. Die Abbildung wurde von dem Motto Sie Luceat Lux begleitet: So erstrahle das Licht. Am Fuß der Seite Ort, Name und Datum: Venetiae, apud Aristidem Torchiam. Gedruckt in Venedig, im Hause von Aristide Torchia. Und darunter: M.DC.LX.VI. Cum superiorum privilegio veniaque. Mit Privileg und Genehmigung der Obrigkeiten. Corso tippte weiter:
Exemplar ohne Exlibris und ohne handschriftliche Anmerkungen. Dem Auktionskatalog der Terral-Coy-Sammlung (Claymore, Madrid) zufolge vollständig. Fehler bei Mateu (spricht von 8 statt 9 Holzschnitten in diesem Exemplar). In Folio. 299 x 215 mm. Unbedruckter Vorsatz, 160 Seiten und 9 Holzschnitte außerhalb des Textes, von I bis VIIII durchnumeriert. Seiten: 1 Titelseite mit Druckermarke, 157 Textseiten. Die letzte weiß, ohne Kolophon. Holzschnitte alle Recto, blattgroß. Verso weiß.
Er untersuchte genauestens eine Abbildung nach der anderen. Varo Borja zufolge stammten die Originalzeichnungen ja aus der Feder des leibhaftigen Teufels. Jeder Holzschnitt wurde von einer römischen Ordinalzahl und ihrer jeweiligen Entsprechung im Hebräischen und Griechischen begleitet, sowie von einem lateinischen Satz, der mit Abkürzungen verschlüsselt war. Corso fuhr fort zu schreiben:
I. NEM. PERV.TQVIN.NLEG. CERT.RIT: Ein Ritter reitet auf eine Stadt zu, die mit einer Stadtmauer umgeben ist. Er legt den Zeigefinger an die Lippen, als gemahne er zur Vorsicht oder zum Schweigen.
II. CLAVS. PAT.T: Ein Eremit, der zwei Schlüssel in der Hand hält, steht vor einer verschlossenen Tür. Auf dem Boden steht eine Laterne. Er wird von einem Hund begleitet. Neben ihm ist ein Zeichen abgebildet, das dem hebräischen Buchstaben Teth ähnelt.
III. VERB. D.SVM C.S.TARCAN.: Ein Wanderer oder Pilger geht auf eine Brücke zu, die über einen Fluß führt.
Sie ist an beiden Enden mit einem Turm bewehrt, dessen Tore verschlossen sind. Von einer Wolke aus zielt ein Bogenschütze auf den Weg, der zu der Brücke führt.
IIII. Die lateinische Zahl ist so dargestellt, nicht in ihrer üblichen Form IV) FOR. N.N OMN. A.QVE: Ein Narr mit Schellenkappe steht vor einem Labyrinth aus Stein, dessen Eingangstür auch hier verschlossen ist. Auf dem Boden liegen drei Würfel, von denen jeweils drei Seiten mit einem, zwei und drei Punkten zu sehen sind.
V. FR.ST.A: Ein Geizhals oder Kaufmann zählt einen Sack Goldstücke ab. Hinter seinem Rücken steht der Tod, in einer Hand eine Sanduhr und in der anderen eine Heugabel.
VI. DIT.SCO M.R.: Hier ist die Figur des Gehängten dargestellt, wie man ihn aus den Tarotkarten kennt. Er hat die Hände auf dem Rücken gefesselt und hängt an einem Bein von der Mauerzinne einer Burg. Neben ihm ein Turm mit verschlossenem Tor. Aus einer Schießscharte des Turmes reckt ein Arm mit Panzerhandschuh ein brennendes Schwert heraus.
VII. DIS.S P.TI.R M.: Ein König und ein Bettler spielen Schach. Das Schachbrett hat ausschließlich weiße Felder. Durch ein Fenster, das sich neben einer verschlossenen Tür befindet, scheint der Mond in den Raum. Unter dem Fenster raufen zwei Hunde.
VIII. VIC. I.T VIR.: Ein Scharfrichter mit erhobenem Schwert schickt sich an, eine Frau zu enthaupten, die mit entblößtem Hals vor einer Stadtmauer kniet. Im Hintergrund ein Glücksrad, auf dem sich drei menschliche Figuren in unterschiedlichen Positionen befinden: eine auf dem Scheitelpunkt, eine in aufsteigender, eine in absteigender Richtung.
VIIII. (Auch diese Zahl ist so dargestellt, anstatt des üblichen IX) N.NC SC.O TEN.BR. LVX: Auf einem siebenköpfigen Drachen reitet eine nackte Frau, die ein geöffnetes Buch in der Hand hält. Ein Halbmond, der in ihrem Schoß liegt, verdeckt ihr Geschlecht. Im Hintergrund eine brennende Burg auf einem Hügel, deren Tor - wie die Türen der anderen acht Holzschnitte - verschlossen ist.
Er hörte auf zu tippen, streckte seine steifen Glieder und gähnte. Vom Lichtkegel seiner Arbeitslampe und dem Bildschirm des Computers abgesehen, lag das Zimmer im Dunklen. Durch die Scheiben der Glasveranda drang das schwache Licht der Straßenlaternen zu ihm herauf. Er trat auf den Balkon, um in die Nacht hinauszuspähen, obwohl er eigentlich nicht wußte, was er dort zu sehen erwartete. Vielleicht einen Wagen mit gelöschten Scheinwerfern, an den Bordstein geparkt, und die Umrisse einer schwarzen Gestalt hinterm Steuer. Aber bis auf die Sirene eines Krankenwagens, die sich zwischen den massigen dunklen Häuserblocks verlor, fiel ihm nichts auf. Sein Blick wanderte zur Uhr eines nahegelegenen Kirchturms: Es war fünf Minuten nach Mitternacht.
Er setzte sich wieder vor den Computer und das Buch und betrachtete noch einmal die erste Abbildung, das Signet auf der Titelseite mit der Schlange, die Aristide Torchia sich als Symbol ausgewählt hatte. Sic Luceat Lux. Schlangen und Teufel, Beschwörungsformeln und okkulte Zeichen. Corso hob sein Glas und trank voller Sarkasmus auf das Andenken des Druckers. Er mußte entweder sehr mutig oder sehr dumm gewesen sein. Im Italien des 17. Jahrhunderts bezahlte man solche Scherze teuer, auch wenn man cum superiorum privilégia veniaque druckte.
Moment mal ... Corso starrte in eine Ecke des dunklen Zimmers und verfluchte sich laut. Warum war er da nicht früher draufgekommen? Mit Privileg und Genehmigung der Obrigkeiten? Das konnte ja gar nicht sein!
Seine Augen blickten unverwandt auf die Buchseite, während er sich zurücklehnte und noch eine seiner zerknitterten Zigaretten anzündete. Ihr Rauch stieg spiralförmig im Lichtschein der Lampe auf und bildete einen dünnen, grauen Vorhang, hinter dem die gedruckten Zeilen sich wellten.
Dieses cum superiorum privilégia veniaque war völlig absurd! Oder aber meisterhaft subtil. Unmöglich, daß dieses Imprimatur, diese Druckerlaubnis, von einer der herkömmlichen Obrigkeiten erteilt worden war. Die katholische Kirche hätte im Jahr 1666 niemals ein Buch genehmigt, dessen unmittelbarer Vorgänger - das Delomelanicon - bereits seit fünfundfünfzig Jahren auf dem Index der verbotenen Schriften stand. Demnach bezog Aristide Torchia sich also nicht auf eine Druckerlaubnis der kirchlichen Zensoren. Und auch nicht auf die der weltlichen Behörde, die dafür zuständig gewesen wäre, die Regierung der Republik Venedig. Er mußte zweifellos anderen Obrigkeiten gehorcht haben ...
Corso wurde vom Läuten des Telefons unterbrochen. Es war Flavio La Ponte, der ihm erzählen wollte, daß er zusammen mit einem Posten Bücher - En-bloc-Angebot: alles oder nichts -eine Kollektion europäischer Straßenbahnfahrscheine gekauft hatte. 5 775, um genau zu sein. Alle Nummern Palindrome, in Schuhkartons nach Ländern geordnet. Ja, das meinte er im Ernst. Der Sammler war vor kurzem gestorben, und seine Familie hatte den Plunder loswerden wollen. Kannte Corso nicht jemanden, der eventuell daran interessiert war? Natürlich, La Ponte wußte, daß es nur einem Fanatiker oder Irren einfallen konnte, 5775 Fahrscheine mit Zahlenpalindromen zusammenzutragen, ein absolut nutzloses Unternehmen. Wer sollte so einen Quatsch kaufen? Doch, die Idee war vielleicht gut: das Londoner Verkehrsmuseum. Diese Engländer mit ihren Perversionen ... Ob Corso sich um diese Sache kümmern könnte?
Was das handschriftliche Kapitel Dumas’ betraf, so war auch La Ponte etwas besorgt. Er hatte zwei anonyme Telefonanrufe erhalten - ein Mann und eine Frau, die sich für den Vin d’Anjou interessierten, und das war seltsam, denn er hatte in Erwartung des Gutachtens mit keinem über diese Angelegenheit gesprochen. Corso berichtete ihm von seiner Unterhaltung mit Liana Taillefer und davon, daß er selbst ihr gesagt hatte, wer der neue Besitzer des Manuskripts war.
»Sie kannte dich von deinen Besuchen bei dem Verblichenen, und übrigens«, fiel ihm wieder ein, »sie möchte eine Kopie deiner Quittung haben.«
Am anderen Ende der Leitung erklang dröhnendes Gelächter. Eine Quittung, das konnte sie sich aus dem Kopf schlagen. Taillefer hatte ihm die Handschrift verkauft und damit basta. Aber wenn die Witwe die Sache noch einmal persönlich mit ihm besprechen wollte - La Ponte lachte anzüglich -, so stand dem von seiner Seite nichts im Wege. Corso fragte ihn, ob es nicht möglich sei, daß der Verleger vor seinem Tod mit irgend jemandem über das Manuskript gesprochen habe, aber sein Freund war skeptisch. Taillefer hatte nachdrücklich darauf bestanden, daß er den Mund hielt, bis er selbst ihm einen entsprechenden Hinweis geben würde. Und das hatte er zum Schluß unterlassen, es sei denn, man interpretierte seinen Selbstmord als Hinweis.
»Warum nicht?« fragte Corso. »Das wäre doch kein schlechter Hinweis.«
La Ponte ließ ein zynisches Lachen vernehmen und wollte dann nähere Einzelheiten über den Besuch bei Liana Taillefer wissen, den er mit obszönen Bemerkungen kommentierte. Dann beendeten beide das Gespräch, ohne daß Corso ihm von seinem Erlebnis in Toledo berichtet hätte.
Nachdem er eingehängt hatte, wandte sich der Bücherjäger wieder den Neun Pforten zu, aber es wollte ihm nicht mehr gelingen, sich darauf zu konzentrieren. Seine Gedanken kreisten um das Dumas-Manuskript. Eine innere Stimme sagte ihm, daß zwischen dem Vin d’Anjou und dem Anschlag, der in Toledo auf ihn verübt worden war, eine Verbindung bestand, auch wenn er diese Ahnung nicht begründen konnte. Er wußte nur, daß er seit seinem Besuch bei der Witwe Taillefer eine seltsame Unruhe mit sich herumtrug. Schließlich holte er den Ordner mit den blauen und weißen Blättern, massierte sich die schmerzende Hand und rief die DUMAS-Dateien im Computer auf. Der Bildschirm begann zu blinken. Unter dem Dateinamen BIO fand er folgendes:
Dumas, Alexandre (Alexandre Davy de la Pailleterie). Geboren am 24.7.1802. Gestorben am 5.12.1870. Sohn des Thomas Alexandre Dumas, General der Republik. Autor von 257 Romanen, Memoiren und anderen Erzählungen. 25 Theaterstücke. Hat exotische Gesichtszüge, da väterlicherseits Mulatte. Außeres Erscheinungsbild: groß gewachsen,
kraftstrotzend, mächtiger Hals, Kraushaar, fleischige Lippen, lange Beine. Charaktereigenschaften: vergnügungssüchtig, dominant, schwindlerisch, unzuverlässig, jovial. Hatte mindestens 27 Geliebte, zwei eheliche und vier uneheliche Kinder. Verdiente mit seiner schriftstellerischen Tätigkeit ein Vermögen, das er für Feste, Reisen, teure Weine und Blumenarrangements verschwendete oder sich von den Geliebten, Freunden und Schmarotzern abknöpfen ließ, die ihn in seinem Schloß belagerten. Seine Freigebigkeit brachte ihn schließlich an den Rand des Ruins. Nicht politische Gründe, wie im Fall seines Freundes Victor Hugo, sondern die Gläubiger zwangen ihn zur Flucht aus Paris. Freunde: Hugo, Lamartine, Michelet, Gérard de Nerval, Nodier, George Sand, Berlioz, Théophile Gautier, Alfred de Vigny u. a. Feinde: Balzac, Badère u. a.
Nein, das brachte ihn nicht weiter. Unzählige Fährten, die falsch oder nutzlos waren: Corso hatte das Gefühl, im dunkeln zu tappen. Und doch mußte es irgendwo einen Anhaltspunkt geben. Mit seiner gesunden Hand gab er den Dateinamen DUMAS.NOV ein:
Romane von Alexandre Dumas, die in Fortsetzungen erschienen sind: 1831: Historische Szenen (Revue des Deux Mondes). 1834: Jacques I et Jacques II (Journal des Enfants). 1835: lsabel de Bavière (Dumont). 1836: Murat (La Presse). 1837: Pascal Bruno (La Presse). Die Geschichte eines Tenors (Gazette Musicale). 1838: Lecomte Horace (La Presse). La salle d’armes (Dumont). Le capitaine Paul (Le Siècle). 1839: Jacques Ortis (Dumont). Leben und Abenteuer des John Davis (Revue de Paris).Le capitaine Panphile (Dumont). 1840: Mémoires d’un maître d’armes (Revue de Paris). 1841: Der Chevalier von Harmental (Le Siècle). 1843: Sylvandire (La Presse). Das Brautkleid (La Mode). Albine (Revue de Paris). Ascanio (Le Siècle). Fernande (Revue de Paris). Amaury (La Presse). 1844: Die drei Musketiere (Le Siècle). Gabriel Lambert (La Chronique). Eine Tochter des Regenten (Le Commerce). Eine korsische Familie (Démocratie Pacifique).Der Graf von Monte Christo (Journal des Débats). La comtesse Berthe (Hetzel). Die Geschichte eines Nußknackers (Hetzel). Die Königin Margot (La Presse). 1845: Nanon de Lartigues (La Patrie). Zwanzig Jahre nachher (Le Siècle). Der Chevalier von Maison-Rouge (Démocratie Pacifique). Die Dame von Monsoreau (Le Constitutionnel). Madame de Condé (La Patrie). 1846: La vicomtesse de Cambes (La Patrie). Der Bastard von Mauleon (Le Commerce). Joseph Balsamo (La Presse). L’abbesse de Pessac (La Patrie). 1847: Die Fünfundvierzig (Le Constitutionnel). Der Graf von Bragelonne (Le Siècle). 1848: Das Halsband der Königin (La Presse). 1849: Die fünf Ehen des Vaters Olifus (Le Constitutionnel). 1850: Gott lenkt (Événement). Die schwarze Tulpe (Le Siècle). Histoire d’une colombe (Le Siècle). Ange Pitou (La Presse). 1851: Olympia von Clèves (Le Siècle).1852: Gott und Teufel (Le Pays). Die Gräfin von Charny (Cadot). Isaak Laquedem
(Le Constitutionnel). 1853: Le pasteur d’Ashbourne (Le Pays). Catherine Blum (Le Pays). 1854: Vie et aventures de Catherine-Charlotte (Le Mousquetaire). Le Gentilhomme de la montagne (Le Mousquetaire). Die Mohicaner von Paris (Le Mousquetaire). Le capitaine Richard (Le Siècle). Le page du duc de Savoie (Le Constitutionnel). 1856: Die Genossen Jehus (Journal pour tous). 1857: Le dernier roi de Saxe (Le Monte-Cristo). Der Wolfsführer (Le Siècle). Le chasseur de sauvagine (Cadot). Black (Le Constitutionnel). 1858: Die Wölfinnen von Machecoul (Journal pour Tous). Mémoires d’un policier (Le Siècle). La maison de glace (Le Monte-Cristo). 1859: Ammalat-Beg (Moniteur Universel). L’histoire d’un cabanon et d’un chalet (Revue Européenne). 1860: Memoiren des Dichters Quintus Horatius Flaccus (Le Siècle). Le père la ruine (Le Siècle). La marquise d’Escoman (Le Constitutionnel). Jane (Le Siècle). 1861: Eine Nacht in Florenz (Lévy-Hetzel). 1862: Der Freiwillige von 92 (Le Monte-Cristo). 1863: La San Felice (La Presse). 1864: Die beiden Dianen (Lévy). Ivanhoë: (Pub. du Siècle). 1865: La dame de volupté (Avenir National). Le Comte de Moret (Les Nouvelles). 1866: Un cas de conscience (Le Soleil). Pariser und Provinzler (La Presse). 1867: Les blancs et les bleus (Le Mousquetaire). La terreur prussienne (La Situation). 1869: Hector de Sainte-Hermine (Moniteur Universel). Der geheimnisvolle Arzt (Le Siècle). La fille du marquis (Le Siècle).
Er lachte in sich hinein und fragte sich, was der verstorbene Enrique Taillefer wohl dafür gegeben hätte, alle diese Titel zu besitzen. Seine Brille hatte sich beschlagen, also nahm er sie ab und putzte sorgfältig die Gläser. Die Zeilen auf dem Monitor waren nun undeutlich und verschwommen wie die seltsamen Bilder, die ihm durch den Kopf schwirrten und die er nicht recht einzuordnen wußte - auch dann nicht, als er die gesäuber-te Brille aufsetzte und die Bildschirmseite wieder scharf vor seinen Augen stand. Und doch glaubte Corso jetzt, auf dem richtigen Weg zu sein. Er suchte weiter:
Baudry, Herausgeber von Le Siècle. Veröffentlicht die Drei Musketiere zwischen dem 14. März und dem 11. Juli 1844.
Andere Dateien, die er aufrief, enthielten Informationen über die Mitarbeiter, von denen Dumas sich bei seiner literarischen Tätigkeit hatte unterstützen lassen. Das waren insgesamt zweiundfünfzig gewesen, und mit den meisten von ihnen hatte er sich über kurz oder lang zerstritten. Aber Corso interessierte nur ein Name:
Maquet, Auguste-Jules. 1813- 1886. Verfaßt gemeinsam mit Alexandre Dumas verschiedene Theaterstücke, 19 Romane (darunter so bekannte wie Der Graf von Monte Christo, Der Chevalier von Maison-Rouge, Die schwarze Tulpe, Das Halsband der Königin) und vor allem die Trilogie der Drei Musketiere. Seine Zusammenarbeit mit Dumas verhilft ihm zu Berühmtheit und Reichtum. Während Dumas im Alter völlig verarmt, stirbt Maquet als reicher Mann auf seinem Schloß in Saint-Mesme. Keines der Werke, die er ohne Dumas geschrieben hat, überlebt ihn.
Corso rief die Datei mit der Kurzbiographie Dumas’ auf. Sie enthielt Auszüge aus den Memoiren des Romanciers:
Wir - also Hugo, Balzac, Soulié, De Musset und ich - waren die Erfinder der leichten Literatur. Und wir haben es geschafft, uns mit dieser Art von Literatur einen Namen zu machen, so leicht sie auch gewesen sein mag ...
Meine Phantasie verhält sich der Realität gegenüber etwa so wie ein Mann, der die Ruine eines zerstörten Bauwerks besichtigt, über Trümmer klettert, geheime Gänge erforscht, sich durch niedrige Einlasse zwängt, um mit Hilfe seiner Vorstellungskraft das ursprüngliche Aussehen des Gebäudes wiederherzustellen, als es voller Leben war, als die Freude es mit Liedern und Gelächter füllte und der Schmerz sich in wilden Schluchzern Luft machte.
Corso wandte sich entnervt von seinem Computer ab. Der Eindruck von vorher, endlich auf der richtigen Fährte zu sein, hatte sich verflüchtigt und in die letzten Winkel seines Gedächtnisses verkrochen, ohne daß es ihm gelungen wäre, ihn mit etwas Konkretem in Verbindung zu bringen. Er stand auf und machte ein paar Schritte durch das dunkle Zimmer. Danach richtete er den Schein seiner Arbeitslampe auf einen Stoß Bücher, der auf dem Boden lag: eine moderne Ausgabe der Memoiren von Alexandre Dumas dem Älteren. Er bückte sich nach zwei dicken Bänden, trug sie zum Tisch und begann sie durchzublättern, bis er auf drei Fotografien stieß. Auf einer von ihnen war Dumas, dem man seinen afrikanischen Vater deutlich ansah, im Sitzen abgelichtet; lächelnd betrachtete er Elisabeth Constant, die, so las Corso in der Bildunterschrift, gerade fünfzehn Jahre alt war, als sie die Geliebte des Romanciers wurde. Das zweite zeigte den Nestor des Fortsetzungsromans in fortgeschrittenem Alter, auf dem Gipfel seines Erfolgs; mit gutmütiger, heiterer Miene posierte er neben seiner Tochter Marie. Am amüsantesten und aufschlußreichsten fand Corso jedoch das dritte Foto: Es zeigte den fünfundsechzigjährigen Dumas mit weißem Haar, aber immer noch stattlicher Erscheinung, den Gehrock über dem mächtigen Kugelbauch geöffnet, wie er Adah Menken umarmt, eine seiner letzten Geliebten, »der es gefiel, sich leicht geschürzt mit den großen Männern ihres Lebens fotografieren zu lassen, besonders nach spiritistischen Sitzungen und Schwarzer Magie, deren große Anhängerin sie war« - so lautete die Bildlegende.
Tatsächlich waren Beine, Arme und Hals der Menken auf dem Foto entblößt, was in der damaligen Zeit wohl einem Skandal gleichkam. Die junge Frau, die der Kamera mehr Aufmerksamkeit schenkte als dem Objekt ihrer Umarmung, hatte den Kopf an die mächtige Schulter des Greises gelehnt. Und was diesen selbst betraf, so kündete sein Gesicht von einem langen Leben in Saus und Braus. Er hatte die drallen Wangen eines Genußmenschen, und um seine Lippen spielte ein sattes, ironisches Lächeln. Die Augen betrachteten den Fotografen mit spöttischem Hintersinn, als wolle er ihn zu seinem Verbündeten machen. Der dickleibige Alte mit dem unzüchtigen, feurigen Mädchen, das ihn wie eine seltene Trophäe vorzeigte - ihn, dessen Romanhelden und Abenteuer so viele Frauen zum Träumen brachten: Man hatte den Eindruck, der alte Dumas bitte um Verständnis dafür, daß er der Grille einer jungen Göre nachgab, die sich partout mit ihm fotografieren lassen wollte - aber sie war auch verdammt hübsch, die Kleine mit der samtigen Haut und den glühenden Lippen, die ihm das Leben auf dem letzten Wegabschnitt, drei Jahre vor seinem Tod, noch beschert hatte. Der alte Lüstling.
Corso schloß das Buch mit einem Gähnen. Seine Armbanduhr, ein altmodischer Chronometer, den er oft aufzuziehen vergaß, war auf Viertel nach zwölf stehengeblieben. Er trat auf die Veranda hinaus, öffnete eines der Schiebefenster und sog die frische Nachtluft ein. Die Straße machte nach wie vor einen völlig ausgestorbenen Eindruck.
>Wie seltsam das alles istx, dachte er, während er zu seinem Schreibtisch zurückging, um den Computer abzuschalten. Seine Augen fielen auf den Aktenordner mit dem DumasManuskript, er schlug ihn mechanisch auf und nahm sich noch einmal die fünfzehn Blätter mit den zweierlei Handschriften vor: elf waren hellblau und vier weiß. >Apres des nouvelles presque désespérées du roi ...< >Nach den fast hoffnungslos klingenden Nachrichten über das Befinden des Königs ...< Corso ging zu dem Stoß Bücher auf dem Boden und wählte einen dicken roten Wälzer aus - eine anastatische Ausgabe von J. C. Lattes, 1988 -, der die gesamte Trilogie der Drei Musketiere enthielt sowie den Grafen von Monte Christo in der kurz nach Dumas’ Tod erschienenen Ausgabe von Le Vasseur mit Kupferstichen. Auf Seite 144 fand er das Kapitel mit der Überschrift Le vin d’Anjou und begann zu lesen, wobei er mit der Originalhandschrift verglich. Bis auf ein paar kleine Errata waren die beiden Texte identisch. Im Buch war das Kapitel mit zwei Zeichnungen von Maurice Leloir illustriert, die Huyot gestochen hatte: König Ludwig XIII. eilt mit zehntausend Mann zur Belagerung von La Rochelle. Im Vordergrund vier Reiter seines Geleits, Musketen in der Hand, mit breitkrempigem Hut und Uniformrock der Kompanie de Tréville; bei dreien von ihnen handelte es sich mit Sicherheit um Athos, Porthos und Aramis. Kurz darauf würden sie sich mit ihrem Freund d’Artagnan treffen, der als einfacher Kadett in der Gardekompanie des Herrn Des Essarts dient. Zu diesem Zeitpunkt weiß der Gascogner noch nicht, daß die Flaschen mit Anjouwein ein vergiftetes Geschenk seiner Todfeindin Milady de Winter sind, mit denen sie sich dafür rächen will, daß d’Artagnan sie so schmählich gekränkt hat. Diesem ist es nämlich mit einem Täuschungsmanöver gelungen, sich Zugang ins Bett der Spionin Richelieus zu verschaffen und in den Genuß einer Liebesnacht zu kommen, die eigentlich dem Grafen von Wardes zugestanden hätte. Als wäre das nicht genug, hat d’Artagnan zufällig auch noch das schreckliche Geheimnis Miladys entdeckt: die Lilie auf ihrer Schulter, das Schandmal, mit dem sie vom Henker gebrandmarkt worden ist.
In Anbetracht dieser Vorgeschichte und des Charakters von Milady versteht man auch die Szene, die auf dem zweiten Kupferstich dargestellt ist: Vor den erschrockenen Augen d’Artagnans und seiner Kameraden verendet ihr Diener Brisemont unter fürchterlichen Qualen, weil er von dem Wein getrunken hat, der für seinen Herrn bestimmt war. Völlig im Bann der spannenden Erzählung, die er seit zwanzig Jahren nicht mehr gelesen hatte, gelangte Corso zu der Stelle, in der die drei Musketiere und d’Artagnan über Milady sprechen:
»Ihr seht, lieber Freund«, sagte d’Artagnan zu Athos, »es ist ein Krieg aufleben und Tod!«
Athos schüttelte den Kopf. »Ja, das sehe ich. Aber glaubt Ihr, sie ist es?«
»Das steht fest!«
»Doch ich muß Euch eingestehen, ich zweifle noch immer daran.«
»Und die Lilie auf der Schulter?«
»Vielleicht eine Engländerin, die irgendein Verbrechen in Frankreich begangen hat und dafür gebrandmarkt worden ist.«
»Aber ich sage Euch, es ist Eure Frau, Athos«, antwortete d’Artagnan. »Erinnert Ihr Euch nicht, wie sehr sich die beiden Beschreibungen gleichen?«
»Ich glaubte, sie wäre tot; ich hatte sie so gut gehenkt!« D’Artagnan schüttelte nun den Kopf.
»Aber was läßt sich jetzt tun?« fragte er.
»Man kann nicht ewig mit einem Damoklesschwert über dem Haupt leben«, sagte Athos. »Man muß aus dieser Lage herauskommen.«
»Aber wie?«
»Hört! Sucht mit ihr zusammenzukommen und Euch mit ihr auseinanderzusetzen! Sagt zu ihr: Entweder Krieg oder Frieden! Mein Wort als Edelmann, daß ich nie etwas von Euch sagen, nie etwas gegen Euch unternehmen werde. Dafür schwört mir feierlich, daß Ihr mir gegenüber neutral bleiben wollt. Wenn nicht, so suche ich den Kanzler, den König, den Henker auf; ich hetze den Hof gegen Euch, zeige Euch als gebrandmarkt an, lasse Euch vor Gericht stellen, und wenn man Euch freispricht, so töte ich Euch, so wahr ich ein Edelmann bin, am nächsten besten Eckstein, gerade wie ich einen tollen Hund töten würde.«
»Das wäre mir schon recht«, sagte d’Artagnan.
Eine Erinnerung zieht andere Erinnerungen nach sich. Auf einmal war es Corso, als husche eine vertraute Gestalt durch seine Gedanken. Er schaffte es, sie zu fixieren, bevor sie ihm entschwinden konnte. Es war wieder der Typ in der schwarzen Livree, der Chauffeur des Jaguars vor Liana Taillefers Haus, der Fahrer des Mercedes in Toledo ... Der Mann mit der Narbe. Und es war Milady gewesen, die ihn aus seinem Gedächtnis heraufbeschworen hatte. Er dachte verwirrt über diesen Umstand nach. Und plötzlich stand klar und deutlich ein Bild vor seinen Augen. Milady, natürlich. Milady de Winter, wie d’Artagnan sie zum erstenmal sieht: im ersten Kapitel des Romans, den Kopf wie eingerahmt im Fenster ihrer Kutsche vor dem Gasthof in Meung. Milady im Gespräch mit einem Unbekannten ... Corso blätterte das Buch rasch durch und hatte die betreffende Stelle bald gefunden:
... ein etwa vierzig- bis fünfundvierzigjähriger Mann mit stechenden schwarzen Augen, bleicher Gesichtsfarbe, stark hervortretender Nase und schwarzem, sauber gestutztem Schnurrbart.
Rochefort. Der üble Geheimagent des Kardinals, der Feind d’Artagnans, der es soweit bringt, daß man im ersten Kapitel mit Stöcken, Schaufeln und Feuerzangen über den jungen Gascogner herfällt, der Edelmann, der ihm den Empfehlungsbrief an Herrn de Treville stiehlt und der indirekt daran schuld ist, daß d’Artagnan sich beinahe mit Athos, Porthos und Aramis duelliert ... Nach dieser Gedächtnispirouette, die zu einer ungewöhnlichen Assoziation von Gedanken und Figuren geführt hatte, kratzte Corso sich ratlos am Kopf. Was verband den Begleiter Miladys mit dem Chauffeur, der ihn in Toledo hatte überfahren wollen? Und dann die Narbe - in dem Abschnitt, den er soeben gelesen hatte, war keine Rede davon. Und doch mußte Rochefort ein Mal im Gesicht gehabt haben, daran erinnerte er sich gut. Er blätterte in dem Buch herum, bis er im dritten Kapitel die Bestätigung seiner Vermutung fand, dort, wo d’Artagnan Herrn de Treville von seinem Abenteuer erzählt:
»Sagt, hatte dieser Edelmann nicht eine leichte Narbe auf der Backe?« »Ja, wie von einem Streifschuß.«
Eine leichte Narbe auf der Backe. So stand es schwarz auf weiß geschrieben, aber Corso erinnerte sich an eine »große Narbe«, wie die des schwarzlivrierten Chauffeurs. Er dachte angestrengt nach, bis er schließlich laut hinauslachte. Jetzt war die Szene komplett und in Farbe: Lana Turner in den Drei Musketieren hinter einem Kutschenfenster, und ein entsprechend grimmig wirkender Rochefort: Er war nicht fahl, wie in Dumas’ Roman, sondern braungebrannt, mit einem Federhut auf dem Kopf, und hatte tatsächlich eine große Narbe, die seine rechte Wange von der Schläfe bis zum Kinn durchzog. Dann gingen seine Erinnerungen also auf einen Film zurück und nicht auf ein Buch. Corso schüttelte, verzweifelt und belustigt zugleich, den Kopf. Verdammtes Hollywood.
Aber von Filmen und Zelluloid einmal abgesehen, herrschte jetzt endlich ein wenig Ordnung in seinem Kopf. Unter einem gemeinsamen, wenn auch geheimen Notenschlüssel verbanden sich versprengte Töne zu einer rätselhaften Melodie. Die vage Unruhe, die Corso seit seinem Besuch bei der Witwe Taillefer empfand, begann konkrete Formen anzunehmen. Gesichter, Schauplätze und Gestalten zwischen dem Fiktiven und dem Realen waren auf seltsame und noch undurchsichtige Weise miteinander verknüpft: Dumas und ein Buch aus dem 17. Jahrhundert, der Teufel und Die drei Musketiere, Milady und die Scheiterhaufen der Inquisition - so absurd und romanhaft dies alles auch anmutete.
Corso löschte das Licht und ging ins Bett, aber er fand lange keinen Schlaf. Da war ein Bild, das ihm einfach nicht aus dem Sinn wollte - mit offenen Augen sah er es vor sich in der Dunkelheit schweben. Es war eine Landschaft, die Landschaft seiner Jugendlektüren, bevölkert mit Schatten, die nun, zwanzig Jahre später, die Gestalt von Gespenstern annahmen und in greifbare Nähe rückten. Die Narbe. Rochefort. Der Mann aus Meung. Der Meuchelmörder seiner Eminenz.