Es war eine unheimliche Nacht.
Ponson du Terrail, Rocambole
Es war eine unheimliche Nacht. Die Loire schwoll immer heftiger an und drohte bereits über die alten Deiche des kleinen Dorfes Meung zu treten. Das Gewitter tobte seit den frühen Abendstunden. Hin und wieder tauchte im Wetterleuchten der düstere Schattenriß der Burg auf, und die grellen Blitze, die über den Himmel zuckten, sausten wie Peitschenhiebe auf die naß glänzenden mittelalterlichen Gassen hernieder, die ausgestorben dalagen. Jenseits des Flusses konnte man in der Ferne eine Lichterkette erkennen, die sich auf der Autobahn von Tours in Richtung Orléans schlängelte. Aber es war, als zögen die stürmischen Regenböen, die das Laub von den Bäumen rissen, einen Grenzzaun zwischen Vergangenheit und Gegenwart.
Im Gasthof »Saint-Jacques«, der einzigen Absteige in Meung, war ein Fenster hell erleuchtet. Es ging auf eine kleine Terrasse hinaus, die man von der Straße her erreichen konnte. Im Zimmer, das zu diesem Fenster gehörte, war eine attraktive blonde Frau mit aufgestecktem Haar dabei, sich vor dem Spiegel anzukleiden. Bevor sie in ihren Rock gestiegen war, hätte man auf einer ihrer Hüften eine winzige Tätowierung in Form einer Lilie erkennen können. Jetzt stand sie aufrecht im Zimmer und hakte sich im Rücken den BFI zu, der einen üppigen weißen Busen trug. Als nächstes schlüpfte sie in eine Seidenbluse, und während sie diese zuknöpfte, lächelte sie sich im Spiegel an. Sie schien von der eigenen Ausstrahlung angetan zu sein und dachte wahrscheinlich an ein bevorstehendes Rendezvous. Denn wer zieht sich schon elf Uhr nachts an, wenn er nicht mit jemandem verabredet ist? Aber vielleicht galt ihr zufriedenes Lächeln, in dem ein Anflug von Grausamkeit mitschwang, ja gar nicht dem eigenen Spiegelbild, sondern der funkelnagelneuen Ledermappe auf dem Bett, aus der die Manuskriptseiten des Vin d’Anjou von Alexandre Dumas dem Älteren hervorspickten.
Die kleine Terrasse vor dem Fenster wurde für ein, zwei Sekunden von einem Blitz erhellt. Unter einem kurzen Vordach, von dem der Regen troff, zog Lucas Corso zum letzten Mal an seiner feuchten Zigarette, bevor er sie wegschnippte und sich zum Schutz gegen Wind und Wasser den Mantelkragen hochschlug. Wieder zuckte ein Blitz - grell wie von einem überdimensionalen Fotoapparat - am Himmel auf und beleuchtete das bleiche Gesicht Flavio La Pontes mit triefendem Haar und Bart. In dem gespenstischen Licht-Schatten-Kontrast erinnerte er an einen griesgrämigen Mönch oder an den finster schweigenden Athos. Obwohl es eine Zeitlang nicht mehr blitzte, konnte man neben beiden, ebenfalls unter das Vordach geduckt, eine schlanke Silhouette ausmachen: Irene Adler in ihrem Kapuzenmantel. Und als dann wieder ein Blitz die Nacht zerschnitt und der Donner dröhnend über die Schieferdächer rollte, leuchteten unter der Kapuze, die das Mädchen tief ins Gesicht gezogen hatte, zwei grüne Punkte auf.
Es war eine schnelle, anstrengende Reise nach Meung gewesen. La Ponte hatte einen Wagen gemietet, mit dem sie ohne Halt durchgefahren waren. Zuerst über die Autobahn von Paris nach Orléans und dann sechzehn Kilometer in Richtung Tours. La Ponte, der auf dem Beifahrersitz im Licht eines Feuerzeugs die an einer Tankstelle gekaufte Straßenkarte studierte. La Ponte, der die Orientierung verlor: >Fahr noch ein Stück weiter, ich glaube, wir sind auf der richtigen Straße. Ja, das ist die richtige Straße.< Das Mädchen schweigend hinter ihnen, die Augen im Rückspiegel auf Corso gerichtet, sooft die Scheinwerfer eines entgegenkommenden Fahrzeugs das Wageninnere erhellten. La Ponte hatte sich natürlich getäuscht. Sie waren an der richtigen Ausfahrt vorbei- und in Richtung Blois weitergefahren. Als sich der Irrtum herausgestellt hatte, mußten sie ein Stück rückwärts fahren, um von der Autobahn runterzukommen: Corso, der das Lenkrad umklammerte und betete, daß die Gendarmen bei dem Unwetter auf der Wache bleiben würden. Beaugency: La Ponte, der hartnäckig behauptete, man müsse den Fluß überqueren und links abbiegen, was sie glücklicherweise unterließen. Auf der Landstraße N-152 wieder zurück -derselbe Weg, den d’Artagnan im ersten Kapitel macht -, durch Sturm und Regen, am linken Ufer der tosenden Loire entlang, ohne auch nur eine Sekunde lang die Scheibenwischer abschalten zu können. Auf Corsos Gesicht Hunderte von hüpfenden Punkten - der Schatten des Regens -, wenn ihnen ein anderes Auto entgegenkam. Dann endlich menschenleere Gassen, mittelalterliche Dächer, Fachwerkfassaden: Meung-sur-Loire. Ziel der Reise.
»Wenn wir jetzt nicht reingehen, entwischt sie uns wieder«, flüsterte La Ponte, der völlig durchweicht war. Seine Zähne klapperten vor Kälte.
Corso beugte sich ein wenig vor, um noch einmal in das Zimmer zu spähen. Liana Taillefer hatte über die Bluse einen engen Pullover gezogen, der ihre Körperformen spektakulär zur Geltung brachte, und war gerade dabei, einen langen schwarzen Umhang, eine Art Domino, aus dem Schrank zu holen. Sie blickte sich zögernd um, warf dann das Cape über die Schulter und holte die Ledermappe mit dem Manuskript vom Bett. Da bemerkte sie erst, daß das Fenster offenstand, und ging darauf zu, um es zu schließen.
Genau in dem Moment, als sie nach der Klinke griff, schnellte Corsos Arm vor, und zugleich zuckte auch im Schein eines Blitzes sein nasses Gesicht auf, seine dunkle Silhouette vor dem Fenster und die ausgestreckte Hand, die wie anklagend auf die zur Salzsäule erstarrte Frau gerichtet war. Milady stieß in maßlosem Entsetzen einen beinahe tierhaften Schrei aus. Man hätte meinen können, sie habe den leibhaftigen Teufel gesehen.
Sie hörte erst auf zu schreien, als Corso über die Fensterbank setzte und ihr mit dem Handrücken eine so deftige Ohrfeige gab, daß sie auf das Bett zurückfiel und die Seiten des DumasManuskripts durch die Luft flogen. Durch den Temperaturunterschied hatte sich Corsos Brille beschlagen, so daß er sie rasch abnahm und auf den Nachttisch schleuderte, bevor er sich auf Liana Taillefer warf, die sich wieder aufgerichtet hatte und zur Tür stürzen wollte. Er erwischte sie noch an einem Bein, packte sie an der Taille und drückte sie ins Bett, während sie sich wand und strampelte. Sie war eine ausgesprochen kräftige Frau, und Corso fragte sich, was zum Teufel aus La Ponte und dem Mädchen geworden war. Da ihm keiner zu Hilfe kam, umklammerte er die Handgelenke der Witwe und drehte das Gesicht weg, das sie ihm mit den Nägeln zerkratzen wollte. Sie wälzten sich ineinander verknäuelt auf dem Bett, einer von Corsos Schenkeln rutschte zwischen ihre Schenkel, und seine Nase versank in der prallen Fülle der riesigen Brüste, die ihm aus der Nähe und durch den dünnen Wollpullover hindurch wieder unglaublich weich vorkamen. Er verspürte deutlich die Anzeichen einer aufkommenden Erektion und fluchte zähneknirschend, während er verzweifelt mit dieser Milady rang, die den Bizeps einer olympischen Rekordschwimmerin hatte. Er dachte verbittert: >Wo bist du, wenn ich dich brauche?< Aber da kam La Ponte, schüttelte sich wie ein nasser Hund und zeigte sich wild entschlossen, seine verletzte Eitelkeit zu rächen, vor allem jedoch Rache zu nehmen für die Hotelrechnung, die ihm noch immer auf dem Geldbeutel brannte. Es fehlte wenig, und sie hätten die Frau gelyncht.
»Ihr wollt sie doch nicht vergewaltigen, oder?« fragte das Mädchen.
Sie saß auf der Fensterbank, noch immer die Kapuze ihres Mantels auf dem Kopf, und verfolgte die Szene. Liana Taillefer hatte es aufgegeben, sich zu wehren, und lag jetzt reglos unter Corso, während La Ponte sie an einem Arm und Bein festhielt.
»Schweine!« sagte sie laut und deutlich.
»Flittchen! « erwiderte La Ponte, völlig außer Atem von dem Gefecht.
Nach dem kurzen Zwischenspiel beruhigten sich alle etwas. Sicher, daß die Witwe ihnen nicht entkommen konnte, ließen die beiden Männer sie los. Sie setzte sich wutschnaubend auf, massierte sich die Handgelenke und warf ihnen giftige Blicke zu. Corso stellte sich vorsichtshalber zwischen sie und die Tür. Das Mädchen lehnte am Fenster, das mittlerweile geschlossen war. Sie hatte sich die Kapuze nach hinten gestreift und musterte Liana Taillefer mit geradezu unverschämter Neugier. La Ponte frottierte sich mit einem Zipfel der Bettdecke Haar und Bart und machte sich dann daran, die über den Fußboden verstreuten Blätter des Dumas-Manuskripts einzusammeln.
»Wir wollen uns ein wenig unterhalten«, sagte Corso. »Wie vernünftige Menschen.«
Die Witwe warf ihm einen bitterbösen Blick zu.
»Es gibt nichts, worüber ich mit Ihnen reden möchte.«
»Da irren Sie sich, schöne Frau, fetzt, wo wir Sie erwischt haben, würde es mir nichts mehr ausmachen, zur Polizei zu gehen. Entweder Sie sprechen mit uns oder mit den Gendarmen.«
Sie sahen, wie Liana Taillefer die Stirn runzelte und nervös die Lage sondierte, wie ein gefangenes Tier, das nur auf eine Gelegenheit lauert, der Falle zu entkommen.
»Paß auf!« warnte La Ponte seinen Freund. »Sie hat bestimmt was vor.«
Aus ihren Augen stachen tödliche Stahlspitzen. Corso verzog ein wenig theatralisch den Mund.
»Liana Taillefer«, sagte er, »oder sollte ich Sie vielleicht besser Anne de Brieul nennen oder Gräfin von La Fere, die auch unter dem Namen Charlotte Backson, Baronin von Sheffield und Lady de Winter aufgetreten ist; die ihren Mann und ihre Geliebten betrogen hat; die Mörderin, Giftmischerin und Geheimagentin Richelieus ...« Corso legte dramatisch eine Pause ein. »Und die man üblicherweise schlicht Milady nennt.«
Er unterbrach sich, denn er hatte soeben den Schultergurt seiner Segeltuchtasche entdeckt, der unter dem Bett hervorspickte. Ohne Liana Taillefer aus den Augen zu lassen, die unentwegt zur Tür schielte, zog er die Tasche unter dem Bett vor, prüfte mit einer Hand ihren Inhalt und stieß dann einen so lauten Seufzer der Erleichterung aus, daß alle Anwesenden, einschließlich der Witwe, ihn überrascht ansahen. Die Neun Pforten, Varo Borjas Exemplar, waren da und unversehrt.
»Hurra!« sagte er und zeigte es den anderen.
La Ponte machte eine Geste des Triumphs, als habe Quiqueg soeben den weißen Wal harpuniert. Aber das Mädchen rührte sich nicht vom Fleck und blieb teilnahmslos, als wäre sie nur eine unbeteiligte Beobachterin.
Corso steckte das Buch in die Tasche zurück. Der Wind pfiff durch alle Ritzen des Raumes. Immer wieder riß ein Blitz die Umrisse des Mädchens aus der dunklen Fensterscheibe, die unter den dumpfen Donnerschlägen klirrte.
»Die Nacht ist wie geschaffen für unser kleines Vorhaben«, sagte Corso, an die Witwe gewandt. »Ihr seht, Milady, daß wir uns pünktlich zum Rendezvous eingefunden haben . Wir sind gekommen, Euch zu richten.«
»Wie Feiglinge: in der Gruppe und bei Nacht«, spie sie verächtlich zurück. »Fehlt nur noch der Henker von Lilie.«
»Alles zu seiner Zeit«, sagte La Ponte.
Liana Taillefer hatte sich etwas gefangen und fand vorübergehend zu ihrer alten Selbstsicherheit zurück. Sie hielt den Blicken der Männer mit herausfordernder Miene stand.
»Wie ich sehe, haben Sie sich völlig mit Ihren Rollen identifiziert.«
»Das sollte Sie nicht wundern«, entgegnete Corso. »Schließlich haben Sie und Ihre Komplizen alles daran gesetzt, um uns so weit zu bekommen.« Er verzog den Mund zu einem grausamen Wolfsgrinsen. »Und wir haben uns köstlich dabei amüsiert.«
Liana Taillefer preßte die Lippen zusammen, während einer ihrer blutrot lackierten Fingernägel über die Bettdecke fuhr. Corso folgte ihm so gebannt, als handle es sich um einen tödlichen Stachel, und schüttelte sich bei dem Gedanken, daß dieser Nagel während des Gefechts mehrmals fast sein Gesicht berührt hatte.
»Hier haben Sie jedenfalls nichts verloren«, sagte die Witwe schließlich. »Sie sind widerrechtlich bei mir eingedrungen.«
»Da täuschen Sie sich. Wir sind feste Bestandteile dieses Spiels, genau wie Sie.«
»Sie kennen aber nicht die Spielregeln.«
»Sie irren sich schon wieder, Milady. Und die Tatsache, daß wir hier sind, ist der beste Beweis.« Corso sah sich auf der Suche nach seiner Brille um, bis er sie auf dem Nachttisch entdeckte. Er setzte sie auf und rückte sie mit dem Zeigefinger zurecht. »Das war ja gerade das Komplizierteste an der ganzen Sache, sie als Spiel zu akzeptieren. Die Fiktion anzunehmen, in die Geschichte einzutauchen, die Außenwelt zu vergessen und ausschließlich im Rahmen der inneren Logik zu denken . Danach hatten wir es leicht. Denn während in der Wirklichkeit viel vom Zufall abhängt, verläuft in der Fiktion alles nach logischen Regeln.«
Der rote Fingernagel Liana Taillefers hielt inne.
»Auch in Romanen?«
»Vor allem in Romanen. Wenn der Held eines Romans der vorgegebenen Logik folgt, die natürlich die des Verbrechers ist, kommt er zwangsläufig zu denselben Ergebnissen. Das ist ja der Grund, weshalb sich am Ende immer alle treffen:
Held und Verräter, Detektiv und Mörder.« Corso war stolz auf seinen Exkurs und lächelte zufrieden.
»Hut ab«, sagte Liana Taillefer in ironischem Ton. Auch La Ponte starrte den Bücherjäger mit offenem Mund an, obwohl die Bewunderung in seinem Fall echt war. »Bruder William von Baskerville, vermute ich.«
»Seien Sie nicht oberflächlich, Milady. Sie vergessen Conan Doyle und Allan Poe, um nur zwei Beispiele zu nennen, ja selbst Dumas. Einen Moment lang hätte ich Sie beinahe für eine belesene Dame gehalten.«
Sie richtete ihre eiskalten Augen auf ihn.
»Da sehen Sie selbst, daß Sie Ihr Talent an mir verschwenden«, erwiderte sie verächtlich. »Sie brauchen ein anspruchsvolleres Publikum.«
»Ich weiß. Genau deshalb bin ich ja hierhergekommen: damit Sie uns dieses Publikum vorstellen.« Er sah auf seine Armbanduhr. »In gut einer Stunde beginnt der erste April.«
»Wie haben Sie denn das wieder erraten?«
»Das habe ich nicht erraten.« Corso drehte sich zu dem Mädchen um, das nach wie vor am Fenster stand. »Sie hat mir das Buch unter die Nase gehalten . Und für die Aufklärung von Geheimnissen ist ein Buch hundertmal nützlicher als die schiere Realität: Es ist in sich geschlossen und vor lästigen Störungen geschützt. Wie das Studierzimmer Sherlock Holmes’.«
»Hör schon auf anzugeben, Corso«, meinte das Mädchen gereizt. »Du hast sie genügend beeindruckt.«
Liana Taillefer zog eine Augenbraue hoch und tat, als sehe sie das Mädchen zum erstenmal.
»Wer ist das?«
»Sagen Sie bloß, das wissen Sie nicht ... Sie haben die Seno-rita tatsächlich noch nie gesehen?«
»Nein. Man hat mir von einem jungen Mädchen erzählt, aber ohne nähere Angaben.«
»Wer hat Ihnen davon erzählt?«
»Ein Freund.«
»Groß, dunkelhaarig, mit Schnurrbart und einer Narbe im Gesicht? Zufällig auch mit einer geplatzten Lippe? Der gute Rochefort! Wo der seinen Unterschlupf hat, würde ich auch gerne wissen. Sicher nicht weit von hier ... Hübsche Rollen, die Sie sich beide da ausgesucht haben.«
Bei dieser Bemerkung verlor Milady auf einmal ihre eiserne Selbstbeherrschung. Ihr rot lackierter Fingernagel bohrte sich in die Bettdecke, als wäre es Corsos Fleisch, und das Eis in ihren Augen schmolz im Feuer der Wut dahin.
»Sind die anderen Romanfiguren etwa besser?« fragte sie spitz, während sie den Hals reckte und die beiden Männer, einen nach dem anderen, abschätzig musterte. »Athos, ein Säufer. Porthos, ein Trottel. Aramis, ein heuchlerischer Verschwörer .«
»Das ist auch ein Standpunkt«, gab Corso zu.
»Schweigen Sie! Was wissen Sie schon davon?« Liana Taillefer machte eine Pause und heftete - immer noch mit hoch erhobenem Kopf - den Blick auf Corso, als käme jetzt die Reihe an ihn. »Und was d’Artagnan betrifft«, fuhr sie fort, »so ist er der mieseste von allen . Ein Meister der Klinge? In den Drei Musketieren hat er nicht mehr als vier Duelle und siegt nur, weil er Jussac den Degen in den Leib bohrt, während dieser sich noch vom Boden aufrappelt, und weil Bernajoux ihm in einem Anfall blinder Wut in die Klinge rennt. Im Kampf mit den Engländern beschränkt er sich darauf, Lord Winter zu entwaffnen. Und um den Grafen von Wardes außer Gefecht zu setzen, muß er viermal zustoßen . Von Freigebigkeit kann bei d’Artagnan auch keine Rede sein.« Sie deutete mit dem Kinn verächtlich auf La Ponte. »Er war noch dreimal geiziger als Ihr Freund dort. Das erstemal, daß er seinen Freunden eine Runde spendiert, ist in England. Fünfunddreißig Jahre später!«
»Ich sehe, Sie sind Expertin, obwohl ich mir das eigentlich hätte denken müssen. All diese Fortsetzungsromane, die Sie angeblich so verabscheuen . Meinen Glückwunsch! Sie haben sie perfekt gespielt, die Rolle der Witwe, der die Spinnereien ihres Gatten zum Hals heraushängen.«
»Ich habe überhaupt nichts gespielt. Die Bibliothek meines Mannes bestand aus wertlosen alten Schmökern. Vielleicht kein Schund, aber absolut mittelmäßig. Wie Enrique selbst. Mein Mann war leider ziemlich beschränkt: Er hat es nicht verstanden, zwischen den Zeilen zu lesen, die Spreu vom Weizen zu trennen ... Er gehörte zu der Sorte von Dummköpfen, die ihr Leben lang Postkarten von Kunstdenkmälern sammeln, ohne je etwas davon zu verstehen.«
»Ganz im Gegensatz zu Ihnen.«
»Allerdings. Wissen Sie, welches die ersten Bücher waren, die ich als Kind gelesen habe? Kleine Frauen und die Drei Musketiere. Jedes von ihnen hat mich auf seine Art geprägt.«
»Mir kommen gleich die Tränen.«
»Reden Sie keinen Quatsch! Sie haben mir Fragen gestellt, und ich versuche, sie Ihnen zu beantworten . Es gibt kritiklose Leser, wie den armen Enrique, und Leser, die weitergehen, die sich nicht mit stereotypen Gemeinplätzen zufriedengeben: der tapfere d’Artagnan, der ritterliche Athos, der gutherzige Porthos, der treue Aramis ... Daß ich nicht lache!«
Sie tat es denn doch, dramatisch und unheilvoll wie Milady.
»Soll ich Ihnen sagen, wer mich in dem ganzen Roman wirklich beeindruckt hat, wen ich am meisten bewundere? Diese blonde Dame, die sich selbst und dem Mann treu ist, dem sie sich freiwillig unterstellt hat. Sie kämpft alleine, mit ihren eigenen Mitteln, und dann wird sie zum Schluß von diesen vier Pappmache-Helden gemein ermordet . Von dem geheimen Sohn, dem Waisen, der zwanzig Jahre später auftaucht, will ich erst gar nicht reden!«
Liana Taillefer neigte düster den Kopf zur Seite, und aus ihren Augen sprühte ein solcher Haß, daß Corso drauf und dran war, einen Schritt zurückzuweichen.
»Ich erinnere mich genau an das Bild, als wäre ich dabeigewesen: Es ist Nacht, man sieht einen Fluß und davor die vier Halunken, die sich niedergekniet haben, aber kein Erbarmen kennen. Am anderen Flußufer der Henker, der sein Schwert über dem nackten Hals der Frau erhoben hat .«
Das grelle Licht eines Blitzes huschte über ihr verzerrtes Gesicht, den weichen weißen Hals und ihre geweiteten Augen, in denen sich die Bilder der Tragödie spiegelten, als sei sie ihr selbst widerfahren. Dann grollte ein Donner und ließ die Fensterscheiben klirren.
»Elende Halunken«, wiederholte sie leise und gedankenverloren, aber Corso begriff nicht, ob sie ihn und seine Begleiter meinte oder d’Artagnan und seine Freunde.
Das Mädchen hatte unterdessen ihren Rucksack auf die Fensterbank gestellt und die Drei Musketiere daraus hervorgekramt. Ohne ihre unbeteiligte Haltung aufzugeben, suchte sie ruhig nach einer Seite. Als sie sie gefunden hatte, warf sie das Buch aufgeschlagen aufs Bett. Jetzt konnten alle den von Liana Taillefer beschriebenen Kupferstich betrachten.
»Vicia iacet virtus«, murmelte Corso etwas fröstelnd, als er die verblüffende Ähnlichkeit zwischen dieser Illustration und der Bildtafel VIII aus den Neun Pforten feststellte.
Beim Anblick der Zeichnung hatte die Witwe sich wieder beruhigt. Sie zog kühl eine Augenbraue hoch.
»Stimmt«, sagte sie, »denn Sie wollen mir sicher nicht erzählen, die Tugend werde von d’Artagnan verkörpert. Ein Gascog-ner, der opportunistischer nicht sein könnte . Von seiner miserablen Begabung als Verführer will ich erst gar nicht sprechen. Im ganzen Roman erobert er nur drei Frauen, und zwei von ihnen durch Hinterlist. Seine große Liebe ist eine ehrgeizige Kleinbürgerin, eine Wäschebeschließerin der Königin. Die andere ist eine englische Zofe, die er schamlos benützt.« Liana Taillefers Lachen klang wie eine Beleidigung. »Und wie sieht sein Intimleben in Zwanzig fahre nachher aus? Dort lebt er mit der Besitzerin einer Pension in wilder Ehe zusammen, um die Miete zu sparen! Das sind mir schöne Abenteuer - mit Dienstmädchen und Wirtsfrauen treibt sich der Galan herum.«
»Aber er schafft es, Milady zu verführen«, wandte Corso boshaft ein.
Wieder brach ein ironischer Blitz das Eis in Liana Taillefers Augen. Wenn Blicke töten könnten, wäre der Bücherjäger im selben Moment leblos zu ihren Füßen zusammengesunken.
»Weil er sich als ein anderer ausgibt!« erwiderte die Witwe. »Nur durch einen Schwindel bringt dieser Schuft es fertig, mit Milady ins Bett zu kommen.« Ihre stahlblauen Augen wirkten jetzt wieder kalt und durchbohrten Corso wie ein Paar Degen. »Sie und er hätten ein feines Paar abgegeben!«
La Ponte lauschte den beiden mit größter Aufmerksamkeit. Man hörte beinahe die Rädchen in seinem Gehirn arbeiten. Plötzlich runzelte er die Stirn.
»Wollt ihr mir etwa sagen, daß ihr beide .«
Er drehte sich hilfesuchend nach dem Mädchen um: Warum erfuhr er alles immer als letzter? Aber sie blieb völlig ungerührt, als habe sie mit der ganzen Sache nichts zu tun.
»Ich bin ein Blödhammel«, sagte La Ponte, ging zum Fenster und begann, seinen Kopf an den Rahmen zu schlagen.
Liana Taillefer warf ihm einen geringschätzigen Blick zu, bevor sie sich wieder an Corso wandte.
»Mußten Sie den unbedingt auch mitschleppen?«
»Ich bin ein Blödhammel«, wiederholte La Ponte, während er seinem armen Kopf fürchterlich zusetzte.
»Er hält sich für Athos«, erklärte Corso zu seiner Entschuldigung.
»Mich erinnert er eher an Aramis. Eingebildet und aufgeblasen. Wußten Sie, daß er, wenn er mit einer Frau schläft, aus den Augenwinkeln sein Schattenprofil an der Wand betrachtet?«
»Was Sie nicht sagen!«
»Doch, tatsächlich.«
La Ponte beschloß, das Fenster in Ruhe zu lassen.
»Wir kommen vom Thema ab«, sagte er gereizt.
»Stimmt«, meinte Corso. »Wir hatten es mit der Tugend. Und Sie waren gerade dabei, uns in diesem Zusammenhang eine Lektion über d’Artagnan und seine Freunde zu erteilen.«
»Warum auch nicht? Finden Sie eine Bande von Angebern, die Frauen ausnützen, sich von ihnen aushallen lassen und nur daran denken, wie sie Karriere machen können, finden Sie solche Waschlappen etwa tugendhafter als eine Milady? Eine Milady, die intelligent und mutig ist, die ihrem Vorgesetzten, Richelieu, treu ergeben dient und ihr Leben für ihn riskiert?«
»Ja, sogar für ihn mordet.«
»Sie haben das Stichwort vorher selbst genannt: Die innere Logik der Erzählung.«
»Die innere? Das kommt aber ganz auf den Standpunkt an.
Ihr Mann wurde jedenfalls >außerhalb< des Romans umgebracht, >extern< und nicht >intern<. Sein Tod war sehr real!«
»Sie spinnen, Corso. Niemand hat Enrique umgebracht. Er hat sich selbst aufgehängt.«
»Und Victor Fargas? Ist der auch von sich aus ertrunken? Und die Baronin Ungern? Hat die gestern abend vielleicht vergessen, die Mikrowelle abzuschalten?«
Liana Taillefer wandte sich zuerst La Ponte, dann dem Mädchen zu, als erwarte sie sich von ihnen eine Bestätigung des soeben Gehörten. Seit der Invasion durchs Fenster wirkte sie zum erstenmal wirklich verblüfft.
»Wovon reden Sie?«
»Von den neun korrekten Bildtafeln«, sagte Corso. »Von den Neun Pforten ins Reich der Schatten.«
Durch das geschlossene Fenster drang, vom Rauschen des Regens und vom Tosen des Windes begleitet, der Glockenschlag einer Kirchturmuhr. Beinahe gleichzeitig antwortete irgendwo im Haus, am Ende des Korridors oder ein Stockwerk tiefer, eine Wanduhr mit elf Schlägen.
»Wie ich sehe, gibt es in dieser Geschichte noch mehr Verrückte«, sagte Liana Taillefer.
Ihr Blick war auf die Tür gerichtet. Mit dem letzten Glockenschlag gab es von dort her ein Geräusch. Jetzt blitzten die Augen der Witwe triumphierend auf.
»Vorsicht!« flüsterte La Ponte. Da begriff Corso endlich, daß Gefahr drohte. Und während ihm jäh das Adrenalin in die Venen schoß, nahm er aus den Augenwinkeln wahr, wie das Mädchen sich gespannt und wachsam vor dem Fenster aufrichtete.
Alle starrten auf den Türknauf, der sich langsam drehte. Wie in einem alten Horrorfilm.
»Guten Abend!« sagte Rochefort.
Er trug einen naß glänzenden Trenchcoat, der bis zum Hals zugeknöpft wer, und einen Filzhut, unter dem seine dunklen Augen hervorstachen. Wie ein weißes Zickzackband lief ihm die Narbe über das braungebrannte Gesicht, dessen südländische Züge von dem dichten schwarzen Schnurrbart noch betont wurden. Er blieb wohl fünfzehn Sekunden auf der Schwelle der geöffneten Tür stehen, die Hände in den Taschen seines Trenchcoats vergraben, während sich um seine nassen Schuhe herum eine Pfütze bildete. Alles schwieg.
»Freut mich, dich zu sehen«, sagte Liana Taillefer endlich. Der neu Angekommene nickte kurz, ohne etwas zu erwidern. Die Witwe saß immer noch auf dem Bett und deutete jetzt auf Corso. »Die sind frech geworden.«
»Ich hoffe, nicht zu sehr«, sagte Rochefort, völlig akzentfrei und mit derselben höflichen und wohlklingenden Stimme, die Corso schon in Sintra aufgefallen war. Er stand nach wie vor reglos unter der Tür und sah nur Corso an, als existierten La Ponte und das Mädchen überhaupt nicht. Seine Unterlippe war immer noch geschwollen, und man konnte gut erkennen, daß sie genäht worden war. Ein Andenken an die Uferpromenade der Seine, dachte Corso schadenfroh, während er neugierig auf die Reaktion des Mädchens wartete. Aber sie war nach der ersten Überraschung wieder zu ihrer Zuschauerrolle zurückgekehrt und verfolgte die Szene mit mäßigem Interesse. Rochefort wandte sich, ohne Corso aus den Augen zu verlieren, an Milady.
»Wie haben sie hierher gefunden?«
Die Frau machte eine vage Handbewegung.
»Das sind schlaue Jungs.« Nach einem flüchtigen Blick auf La Ponte verweilten ihre Augen auf Corso. »Mindestens einer von ihnen.«
Rochefort nickte und schloß ein wenig die Augen, als wolle er die Situation überdenken.
»Das kompliziert die Sache«, sagte er schließlich, nahm seinen Hut ab und warf ihn aufs Bett. »Das kompliziert sie sogar sehr.«
Liana Taillefer stimmte ihm zu. Sie strich sich den Rock glatt und stand mit einem tiefen Seufzer auf. Corso drehte sich angespannt nach ihr um. Da zog Rochefort seine linke Hand aus der Manteltasche. Ziemlich ungeschickt, wie der Bücherjäger dachte. Aber diese Einsicht nützte wenig. Die Hand umklammerte nämlich einen kleinen Revolver mit kurzem Lauf, der dunkelblau, beinahe schwarz schimmerte. Liana Taillefer war unterdessen zu La Ponte gegangen und hatte ihm das Dumas-Manuskript abgenommen.
»Sag das mit dem Flittchen jetzt noch mal.« Sie stand so nahe vor ihm und sah ihn so verächtlich an, als wolle sie ihm jeden Moment ins Gesicht spucken. »Wenn du den Mumm dazu hast.«
La Ponte hatte den Mumm nicht. Er war nun einmal zum Pantoffelhelden geboren, und das Verhalten eines unerschrockenen Harpuniers legte er nur während Schüben von überschwenglicher Euphorie an den Tag. Jetzt hütete er sich wohlweislich, irgend etwas Derartiges von sich zu geben.
»Ich bin nur zufällig hier vorbeigekommen«, erklärte er einlenkend.
»Was würde ich machen«, seufzte Corso resigniert, »wenn ich dich nicht hätte, Flavio.«
Der Buchhändler zuckte mit der Schulter.
»Ich finde, du bist ungerecht.« Er zog beleidigt die Stirn kraus und stellte sich neben das Mädchen, wo er sich offensichtlich am sichersten fühlte. »Genau besehen, handelt es sich hier ja um dein Abenteuer, Corso . Und was bedeutet der Tod schon für einen Typen wie dich? Nichts. Eine reine Formalität. Außerdem bezahlen sie dir einen Haufen Geld. Und im Grunde ist das Leben doch sowieso nicht schön.« Er hielt inne und betrachtete Rocheforts Pistole. Dann legte er einen Arm um die Schulter des Mädchens und seufzte melancholisch. »Ich hoffe, daß dir nichts zustößt. Aber wenn dir doch etwas zustoßen sollte, dann fällt uns die schwerste Aufgabe zu: weiterleben.«
»Du bist ein Schwein. Ein Verräter.«
La Ponte sah ihn bekümmert an.
»Das habe ich überhört, mein Freund. Du bist einfach nervös.«
»Klar bin ich nervös, Kanalratte!«
»Das habe ich auch überhört.«
»Hurensohn.«
»Mach nur weiter, alter Kamerad: Solche Details gehören zu einer richtigen Freundschaft.«
»Freut mich«, spöttelte Milady, »daß Sie Ihren Teamgeist hochhalten.«
Corso dachte angestrengt nach. Doch damit allein riß er Rochefort den Revolver nicht aus der Hand. Eigentlich bedrohte der Mann mit der Narbe keinen direkt, ja er spielte beinahe gleichgültig mit seiner Waffe herum, als genüge es bereits, sie vorzuzeigen. Trotzdem hätte Corso es - so rachedurstig er auch war - niemals mit ihm aufnehmen können. Dazu fehlte es ihm sowohl an Kraft als auch an der entsprechenden Technik. Da mit La Pontes Unterstützung nicht zu rechnen war, lag seine einzige Hoffnung, das Kräfteverhältnis zu seinen Gunsten zu verändern, bei dem Mädchen. Aber sofern diese Irene Adler nicht eine wirklich abgebrühte Schauspielerin war, konnte er sich auch von dieser Flanke her wenig erwarten. Corso genügte ein Blick, um auch den letzten Hoffnungsschimmer verschwinden zu sehen: Das Mädchen hatte La Pontes Arm abgeschüttelt und lehnte jetzt wieder ungerührt am Fenster. Sie schien absurderweise entschlossen, sich völlig aus der Sache rauszuhalten.
Liana Taillefer stellte sich neben Rochefort. Sie hielt das Dumas-Manuskript in den Händen und schien hoch erfreut zu sein, es so schnell wieder an sich gebracht zu haben. Corso wunderte sich, daß sie überhaupt kein Interesse an den Neun Pforten zeigte, die in der Segeltuchtasche vor dem Bett lagen.
»Und jetzt?« hörte er die Frau ihren Komplizen leise fragen.
Zu Corsos großer Überraschung zeigte Rochefort sich herzlich unentschlossen. Er fuchtelte mit seiner Pistole herum, als wisse er nicht recht, auf wen er zielen sollte. Dann wechselte er mit Milady einen langen Blick voll dunkler Bedeutungen, zog die rechte Hand aus der Manteltasche und fuhr sich damit ratlos übers Gesicht.
»Hier lassen können wir sie nicht«, sagte er nach einer Weile.
»Mitnehmen auch nicht«, fügte sie hinzu.
Der andere nickte langsam, während sein Revolver die jüngsten Zweifel zu überwinden schien. Corso sah, wie sich der Lauf auf seinen Magen richtete. Seine Bauchmuskeln krampf-ten sich zusammen, und er suchte fieberhaft nach Subjekt, Objekt und Prädikat, um einen syntaktisch korrekten Protest zu äußern. Aber er brachte nur ein unverständliches Gurgeln zustande.
»Sie wollen ihn doch nicht etwa erschießen!« sagte La Ponte, erschrocken, aber heilfroh, nicht selbst im Zentrum zu stehen.
»Flavio!« gelang es Corso trotz seines ausgedörrten Mundes hervorzustoßen. »Wenn ich da heil rauskomme, schlag ich dir die Fresse ein. Darauf kannst du Gift nehmen.«
»Ich wollte dir doch nur helfen.«
»Du hilfst besser deiner Mutter, von der Straße runterzukommen.«
»Also gut, dann halte ich eben den Mund.«
»Ja, tu das«, knurrte Rochefort drohend. Er hatte einen letzten Blick mit Liana Taillefer gewechselt und schien zu einer Entscheidung gekommen zu sein, denn er schloß die Tür hinter sich ab, ohne Corso aus der Schußlinie zu verlieren, und ließ den Schlüssel in die Tasche seines Trenchcoats gleiten.
Mein Schicksal ist besiegelt, dachte der Bücherjäger, während das Blut in seinen Schläfen und Handgelenken hämmerte. In irgendeinem Winkel seines Bewußtseins wirbelte die Trommel von Waterloo, als er mit der Geistesgegenwart eines Verzweifelten den Abstand zwischen sich und der Pistole kalkulierte, die Zeit, die er brauchen würde, sie dem Mann aus der Hand zu schlagen. Wann würde der erste Schuß krachen, und wo würde er ihn treffen? Die Chance, mit heiler Haut davonzukommen, war minimal, aber vielleicht würde es sie in fünf Sekunden überhaupt nicht mehr geben. Der Kornett blies also zum Angriff. Eine letzte Attacke mit Ney an der Spitze, dem Tapfersten der Tapferen. Vor den müden Augen des Kaisers und mit Rochefort an Stelle der Scots Grey. Aber was machte es schon aus, eine Kugel war eine Kugel war eine Kugel. Alles absurd, dachte er in der vorletzten Sekunde und fragte sich, ob der Tod in diesem Kontext wohl real oder irreal wäre, ob er ins Nirwana eingehen würde oder in die Walhalla der Papierhelden. Corso hoffte nur, daß die strahlenden Augen, die er auf dem Rücken fühlte - der Kaiser? der verliebte Teufel? -, in der Abenddämmerung warten würden, um ihn über den Fluß zu begleiten.
Da tat Rochefort etwas Seltsames. Er hob die rechte Hand, wie um einen Augenblick Zeit zu erbeten - eine angesichts der Umstände völlig unangebrachte Geste -, und ließ den Revolver sinken, als wolle er ihn wegstecken. Eine Sekunde später richtete er ihn wieder auf Corso, aber das schwarze Loch der Mündung zielte jetzt lange nicht mehr so entschlossen, und Corso, der angespannt war wie eine Sprungfeder, hielt verwirrt inne. Seine Stunde hatte noch nicht geschlagen.
Immer noch ungläubig sah er, wie Rochefort das Zimmer durchquerte, sich vor den Telefonapparat stellte und eine längere Nummer wählte. Er konnte hören, wie es am anderen Ende der Leitung tutete und dann klickte, als der andere Teilnehmer abhob.
»Corso ist hier«, sagte Rochefort und schwieg abwartend. Sein Revolver zielte lasch auf einen unbestimmten Punkt im Universum. Dann nickte der Mann mit der Narbe zweimal, lauschte noch einmal in die Muschel und murmelte »in Ordnung«, bevor er den Hörer auflegte.
»Er will ihn sehen«, sagte er zu Milady, worauf beide Corso anstarrten - die Frau verärgert und Rochefort besorgt.
»Das ist absurd!« protestierte sie.
»Er will ihn sehen«, wiederholte ihr Komplize.
Milady zuckte mit den Schultern und begann im Zimmer auf-und abzuwandern, wobei sie wütend im Vin d’Anjou herumblätterte.
»Und was uns betrifft ...«:, hob La Ponte an.
»Sie bleiben hier«, sagte Rochefort und richtete den Lauf seiner Pistole auf ihn. Dann faßte er sich an den geschwollenen Mund.
»Und das Mädchen auch.«
Er schien ihr trotz seiner genähten Lippe nicht allzu böse zu sein. Corso glaubte sogar, einen Funken Neugier in Rocheforts Blick wahrzunehmen, bevor er sich von dem Mädchen ab- und Liana Taillefer zuwandte, um ihr seinen Revolver zu übergeben.
»Die beiden dürfen das Zimmer nicht verlassen.«
»Warum bleibst du nicht bei ihnen?«
»Weil er will, daß ich Corso begleite. Das ist sicherer.«
Milady nickte finster. Ihrem Gesicht war abzulesen, daß sie sich für diese Nacht eine andere Rolle zugedacht hatte, aber sie war - genau wie ihr Romanvorbild - eine disziplinierte Agentin. Also nahm sie die Waffe entgegen und händigte Rochefort das Dumas-Manuskript aus. Dann musterte sie besorgt den Bücherjäger.
»Hoffentlich macht der dir keine Probleme.«
Rochefort lächelte ruhig und selbstsicher und zog ein großes Springmesser aus der Tasche, um es nachdenklich zu betrachten - als sei ihm erst jetzt wieder eingefallen, daß er es bei sich hatte. Seine blitzweißen Zähne kontrastierten mit dem braunen Narbengesicht.
»Das glaube ich nicht«, erwiderte er und steckte das Messer ungeöffnet wieder ein, indem er Corso, freundschaftlich und drohend zugleich, zuzwinkerte. Dann holte er seinen Hut vom Bett, drehte den Schlüssel im Schloß um und wies mit übertriebener Reverenz, gerade so, als schwenke er einen Federhut in der Hand, auf den Gang hinaus.
»Seine Eminenz erwartet Euch«, sagte er und stieß ein kurzes, trockenes Lachen aus, wie es sich für einen qualifizierten Sbirren gehörte.
Bevor sie das Zimmer verließen, warf Corso noch einen Blick zurück auf das Mädchen. Sie hatte Milady, die mit der Pistole auf sie und La Ponte zielte, den Rücken gedreht und schien sich für nichts zu interessieren. Ans Fenster gelehnt, sah sie in den stürmischen Regen hinaus, und immer wieder zeichnete sich ihre Silhouette im Gegenlicht eines Blitzes ab.
Sie traten im Gewitter auf die Straße hinaus. Rochefort hatte die Mappe mit dem Dumas-Manuskript unter seinen Trenchcoat gesteckt, um sie gegen den Regen zu schützen, und geleitete Corso durch die Gassen, die zur Altstadt führten. Heftige Windböen peitschten die Zweige der Bäume, und der Regen prasselte laut auf das mit Pfützen übersäte Kopfsteinpflaster. Corso trieb es schwere Tropfen ins Gesicht. Er klappte seinen Mantelkragen hoch. Das Städtchen war völlig ausgestorben und lag in Dunkelheit gehüllt. Nur dann und wann erhellte ein Blitz die Straßen, schnitt die Dächer der mittelalterlichen Häuser aus der Finsternis aus, das Profil Rocheforts unter der wassertriefenden Hutkrempe, die Schatten der beiden Männer auf dem nassen Pflaster. Von infernalischen Donnerschlägen begleitet, schlugen die gezackten Lichtbahnen in die tosende Loire ein.
»Eine herrliche Nacht«, sagte Rochefort, indem er sich Corso zuwandte, um sich in dem Gewitterlärm verständlich zu machen.
Er schien den kleinen Ort gut zu kennen, denn er schritt sicher voran, drehte nur manchmal ein wenig den Kopf, um festzustellen, ob sein Begleiter ihm noch folgte. Das war im Grund überflüssig, denn in diesem Moment wäre Corso ihm bis an die Pforten der Hölle gefolgt. Ja, er schloß nicht aus, daß die unheimliche Wanderung ihn genau dorthin führen würde: in die Hölle.
Kurze Zeit später tauchte im Wetterleuchten ein mittelalterlicher Bogen vor ihnen auf, eine Brücke, die über einen alten Festungsgraben führte, das Ladenschild einer Boulangerie-Pâtisserie, ein verlassener Dorfplatz, ein kegelförmiger Turm und ein Eisengitter mit der Hinweistafel: Château de Meung-sur-Loire. XHème-XIlIème sièeles.
Hinter dem Gitter leuchtete in einiger Entfernung ein Fenster, aber Rochefort bog nach rechts ab, und Corso tat es ihm nach. Sie gingen ein kurzes Stück an der efeuüberwucherten Burgmauer entlang, bis sie zu einer halb versteckten, niedrigen Tür kamen. Hier zog Rochefort einen riesigen alten Schlüssel aus der Tasche und steckte ihn ins Loch.
»Diese Tür hat schon Jeanne d’Arc benützt«, klärte er Corso auf, während er den Schlüssel drehte und ein letzter Blitz die Treppe beleuchtete, die in die Finsternis hinabführte. In dem flüchtigen Lichtschein konnte Corso auch das Lächeln Roche-forts erkennen, seine glänzenden dunklen Augen unter der Hutkrempe, die fahle Narbe auf seiner Wange. Wenigstens habe ich es mit einem würdigen Gegner zu tun, dachte er. Die Inszenierung war perfekt - an ihr hätte keiner etwas aussetzen können. Und er mußte sich widerwillig eine Art perverse Sympathie für dieses Individuum eingestehen, das seine fiese Rolle so überzeugend zu spielen wußte. Alexandre Dumas hätte sich bestimmt königlich amüsiert.
Rochefort hielt jetzt eine kleine Taschenlampe in der Hand, mit der er die lange, enge Treppe hinableuchtete.
»Gehen Sie voran«, sagte er.
Ihre Schritte hallten in den Windungen des Schachts. Corso fröstelte unter seinem nassen Mantel: Ein kalter Luftzug, der nach jahrhundertealtem Moder roch, wehte aus der Tiefe herauf. Im Strahl der Taschenlampe lagen ausgetretene Steinstufen und schimmelige Gewölbe. Die Treppe endete in einem schmalen Korridor mit rostigen Fenstergittern. Rochefort beleuchtete einen Moment lang einen Ringgraben zu ihrer Linken.
»Wir befinden uns hier in den alten Verliesen des Bischofs von Thibault d’Aussigny«, unterrichtete er Corso. »Dort haben sie die Leichen runtergeworfen, die dann in die Loire geschwemmt wurden. Auch François Villon war hier gefangen.«
Dann zitierte er in spöttischem Ton durch die Zähne hindurch den Anfang einer berühmten Ballade:
»Ayez pitié, ayez pitié de moi ...«
Er war zweifelsohne ein gebildeter Schurke. Mit einem gewissen pädagogischen Hang und einem ausgeprägten Selbstbewußtsein. Corso hätte nicht sagen können, ob dies seine Lage verbesserte oder verschlechterte, aber er wurde einfach nicht den Gedanken los, daß es auch mit ihm sehr rasch flußabwärts gehen konnte.
Der unterirdische Gang stieg jetzt leicht an. Von der Gewölbedecke herunter tropfte Wasser, und weiter vorn glühten kurz die Augen einer Ratte auf, bevor sie quietschend davonhuschte.
Am Ende des Korridors erkannte Corso im Licht der Taschenlampe einen kreisrunden Raum, dessen Kreuzgratgewölbe in der Mitte von einem mächtigen Pfeiler gestützt wurde.
»Das ist die Krypta«, erklärte Rochefort ihm, während er den Lichtkegel seiner Lampe über Wände und Decke wandern ließ. »12. Jahrhundert. Hier haben Frauen und Kinder Zuflucht gefunden, wenn die Burg angegriffen wurde.«
Sehr lehrreich. Nur, daß Corso absolut nicht in der Lage war, die Erläuterungen seines ungewöhnlichen Cicerones zu würdigen. Wachsam und gespannt lauerte er auf eine günstige Gelegenheit. Sie stiegen jetzt eine Wendeltreppe hinauf, durch deren Lichtscharten der schmale Widerschein des Gewitters drang, das jenseits der dicken Mauern weitertobte.
»Nur noch ein paar Meter, dann haben wir es geschafft«, bemerkte Rochefort hinter seinem Rücken. Die Taschenlampe leuchtete zwischen Corsos Beinen hindurch auf die Stufen, und seine Stimme klang versöhnlich. »Und wo wir uns jetzt dem Ende der Geschichte nähern«, fügte er hinzu, »muß ich Ihnen etwas sagen: Sie haben Ihre Sache trotz allem gut gemacht. Sonst wären Sie jetzt nicht hier ... Ich hoffe, daß Sie mir die Zwischenfälle an der Seine und im Hotel Grillon nicht allzu übel nehmen. Das waren Kunstfehler.«
Er präzisierte nicht, auf was für eine Kunst er sich bezog, aber das war auch egal, denn Corso drehte sich bereits nach ihm um, als wolle er ihm antworten oder eine Frage stellen! Das tat er auf eine so beiläufige, unauffällige Art, daß Rochefort keinen Verdacht schöpfte. Vielleicht reagierte er deshalb nicht, als Corso sich aus derselben Drehbewegung heraus auf ihn warf, gleich darauf aber Arme und Beine in die Wände stemmte, um nicht mitgerissen zu werden. Rocheforts Lage dagegen war aussichtslos: Corsos Angriff kam völlig überraschend, die Treppe war schmal, die Wände glatt und ohne Armlauf. Die Taschenlampe, die wie durch ein Wunder heil liegenblieb, beleuchtete verschiedene Momente der Treppensturzszene: Rochefort mit weit aufgerissenen Augen und verstörtem Gesicht, Rochefort, die Beine in der Luft, wie er verzweifelt ins Leere griff, Rochefort, kurz bevor er hinter der nächsten Biegung der Wendeltreppe verschwand, Rocheforts Hut, der von Stufe zu Stufe rollte, bis er schließlich auf einer zum Halten kam . Und wenige Sekunden später, sechs oder sieben Meter weiter unten, ein dumpfes Geräusch, wie von einem Sack, der auf den Boden plumpst.
Corso, der sich, wie bereits gesagt, mit Armen und Beinen an den Wänden abgestützt hatte, um seinem Gegner nicht hinterherzukullern, wurde nun wieder lebendig. Mit fliegendem Puls rannte er, drei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinunter. Er bückte sich nur kurz nach der Taschenlampe, und dann stand er schon neben Rochefort, der stöhnend am Fuß der Wendeltreppe lag und sich vor Schmerzen krümmte.
»Kunstfehler«, sagte Corso, während er sich mit der Taschenlampe ins Gesicht leuchtete, damit der andere sein freundliches Lächeln sehen konnte. Dann trat er ihm gegen die Schläfe und hörte, wie Rocheforts Kopf hart gegen die unterste Stufe schlug. Er hob den Fuß, um ihm sicherheitshalber noch einen Tritt zu versetzen, aber ein einziger Blick sagte ihm, daß dies überflüssig war: Rochefort lag mit offenem Mund da, aus seinem Ohr floß ein dünnes Rinnsal Blut. Corso beugte sich über ihn, stellte fest, daß er noch atmete, öffnete Rocheforts Trenchcoat und durchwühlte die Taschen. Er nahm das Springmesser an sich, eine Brieftasche mit Geld, einen französischen Personalausweis und die Mappe mit dem DumasManuskript, die er sich unter dem Mantel in den Gürtel steckte. Danach richtete er den Lichtkegel der Taschenlampe wieder auf die Wendeltreppe und stieg sie hinauf - diesmal ganz. Sie endete auf einem kleinen Absatz, von dem eine Tür mit schweren Eisenbeschlägen und sechseckigen Nägeln abging. Durch die untere Ritze drang ein schwacher Schimmer Licht. Hier blieb Corso etwa eine halbe Minute stehen, bis er wieder bei Atem war und sein Herzschlag sich einigermaßen beruhigt hatte. Hinter dieser Tür erwartete ihn die Lösung des Rätsels, und er schickte sich an, ihr entschlossen entgegenzutreten: mit zusammengebissenen Zähnen, in einer Hand die Taschenlampe, in der anderen das Messer Rocheforts, das mit einem bedrohlichen »Klack« aufsprang.
Und genauso sah ich Corso eine Sekunde später in die Bibliothek eintreten: mit gezücktem Messer, wild zerzaustem, nassem Haar und Augen, aus denen mörderische Entschlossenheit blitzte.