BEFLECKTER HEILIGENSCHEIN

Pater Allán schaute unwillig auf, weil er bei seinen Gebeten gestört wurde, als Schwester Fidelma unangemeldet die Tür seiner Zelle öffnete.

»Man sagt mir, ihr bräuchtet dringend eine Anwältin«, erklärte sie ohne Umschweife.

Als er sich erhob und hastig das Knie vor dem Kruzifix an der Wand beugte, vor dem er gebetet hatte, bemerkte sie, dass sein Gesicht von Sorgenfalten durchzogen war. Er musterte die junge Nonne, die im Türrahmen wartete. Der Überraschung auf seinen Zügen nach zu urteilen, hatte er wohl jemand anderes erwartet. Schwester Fidelma war groß, und unter ihrer Haube quollen widerspenstige rote Haarsträhnen hervor. Ihre schlanke, kraftvolle Gestalt ließ auf unbändige Lebensfreude schließen, die die Ordenstracht kaum verbergen konnte.

»Bist du die dálaigh, die man mir angekündigt hat?« In Pater Alláns Stimme schwang Ungläubigkeit mit.

»Ich bin Fidelma von Kildare, Anwältin bei Gericht«, bestätigte sie ihm. »Ich habe mein Studium mit dem Rang eines anruth abgeschlossen.«

Der Vater Superior schluckte schwer, dann fielen ihm seine guten Manieren wieder ein, und er streckte die Hand aus, um die junge Nonne hereinzubitten.

»Willkommen, Schwester. Willkommen in unserer Gemeinschaft des Glaubens und Friedens …«

Fidelma unterbrach ihn mit einer knappen Handbewegung.

»So friedlich ist es hier offenbar nun auch wieder nicht, habe ich gehört …«, meinte sie trocken. Der Abt von Lios Mór Mochuda hat mir mitgeteilt, dass in diesen Mauern ein Mord begangen wurde und du eine dálaigh brauchst. Ich bin so schnell gekommen, wie ich nur konnte.«

»Nicht in diesen Mauern, um genau zu sein«, erwiderte Pater Allán. »Komm mit in unseren Garten. Dann will ich versuchen, dir die Angelegenheit zu erklären.«

Er führte sie ein wenig von den winzigen grauen Klostergebäuden weg, die hoch auf einem Felsvorsprung standen, der über einem Wald aufragte und neben dem sich ein Fluss durch das Tal schlängelte. Die kleine Ordensgemeinschaft hatte einen atemberaubenden Ausblick über das Grün auf die in blauem Dunst liegenden Berge.

Hinter einem aus Feldsteinen errichteten Oratorium befand sich ein kleiner, von einer Mauer umgebener Garten. Ein junger Mönch war in der hinteren Ecke eifrig damit beschäftigt, den Boden zu hacken. Pater Allán geleitete Fidelma zur Mauer und ließ sich darauf nieder. So waren sie außer Hörweite des jungen Mannes. Es war Mittagszeit, und die Sonne schien ihnen warm und angenehm auf die Haut. Fidelma setzte sich neben ihn auf die Mauer.

»Nun …?«, forderte sie ihn auf.

»Hier ist in der Tat ein Mord geschehen, Fidelma von Kildare«, bestätigte Pater Allán in sorgenschwerem Ton.

»Wer wurde getötet, wann und wie?«

Pater Allán wartete einen Augenblick, als müsse er seine Gedanken sammeln, ehe er sprach.

»Bruder Moenach wurde ermordet. Vielleicht hast du schon von ihm gehört?«

»Wir sind hier viele Meilen von Kildare entfernt«, bemerkte Fidelma. »Warum hätte ich schon von diesem Bruder Moenach gehört haben sollen?«

»Er war ein so heiligmäßiger junger Mann.« Pater Allán seufzte. »Ja, wahrhaftig. Er zählte zwar erst achtzehn Lenze, aber er war durchdrungen von Weisheit, Poesie und Gesang. Sein Wesen war so heiter und ruhig, dass er sicherlich vom Lebendigen Gott gesegnet war. Seine Nächstenliebe und seine freundliche Natur waren ebenso berühmt wie seine musikalischen Fähigkeiten. Äbte und Stammesfürsten, sogar der König von Cashel, alle haben sich seiner musikalischen Begabung bedient, um Trost für ihre betrübten Gemüter zu finden.«

Fidelma schaute Pater Allán skeptisch an, während er die Tugenden Moenachs so begeistert pries.

»Bruder Moenach, ein achtzehnjähriger Mönch, wurde also umgebracht?«, fasste sie zusammen.

Der Vater Superior der Klostersiedlung nickte.

»Wann?«

»Es geschah vor einer Woche.«

Fidelma seufzte. Das bedeutete, dass es für sie nur noch wenige Anhaltspunkte gab. Und zweifellos hatte man Bruder Moenach schon vor Tagen in allen Ehren begraben. Doch sie hatte dem Abt von Lios Mór Mochuda versprochen, in dem Fall zu ermitteln. Die winzige Klostersiedlung unterstand nämlich seiner kirchlichen Rechtsprechung.

»Wie ist das Verbrechen geschehen?«

»Eine Frau aus dem Dorf, sie heißt Muirenn, hat ihn umgebracht. Wir haben sie eingesperrt, damit sie vor die Stammesfürsten geführt und auf dem schnellsten Wege …«

»Nicht ehe sie vor dem hiesigen Brehon ordentlich angehört wurde«, unterbrach ihn Fidelma. »Aber ich habe nach dem Wie gefragt, nicht nach dem Wer.«

Pater Allán runzelte die Stirn.

»Ich verstehe nicht ganz.«

»Schildere mir bitte den Hergang der Tat.«

»Eines Abends kam Bruder Aedo angerannt und suchte mich. Es war kurz vor der Vesper, wenn ich mich recht erinnere. Er brachte gerade Gemüse vom Dorf durch den Wald zum Kloster, als er bemerkte, dass sich zwischen den Bäumen etwas bewegte. Neugierig geworden, ging er der Sache nach. Zu seinem Entsetzen fand er dabei auf einer Lichtung die Leiche von Moenach. Daneben kniete eine alte Frau aus dem Dorf, Muirenn. Sie hielt einen Stein in der Hand. Daran klebte Blut, wie auch am Kopf von Moenach Blut war. Bruder Aedo rannte erschrocken fort und kam schnurstracks zu mir, um mir von dieser schrecklichen Angelegenheit zu berichten …«

»Rannte fort? Hast du nicht gesagt, dass Muirenn eine alte Frau ist? Was hat ihm denn da solche Angst eingejagt?«

Der Vater Superior fragte sich, ob Fidelma das sarkastisch meinte, war sich aber nicht sicher.

»Muirenn hat Aedo so bitterböse angeschaut, dass er um sein Leben fürchtete«, erklärte Pater Allán. »Wenn sie Moenach töten konnte, dann war doch auch Aedo in Gefahr.«

»Im Augenblick nehmt ihr hier also nur an, dass Muirenn die Täterin ist. Was geschah dann? Nachdem Aedo dir Bericht erstattet hatte?«

»Einige von uns gingen zu der Lichtung, wo er die Leiche gefunden hatte. Moenach lag noch immer da. Man hatte ihm von hinten den Schädel eingeschlagen. Neben ihm entdeckten wir einen blutbefleckten Stein, den Muirenn offensichtlich dort hatte fallen lassen. Wir jagten ihr hinterher und spürten sie auf, in ihrer Hütte im Dorf versteckt …«

»Versteckt? Warum hätte sie in ihr Dorf und ihre Hütte zurückkehren sollen? Sie wusste doch, dass man sie gesehen und erkannt hatte. Da wäre ihre Hütte wohl der letzte Ort, zu dem sie geeilt wäre. Und wie hatte sie sich verborgen? Hatte sie sich irgendwo in der Hütte verkrochen?«

Mit einem leisen, ärgerlichen Seufzer schüttelte Pater Allán den Kopf.

»Ich behaupte nicht, dass ich weiß, wie sie denkt. Jedenfalls haben wir sie in ihrer Hütte vorgefunden. Sie saß dort am Herd. Wir haben sie eingesperrt, damit du sie vor ihrer Anhörung durch den Brehon befragen kannst.«

»Dann hat sie sich wohl kaum ›versteckt, nach allem, was du mir erzählst«, meinte Fidelma ein wenig verächtlich. »Hat sie die Tat gestanden und einen Grund genannt, warum sie Moenach umgebracht hat?«

Der Vater Superior schniefte abfällig.

»Sie behauptet, überhaupt nichts von dem Mord zu wissen, obwohl wir einen Augenzeugen haben.«

»Einen Augenzeugen?« Fidelmas Stimme hatte eine gewisse Schärfe. »Wer ist denn euer Augenzeuge?«

Pater Allán litt sichtlich, so als hätte er es mit einem ein wenig begriffsstutzigen Schüler zu tun. »Nun, Bruder Aedo natürlich.«

»Aber du hast mir doch eben gesagt, dass er nur gesehen hat, dass die alte Frau neben Moenach kniete und einen blutigen Stein in der Hand hielt. Also war er nicht Augenzeuge des eigentlichen Mordes.«

Pater Allán machte den Mund auf und wollte schon protestieren, bemerkte dann aber das wütende Funkeln in Fidelmas Augen … Waren sie grün oder hellblau? … Und er schwieg. Wenn Fidelma zornig war, schien aus ihren Augen ein seltsam eisiges Feuer zu sprühen.

»Ich behaupte ja nicht, ein Rechtsgelehrter zu sein«, erwiderte er trotzig. »Mit solchen Feinheiten kann ich mich nicht abgeben.«

»Der Gesetzestext des Berrad Airechta sagt klar und deutlich, dass jemand nur über das Zeugnis ablegen kann, was er oder sie gesehen oder gehört hat. Alles, was nicht vor den Augen eines Zeugen geschehen ist, kann nicht in Betracht gezogen werden. Auch Hörensagen darf nicht als Beweis vorgebracht werden.«

»Aber es war doch offensichtlich …«, begann Pater Allán.

»Ich bin hier, um mich mit Gesetzen und nicht mit Vermutungen zu befassen«, sagte Fidelma schroff. »Und als dálaigh würde ich dir raten, deine Worte sorgfältiger abzuwägen. Erzähle mir mehr von diesem … diesem angeblich beinahe heiligen Jüngling.«

Pater Allán fiel sehr wohl der leicht sarkastische Ton ihrer Stimme auf. Er zögerte kurz, fragte sich, ob er sie für ihren Spott tadeln sollte, entschloss sich aber, darüber hinwegzugehen.

»Er war der Sohn eines Stammesfürsten der Uí Figente. Er besaß eine seltene musikalische Begabung, spielte die cruit, als würde ein Engel die Harfe spielen. Seine Gedichte waren lieblich und rein. Mit gerade sieben Jahren wurde er unserer Obhut anvertraut. Letztes Jahr erreichte er das Alter der Wahl und entschied sich, als Mitglied unserer Gemeinschaft bei uns zu bleiben.«

»Er hatte also einen Ruf als Musiker?«

»Er wurde zu den Festen der Stammesfürsten und Äbte im Umkreis von vielen Meilen eingeladen«, erwiderte Pater Allán.

»Aber was für ein Mensch war er?«

»Ein angenehmer junger Mann. Freundlich, klug, rücksichtsvoll zu seinen Brüdern und zu allen, die ihn kennenlernten. Er hat sich immer alle erdenkliche Mühe gegeben, seinen Vorgesetzten zu Gefallen zu sein und ihren Bedürfnissen zu entsprechen. Ganz besonders liebte er Tiere und …«

»Er war also anscheinend über jegliche menschliche Schwäche erhaben?«

Pater Allán nahm diese Frage sehr ernst und schüttelte den Kopf. Fidelma erhob sich. Das Lächeln auf ihrem Gesicht wirkte ein wenig gezwungen. Pater Allán war so von der Erinnerung an die engelgleiche Erscheinung seines Schülers erfüllt, dass er ihr nun kaum noch weiter von Nutzen sein würde.

»Ich möchte jetzt mit Muirenn, der alten Frau, sprechen«, sagte sie. »Danach würde ich gern Bruder Aedo sehen.«

Nach einigem Zögern hievte sich der Vater Superior von der Mauer und bedeutete Fidelma, ihm zu einem der Gebäude der Klostersiedlung zu folgen.

Dort saß Muirenn in der Ecke einer Zelle auf der Kante der Pritsche, die man ihr zum Schlafen gegeben hatte. Sie schaute trotzig auf, als Fidelma eintrat. Sie war eine kleine, drahtige Frau mit wütenden dunklen Augen. Sie hatte das Kinn vorgereckt; ihr zerzaustes Haar war von grauen Strähnen durchzogen. Eine Greisin war sie noch lange nicht.

»Ich bin Fidelma, eine dálaigh am Gerichtshof«, verkündete Fidelma, als sie in den Raum trat. Sie hatte Pater Allán gebeten, sie mit der Gefangenen allein zu lassen.

Muirenn schnaubte verächtlich.

»Du bist gekommen, um mich für etwas zu bestrafen, das ich nicht getan habe«, knurrte sie, und in ihrer Stimme schwang Wut, nicht Furcht mit.

»Ich bin gekommen, um die Wahrheit zu ermitteln«, berichtigte Fidelma sie.

»Ihr jämmerlichen Ordensleute habt doch schon längst entschieden, was die Wahrheit ist. Du solltest dahin zurückkehren, wo du hergekommen bist, wenn du nur Alláns Vorurteile bestätigen willst.«

Fidelma setzte sich hin.

»Erzähle mir, was vorgefallen ist«, forderte sie die Frau auf. »Du bist aus dem Dorf unterhalb des Klosters?«

»Gott verfluche den Tag, an dem die Klosterbrüder hier zu bauen angefangen haben!«, murmelte die Frau.

»Ich habe erfahren, du bist Witwe? Du hast keine Kinder und hilfst dem Kräuterheiler im Dorf. Stimmt das?«

»Ja.«

»Dann erzähle mir, was vorgefallen ist.«

»Ich war im Wald und habe Pflanzen für Arzneien gesammelt. Da habe ich in der Nähe einen Schrei gehört. Ich bin sofort hingelaufen, um zu sehen, was ich tun konnte. Auf einer kleinen Lichtung lag ein junger Mönch mit dem Gesicht zum Boden. Auf der anderen Seite der Lichtung raschelte das Gebüsch, weil jemand davonlief. Ich dachte, ich könnte dem Jungen helfen. Ich kniete nieder und musste jedoch feststellen, dass es dafür schon zu spät war. Man hatte ihm den Schädel eingeschlagen. Ihm war nicht mehr zu helfen. Ohne zu überlegen, hob ich den Stein auf, der neben seinem Kopf lag. Er war mit Blut befleckt.

Da vernahm ich hinter mir einen Aufschrei. Ich drehte mich um und sah am Rand der Lichtung einen anderen Mönch stehen. Er starrte zu mir hin. Ich rappelte mich auf und rannte voller Schrecken nach Hause in meine Hütte.«

Fidelma zog fragend eine Augenbraue in die Höhe.

»Warum bist du erschrocken und weggerannt, als du den Mönch dort stehen sahst? Es wäre doch sicherlich besser gewesen, ihn um Hilfe zu bitten?«

Muirenn grummelte wütend.

»Ich bin davongelaufen, weil ich dachte, der Mörder sei zurückgekehrt.«

»Wie bist du darauf gekommen?«, fragte Fidelma. »Es war doch ein Mönch aus der Ordensgemeinschaft.«

»Genau. Als ich auf die Lichtung kam, sah ich, wie jemand durch die Büsche davonlief. Ich konnte einen Blick auf seinen Rücken erhaschen. Er trug eine braune Kutte. Moenach ist von einem Mitbruder aus seiner Gemeinschaft umgebracht worden. Ich habe ihn nicht getötet.«

Draußen vor der Zelle schaute Pater Allán Fidelma erwartungsvoll an.

»Möchtest du immer noch Bruder Aedo sprechen, oder hast du deine Untersuchung abgeschlossen?«

Hörte sie da einen gewissen Eifer aus seiner Stimme heraus? Er schien geradezu versessen darauf, dass sie einfach seine Vermutung bestätigte, Muirenn sei die Mörderin. Fidelma schürzte die Lippen und starrte ihn einen Augenblick lang an, ehe sie antwortete.

»Ich habe meine Untersuchung eben erst begonnen«, erwiderte sie leise. »Sag mir, wie viele Brüder leben in dieser Gemeinschaft?«

»Was hat das denn damit zu tun, dass …« Pater Allán biss sich auf die Zunge, als er sah, dass das zornige Feuer in ihren Augen wieder aufblitzte. »Insgesamt sind wir zehn Brüder.«

»Hatte Bruder Moenach Gefährten, Freunde, die ihm besonders nahestanden?«

»Wir sind alle Gefährten.« Der Vater Superior schniefte. »Gefährten im Dienste Christi.«

»War er bei allen in der Gemeinschaft wohlgelitten?«, fragte sie noch einmal.

»Natürlich«, erwiderte Pater Allán schroff. »Und warum auch nicht?«

Fidelma unterdrückte einen Seufzer.

»Hat man seine Zelle schon ausgeräumt?« Sie versuchte es auf eine andere Weise.

»Ich denke schon. Das müsste Bruder Ninnedo wissen. Er kümmert sich hier um den Garten.« Der Vater Superior deutete auf einen blonden jungen Mönch, der an der anderen Seite des Wiesenhangs einen Busch beschnitt. »Komm, ich werde …«

Fidelma hob abwehrend die Hand.

»Ich sehe ihn. Mach dir keine Mühe, Vater Superior. Ich spreche mit ihm. Ich komme zu dir zurück, wenn ich hier fertig bin. Lass bitte Bruder Aedo wissen, dass ich mit ihm reden möchte, nachdem ich mit Bruder Ninnedo gesprochen habe.«

Mit diesen Worten machte sie auf dem Absatz kehrt und ging auf den jungen Mann zu, der eifrig über seine Arbeit gebeugt war.

»Bruder Ninnedo?«

Der Mönch blickte auf. Er wirkte verlegen. Seine Augen huschten zu Pater Allán, dessen Gestalt sich hinter Fidelma rasch entfernte.

»Ich bin eine dál …«, begann Fidelma sich vorzustellen.

Ehe sie noch mit ihrer Erklärung fertig war, unterbrach sie der junge Mann.

»Du bist eine dálaigh, ich weiß. Wir erwarten dich schon seit einigen Tagen.«

»Gut. Und weißt du, warum ich hier bin?«

Der junge Mann nickte schlicht.

»Ich höre, dass du dir mit Bruder Moenach eine Zelle geteilt hast. Dann nehme ich an, dass du ihn gut kanntest?«

Fidelma war überrascht, als sie auf dem Gesicht des jungen Mönchs unverhohlenen Abscheu wahrnahm.

»Allerdings kannte ich ihn ziemlich gut.«

»Aber du mochtest ihn nicht?«, fragte sie schnell.

»Das habe ich nicht gesagt«, erwiderte Ninnedo vorsichtig.

»Das war auch nicht nötig. Warum hast du ihn nicht gemocht? Wenn man Pater Allán Glauben schenkt, war Bruder Moenach doch geradezu ein Heiliger.«

Ninnedo lachte bitter auf.

»Ich mochte ihn nicht, weil er ein übler Bursche war und nicht zur Arbeit im Weinberg des Herren taugte. Pater Allán konnte er vielleicht täuschen. Viele Leute vermochte er zu narren, die so selbstzufrieden sind, dass sie gar nicht merken, wenn ein widerlicher Speichellecker ihrer Eitelkeit mit voller Absicht schmeichelt. Doch Bruder Fogartach und ich, wir mussten die Zelle mit ihm teilen. Wir kannten seine üblen Machenschaften.«

Fidelma hatte den Kopf leicht zur Seite geneigt. Die Wut des jungen Mannes erstaunte sie ein wenig.

»Wie lange kanntest du ihn?«

»Wir sind zusammen als Pflegekinder hierhergekommen, Schwester. Das ist lange her.«

»Und du hast ihn immer gehasst?«

»Beinahe.«

»Dann sag mir doch, worin sich seine Bosheit ausdrückte? Du beschuldigst ihn, ein widerlicher Speichellecker gewesen zu sein. Nun, das sind wir alle in gewisser Weise, wenn wir denen schmeicheln, die über uns zu bestimmen haben. Das würde ich kaum Bosheit nennen.«

Ninnedo kaute auf seiner Unterlippe herum und überlegte einen Augenblick, ehe er weitersprach.

»Pater Allán behauptet, dass Moenach ein Heiliger war. Es würde mir nicht gut anstehen, wenn ich aufrichtig rede.«

»Jetzt sprichst du aber nicht mit Pater Allán, sondern mit einer dálaigh der Gerichtshöfe. Sag mir die Wahrheit und nichts als die Wahrheit, und du wirst belohnt.«

Ninnedo wand sich verlegen.

»Nun gut, Schwester. Moenach war ein Lügner, ein Dieb und ein Lüstling.«

Fidelma sah ihn fragend an.

»Wenn das stimmt, wie konnte er derlei Laster vor Pater Allán verbergen?«

»Er sah aus wie ein Engel und konnte hervorragend Süßholz raspeln, wenn es sein musste. Oft sehen die Menschen nur die äußere Gestalt. Und er konnte wundersam süße Musik machen. Er vermochte die Leute zu täuschen. Aber ab und zu blitzte sein wahres Wesen hinter dieser Unschuldsmaske hervor. Er war ein Bösewicht.«

»Kannst du dafür Beweise erbringen? Hörensagen ist nach dem Gesetz vor Gericht nicht zugelassen.«

»Beweise? Er stahl alles, wonach ihm der Sinn stand. Er hat mich und Bruder Nath bestohlen. In unserer Gemeinschaft lebte bis vor wenigen Monaten ein Bruder namens Follamon. Moenach hatte sein begehrliches Auge auf einen mit Edelsteinen besetzten Becher geworfen, der Pater Allán gehörte. Er vermochte seine Begierde nicht zu zügeln und stahl ihn. Pater Allán begann eine gründliche Suche nach dem verschwundenen Becher. Moenach wurde klar, dass man ihm diesen Diebstahl nicht würde durchgehen lassen. Also schob er den Becher Bruder Follamon unter. Er verbarg ihn in dessen Bett, sodass man ihn dort fand und dem anderen die Schuld gab.«

»Was geschah dann?«

»Pater Allán ließ Follamon aus der Gemeinschaft ausstoßen.«

»Warum wurde denn Moenachs Tat dem Pater nicht gemeldet? Wenn du es wusstest und Bruder Nath es wusste, warum hat euch Pater Allán dann nicht geglaubt?«

Wieder lachte Ninnedo. Aber sein Lachen klang bitter.

»Dir ist nicht klar, wie tief der Glaube an Moenach in den Gedanken des guten Paters verwurzelt war. Nath erzählte es ihm, denn Nath wusste, was geschehen war. Da beschuldigte Pater Allán ihn einfach, nur neidisch zu sein, und drohte sogar, er würde auch ihn aus der Gemeinschaft ausstoßen.«

»Aber Moenach konnte doch seine Stellung nicht nur halten, weil Pater Allán für ihn voreingenommen war? Es müssen doch auch andere der gleichen Meinung wie der Pater gewesen sein?«

Ninnedo schniefte verächtlich.

»O ja. Moenach hat einige Brüder an der Nase herumgeführt. Diesen Narren Aedo zum Beispiel.«

»Aedo, der die Leiche entdeckte, als Muirenn neben ihr kniete?«

»Genau der. Er war so erschüttert und vom Schmerz gebeugt, dass er, nachdem er hier angekommen war und uns die Nachricht gebracht hatte, mehrere Tage im Bett bleiben musste.«

»Ach ja? Aedo hat also Pater Allán und die anderen Brüder nicht auf der Suche nach Muirenn begleitet?«

»Nein.«

»Hat Moenach außer einigen Klosterbrüdern noch andere Menschen getäuscht?«

»Er hatte den gleichen Einfluss bei einigen Stammesfürsten und sogar Äbten in der Gegend.«

»Aber du und Nath, ihr hieltet ihn für einen Bösewicht?«

»Wir kannten seine Machenschaften, Schwester. Ja, es schien ihm sogar Vergnügen zu bereiten, dass wir darum wussten, wie er den Vater Superior täuschte. Er forderte uns manchmal heraus, wir sollten ihn doch anschwärzen. Er wusste ja genau, dass uns niemand Glauben schenken würde.«

»Hast du denn Bruder Nath nicht gegen Pater Allán den Rücken gestärkt?«

»Das hat ihm überhaupt nichts genützt«, meinte Ninnedo verächtlich.

Man hörte in der Ferne eine Glocke läuten.

»Ich muss gehen«, sagte Ninnedo und entfernte sich rasch.

Einen Augenblick lang schaute Fidelma ihm nachdenklich hinterher. Dann machte sie sich auf die Suche nach Pater Allán.

»Du hast mir nicht erzählt, dass nicht alle hier Moenach mochten.«

Der Vater Superior starrte sie wütend an.

»Wer hat ihn denn nicht leiden können?«, wollte er wissen. »Ninnedo, nehme ich an?«

»Ich spreche auch von Bruder Nath.«

»Nath!« Pater Allán blieb vor Staunen der Mund offen stehen. »Also hat Ninnedo dir von dieser Angelegenheit erzählt?«

Fidelma antwortete nicht.

»Schwester Fidelma, du weißt so gut wie ich, dass wir trotz unserer Gelübde und trotz unseres Lebens im Dienst des Lebendigen Gottes nicht plötzlich übermenschliche Kräfte entwickeln, dass wir nicht unfehlbar werden.«

»Was soll das heißen?«

»Dass ich natürlich von den Anschuldigungen weiß, die Nath und Ninnedo erheben. Ich kenne die beiden seit vielen Jahren, seit sie zusammen mit Moenach als Zöglinge hierhergekommen sind. Sie sind zusammen aufgewachsen, aber so wie manchmal Männer eine unergründliche Abneigung gegeneinander entwickeln, so geschieht das auch bei Jungen. Mir war immer klar, wie neidisch sie auf Moenach waren und wie sehr sie ihn hassten.«

»Ja? Und was hieltest du für den Grund?«

»Wer weiß? Wenn ein Junge so begabt und engelrein ist wie Moenach, dann hat er viele Feinde.«

»Und bist du dir sicher, dass die Anschuldigungen der beiden jeglicher Grundlage entbehrten?«

»Ich kenne Moenach seit seinem siebten Lebensjahr. Er war über jeden Vorwurf erhaben.«

»Obwohl du vorhin zugegeben hast, dass keiner von uns unfehlbar ist?« Fidelma konnte sich diese sarkastische Bemerkung nicht verkneifen.

Doch Pater Allán ging ihr nicht auf den Leim.

»Moenach war ein ganz besonderer Mensch. Es hat mich sehr geschmerzt, mit anzusehen, wie eifersüchtig Nath auf ihn war.«

»Ich möchte mit Bruder Nath sprechen.«

Pater Allán machte eine verlegene Geste.

»Aber er …, er hat sich aus dem Staub gemacht. Hat Ninnedo das nicht erwähnt?«

Fidelma schaute ihn einen Augenblick lang unverwandt an.

»Nath ist verschwunden?«

»Ja. Die ganze letzte Woche hat ihn niemand gesehen.«

Fidelma atmete tief durch, um nicht wütend loszubrüllen.

»Du sagst also, dass Bruder Nath vor einer Woche verschwunden ist? Vor einer Woche wurde Bruder Moenach ermordet. Warum habe ich nicht früher davon erfahren?«

Pater Allán wurde bleich.

»Aber Muirenn hat doch Moenach erschlagen. Warum solltest du dich da für einen widerborstigen jungen Mann interessieren, der sich aus der Gemeinschaft fortgeschlichen hat?«

»Wieso habe ich nichts davon erfahren?«, beharrte Fidelma. »Hat man Nachforschungen angestellt, was mit Nath geschehen ist?«

Pater Allán zuckte hilflos die Achseln.

»Er hat sein Gelübde gebrochen und ist weggelaufen. Mehr nicht.«

»Lass bitte Bruder Ninnedo unverzüglich herkommen.«

Pater Allán blinzelte, zögerte und machte sich dann auf den Weg.

Mit mürrischer Miene näherte sich Ninnedo Schwester Fidelma. Ihm folgte Pater Allán, der ihn ängstlich beobachtete.

»Ich will die ganze Wahrheit hören, Ninnedo«, sagte Fidelma. »Und zwar sofort.«

»Ich habe die Wahrheit gesprochen.«

»Und doch hast du mir nicht erzählt, dass dein Freund Nath seit dem Tag verschwunden ist, an dem Moenach ermordet wurde.«

Ninnedo erbleichte, machte aber weiterhin ein mürrisches Gesicht.

»Beschuldigst du jetzt ihn, Moenach umgebracht zu haben und dann fortgelaufen zu sein?«, murmelte er. »Alle sagen doch, dass Muirenn Moenach ermordet hat.«

»Meine Aufgabe ist es, die Wahrheit herauszufinden. Weißt du, wo Nath ist?«

Ninnedo starrte sie an. Er schlug als Erster die Augen nieder und schüttelte den Kopf.

»Sprich mit Ainder, der Tochter von Illad«, flüsterte er.

»Wer ist Ainder?«, wollte Fidelma wissen.

Pater Allán trat verlegen von einem Bein aufs andere.

»Ainder ist ein junges Mädchen aus dem Dorf, das für unsere Gemeinschaft die Wäsche macht. Sie lebt bei ihrem Vater Illand, unserem Obergärtner.«

Fidelma wandte ihren Blick wieder zu Bruder Ninnedo.

»Warum sollte ich mit Ainder sprechen?«

»Es steht mir nicht zu, vorwegzunehmen, was sie vielleicht zu dir sagt«, erwiderte der junge Mann beherzt, in einem schwachen Versuch, Fidelmas Stil nachzuahmen.

Fidelma blickte in Ninnedos mürrisches Gesicht und seufzte.

»Und wo finde ich Ainder?«

»Die Hütte von Illand steht am Fuße des Berges«, mischte sich der Vater Superior ein. »Dort findest du sie, Schwester Fidelma.«

Sie beschloss, Bruder Aedo zu bitten, sie zu begleiten und ihr unterwegs die Stelle zu zeigen, wo Moenach ermordet wurde. Sie wollte sich von ihm auch seine Geschichte vom Fund der Leiche bestätigen lassen.

Aedo war ein schlichter, argloser junger Mann, der seinem Bericht nichts hinzuzufügen hatte. Er erzählte ihr, er sei bei seiner Rückkehr ins Kloster so verstört gewesen, dass er nur noch dem Vater Superior Bericht erstatten konnte, dann sei er von seinen Gefühlen überwältigt worden und erkrankt. Pater Allán und drei andere Brüder waren sofort aufgebrochen, um Moenach zu suchen und die Verfolgung von Muirenn aufzunehmen.

Fidelma sah sich auf der kleinen Lichtung um. Sie erwartete nicht, hier etwas zu entdecken, das ihr irgendwie helfen könnte. Trotzdem war es nützlich, sich den Tatort einzuprägen. Ohne Bruder Aedo hätte sie die Stelle kaum finden können, denn in dem großen Waldstück gab es viele ähnliche kleine Lichtungen. Sie bat Aedo, zum Kloster zurückzukehren, und setzte ihren Weg bergab fort.

Wie Pater Allán ihr gesagt hatte, stand am Fuß des Bergs eine kleine Hütte. Auf einer Wäscheleine, die zwischen zwei Bäumen befestigt war, hingen frisch gewaschene Mönchsgewänder. Ein älterer, untersetzter Mann pflückte Äpfel. Er schaute Fidelma misstrauisch entgegen.

»Ist hier das Heim von Ainder, der Tochter des Illand?«

»Ich bin Illand«, erwiderte der Mann. »Meine Tochter ist im Haus.«

»Ich bin Fidelma von Kildare und möchte mit ihr sprechen.«

Der Mann zögerte, ehe er mit einer Handbewegung auf die Hütte deutete.

»Sei uns willkommen, Schwester Fidelma. Meiner Tochter geht es nicht gut …«

»Aber doch gut genug, um die Schwester zu empfangen …«, ertönte von drinnen eine leise Sopranstimme.

In der Tür der Hütte erschien ein junges Mädchen, blond und schlank und kaum mehr als vierzehn Jahre alt.

»Bitte, Vater«, beharrte das Mädchen, ehe Illand noch etwas einwenden konnte. »Ich bin erwachsen und kann meine eigenen Entscheidungen treffen.«

Illand zuckte vielsagend die Achseln.

»Ich habe noch zu tun«, murmelte er griesgrämig, nahm den Korb mit den Äpfeln und entfernte sich.

Das Mädchen wandte sich bleich, aber mit entschlossenem Blick Fidelma zu.

»Du musst die dálaigh sein, auf die Pater Allán gewartet hat«, sagte sie. »Warum kommst du zu mir?«

»Ich höre, dass du die Wäscherin des Klosters bist«, erwiderte Fidelma. »Lebst du hier mit Mutter und Vater?«

Ein Schatten legte sich auf die Züge des Mädchens.

»Meine Mutter ist schon viele Jahre im Reich der Wahrheit«, antwortete sie und benutzte die beschönigende irische Wendung, die bedeutete, dass ihre Mutter tot war.

»Das tut mir leid.«

»Kein Grund zur Trauer«, meinte das Mädchen.

Ohne ein weiteres Wort wandte sie sich um, ging in die Hütte hinein und bedeutete Fidelma, ihr zu folgen. Die Schwester setzte sich auf den Stuhl, den ihr Ainder mit einer Handbewegung zuwies. Das junge Mädchen nahm ihr gegenüber Platz und musterte sie eingehend.

»Ich freue mich, dass du eine Frau bist, und eine junge Frau noch dazu.«

Fidelma zog überrascht die Augenbrauen hoch.

»Warum das?«

»Ich glaube, du bist hergekommen, um mich über Nath zu befragen.«

»Was weißt du über Bruder Nath?«

»Er möchte mich heiraten.«

Fidelma blinzelte und seufzte.

»Ich verstehe.« Nach dem Gesetz des Fénechus konnten Ordensleute heiraten und taten das auch. »Nath ist also in dich verliebt?«

»Ja, das ist er.«

Eine kleine Betonung ließ Fidelma ein verborgenes »aber« vermuten.

»Aber dein Vater ist dagegen?«, riet Fidelma.

»O nein!« Die Worte sprudelten rasch hervor. »Er weiß nichts davon.«

»Weißt du, dass Nath verschwunden ist?«

Ainder nickte mit niedergeschlagenen Augen.

»Du weißt, dass Bruder Moenach ermordet wurde und Bruder Nath am gleichen Tag verschwunden ist? Die Sache sieht schlecht für ihn aus.«

Ainder schien verwirrt.

»Aber hat nicht die alte Frau, Muirenn, Moenach umgebracht?«, fragte sie.

»Das herauszufinden, bin ich gekommen. Was weißt du über Naths Verschwinden?«

Das Mädchen zögerte und stieß dann einen tiefen Seufzer aus.

»Nath hatte Angst, nachdem Moenach ermordet worden war. Weißt du, niemand glaubte uns, wie bösartig Moenach wirklich war. Mit seinen Lügen hat er sogar erreicht, dass Bruder Follamon aus dem Orden ausgestoßen wurde.«

»Wieso weißt du davon?«

»Ich bin hier aufgewachsen, im Schatten von Pater Alláns Kloster. Mein Vater kümmert sich dort um den Garten, und seit dem Tod meiner Mutter bin ich die Wäscherin der Gemeinschaft. Follamon, Ninnedo und Moenach kamen zusammen als Zöglinge ins Kloster. Als sie letztes Jahr das Alter der Wahl erreichten und ihre eigenen Entscheidungen treffen durften, beschlossen sie alle drei, in der Gemeinschaft von Pater Allán zu bleiben. Sie kannten einander gut. Follamon, Nath und Ninnedo wurden Freunde.«

»Aber Moenach nicht?«

Das Mädchen schauderte.

»Nein!« Ihre Stimme klang sehr entschieden. Zu entschieden.

»Warum mochtest du Moenach nicht?«

Ainder hob die Augen zu Fidelma. Ihre Wangen waren hochrot. Dann senkte sie den Blick und formulierte ganz besonders sorgfältig: »Ich will dir die Wahrheit nicht verschweigen, Schwester. Am Tag, bevor Moenach umgebracht wurde, hat er mich angegriffen.«

Fidelma schrak zusammen.

»Er hat dich angegriffen?«

»Er hat mich vergewaltigt.«

Fidelma bemerkte, dass sie das Wort forcor benutzte, das eine brutale Vergewaltigung bezeichnete, einen gewaltsamen Überfall, der nach dem Gesetz von sleth unterschieden wurde, dem Begriff für alle anderen Formen sexueller Beziehungen mit einer Frau gegen deren Willen.

»Erkläre mir die Umstände, Ainder. Und lass dich warnen, dass dies eine sehr ernste Anschuldigung ist.«

Ainders Gesicht verhärtete sich.

»Für mich ist es auch eine ernste Sache, denn wer wird nun meinen Brautpreis zahlen?«

Den Brautpreis, der zwischen der Braut und ihrem Vormund, gewöhnlich ihrem Vater, aufgeteilt wurde, zahlte gewöhnlich der Ehemann. Dieser Preis war an die Jungfräulichkeit der Braut gebunden. Falls sie keine Jungfrau mehr war, waren die Folgen Erniedrigung und finanzieller Verlust.

»Nun gut, jetzt erzähle mir, was geschehen ist«, forderte Fidelma sie auf.

»Ich trug an jenem Tag einen Korb mit Wäsche zum Kloster hinauf. Dabei überraschte mich Moenach. Er hasste mich, weil er wusste, dass Nath mich liebt. Erst hat er mich beleidigt, dann zu Boden geschlagen und vergewaltigt. Danach … sagte er, niemand würde mir glauben, wenn ich davon erzählte, denn es sei in der Gemeinschaft wohlbekannt, dass ihm Äbte und Könige ihr Vertrauen schenkten.«

»Hat er dich wirklich überfallen?«, erkundigte sich Fidelma. »Dir ist doch der Unterschied zwischen forcor und sleth klar?«

»Moenach war stark. Ich konnte mich gegen ihn nicht wehren. Er hat mich tatsächlich überwältigt.«

»Und du hast Nath davon erzählt?«

Das Mädchen hielt einen Augenblick lang inne, musterte Fidelmas Gesicht unter den Augenlidern hervor und nickte dann schnell.

»Ah ja. Und Nath war natürlich wütend?«

»Ich habe ihn nie zuvor so zornig gesehen.«

»Wann war das? Wie lange vor dem Mord an Moenach?«

»Er hat Moenach nicht getötet.«

Fidelma lächelte dünn.

»Ich habe keine solche Anschuldigung ausgesprochen. Aber warum beharrst du so sehr darauf?«

»Er würde so etwas nicht tun. Es ist nicht Naths Art.«

»Es ist in der Natur der meisten Menschen, wenn sie nur das richtige Motiv haben. Also beantworte bitte meine Frage: Wie lange vor dem Mord an Moenach hast du Nath von dem Überfall erzählt?«

»Am gleichen Nachmittag, als Moenach getötet wurde. Kaum eine Stunde vorher.«

»Wann hast du von Moenachs Tod gehört?«, erkundigte sich Fidelma.

»Nun …« Das Mädchen verzog das Gesicht. »Das war, als Pater Allán und einige andere aus dem Kloster kamen, um Muirenn zu suchen. Pater Allán sagte, man hätte sie mit der Tatwaffe in der Hand erwischt.«

»Hast du danach Nath noch einmal gesehen?«

Ainder schien zu zögern, ehe sie antwortete. Also wiederholte Fidelma ihre Frage noch einmal mit großem Nachdruck.

»Am gleichen Abend«, erwiderte das Mädchen widerwillig. »Er kam zu mir und hatte große Angst. Er hatte die Nachricht gehört und fürchtete um seine Sicherheit.«

»Er muss doch gewusst haben, dass man Muirenn verdächtigte. Warum ist er also weggelaufen?«

»Weil er glaubte, man würde ihn beschuldigen. Es war allgemein bekannt, dass er Moenach nicht mochte. Und Nath glaubte, dass man ihn des Mordes bezichtigen würde, sobald jemand erfuhr, dass Moenach mich überfallen hatte.«

Fidelma schaute das Mädchen traurig an.

»Sicherlich. Sowohl Nath als auch Muirenn sind nun der Tat verdächtig. Deswegen möchte ich dich fragen, warum du mir die Geschichte so bereitwillig erzählt hast, Ainder, wenn doch jetzt die Sache für Nath so schlimm aussieht?«

Das Mädchen schaute sie verletzt an.

»Ich habe sie erzählt, weil es die Wahrheit ist. Bringt man uns nicht bei, dass die Wahrheit über allen anderen Dingen steht? Nath kann nicht für immer in seinem Versteck bleiben. Ich kann keinen Gesetzlosen heiraten, der sich ständig in Moor und Heide und finsteren Schlupflöchern verbergen muss. Ich habe Nath viele Male gedrängt, er solle sich stellen und darauf vertrauen, dass die Wahrheit sein Schild ist.«

Fidelma lehnte sich zurück und betrachtete das Mädchen nachdenklich.

»Dir ist klar, wie schlimm Naths Lage ist, wenn er nicht zurückkommt und sich von mir befragen lässt?«

»Ja. Ich glaube, dass er das machen sollte und dass die Wahrheit ihn befreien wird.«

»Wenn das so ist, verrätst du mir dann, wo sich Nath versteckt hält?«

Das Mädchen senkte die Augen. Lange Zeit sagte sie nichts. Dann seufzte sie, als hätte sie einen Entschluss gefasst.

»Darf ich Nath zu dir bringen?«

»Wie er zu mir gelangt, ist mir einerlei«, erwiderte Fidelma. »Solange er nur vor mir erscheint.«

»Dann bringe ich ihn in der Abenddämmerung zur Hütte von Muirenn.«

Fidelma erwartete nicht, dass Bruder Nath an diesem Abend wirklich kommen würde. Irgendwie traute sie Ainder nicht. Sie war bereits eine halbe Stunde in Muirenns Hütte, als sie Ainder leise rufen hörte.

Fidelma saß auf einem Stuhl neben der grauen Asche des erloschenen Torffeuers, da erschien Ainders Gestalt im Türrahmen.

Fidelma stand auf und zündete eine Kerze an.

Erst da bemerkte sie den blassen jungen Mann im Ordensgewand, der nervös hinter dem Mädchen stand.

»Du bist also Nath?«, fragte sie.

Ainder zog den jungen Mann an der Hand hinter sich her in die Hütte und schloss rasch die Tür.

»Ich habe ihm gesagt, dass er sich vor dir nicht zu fürchten braucht, Schwester Fidelma, wenn er nur die Wahrheit spricht.«

Fidelma musterte den jungen Mönch. Er hatte ein frisches Gesicht und zerzauste Haare. Er wirkte leicht verwirrt, als sei er in Ereignisse hineingeraten, über die er keinerlei Gewalt mehr hatte. Ein mütterliches Gefühl regte sich in Fidelma, denn der junge Mann hatte den verlorenen Blick eines kleinen Jungen, der sich allein im dunklen Wald verirrt hat. Sie schüttelte den Kopf, um dieses Gefühl zu vertreiben.

Mit einer Handbewegung lud sie ihn ein, sich hinzusetzen.

»Erzähle mir deine Geschichte, Nath«, forderte sie ihn auf und nahm ihrerseits Platz.

»Da gibt es nicht viel zu erzählen«, antwortete der Junge ruhig. »Ich liebe Ainder und möchte sie heiraten. Moenach war schon immer mein Feind, meiner und der meiner Mitbrüder. Er war bereits als Kind ein Tyrann, und er blieb auch als junger Mann einer. Nichts machte ihm mehr Freude, als uns Böses zuzufügen. Doch wie jeder echte Tyrann wusste er sich auch bei seinen Vorgesetzten einzuschmeicheln. Pater Allán wollte nichts Schlechtes über ihn hören. Moenach brachte es fertig, dass Bruder Follamon aus dem Orden …«

»Davon weiß ich. Ich habe schon mit Bruder Ninnedo gesprochen.«

»Dann weißt du, wie Moenach wirklich war?«, fragte Nath.

»Ich weiß nur, was man mir berichtet hat. Als Ainder zu dir kam und erzählte, was ihr widerfahren war, wurdest du da sehr zornig?«

Nath senkte den Kopf und seufzte.

»Ich bin immer noch wütend. Ich bedaure Moenachs Tod nicht. Man hat uns gelehrt, die zu lieben, die unsere Feinde sind, die uns Böses zufügen. Ich bringe das nicht fertig. Ich begrüße diese letzte Strafe, die über Moenach verhängt wurde. Mein Herz frohlockt darüber. Allerdings sagt mir mein Verstand, dass dies nicht das Gesetz und nicht der Weg des Lebendigen Gottes ist.«

»Hast du Moenach getötet?«

»Nein!«, stieß er krächzend hervor.

»Warum bist du dann weggelaufen? Man hatte doch Muirenn eingesperrt, und alle anderen in der Gemeinschaft hielten sie für die Schuldige. Warum hast du durch die Flucht den Verdacht auf dich gelenkt?«

Nath schaute sie verdutzt an.

»Viele haben nicht an Muirenns Schuld geglaubt und dachten, Pater Allán wollte sie nur als Sündenbock benutzen, um Moenachs guten Ruf zu wahren.«

»Aber wenn sie wussten, dass Muirenn unschuldig war, dann müssen sie doch auch gewusst haben, dass jemand anderer der Täter war. Indem du wegliefst, hast du ihnen einen Verdächtigen geliefert.«

Nath schüttelte den Kopf. »Wenn man sicher ist, dass eine Person unmöglich einen Mord begangen haben kann, so heißt das doch noch lange nicht, dass man den Täter kennt.«

»Das stimmt«, gab Fidelma zu. »Du zum Beispiel wusstest, dass Muirenn keine Schuld traf. Du behauptest, dass auch du unschuldig bist. Warum sollte ich dir mehr glauben als Muirenn?«

»Pater Allán hat gesagt … Ich dachte, es wäre das Beste, bis ich vor einen Brehon geladen würde.«

»Was hat Pater Allán gesagt?«, fragte Fidelma mit scharfer Stimme.

Nath zögerte.

»Als mir Ainder erzählt hatte, was Moenach ihr angetan hatte, bin ich sofort zu Pater Allán gegangen. Wie immer hat er mir nicht geglaubt. Er wurde schrecklich wütend, und es dauerte eine ganze Weile, bis er sich beruhigt hatte. Er wollte einfach nicht zulassen, dass man etwas gegen seinen Liebling sagte. Er schickte mich fort und befahl mir, nie wieder ein Wort über diese Sache zu verlieren. Als ich später erfuhr, dass Moenach tot war, fürchtete ich, Pater Allán würde mich bezichtigen.«

»Also weiß Pater Allán, dass Ainder Moenach beschuldigte, sie vergewaltigt zu haben?«, überlegte Fidelma laut. »Und du, Nath, du bist Hals über Kopf weggerannt und hast dich versteckt, obwohl du dir darüber im Klaren gewesen sein musst, dass deine Flucht den Verdacht auf dich lenken würde?«

»Aber da war doch kein Verdacht«, fuhr Ainder dazwischen. »Alle glaubten, dass Muirenn die Tat begangen hatte.«

Fidelma nickte nachdenklich.

»Das verblüfft mich ja so. Auf Bruder Aedos Wort hin hat Pater Allán Muirenn bis zu meiner Ankunft eingesperrt. Du sagst, dass viele sie nicht für schuldig hielten, aber trotzdem war die gesamte Gemeinschaft anscheinend mit dieser Lösung zufrieden. Ich kann immer noch nicht recht begreifen, warum du, Nath, da du das doch alles wusstest, nicht ins Kloster zurückgekehrt bist und dort wie die anderen auf mich gewartet hast? Warum hast du die Aufmerksamkeit auf dich gelenkt? … Es sei denn, du hättest etwas zu verbergen?«

Nath schaute sie verständnislos an, Ainder aufgeregt und trotzig.

»Die Wahrheit, Nath!«, bellte Fidelma, als beide schwiegen. »Ich bin nicht länger bereit, eure Spielchen mitzumachen.«

Der junge Mann zog hilflos die Schultern hoch.

»Wir hielten es für das Beste …«

Fidelma schaute zu Ainder. Die hatte die Lippen fest geschlossen und starrte zu Boden. Plötzlich kam Fidelma ein Gedanke.

»Ainder hat dir geraten, dich zu verstecken?« Sie stellte diese Frage mit scharfer Stimme und ohne Vorwarnung.

Nath zuckte zusammen, hob den Kopf und sah Ainder an.

»Guck mich an, Nath!«, rief Fidelma. »Sag mir die Wahrheit, und du hast nichts zu befürchten.«

Der junge Mönch ließ den Kopf hängen.

»Ja, Ainder hat mir geraten, es sei das Beste.«

»Warum?«

»Ainder kam angelaufen und sagte mir, dass Moenach ermordet worden war. Als ich ihr erzählte, dass ich Pater Allán bereits von der Vergewaltigung berichtet hatte, fürchtete sie, man würde das genauso wenig glauben wie die Sache mit dem gestohlenen Becher. Sie hatte Angst, man würde mich nun des Mordes an Moenach verdächtigen. Deshalb sagte sie, ich solle mich lieber verstecken, bis die ganze Aufregung sich gelegt hatte oder ein Brehon einträfe, der meinen Fall mit Nachsicht betrachtete.«

»Das war sehr dumm von dir. Falls man Muirenn für schuldig befunden hätte, hätte das schwer auf deinem Gewissen gelastet.«

»Das hätte ich nicht zugelassen. Ich wäre zurückgekommen«, protestierte Nath.

»Zurückgekommen? Und womit hättest du deine Abwesenheit entschuldigt? Wärst du freiwillig zurückgekommen, um mit Muirenn zu tauschen? Das kann ich kaum glauben.«

»Ob du es glaubst oder nicht, ich hätte es getan.« Der junge Klosterbruder blickte sie trotzig an.

»Das war ein überaus dummer Ratschlag, den du Nath gegeben hast«, sagte Fidelma nun vorwurfsvoll zu Ainder.

Das Mädchen schaute ihr halsstarrig ins Gesicht.

»Ich hielt es damals für das Beste«, erwiderte sie.

»Das glaube ich dir gern«, erwiderte Fidelma nachdenklich.

Sie stand auf und trat zur Tür.

»Ich gehe jetzt ins Kloster und spreche mit Pater Allán. Du solltest zur Gemeinschaft zurückkehren, Nath. Du hast mir die Wahrheit gesagt.«

Pater Allán erhob sich unbeholfen, als Schwester Fidelma eintrat.

»Sagst du mir, warum du Moenach umgebracht hast, oder soll ich es dir erklären?«, fragte sie mit einer Schroffheit, die ihn erstarren ließ. Ihre Stimme war kalt und teilnahmslos.

Pater Allán blinzelte und schaute sie mit offenem Mund an. Ehe er noch etwas erwidern konnte, fügte Fidelma streng hinzu: »Ich weiß, dass du es warst. Es würde uns allen viel Zeit sparen, wenn wir auf falsche Unschuldsbeteuerungen verzichten könnten. Ich habe Verdacht geschöpft, als ich erfuhr, dass Bruder Aedo, nachdem er hier mit der Todesnachricht eingetroffen war, so verstört war, dass er dich nicht zu der Lichtung führen konnte. Trotzdem hast du ohne Hilfe sofort den Weg zu dem Ort gefunden, wo Moenachs Leiche lag, obwohl es im Wald viele ähnliche Lichtungen gibt. Selbst wenn Aedo dir die beste Wegbeschreibung der Welt gegeben hätte, hättest du zumindest ein bisschen danach suchen müssen.«

Die unterschiedlichsten Empfindungen huschten über das Gesicht des Vater Superior. Als er merkte, dass Schwester Fidelma sich nicht erweichen lassen würde, setzte er sich hin und breitete hilflos die Hände aus.

»Ich habe Moenach geliebt!«

»Hass ist oft die Kehrseite der Liebe«, bemerkte Fidelma.

Der Vater Superior ließ den Kopf hängen.

»Ich habe Moenach von Kindesbeinen an erzogen. Ich war vor dem Gesetz sein Ziehvater. Er hatte alles, was sich ein junger Mann nur wünschen konnte: gutes Aussehen, eine wunderbare Begabung und eine Art, mit der er jeden seinem Willen gefügig machen konnte, mit der er alle so täuschen konnte, dass sie an seine Güte und Frömmigkeit glaubten …«

»Nicht alle«, warf Fidelma ein.

»Ich weiß, ich weiß.« Pater Allán seufzte. »Ich hätte schon vor langer Zeit auf die anderen Mönche hören sollen. Ich hätte auf sie hören sollen. Aber ich hatte meine Vorurteile und verschloss meine Ohren vor der Wahrheit.«

»Was hat deine Meinung geändert?«

»Lange versuchte ich, mir selbst über Moenach etwas vorzumachen. Dann kam Nath mit der schrecklichen Neuigkeit darüber, was Moenach Ainder angetan hatte. Ich konnte das Böse, das zu einer solchen Tat geführt hatte, nicht fortbestehen lassen. Wenn er in diesem Alter zu so etwas fähig war, was würde er in Zukunft noch alles an Schlechtem tun?«

»Was geschah dann?«

»Ich schickte Nath fort, gab vor, ihm nicht zu glauben. Ich wusste, dass Moenach ins Dorf gegangen war. Also hastete ich sofort hinter ihm her den Pfad durch den Wald entlang und wartete auf der Lichtung auf ihn. Der Rest war leicht. Er hegte keinerlei Verdacht. Ich lenkte seine Aufmerksamkeit auf etwas, das auf der Erde lag, und während er sich hinunterbeugte, um es näher zu betrachten, hob ich einen Stein auf und schlug ihn – immer und immer wieder, bis er …«

»Dann kam Muirenn zufällig hinzu …?«

»Ich hörte, wie sich auf dem Pfad jemand näherte. Ich lief fort, so schnell ich konnte.«

»Und die arme Muirenn sah nur irgendeinen Mönch, der davonrannte. Und du ließest es zu, dass man sie für die Mörderin hielt.«

»Das wollte ich nicht. Ich habe seither Höllenqualen gelitten.«

»Und doch hast du geschwiegen, als Bruder Aedo behauptete, sie sei die Mörderin. Und du hast noch mehr Schuld auf dich geladen, indem du sie eingesperrt und um einen Brehon gebeten hast, der über sie zu Gericht sitzen sollte.«

»Ich bin auch nur ein Mensch«, rief Pater Allán aus. »Ich bin nicht erhaben über die Sünde, falls denn der Drang nach Selbsterhaltung überhaupt eine Sünde ist.«

Fidelma spitzte nachdenklich die Lippen und schaute ihn an. »Dein Versuch, den Verdacht auf Unschuldige zu lenken, und dann mit anzusehen, wie diese Unschuldigen litten, das ist eine Sünde.«

»Aber ich habe nichts Böses getan. Ich habe die Welt von dem Bösen befreit, das ich einmal in der irrtümlichen Ansicht genährt hatte, es sei das Gute.« Pater Allán hatte die Fassung wiedergewonnen. Seine Züge zeigten Selbstgerechtigkeit, ja geradezu Stolz. »Ich war überzeugt, Muirenn würde ihre Unschuld schon beweisen können. Wenn sie sich als unschuldig erwies, würde der Verdacht nicht unbedingt auf mich fallen. Jemand hatte Nath den unklugen Rat gegeben, sich zu verstecken. Ihm würde man die Tat anlasten. Jeder wusste, wie sehr er Moenach hasste.«

Fidelma hatte plötzlich das Gefühl, dass irgendetwas an dieser Lösung des Falls nicht recht zusammenpasste. Ein Puzzelteil war noch nicht am richtigen Platz. Sie war davon überzeugt, dass Pater Allán Moenach erschlagen hatte. Weshalb hatte er, der bisher weder Bruder Nath geschweige denn jemand anderem abgenommen hatte, was sie über Moenach erzählten, plötzlich Nath geglaubt, als er wegen der Vergewaltigung zu ihm kam, und seinen Schützling unmittelbar danach umgebracht? Irgendetwas stimmte hier nicht.

Plötzlich trat ein spitzbübisches Lächeln auf Fidelmas Gesicht.

Eine Stunde später stand sie wieder vor Illands Hütte.

Ainder begrüßte sie.

»Ich werde dich nicht lange aufhalten, Ainder«, sagte Fidelma. »Ich möchte nur etwas klarstellen. Du hast mir gesagt, dass Nath dich liebt?«

Ainder nickte und sah sie neugierig an.

»Aber du hast seine Liebe nicht erwidert«, fuhr Fidelma leise fort. »Du hast ihn nie geliebt. Du hast ihn nur benutzt.«

Ainder warf Fidelma einen wütenden Blick zu. Sie sah den Augen der Nonne an, dass sie alles wusste.

»Pater Allán steht unter Arrest, denn man verdächtigt ihn des Mordes an Moenach. Muirenn ist wieder frei, und Nath ist ebenfalls unschuldig. Sein einziges Vergehen war, dass er sich leicht hinters Licht führen ließ.«

Eine ganze Weile sagte Ainder nichts. Dann vermochte sie nicht länger zu schweigen.

»Nath ist schwach, hat keinerlei Begabung. Allán ist der Sohn eines Stammesfürsten, hat einen guten Ruf und eine gute Stellung im Leben. Ich, wir …«

Plötzlich begriff sie, was sie soeben zugegeben hatte. Sie ließ die Schultern hängen und fragte mit einer Kleinmädchenstimme: »Was geschieht nun mit mir?«

Fidelma verspürte keinerlei Mitgefühl mit dieser Kindfrau. Sie liebte Pater Allán offenbar genauso wenig, wie sie Nath geliebt hatte. Sie wollte ihn nur benutzen, um ihre Stellung in der Welt zu verbessern. Pater Allán dagegen war ganz vernarrt in das Mädchen. So sehr, dass er, nachdem er von der Vergewaltigung gehört und dies von ihr bestätigt bekommen hatte, Moenach aufgelauert und ihn umgebracht hatte. Die Wut, mit der er auf Naths Bericht reagiert hatte, war keine Wut, sondern Eifersucht gewesen.

Dann hatten sich Pater Allán und Ainder verschworen, die Tat zwei Unschuldigen anzuhängen. Muirenn hätte wahrscheinlich ihre Unschuld beweisen können. Aber Nath hatten sie zu einem Verhalten überredet, das ihn verdächtig machte. Sie hatten seine naive Zuneigung zu Ainder ausgenutzt und den verliebten jungen Mann zynisch betrogen.

»Du wirst der Mittäterschaft am Mord an Moenach angeklagt werden«, sagte Schwester Fidelma.

»Aber ich bin doch nur …«

»Ein junges Mädchen?«, ergänzte Fidelma trocken. »Nein. Wie du schon einmal gesagt hast, bist du erwachsen und kannst deine eigenen Entscheidungen treffen. Vor dem Gesetz giltst du als verantwortlich. Du wirst vor Gericht gestellt.«

Fidelma blickte in das hassverzerrte Gesicht des Mädchens. Sie dachte an den verliebten Bruder Nath und den liebeskranken Pater Allán. Gar is gráin – Liebe oder Hass, diese Wörter hatten im Irischen die gleiche Wurzel. Wie hatte doch der große Dichter Dallán Forgaill geschrieben? Liebe und Hass sind aus dem gleichen Ei geschlüpft.

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