Schaukelnd machte das Boot an den Granitfelsen fest, die als Anlegestelle dienten, und Fidelma sah, dass sie bereits ein Empfangskomitee erwartete. Es bestand aus einem einzigen Mann: sehr jung, höchstens einundzwanzig Sommer, auf dessen frischem, jugendlichem Gesicht sie schon von weitem einen für sie befremdlichen Unmut und merkwürdige Entschlossenheit erkannte.
Der Bootsmann hielt das schwankende Gefährt fest und bedeutete ihr auszusteigen. Fidelma griff nach der Strickleiter und hangelte sich behende an der Kaimauer hoch. Niemand hätte hinter dem sittsamen Auftreten und dem Habit einer Nonne eine solch mädchenhafte Wendigkeit erwartet. Auch der Mann am Ufer hatte mit einer anderen Erscheinung gerechnet. Ihm war mitgeteilt worden, dass man eine dálaigh, eine Anwältin am Gerichtshof der Brehons, auf die Insel schicken würde. Erstaunt beobachtete er ihre nicht ungefährliche Kletterei, ihre hochgewachsene anmutige Figur, die keck unter der Kopfbedeckung hervordrängenden roten Haarsträhnen, musterte das hübsche Gesicht mit den strahlend grünen Augen. Was er da sah, entsprach nicht seiner Vorstellung von einer Nonne, geschweige denn von einem ehrwürdigen Mitglied der Richterschaft Irlands.
»Schwester Fidelma? Hattest du eine gute Überfahrt?« Er sprach langsam, in gesetztem Ton, nicht unbedingt freundlich, aber doch »korrekt«. Wenn danach gefragt, hätte es Fidelma mit »höflich, aber kühl« abgetan. Ihr eben noch ernstes Gesicht verzog sich zu einem amüsierten Lächeln, was den jungen Mann leicht durcheinanderbrachte. Es passte so gar nicht zu ihrem Status. Es war spitzbübisch frech. Statt einer Antwort auf seine Frage wies sie hinter sich auf die sich brechenden Wogen.
Die Überfahrt zur Insel in dem hässlichen Spätherbstwetter hatte ihr kein Vergnügen bereitet. Schmutzig graue Wellen mit gelblichweißen Schaumkronen waren ihre Begleiter gewesen. Ein kalter und stürmischer Wind hatte sie auf die Felsnase zu getrieben, die wie eine einsame Erhebung in den sich wild gebärdenden Atlantik hineinragte und einst durch die Kraft der Wassermassen vom Festland abgetrennt worden war. Je näher sie der Insel gekommen waren, desto mehr glich das Massiv einem Hahnenkamm. Wie Menschen auf dem ungastlich wirkenden nackten Felsen leben und ihr Auskommen finden konnten, war ihr unverständlich.
Unterwegs hatte ihr der Bootsmann erzählt, dass die Insel nur einhundertundsechzig Bewohner zählte und dass es durchaus Winter geben konnte, in denen sie monatelang abgeschnitten war, weil nicht einmal ein sachkundig gerudertes Boot dort anlanden konnte. Die Inselbevölkerung wäre eine in sich gekehrte, verschworene Gemeinschaft, meist Fischer, und so lange man zurückdenken könnte, hätte es nie einen Todesfall gegeben, der irgendwelche Verdachtsmomente hätte aufkommen lassen.
Damit schien es nun vorbei.
Der junge Mann krauste die Stirn, als er keine Antwort erhielt, und nahm einen erneuten Anlauf.
»Es wäre wirklich nicht nötig gewesen, dich wegen dieses Vorfalls zu bemühen, Schwester Fidelma. Der Fall ist eindeutig. Es gab keinen Grund, dir die Beschwernisse der Reise hierher zuzumuten.«
Sie schenkte ihm ein verbindliches Lächeln. Verständlich, dass er verärgert war. Sie war für ihn eine Fremde, die sich in seinen Zuständigkeitsbereich einmischte.
»Bist du der bó-aire der Insel?«, fragte sie. Selbstbewusst reckte er die Brust. »Der bin ich«, betonte er nicht ohne Stolz. Der bó-aire war der Friedensrichter eines Gerichtsbezirks, ein Mann ohne Landbesitz, dessen Wohlstand nach der Zahl der Kühe, die er besaß, gemessen wurde, weshalb man ihn auch den »Kuhwirt« nannte. In kleinen Ansiedlungen, wie auf den der Küste vorgelagerten Inseln, war ein bó-aire meist auch der Gemeindevorsteher, der seinerseits den Stammesfürsten auf dem Festland unterstand.
»Ich stattete gerade Fathan von den Corco Dhuibhne einen Besuch ab, als ihn die Nachricht von dem Todesfall hier erreichte«, teilte ihm Fidelma sachlich mit.
Fathan war der Stammesfürst, der über all die kleinen Inseln regierte. Die Nennung seines Namens ließ den jungen bó-aire aufhorchen.
»Fathan bat mich, dich aufzusuchen und dich bei der Klärung des Todesfalls zu unterstützen.« Sie fand, eine solche Formulierung war der Sache dienlicher, und vorenthielt dem überheblichen jungen Richter die Worte, die Fathan ihr gegenüber gebraucht hatte. Fathan war bekannt, dass der bó-aire neu auf dem Posten war, und er wusste vor allem, dass der vorliegende Fall des Urteils einer erfahrenen Person bedurfte. »Ich verfüge über Sachkenntnis in Ermittlungen bei undurchsichtigen Begleitumständen von Todesfällen«, setzte sie hinzu.
»In dem vorliegenden Fall gibt es nichts Undurchsichtiges«, erwiderte er gereizt. »Die Frau ist einfach ausgerutscht und den Felsen hinabgestürzt. An der Stelle ist er dreihundert Fuß hoch. Sie hatte keine Überlebenschance.«
»Du bist dir sicher, es war ein Unfall?«
Sie standen immer noch an der Anlegestelle. Der Wind peitschte die salzige Gischt hoch. Trotz des dicken, wollenen Umhangs, in den sie sich für die Überfahrt von An Chúis auf dem Festland zur Insel gehüllt hatte, spürte sie die Nässe.
»Gibt es nicht irgendwo ein Plätzchen, wo wir geschützter sind? Wo wir die Dinge in Ruhe besprechen können?« Sie stellte die zweite Frage, ehe er die erste beantworten konnte. Der tadelnde Hinweis blieb nicht unbemerkt.
»Mein bothán ist nur ein Stückchen den Weg hinauf, Schwester. Lass uns dahin gehen.« Er drehte sich um und stapfte voran.
Ein oder zwei Inselbewohner, denen sie begegneten, nahmen Notiz von ihnen und maßen Schwester Fidelma mit neugierigen Blicken. Nicht lange, und die ganze Insel würde von ihrem Besuch wissen, dachte sie bei sich. Im Sommer mochte so ein Inselleben durchaus romantisch sein, aber selbst den verbrachte sie lieber auf dem Festland, fernab von dem ständig heulenden Wind und der tosenden See.
In der gemütlichen Hütte aus grauem Stein sorgte ein glimmendes Torffeuer für ein wenig Wärme, aber feucht war es dennoch. Eine junge Frau, die zum Haushalt des bró-aire gehörte, brachte ein irdenes Gefäß mit Met, der mit einer in dem Feuer glühend gewordenen Eisenstange heiß gemacht worden war. Das Getränk verbreitete in Fidelmas Körper eine wohlige Wärme und ließ sie wieder aufleben.
»Wie heißt du?«, fragte sie und schlürfte den heißen Met.
»Fogartach.« Es klang etwas steif, denn der junge Mann fühlte sich ermahnt, weil er sich nicht vorgestellt hatte, wie es sich gehört hätte.
Schwester Fidelma fand, es sei an der Zeit, ihrem Gastgeber klarzumachen, mit wem er es zu tun hatte, und ihm sein großspuriges Gebaren abzugewöhnen.
»Welchen Abschluss hast du eigentlich in deiner Stellung als Friedensrichter?«
»Ich habe vier Jahre in Daingean Chúi studiert«, erklärte er mit stolz erhobenem Kopf. »Ich habe den Abschluss eines dos. Das Bretha Nemed, das Gesetz über die Vorrechte des Adels und der gelehrten Stände ist mir geläufig wie jedes andere.«
Schwester Fidelma musste lächeln und hielt mit der Auskunft über ihren Bildungsgrad nicht zurück.
»Ich habe den Rang eines anruth, habe acht Jahre bei Brehon Morann von Tara studiert«, bekannte sie in aller Ruhe.
Er errötete, offensichtlich peinlich berührt, sich mit seinem Studium gebrüstet zu haben. Im Vergleich zu der Ausbildung, über die sie verfügte – der Rang eines anruth stand nur eine Stufe unter den in den fünf Königreichen überhaupt möglichen –, konnte er nur wenig vorweisen. Die Fronten waren geklärt. Mit nur einem Satz hatte sie ihn darauf hingewiesen, wer hier weisungsbefugt war.
»Klarer kann die Sache gar nicht sein«, kam er schmollend auf den Anlass ihres Besuches zurück. »Es war ein Unfall. Die Frau ist ausgerutscht und vom Felsen gestürzt.«
»Dann dürfte die Klärung der Umstände nicht viel Zeit kosten«, erwiderte Fidelma und strahlte ihn an.
»Klärung der Umstände? Ich habe meinen Bericht bereits fertig.« Beleidigt zeigte er auf seine Unterlagen.
»Nichts ist Fathan von den Corco Dhuibhne wichtiger, als dass der Fall eindeutig geklärt ist, Fogartach«, betonte Fidelma. »Weißt du eigentlich, um wen es sich bei der Toten handelte?«
»Sie war wie du eine Nonne.«
»Eine Nonne? Nicht nur das, Fogartach. Sie war Cuimne, die Schwester des Hochkönigs.«
Er runzelte die Stirn. »Dass sie Cuimne hieß, wusste ich, auch dass sie sich mit einer gewissen Würde gab. Dass sie mit dem Hochkönig verwandt war, entzog sich meiner Kenntnis.«
»Dir war nicht bekannt, dass sie Äbtissin Cuimne von Ard Macha war, die persönliche Gesandte des mächtigsten Kirchenmannes in Éireann?«
Beschämt schüttelte der junge Schiedsmann, hochrot geworden, den Kopf.
»Dann ist dir jetzt hoffentlich klar, dass dem Stammesfürsten der Corco Dhuibhne sehr daran gelegen ist, dass es bei der Feststellung der Todesursache keine Ungereimtheiten gibt. Äbtissin Cuimne war eine gewichtige Persönlichkeit, deren Tod weitreichende Folgen sowohl in Tara als auch in Ard Macha nach sich ziehen kann.«
Krampfhaft bemüht, sich zu rechtfertigen, nagte er an den Lippen. »Auf unserer kleinen, sturmgepeitschten Insel zählen Herkunft und Stellung wenig«, erklärte er mürrisch.
»Umso mehr zählt beides für Fathan, denn er ist dem König von Cashel Rechenschaft schuldig, und der wiederum hat sich gegenüber dem Hochkönig und dem Erzbischof von Ard Macha zu verantworten. Aus diesem Grund hat mich Fathan hierher geschickt.« Sie glaubte, ihn nicht länger mit der Wahrheit verschonen zu dürfen, und hielt inne, um ihm Gelegenheit zu geben, das soeben Gehörte verarbeiten zu können. »Gut, lege mir bitte dar, was im Einzelnen du zu dem Vorfall sagen kannst«, verlangte sie dann.
Wohl war ihm nicht bei ihrer Aufforderung, doch fügte er sich und begann: »Die Frau …, hm, Äbtissin Cuimne, kam vor vier Tagen auf die Insel. Sie wohnte in unserem bruighean, dem Gasthaus, das Bé Bail führt. Das ist die Frau von Súilleabháin, dem Habichtsauge, einem Fischer von hier. Bé Bail ist für alles, was mit der Gastwirtschaft zusammenhängt, zuständig. Nicht, dass es viel zu tun gibt, nur wenige Menschen zieht es hierher.«
»Was hat Äbtissin Cuimne hier gewollt?«
Er zuckte mit den Schultern. »Darüber hat sie nichts gesagt. Ich wusste ja nicht mal, dass sie Äbtissin war, hielt sie einfach für eine fromme Schwester, die bei uns eine Weile mit sich allein sein wollte. Du weißt doch am besten, wie es einem als Mitglied einer Gemeinschaft gehen kann. Manch einer sucht ein abgeschiedenes Plätzchen zur Meditation. Was sonst hätte sie hierher verschlagen sollen?«
»Ja, was sonst?«, wiederholte Fidelma seinen Gedanken und bat ihn fortzufahren.
»Sie äußerte gegenüber Bé Bail, sie würde abreisen, und das sollte gestern sein. Ciardhas Boot wurde um die Mittagszeit aus An Chúis erwartet. Nach dem Frühstück packte sie ihre Tasche und wollte sich noch eine Weile auf der Insel umsehen. Als sie bis Mittag nicht zurück war, Ciardhas Boot aber bereits wieder abgefahren war, benachrichtigte mich Bé Bail, man müsste nach dem Rechten schauen. Verlaufen kann sich hier kaum jemand, dafür ist die Insel nicht groß genug. Nach dem Mittag kam dann Buachella angelaufen …«
»Wer ist Buachella?«
»Ein junger Bursche, der Sohn von einem der Inselbewohner.«
»Bitte, fahr fort.«
»Der Junge hatte die Leiche der Äbtissin Cuimne unterhalb der Aill Tuatha entdeckt, das sind die Klippen an der Nordseite der Insel. Ich trommelte ein paar Männer zusammen und auch den Apotheker …«
»Den Apotheker? Ihr habt einen Apotheker hier auf der Insel?« Fidelma staunte.
»Corcrain. Er war früher Leibarzt bei den Eóghanacht von Locha Léin. Nach dem Tod seiner Frau verspürte er das Bedürfnis, sich auf die Insel hier zurückzuziehen. Das war vor einem Jahr. Jetzt gehört er zu unserer Gemeinde und steht mit seiner ärztlichen Kunst den Inselbewohnern zur Seite.«
»Ein paar Männer von der Insel, der Apotheker und du, ihr seid also dem jungen Burschen Buachalla gefolgt?«
»Ja, und haben die Leiche der Äbtissin am Fuße der Klippen gefunden.«
»Wie seid ihr da hinunter gekommen?«
»Das war nicht weiter schwierig. Es gibt unter den Klippen dort einen steinigen Uferrand. Ein leicht gangbarer Pfad führt nach unten. Er geht vielleicht eine halbe Meile abwärts bis zu der Felsengruppe, von der sie abstürzte. Just an der Absturzstelle aber ragen die Klippen besonders steil auf, und direkt darunter haben wir den Leichnam gefunden.«
»Hat Corcrain sie untersucht?«
»Selbstverständlich. Sie war tot. Wir haben sie zurück zu seiner Hütte getragen, wo er sie eingehender untersuchte. Er fand …«
»Ich werde nachher ohnehin mit dem Apotheker sprechen«, unterbrach sie ihn. »Er kann mir selbst erzählen, was er festgestellt hat. Eins hätte ich noch gern gewusst: Habt ihr euch das Umfeld genauer angesehen?«
»Wieso das?«, meinte er leicht irritiert.
Schwester Fidelma stöhnte innerlich auf.
»Als ihr den Leichnam gefunden hattet, was dann?«
»An dem, was geschehen war, gab es keine Zweifel. Äbtissin Cuimne war am Rand der Klippen entlanggewandert, gestrauchelt und hinabgestürzt. Habe ja gesagt, dreihundert Fuß in die Tiefe an der Stelle.«
»Und ihr habt weder oben noch unten die unmittelbare Umgebung einer sorgfältigen Prüfung unterzogen?«
»Ach, du meinst ihre Habseligkeiten?«, ging er mit einem schwachen Lächeln auf sie ein. »Das Wenige, was sie mit sich führte, hatte sie bei Bé Bail im Gasthaus gelassen. Ihr Gepäck bestand ohnehin nur aus einem kleinen Ranzen. Du wirst ja wissen, dass Nonnen nur wenig bei sich haben, wenn sie auf Reisen gehen. Wir hatten also keinen Grund, weitere Umschau zu halten. Im Übrigen ist sie bereits bestattet worden.«
Bei so viel Unbedarftheit, gepaart mit Überheblichkeit, verschlug es Fidelma nahezu die Sprache.
»Wo finde ich Corcrain, den Apotheker?«, fragte sie lediglich.
»Ich bring dich hin«, bot der bó-aire an und stand auf.
»Du brauchst mir nur die Richtung zu zeigen. Man kann sich hier ja nicht verlaufen«, fügte sie noch sarkastisch hinzu.
Er konnte nicht verhehlen, dass ihn ihre Bemerkung ärgerte. Mit diebischem Vergnügen nahm es Fidelma zur Kenntnis. Inselbewohner hielten beharrlich an alten Vorstellungen fest, und sie argwöhnte auch in seinem Fall, dass sein Auftreten etwas mit der Überheblichkeit gegenüber Frauen zu tun hatte.
Corcrains Hütte stand nur zweihundert Yard weiter weg. Sie war eine der geräumigen Steinbauten, die sich wie die Perlen eines Rosenkranzes auf der hügligen Insel aneinanderreihten. Die Hänge erhoben sich unmittelbar vom Ufer und schienen bis an die kammartigen Felswände zu reichen, die das Rückgrat der Insel bildeten und den bebauten Flächen natürlichen Schutz vor den heftigen Nordwinden boten.
Der Apotheker war an die sechzig, ein wettergebräunter Mann, der trotz seines leichten Körperbaus Energie ausstrahlte. Seine grauen Augen funkelten freundlich. »Du bist also die Brehon, die in aller Munde ist?«, begrüßte er sie mit einem arglosen Lächeln.
Fidelma erwiderte seine warmherzige Art.
»Eine Brehon bin ich nicht, nur Anwältin am Gerichtshof der Brehons. Ich möchte dir ein paar Fragen stellen. Äbtissin Cuimne war nicht nur schlechthin Nonne. Sie war Schwester des Hochkönigs und Gesandte des Erzbischofs von Ard Macha. Das erklärt, warum Fathan, Stammesfürst der Corco Dhuibhne, sichergehen möchte, dass bei der Klärung des Vorfalls alles seine Richtigkeit hat. Der Bericht, der nach Tara und Ard Macha geschickt wird, muss makellos sein, andernfalls gibt er den Angehörigen und Mitschwestern der Äbtissin Anlass zu allen möglichen Vorstellungen und Erwägungen. Du verstehst gewiss, was ich meine.«
Corcrain nickte, wenngleich ihn ihre Ausführungen überraschten.
»Bist du gelernter Apotheker?«
»Ich war Apotheker und Leibarzt bei den Königen von Locha Léin.« Die Antwort kam sachlich und ohne jeden Anflug von Einbildung oder Eitelkeit.
»Was war die Todesursache der Äbtissin?«
»Schwer zu sagen bei der Vielzahl von Brüchen und Verletzungen, die bei einem Sturz aus dreihundert Fuß Höhe auf Felsgestein unvermeidlich sind.«
»Einzusehen. Sie ist deiner Meinung nach ausgerutscht und vom Felsrand gestürzt?«
»Sie ist vom Felsrand gestürzt«, präzisierte er.
Seine Wortwahl machte sie stutzig. »Wie soll ich das verstehen?«
»Ich bin kein Hellseher, Schwester. Ich kann nicht sagen, ob sie ausgerutscht ist, auch nicht, weshalb sie das Gleichgewicht verloren hat. Ich kann nur sagen, dass ihre Verletzungen bei einem Sturz aus solch einer Höhe kein Wunder waren.«
Fidelma sah dem Mann aufmerksam ins Gesicht. Hier war jemand, der seinen Beruf verstand und sich davor hütete, Auslegungen und Tatsachen zu vermischen.
»Und sonst gibt es nichts weiter Bemerkenswertes?«
Er rang mit sich und wich ihrem Blick aus.
»Es war mein Wunsch und Wille, mich auf eine ruhige Insel zurückzuziehen. Nach dem Tod meiner Frau habe ich meine Stellung als Arzt am Hof der Eóghanacht aufgegeben und bin hierhergekommen, wo ich in einer kleinen ländlichen Gemeinschaft leben und vergessen wollte, was draußen in der Welt geschieht.«
Fidelma wartete geduldig.
»Ich habe ein ganzes Jahr gebraucht, bis man mich hier akzeptiert hat. Ich möchte keinerlei Feindseligkeit mit den Inselbewohnern heraufbeschwören.«
»Und doch hast du kein gutes Gefühl bei dem Gedanken an Äbtissin Cuimne und wie sie zu Tode gekommen ist. Es gibt da etwas, das dir keine Ruhe lässt. Hast du mit dem bó-aire darüber gesprochen?«
»Mit Fogartach? Gott bewahre! Er ist einer von den Hiesigen. Außerdem ist mir dieses ›Etwas‹, wie du es nennst, erst aufgegangen, als sie den Leichnam hierherbrachten und ich eine eingehende Untersuchung vornahm.«
»Und was war dieses ›Etwas‹?«
»Genau genommen waren es zwei Auffälligkeiten, doch etwas Schlüssiges lässt sich weder von der einen noch der anderen ableiten.« Er schien seine Gedanken sortieren zu müssen, und Fidelma ließ ihm Zeit. »Fest umklammert in der rechten Hand hielt die Tote ein Stück von einer silbernen Kette. Das war das eine.«
»Kette?«
»Ja, eine schmale Kette aus Silber.« Er wandte sich um, griff nach einem kleinen Holzkästchen und öffnete es.
Was Fidelma zu sehen bekam, war ein Stückchen Kette, nicht länger als zwei Zoll, das von irgendwoher abgerissen war. Sie nahm es in die Hand und betrachtete es genauer. Irgendwelche Zeichen eines Kunsthandwerkers waren nicht ins Silber eingraviert. Es war die mittelmäßige Arbeit eines Einheimischen, der von seinem Handwerk nicht übermäßig viel verstand.
»Trug Äbtissin Cuimne weiteren Schmuck dieser Art? Von welcher Beschaffenheit war zum Beispiel ihr Kruzifix?«
»Ihr Kruzifix, das ich übrigens dem bó-aire übergeben habe, war viel edler, war aus Gold und Elfenbein. Ich könnte mir vorstellen, es ist im Auftrag von Edelleuten angefertigt worden.«
»Du würdest aber meinen, dass sie im Sturz ein abgerissenes Stück einer nicht sonderlich wertvollen Silberkette umklammert hielt?«
»Ja, das steht für mich fest.«
»Du sprachst von zwei Auffälligkeiten. Worin bestand die zweite?«
Es zuckte um seine Mundwinkel; er rang deutlich mit sich, ob und wie er es Schwester Fidelma sagen sollte.
»Bei einem Sturz wie dem ihren erwartet man Prellungen, Quetschungen …«
»Die Folgen von Stürzen dieser Art sind mir nicht unbekannt«, unterbrach ihn Fidelma, um ihn an weiteren Aufzählungen zu hindern.
»Nun ja, als ich den Leichnam untersuchte, fand ich ein paar Prellungen an den Schultern und am Hals, das heißt mehr am Nacken. Die Schwellungen waren alle von gleicher Art und Stärke, gänzlich anders, als sie ein Aufprall auf Felsen hervorrufen würde.«
»Worauf würdest du dann ihre Ursache zurückführen?«
»Es sah aus, als hätte jemand die Äbtissin vor ihrem Sturz mit starkem Griff von hinten gepackt gehabt.«
»Und wie deutest du das?«, fragte Fidelma erschrocken.
»Gar nicht. Das kommt mir nicht zu. Ich kann nicht sagen, wie die Druckstellen am Nacken und an den Schultern zustande gekommen sind. Ich kann nur berichten, was ich sehe. Möglicherweise stehen sie auch nicht im Widerspruch zu ihren sonstigen Verletzungen, aber ich habe da meine Zweifel.«
Fidelma steckte das abgerissene Stück Silberkette in ihren Lederbeutel, den sie an der Hüfte trug.
»Belassen wir es dabei, Corcrain. Hast du deinen Bericht für den bó-aire schon fertig?«
»Als ich erfuhr, dass ein Brehon vom Festland kommen würde, hielt ich es für besser, damit zu warten und erst mit ihm zu sprechen … oder, wie sich herausstellt, mit ihr.«
Sie äußerte sich nicht zu seiner hastigen Verbesserung, sondern bat ihn: »Ich würde gern die Stelle sehen, von der Äbtissin Cuimne hinabgestürzt ist.«
»Das ist nicht weit. Ich bring dich dorthin.«
Er griff nach einem Wanderstock aus Schwarzdorn und warf dann einen besorgten Blick auf Fidelmas Sandalen.
»Hast du nichts Derberes an Schuhwerk? Der Morast unterwegs dürfte den leichten Dingern wenig bekommen.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Du hast eine gängige Schuhgröße«, stellte der Apotheker fest. Er ging zu einer Truhe und holte ein Paar klobige Schuhe aus ungegerbtem Leder mit einer dicken Sohle hervor, Schuhe von der Art, wie sie die Inselbewohner trugen. »Hier, zieh die an und erspar deinen zierlichen Schuhchen die Unwägbarkeiten der Insel.«
Schon wenige Minuten später stapfte Fidelma etwas unbeholfen, aber doch trockenen Fußes hinter Corcrain durch das Gelände.
»Hattest du Äbtissin Cuimne auch schon mal vor ihrem tödlichen Unfall zu Gesicht bekommen?«, fragte Fidelma und keuchte ein wenig, als sie versuchte, hügelan mit dem Tempo ihres Anführers Schritt zu halten.
»Die Insel ist klein, da geht man sich kaum aus dem Wege. Ja, ich habe sie gesehen und auch mehrmals mit ihr gesprochen.«
»Weißt du, was sie hierhergeführt hat? Der bó-aire hat nicht einmal gewusst, dass sie eine Äbtissin war, und hat sie für eine einfache Nonne gehalten, die auf der einsamen Insel hier fernab von allem Treiben Zuflucht gesucht hat, um in aller Ruhe meditieren zu können.«
»Den Eindruck hatte ich nicht. Im Gegenteil, sie hat mir erzählt, dass sie in einer bestimmten Angelegenheit, die etwas mit der Insel zu tun habe, Nachforschungen betreibe. Einmal hat sie was Merkwürdiges gesagt …« Er krauste die Stirn und musste in seiner Erinnerung graben. »Das hatte was mit dem Bischof von An Chúis zu tun. Sie hoffte, eine Wette zu gewinnen, die sie mit Bischof Artagán abgeschlossen hatte.«
Fidelma machte große Augen vor Verwunderung.
»Eine Wette? Hat sie sich näher darüber ausgelassen?«
»Ich glaube, es hatte etwas mit ihren Nachforschungen hier zu tun.«
»Aber was sie herauszufinden suchte, weißt du nicht?«
Er schüttelte den Kopf.
»Sie war nicht gerade mitteilsam, eher zurückhaltend. Ich kann mir gut vorstellen, dass der bó-aire nicht mitbekommen hat, wer sie wirklich war. Auch ich habe es nicht gewusst, wenngleich ich mir denken konnte, dass sie keine einfache Nonne war.«
»Nachforschungen?«, grübelte Fidelma.
Er nickte. »Wenngleich ich mir nicht vorstellen kann, was es hier zu forschen gäbe.«
»War sie bestrebt, mit irgendjemand auf der Insel in Kontakt zu kommen?«
Der Apotheker überlegte. »Mit Congal, zum Beispiel.«
»Congal? Wer ist das?«
»Ein Fischer von Beruf. Aber er ist außerdem der ortskundige seanchafí, der Geschichtenerzähler der Insel, der alles über ihre Vergangenheit weiß.«
»Sonst noch jemand?«
»Sie hat auch Pater Patrick aufgesucht.«
»Wen?«
»Pater Patrick, unseren Priester hier.«
Sie waren am Rand der Klippen angelangt. Fidelma musste allen Mut zusammennehmen – so dicht am Rande eines urwüchsigen, sturmgepeitschten Abgrunds zu stehen war ihr zuwider.
»Genau unter dem Klippenrand hier haben wir sie gefunden«, erklärte Corcrain und wies auf die Stelle.
»Woher kannst du das so genau sagen?«
»Der vorstehende Felsbrocken dort ist ein markanter Punkt.« Er zeigte mit der Spitze seines Wanderstabs auf eine Felsnase.
Fidelma bückte sich und suchte eingehend den Boden in der unmittelbaren Umgebung ab.
»Wonach hältst du Ausschau?«
»Könnte ja sein, das restliche Stück Kette liegt hier irgendwo. Ich weiß selbst nicht so recht.«
Sie hielt inne, denn ihr Blick fiel auf einen Flecken, wo der Stechginster umgeknickt und das Gras niedergetreten war. Auch deutliche Abdrücke von Schuhen konnte sie in dem weichen, matschigen Boden erkennen, die trotz des Nieselregens noch nicht verwischt waren. Einzelheiten ließen sich nicht auf Anhieb ausmachen, doch so viel war klar, hier hatte mehr als einer gestanden.
»Du bist sicher, dass es diese Stelle war, von der sie hinuntergestürzt ist?«
Er nickte.
In Fidelmas Gesicht arbeitete es. Aus dem, was sie vor sich sah, konnte man schließen, dass es nicht nur eine Person war, die zwei Yard von dem Fleck, an dem sie jetzt stand, den Pfad verlassen hatte und hier am äußersten Klippenrand stehen geblieben war. Daraus wiederum ergab sich ein anderer, weit wichtigerer Punkt: Wenn Äbtissin Cuimne dem Trampelpfad gefolgt war, der, wie gesagt, keine zwei Yard weiter verlief, konnte man sich schwerlich vorstellen, dass sie rein zufällig ausgerechnet an dieser Stelle abgestürzt sein sollte. Wenn sie hier den Halt verloren hatte, dann nur, weil sie bewusst vom Weg abgewichen, über Stechginster oder anderes Gestrüpp gestolpert und folglich gestürzt war. Sollte es aber kein Unglücksfall gewesen sein, was konnte sich sonst abgespielt haben?
Was den Klippenrand betraf, so ließ Fidelma noch ein anderer Gedanke keine Ruhe. Nur wollte sie sich nicht zu weit vorwagen, um selbst drüberzuschauen, denn sie schreckte vor freien Höhen ohne Geländer zurück.
»Kommt man hier irgendwie anders herunter?«, fragte sie Corcrain.
»Da müsste man schon eine Bergziege sein. Nein, es wäre viel zu gefährlich. Nicht dass ich damit sagen will, es wäre völlig unmöglich, hinunterzugelangen. Wer ein guter Kletterer ist und Erfahrung mit solchen unzugänglichen Stellen hat, könnte den Versuch wagen. Auf der Vorderseite des Abhangs gibt es etliche Höhlengebilde; vor einiger Zeit waren schon mal Leute vom Festland hier und wollten sie erforschen.«
»Von hier aus?«
»Nein. Etwa dreihundert Yard weiter vorn. Aber der bó-aire hat es nicht zugelassen, weil er meinte, es wäre zu gefährlich. Das war vergangenes Jahr.«
Fidelma streifte ihren wollenen Umhang von den Schultern, der sie vor dem feuchtkalten Niederschlag aus den grauen Wolken schützen sollte, und breitete ihn vor sich zum Klippenrand hin aus. Dann ließ sie sich auf die Knie nieder, streckte sich aus dieser Position bäuchlings hin und robbte vor an den Rand, um vorsichtig hinunterzuspähen. Es war, wie der Apotheker gesagt hatte, nur ein geübter Kletterer oder eine Bergziege würden von dieser Stelle einen Abstieg gewagt haben. Ein Schauder überkam sie, als sie auf den felsigen Ufergrund dreihundert Fuß unter sich starrte.
Sie stand wieder auf, strich den Umhang glatt und fragte Corcrain: »Wo finde ich diesen Congal?«
Congal war ein großer Mann. Er hatte einen Teller mit einer riesigen Portion Fisch und einem gekochten Entenei vor sich. Obwohl er am Tisch saß und speiste, steckte er in seiner Fischerkluft; er hielt es nicht für nötig, die Sachen abzulegen, wenn er seinen bothán betrat. Sein massiger Körperbau wurde durch diese Ausstaffierung zusätzlich betont. Seine schwieligen Hände glichen Pranken.
»Eine traurige Geschichte«, stimmte er Schwester Fidelma zu, die ihm gegenüber an dem sauber gescheuerten Tisch aus Kiefernholz saß. Sie tat sich an einer Schale süßen Mets gütlich, die er ihr als Geste der Gastfreundschaft angeboten hatte. »Die Frau hatte noch eine gute Lebensspanne vor sich, aber wenn man sich nicht mit dem felsigen Grund auskennt, sollte man dort besser nicht spazierengehen.«
»Soviel ich weiß, betrieb sie hier irgendwelche Nachforschungen.«
Er runzelte die Stirn.
»Nachforschungen?«
»Sie soll auch mit dir mehrfach gesprochen haben.«
»Kein Wunder, dass sie das tat. Bin schließlich der seanchafí hier. Kenne sämtliche Legenden und Geschichten der Insel«, erklärte er nicht ohne Stolz. Kein Inselbewohner, der sich nicht stolz und selbstbewusst gab, fand Fidelma. Sie hatten ja auch sonst nichts, also verwiesen sie auf das wenige, dessen sie sich rühmen konnten.
»Geschichten aus alten Zeiten? Zeigte sie dafür eine Vorliebe?«
»Ich würde sagen, ja.«
»Ging es ihr dabei um ein besonderes Thema oder eine besondere Geschichte?«
Unschlüssig wiegte er den Oberkörper hin und her.
»Nicht, dass ich wüsste.«
»Was wollte sie hören?«
»Och, einfach Geschichten aus vergangenen Zeiten, als die Druiden von Iarmuma auf die Priester Christi Jagd machten und sie töteten. Und das ist ja schon ewig her, trug sich zu, noch bevor der heilige Patrick an unsere Ufer kam.«
»Und du hast ihr ein paar Geschichten erzählt?«
Er nickte. »In den heidnischen Zeiten fanden viele Priester Christi auf dieser Insel eine Zuflucht. Als die Mannen des Königs von Iarmuma die Kirchen und Gemeinden niederbrannten, flohen sie hierher.«
Die Auskunft half Schwester Fidelma nicht weiter. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Äbtissin Cuimne auf diese Art Geschichten aus gewesen war. Als Gesandte des Erzbischofs oblag ihr, wie Fidelma wusste, die Verantwortung für eine einheitliche Gottesdienstordnung in Irland.
»Keine Legende, die sie besonders gern hörte?«, versuchte es Fidelma noch einmal.
»Keine.«
Betonte Congal seine Antwort zu entschieden? Wie immer, wenn sie das Gefühl hatte, irgendetwas stimmte nicht, oder wenn jemand mit der vollen Wahrheit hinterm Berg gehalten hatte, spürte Schwester Fidelma ein unangenehmes Kribbeln im Nacken.
Bei ihrer Rückkehr in die Hütte des bó-aire nahm sie sich den Lederranzen vor, der die persönliche Habe der Äbtissin enthielt. Dabei kamen natürlich auch ganz intime Dinge zum Vorschein. Sie ließen Rückschlüsse auf eine Frau zu, die durchaus eitel gewesen war. Es fanden sich einige Kosmetika, ein Krüglein mit Parfüm, ihr Rosenkranz und schließlich ihr Kruzifix – eine großartige Arbeit aus Elfenbein und Gold, die mehr auf Rang und Würde als Schwester des Hochkönigs hinwies als auf ihre Rolle als demütige Nonne. Die Perlen am Rosenkranz waren aus Elfenbein. Auch Kleidungsstücke gehörten zum Inhalt des Ranzens, einem Lederbeutel, wie ihn Mönche und Nonnen unterwegs auf Reisen und Wallfahrten über der Schulter trugen.
Sorgsam ging Schwester Fidelma alle Gegenstände ein zweites Mal durch, erst dann begriff sie, was sie beunruhigte.
»Bist du sicher, Fogartach, dass das hier wirklich alles ist, was Äbtissin Cuimne auf ihrer Reise mithatte?«
Der junge Schiedsmann bestätigte das mit heftigem Kopfnicken, und das gab Fidelma zu denken. Wenn sich die Äbtissin auf der Insel aufgehalten hatte, um irgendwelche Nachforschungen zu betreiben, dann musste sie doch etwas bei sich gehabt haben, um sich Notizen zu machen. Wo, zum Beispiel, war das kleine Missale, das die meisten Nonnen in gehobener Stellung bei sich führten? Vor über hundert Jahren, als irische Mönchen und Nonnen als Missionare in alle Welt auszogen, mussten sie die liturgischen und religiösen Traktate mit auf den Weg nehmen. Das machte es notwendig, Schriften dieser Art so klein zu halten, das man sie in eigens dafür vorgesehenen Lederranzen, den sogenannten tiag liubhar, unterbringen konnte. Mönche, die als Kopisten solcher Bücher tätig waren, begannen folglich, Abschriften in kleinerem Format anzufertigen. Bis auf den heutigen Tag hatten fast alle des Lesens und Schreibens kundigen Mitglieder der Kirche ähnliche Büchlein bei sich. Schwer vorstellbar, dass die Äbtissin nicht einmal ein Messbuch mitgehabt haben sollte.
Ungeduldig trommelte sie mit den Fingern auf der Tischplatte. Wenn sich die Antwort auf das Rätsel nicht auf der Insel finden ließ, dann vielleicht in der Wette mit Artagán, dem Bischof von An Chúis auf dem Festland. Rasch fasste sie einen Entschluss und teilte Fogartach, der sie erwartungsvoll beobachtet hatte, mit: »Ich brauche ein Boot, das mich sofort aufs Festland nach An Chúis schafft.«
Der junge Mann starrte sie überrascht an.
»Bist du hier fertig, Schwester?«
»Das nicht. Aber ich muss so schnell wie möglich mit einer bestimmten Person in An Chúis sprechen. Das Boot muss dort auf mich warten, so dass ich noch am Nachmittag hierher zurückkehren kann.«
Erstaunt erhob sich Bischof Artagán, als Schwester Fidelma in der Abtei von An Chúis sein Arbeitszimmer betrat, nachdem ein Mitglied seines Ordens sie in aller Form angekündigt hatte. Er hatte hier seinen Sitz und lenkte und leitete von dieser Stelle aus die Priesterschaft der Corco Dhuibhne.
»Ich muss dir einige Fragen stellen, Bischof«, verkündete sie, kaum dass die Vorstellungszeremonien erledigt waren.
»Als dálaigh im Rechtswesen steht dir das zu, also frage«, erklärte der Bischof, ein Mann mit schlaffem, ein wenig nervös wirkendem Gesicht, dessen Alter schwer zu schätzen war. Er hatte ihr einen Sitz am wärmenden Feuer angeboten und seine Gastfreundschaft mit heißem Met bewiesen.
»Äbtissin Cuimne …«, begann sie.
»Ich habe die traurige Nachricht vernommen«, unterbrach er sie. »Sie ist zu Tode gestürzt.«
»Richtig. Doch bevor sie auf die Insel reiste, weilte sie hier in der Abtei, nicht wahr?«
»Sie blieb zwei Nächte, wartete auf ruhige See, um zur Insel zu gelangen«, bestätigte er.
»Die Insel liegt in deinem Zuständigkeitsbereich?«
»Ja.«
»Was trieb die Äbtissin auf die Insel? Man spricht davon, sie hätte mit dir eine Wette abgeschlossen über etwas, was sie auf der Insel ausfindig machen würde.«
Müde verzog Artagán das Gesicht.
»Es war eine sinnlose Jagd, die sie sich in den Kopf gesetzt hatte. Ich war mit meiner Wette auf der sicheren Seite.«
»Vielleicht kannst du mir das näher erklären«, verlangte Fidelma, die seine Antwort verdutzte.
»Äbtissin Cuimne war eine starke Persönlichkeit. Das war nicht weiter verwunderlich, schließlich ist sie … war sie die Schwester des Hochkönigs. Sie verfügte über mannigfaltige Talente. Nicht umsonst hat der Erzbischof von Armagh sie als seine persönliche Gesandte ernannt. Als solche sollte sie in den Klöstern und Kirchen von Éireann einheitliche Regeln für die Feier der heiligen Messe durchsetzen. Ich bin ihr nur zwei Mal begegnet. Einmal auf der Synode zu Cashel und dann jetzt, als sie hier blieb, bevor sie auf die Insel übersetzte. Sie vertrat Ansichten, die es einem schwermachten, mit ihr darüber zu debattieren.«
»Wie meinst du das?«
»Hast du schon mal von der Legende vom Reliquiar des heiligen Palladius gehört?«
»Erzähl«, forderte sie ihn auf und überspielte so ihre Verwirrung.
»Wie du weißt, war vor zweieinhalb Jahrhunderten die christliche Gemeinde in Éireann sehr klein und vergrößerte sich nach dem Willen Gottes, als die Menschen sich dem Wort Christi zuwandten. Damals hatten sie zahlenmäßig so zugenommen, dass sie Vertreter in die heilige Stadt Rom schickten, um Papst Coelestin, den ersten des Namens, der auf dem Thron von Peter, dem Jünger Christi, saß, zu bitten, ihnen einen Bischof zu senden. Sie wollten jemand haben, der sie unterweisen würde, wie man den Vorstellungen des Lebendigen Gottes richtig folgen könnte. Coelestin ernannte einen Mann namens Palladius als den ersten Bischof für die Iren, die sich zu Christus bekannten.«
Artagán machte eine Pause, ehe er fortfuhr.
»Es gibt zwei Versionen der Geschichte. In der ersten heißt es, Palladius wäre auf dem Weg nach Éireann in Gallien erkrankt und dort gestorben. In der zweiten erreichte Palladius unsere Ufer und unterwies auch die Iren, wurde dann aber von einem erzürnten Druiden, der in den Diensten des Königs von Iarmuma stand, hinterrücks ermordet.«
»Beide Versionen sind mir bekannt«, meinte Schwester Fidelma. »Nach Palladius’ Tod wurde der heilige Patrick, der damals in Gallien studierte, zum Bischof in Irland ernannt und kehrte somit in das Land zurück, in dem man ihn einst als Geisel festgehalten hatte.«
»Du hast vollkommen recht«, stimmte ihr Artagán zu. »In den Jahren nach Palladius’ Tod entstand dann eine Legende: Die sterblichen Überreste des Heiligen kamen in ein Reliquiar, in ein Kästchen mit einem dachähnlichen Deckel von etwa sechs Zoll Länge, vier Zoll Breite und zwei Zoll Höhe. Solche Reliquiare sind meist aus Holz, oft Eibe, innen mit Blei ausgekleidet und außen vergoldet und reich verziert mit einer Kupferlegierung, Blattgold, Bernstein und Glasperlen. Wunderschön gefertigte Stücke.«
Schwester Fidelma nickte, wenngleich eher ungeduldig. In den großen Abteien von Éireann hatte sie mehr als genug solcher kostbaren Arbeiten gesehen.
»Der Legende nach wurden ursprünglich die sterblichen Überreste von Palladius in Cashel aufbewahrt, dem Sitz der Eóghanacht-Könige von Munster. Vor etwa zweihundert Jahren kam es dann zu einer Wiederbelebung der Glaubensauffassungen der Druiden in Iarmuma. Der König von Iarmuma griff die alte Religion auf, und es begann eine unbarmherzige Verfolgung der christlichen Gemeinden. Cashel wurde gestürmt, doch die Reliquie wurde aufs Land in Sicherheit gebracht. Man schickte sie von Ort zu Ort, bis die sterblichen Überreste unseres ersten Bischofs schließlich auf die Inseln geschafft wurden, um sie vor dem wütenden Treiben zu bewahren. Dort verschwanden sie dann.«
»Erzähl weiter«, drängte ihn Fidelma, als er schwieg.
»Überleg mal selbst. Was für ein Aufsehen würde es erregen, wenn wir nach all den Jahren die sterblichen Überreste des ersten Bischofs von Éireann entdeckten! Der Ort, an dem sie angeblich ruhen, würde zu einem einzigartigen Wallfahrtsort werden, man würde eine prächtige Abtei dort errichten, die die Menschen aus aller Welt anziehen würde …«
»Willst du damit sagen, Äbtissin Cuimne hätte sich zur Insel aufgemacht, um das Reliquiar des Palladius zu suchen?«
Bischof Artagán nickte.
»Sie berichtete mir, dass sie in der berühmten Bibliothek von Ard Macha auf alte Manuskripte gestoßen sei, aus denen hervorging, man hätte seinerzeit die Reliquie auf einer der dem Festland der Corco Dhuibhne vorgelagerten Inseln in Sicherheit gebracht. Die Manuskripte wollte sie mir nicht zeigen. Angeblich enthielten sie Hinweise auf diesen Ort. In einer alten Handschrift sei die Rede davon gewesen, dass während der Verfolgungen unter dem König von Iarmuma Priester auf die Inseln geflohen wären, nur meine ich, wir wüssten davon, wenn die heilige Reliquie dort gelandet wäre«, schloss er seine Ausführungen abschätzig.
»Du konntest dich also nicht der Auffassung von Äbtissin Cuimne anschließen, dass sich die Reliquie auf der Insel befindet?«, fragte Fidelma.
»Das konnte ich nicht, nein. Ich habe mich selbst eingehender mit der Geschichtsperiode beschäftigt. Palladius starb in Gallien. Das steht fest, die meisten Berichte sagen es so und nicht anders.«
»Bist du deshalb der Meinung, die Äbtissin sei auf eine sinnlose Jagd gegangen?«
»Ja. Die sterblichen Überreste des Palladius haben das Wüten der Zeit unmöglich überdauert. Wenn doch, dann wären sie in Gallien zu finden, nicht hier. Ich konnte die Äbtissin nicht von ihrer Auffassung abbringen. Ich hab dir ja gesagt, sie war hartnäckig, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte.« Er krauste die Stirn. »Was aber hat all das mit deinen Erkundungen zu ihrem Tod zu tun?«
Schwester Fidelma erhob sich mit einem verbindlichen Lächeln.
»Ich wollte mich nur vergewissern, was sie bezweckte, als sie auf die Insel ging.«
Die ganze Zeit während der schwankenden Rückfahrt auf rauer See hockte Schwester Fidelma im Boot und dachte angestrengt nach. Aus dem, was sie gerade erfahren hatte, ergab sich doch ganz logisch, dass Äbtissin Cuimne mit Congal, dem seanchafí, über das Reliquiar des Palladius gesprochen haben musste. Warum hatte der Fischer darüber geschwiegen? Was versuchte er zu verbergen? Sie beschloss, sich zunächst nicht weiter mit Congal zu beschäftigen, sondern unmittelbar nach ihrer Rückkehr mit dem Priester der Insel, mit Pater Patrick zu sprechen.
Pater Patrick war ein alter Mann, mindestens Mitte, wenn nicht Ende der achtzig. Ein kleines Häuflein Mensch, das die stürmischen Winde auf der Insel leicht hinwegfegen konnten. Pergamentähnliche Haut umspannte die Knochen, auf denen kaum noch Fleisch war, und seine hager hervorstechenden Knöchel. Spärliche Strähnen weißen Haares umgaben seinen Kopf. Unter den tief hängenden Brauen blickten Fidelma blasse Augen von schwer zu deutender Farbgebung an.
Pater Patrick saß in einem an das Feuer gerückten Lehnstuhl; der gebrechliche Körper war in einen dicken wollenen Umhang gehüllt, der an dem dürren Hals mit einer Brosche zusammengehalten wurde. Und doch hatte Fidelma das Gefühl, es trotz Alter und Gebrechlichkeit mit einer starken und dynamischen Persönlichkeit zu tun zu haben.
»Erzähl mir über das Reliquiar des Palladius«, eröffnete sie ohne weitere Vorbereitung das Gespräch. Es war ein Schuss ins Ungewisse, aber er traf.
Das Gesicht von Pater Patrick blieb unbeweglich, nur die Augen blitzten einen Moment überrascht auf. Fidelma entging die ungewollte Regung nicht.
»Was weißt du von der alten Legende?«
Die kratzige Stimme war so gleichförmig, dass Fidelma ihre Schwierigkeiten hatte, eine innere Anteilnahme herauszuhören, und doch schwang da etwas mit. Was war es?
»Ist es wirklich eine Legende, Pater?«
»Es gibt viele alte Legenden hier, meine Tochter.«
»Mag sein, aber Äbtissin Cuimne hielt diese eine für wahr. Dem Bischof der Corco Dhuibhne hatte sie gesagt, sie würde das Reliquiar ausfindig machen und die Insel nicht eher verlassen.«
»Und nun ist sie tot«, stellte der alte Priester nicht ohne einen Anflug von Trauer fest. »Möge sie in Frieden ruhen.«
Fidelma wartete, doch er äußerte sich nicht weiter.
»Das mit der Reliquie …«, nahm Fidelma den Faden wieder auf.
»Dem Gerede der Leute nach zu urteilen, ist es nur eine Legende, und das wird es auch bleiben.«
»Sie ist also nicht auf der Insel?«
»Kein Inselbewohner hat sie jemals gesehen.«
Sie schürzte die Lippen im Bemühen, ihre Verärgerung hinunterzuschlucken. Sie hatte das unbestimmte Gefühl, Pater Patrick führte sie an der Nase herum. Aufgeben durfte sie nicht.
»Äbtissin Cuimne hat dich wiederholt aufgesucht, um sich mit dir zu unterhalten. Worüber habt ihr gesprochen?«
»Über Sagen, Lieder, Feste der Leute hier.«
»Über die Reliquie?«
»Über die Legende von der Reliquie«, verbesserte er sie nach kurzem Nachdenken.
»Sie glaubte, dass die Reliquie sich hier auf der Insel befände, nicht wahr?«
»Das glaubte sie, ja.«
»Aber dem ist in Wahrheit nicht so?«
»Du kannst jeden Inselbewohner hier fragen, ob er sie je gesehen hat oder etwas von ihrem Verbleib weiß.«
Ungeduldig stöhnte sie auf. Ein weiteres Mal war er ihrer Frage ausgewichen. Er würde einen guten Richter abgeben, geschickt wie er sich in Rede und Gegenrede gab.
»Nun gut. Vielen Dank, dass du mir deine Zeit geopfert hast, Pater.«
Sie war im Begriff, die Klause des Priesters zu verlassen, als sie auf der Schwelle Corcrain, dem Apotheker in die Arme lief.
»Wie krank ist Pater Patrick?«, fragte sie ihn ohne Umschweife.
»Pater Patrick ist alt und gebrechlich«, erwiderte der Apotheker. »Ich fürchte, er wird das Frühjahr nicht mehr erleben. Zweimal hatte er schon Probleme mit dem Herzen, und es wird ständig schwächer.«
»Wie schwach?«
»Zweimal wollte es schon nicht mehr mitmachen, ein drittes Mal dürfte es das Ende bedeuten.«
»Der Bischof würde doch aber einen so alten Mann wie ihn ohne weiteres von seinen Pflichten entbinden. Dann könnte er die letzten Tage in Ruhe auf dem Festland in angenehmer Umgebung in einem Kloster verbringen.«
»Natürlich wäre das möglich. Nur müsste es jemandem gelingen, Pater Patrick davon zu überzeugen, sich von der Insel zu trennen. Vor sechzig Jahren ist er als junger Mann hierhergekommen und hat die Insel seither nie verlassen. Er ist ein alter Dickschädel. Er betrachtet die Insel als sein ihm verliehenes Lehen. Für jeden einzelnen Inselbewohner fühlt er sich persönlich verantwortlich.«
Bei Schwester Fidelmas zweitem Besuch bei Congal begegnete ihr der seanchafí mit Argwohn.
»Was genau wollte Äbtissin Cuimne über die Reliquie des Palladius wissen?« Die Frage traf ihn unvorbereitet, und er sperrte den Mund auf. »Sie wusste, dass sie sich auf der Insel befand, nicht wahr?«, fuhr Fidelma unbeirrt fort und ließ ihm kaum Gelegenheit, tiefer nachzudenken.
Er presste die Lippen zusammen.
»Sie glaubte es jedenfalls«, erwiderte er schließlich.
»Warum ein Geheimnis daraus machen?«
»Geheimnis?«
»Wenn die Reliquie auf der Insel ist, warum hält man das so geheim?«
Verunsichert rutschte der Bär von Mann hin und her. »Hast du mit Pater Patrick gesprochen?«, fragte er mürrisch.
»Ja.«
Ihre Antwort machte ihn nicht gerade glücklich. Er zögerte von neuem und gab sich dann einen Ruck.
»Wenn Pater Patrick mit dir gesprochen hat, weißt du ja Bescheid.«
Dass sie von Pater Patrick praktisch nichts erfahren hatte, behielt sie für sich.
»Weshalb macht man aus der Tatsache, dass sich die Reliquie auf der Insel befindet, ein Geheimnis?«, wiederholte sie ihre Frage.
»Weil es die Reliquie des Palladius ist. Es geht um die Gebeine des ersten Bischofs, der den Iren ernannt wurde, die an Christus glaubten, es geht um die sterblichen Überreste des Heiligen, der uns aus der Dunkelheit ins Licht der Christenheit führte. Sag doch selbst, Schwester Fidelma, was würde passieren, wenn allgemein bekannt werden würde, dass sich seine sterblichen Überreste hier auf dieser Insel befinden? Stell dir mal die Heerscharen von Pilgern vor, die herbeiströmen würden, oder die großen Bauten, die hier entstehen würden und alles, was damit zusammenhängt. Nicht lange, und Menschen aus aller Welt kämen her und würden uns unseren Frieden nehmen. Ehe wir uns versehen, würde unsere kleine Gemeinschaft hinweggeschwemmt oder zerstreut werden. Es ist besser, wenn niemand etwas davon erfährt. Selbst ich habe das Heiligtum nie gesehen und weiß auch nicht, wo es verborgen ist. Nur Pater Patrick …«
Congal schaute Schwester Fidelma an und deutete den überraschten Ausdruck in ihrem Gesicht auf seine Weise.
»Hat dir Pater Patrick gesagt …? Was genau hat er dir gesagt?«, wollte er wissen und beobachtete sie argwöhnisch.
An der Tür klopfe es heftig, und ehe Congal darauf reagieren konnte, steckte schon der junge bó-aire den Kopf hinein. Er war sichtlich erregt.
»Ah, Schwester, da bist du ja. Corcrain, der Apotheker, bittet dich, sogleich zu Pater Patrick zu kommen. Es steht schlecht um ihn, aber er wünscht dich zu sprechen.«
Corcrain erwartete sie an Pater Patricks Tür.
»Ich fürchte, er macht es nicht mehr lange. Kurz nachdem du gegangen warst, erlitt er den dritten Herzanfall, mit dem man rechnen musste. Er verlangt nach dir, will dich ohne Beisein eines anderen sehen. Ich warte draußen, falls ich gebraucht werde.«
Der alte Mann lag im Bett, die Haut auf dem matten Gesicht zeigte einen bläulichen Schimmer. Die Lider flackerten unstet, und wieder diese farblosen, blassen Augen.
»Du weißt es, meine Tochter, nicht wahr?«
Sie beschloss, bei der Wahrheit zu bleiben.
»Ich ahne es«, verbesserte sie.
»Wie auch immer, ich muss mit Gott meinen Frieden schließen. Besser, du weißt die Wahrheit, als dass ich dahinscheide und die Erinnerung an mich von einem Verdacht beschattet wird.«
Er machte ein lange Pause.
»Die Reliquie ist hier. Priester, die vor über zweihundertfünfzig Jahren vor König Iarmumas Kriegern flohen, brachten sie hierher und versteckten sie in einer Höhle. Seit Generationen weiß nur der jeweilige Priester der Insel um das Geheimnis und auch, um welche Höhle es sich handelt, und gibt sein Wissen schließlich an seinen Nachfolger weiter. Zuweilen geschah es, dass die Insel ohne Priester war, dann wurde ein Inselbewohner ins Vertrauen gezogen. So war gewährleistet, dass das sorgsam gehütete Geheimnis von Generation zu Generation überliefert wurde. Ich kam vor sechzig Jahren als junger Priester hierher und wurde von meinem Vorgänger, dessen Amt ich übernehmen sollte, eingeweiht.«
Wieder musste er eine Pause machen, um mehrfach tief Atem zu schöpfen.
»Dann tauchte Äbtissin Cuimne auf. Eine äußerst kluge Frau. Sie war auf Beweismaterial gestoßen. Sie ging zu Congal, um mit Hilfe der Legenden mehr zu erfahren; er kennt eine Menge, nur wo die Reliquie liegt, weiß er nicht. Er hat versucht, sie von weiteren Nachforschungen abzuhalten und ihr das meiste vorenthalten, was fast einer Lüge gleichkam. Dann suchte sie mich auf. Zu meinem Entsetzen hatte sie ein Stück Pergament mit verschiedenen Notizen, geschrieben von keinem geringeren als dem heiligen Patrick. Als Palladius starb, hatte der Papst ihn zu dessen Nachfolger ernannt und als Bischof zu den Iren geschickt. Das Pergament enthielt eine Landkarte mit eingezeichneten Hinweisen, die für einen Uneingeweihten nutzlos waren, aber für einen, der wusste, was er suchte, Aufschluss gaben über das Wo und Wohin.
Äbtissin Cuimne hatte von allerlei Legenden gehört, fand in der berühmten Bibliothek von Ard Macha in einer alten Handschrift des heiligen Patrick das Schriftstück und reimte sich die Dinge klug zusammen.«
»Und du hast versucht, sie von weiteren Nachforschungen abzuhalten?«
»Ich habe alles daran gesetzt, sie davon zu überzeugen, dass Legenden nicht unbedingt auf Wahrheit beruhen. Aber sie ließ sich nicht beirren.«
»Und dann?«
»Dann sprach ich mit ihr ganz offen. Ich beschwor sie, der Insel die Folgen zu ersparen, die eine Verlautbarung der Nachricht, dass hier das Reliquiar verborgen ist, nach sich ziehen würde. Ich wies sie auf die drohenden Gefahren für die Gemeinde hin. Ich wusste, was da auf uns zukommen würde. Du hast selbst Vorstellungskraft genug, Schwester Fidelma. Überleg mal, was bei einer Verbreitung einer solchen Nachricht aus dieser friedlichen kleinen Insel werden würde, aus dieser mit sich zufriedenen kleinen Gemeinde.«
»Könnte man das Reliquiar nicht von der Insel schaffen? Zum Beispiel nach Cashel oder sogar nach Ard Macha?«
»Damit würde die Insel des heiligen Schutzes verlustig gehen, den sie als Ruhestätte für die geheiligten Gebeine genießt. Nein. Die Reliquie wurde aus gutem Grund hierhergebracht, und hier muss sie auch bleiben.«
Die letzten Sätze hatte der alte Priester mit aller Entschiedenheit gesprochen. Es hatte ihn Kraft gekostet, und er schwieg eine Weile.
»Ich habe ihr auszumalen versucht, was für ein Unglück das wäre«, nahm er wieder das Wort. »Wir haben doch oft genug gesehen, wie es anderen Gemeinden ergangen ist, wenn bei ihnen unerwartet Reliquien ans Tageslicht befördert wurden oder man irgendwelche Wunder gesehen haben wollte. Riesige Abteien wurden gebaut und Schreine errichtet. Kleine Gemeinschaften gingen zugrunde. Kleine fromme Wallfahrtsorte wurden über Nacht zu auf Gewinn bedachten Unternehmen. Zerstörung sondergleichen. Alles Dinge, die unser Heiland verabscheute. War er es doch, der die Händler und Geldwechsler aus dem Tempel verjagte! Wie würde er da erst heute gegen die vorgehen, die seine Lehre nutzen, um schnöden Gewinn daraus zu schlagen? Nein, eine solche Zukunft möge unserer Insel erspart bleiben. Das würde unseren Lebenswandel und unser ganzes Denken und Fühlen zunichte machen.«
Erneut hatte sich seine Stimme zu voller Kraft aufgeschwungen.
»Was hast du getan, als die Äbtissin deine Vorhaltungen missachtete?«, fragte Schwester Fidelma und blieb ruhig.
»Anfangs hoffte ich noch, sie würde die Zeichen nicht richtig deuten können, die den Weg zum Fundort wiesen. Doch sie konnte es. Es war an dem Morgen des Tages, an dem sie abreisen wollte …«
Er brach ab, verzog das Gesicht vor Schmerz und rang nach Luft. Fidelma wollte schon den Apotheker rufen, aber er wehrte ab. Sie wartete geduldig, bis er schließlich weitersprach.
»Rein zufällig sah ich Äbtissin Cuimne auf dem Pfad, der nach Aill Tuatha, der Nordklippe, führt. Ich folgte ihr und hoffte im Stillen, sie hätte nicht ein bestimmtes Ziel im Auge. Aber sie wusste, wohin sie wollte.«
»Ist dort die Reliquie verborgen? In einer der Höhlen an der Felswand Aill Tuatha?«
Er nickte ergeben.
»Die Äbtissin begann hinunterzuklettern. Sie hatte es sich leicht vorgestellt. Ich versuchte, sie zurückzuhalten, warnte sie vor den Gefahren.«
Wieder schwieg er. Die wässrigen Augen verrieten tiefe innere Bewegung.
»Bald werde ich vor meinem Gott stehen. Auf der Insel gibt es keinen anderen Priester. Ich muss meinen Frieden mit dir schließen, meine Tochter. Was ich jetzt sage, ist das, was ich zu bekennen habe. Verstehst du?«
Zwei Seelen kämpften in ihrer Brust. Sie musste sich entscheiden zwischen ihrer Rolle als Anwältin beim Gericht der Brehons und der als Mitglied eines religiösen Ordens, womit sie zur Wahrung des Beichtgeheimnisses verpflichtet war.
»Ich verstehe, Pater.« Sie nickte ihm beruhigend zu. »Was also geschah?«
»Die Äbtissin machte sich an den Abstieg zum Höhleneingang. Ich warnte sie laut, wenn es denn schon sein müsste, so wäre äußerste Vorsicht geboten. Ich wagte mich an den Klippenrand vor und beugte mich hinunter, just in dem Moment, als sie den Halt verlor. Sie streckte die Hand nach oben und bekam mein Kruzifix zu fassen, das ich an einer silbernen Kette um den Hals trug. Die Kette hielt dem Gewicht nicht stand. Ich griff nach ihr, konnte sie auch einen Moment an Schultern und Nacken packen. Doch ich bin alt, und mir fehlt es an Kraft. Sie entglitt meinen Händen und stürzte in die Tiefe.«
Erschöpft von dem vielen Sprechen, rang er nach Atem. Fidelma beobachtete ihn angespannt und wagte dennoch, ihn zum Weiterreden zu drängen.
»Und was geschah dann?«
»Ich lugte hinunter und sah, sie war tot. Ich kniete nieder und betete in dem Bestreben, sie von ihren Sünden freizusprechen, von denen Verwegenheit und Hochmut die einzigen waren, die ich hätte nennen können. Dann kam mir ein Gedanke, der immer stärker wurde und mich tröstete. Wir sind alle in Gottes Hand. Was, wenn Er eingegriffen hatte? Er hätte die Äbtissin durchaus retten können. Stattdessen war es vielleicht Sein Wille gewesen, dass Er es geschehen ließ und das Reliquiar wie durch ein Wunder unentdeckt blieb. Ein Tod, um ein größeres Übel, die Vernichtung unserer Gemeinde, zu vermeiden. Die Vorstellung ist mir Trost gewesen. Ich nahm mein Kruzifix auf, an dem einige Glieder der Kette fehlten, kehrte zu dem Pfad zurück und zwang mich, hinunter ans Ufer zu gehen und nach ihr zu schauen. Ich fand ihr Missale und darin das Pergament mit den Aufzeichnungen des heiligen Patrick, die ihr ein Anhaltspunkt gewesen waren. Ich nahm beides an mich und kehrte hierher zurück. Es war töricht von mir, ich hätte das Messbuch an Ort und Stelle lassen und nur den Pergamentstreifen daraus entwenden sollen. Ein geübtes Auge würde sich zu Recht wundern, weshalb sie kein Messbuch bei sich hatte. Aber ich war zu erschöpft, um mir darüber Gedanken zu machen, und mein Gesundheitszustand war nicht der beste. Für mich war entscheidend: Die Reliquie war sicher …, so glaubte ich jedenfalls.«
Verständlich, dass Schwester Fidelma einen tiefen und sorgenvollen Seufzer von sich gab, ehe sie die Frage wagte:
»Was hast du mit dem Pergament getan?«
»Gott möge mir vergeben, denn obwohl es die Schriftzüge des heiligen Patrick trug, habe ich es vernichtet, in meinem Herdfeuer verbrannt.«
»Und was ist mit dem Missale?«
»Es liegt dort auf dem Tisch. Vielleicht schickst du es ihren Angehörigen.«
»Hast du sonst noch etwas zu sagen?«
»Nein, das ist alles, meine Tochter. Nur lässt mir mein Gewissen keine Ruhe. Darf ich mir anmaßen, zu glauben, Gott würde einen Mord verfügen … selbst für einen geheiligten Zweck? Die Sünde, dass ich es unterlassen habe, den bó-aire über das wahre Geschehen ins Bild zu setzen, wiegt schwer. Aber für mich war entscheidend, das Geheimnis der Reliquie zu wahren. Ich fühle den Tod nahen. Irgendjemandem musste ich das Geheimnis anvertrauen. Vielleicht hat es Gott so gewollt, dass du, die du nichts mit dieser Insel zu tun hast, die Wahrheit erfährst, zumal du sie zum Teil schon wusstest. Wie heißt es doch in dem alten lateinischen Hexameter? Quis, quid, ubi, quibus auxiliis, cur, quomodo, quando?«
Schwester Fidelma schenkte ihm ein warmes Lächeln.
»Wer ist der Verbrecher? Worin besteht das Verbrechen? Wo wurde es begangen? Mit welchen Mitteln? Warum? Auf welche Art und Weise? Wann?«
»Genau so, meine Tochter. Auf all das hast du jetzt eine Antwort. Du hast Congal oder auch mich eines dunklen Verbrechens verdächtigt. Es gab kein Verbrechen. Wenn es als ein solches angesehen wird, dann geschah es durch ein Wunder. Mir blieb nur die Wahl, dir alles wahrheitsgemäß zu erzählen und das Schicksal der Insel und seiner Bewohner in deine Hände zu legen, meine Tochter. Bist du dir dessen bewusst, was das bedeutet?«
Schwester Fidelma nickte langsam.
»Ja, Pater.«
»Dann habe ich hinter mich gebracht, was ich längst hätte tun sollen.«
Draußen vor der Klause des Priesters hatten sich Inselbewohner versammelt. Sie alle starrten Schwester Fidelma an, die einen neugierig, die anderen feindselig. Auch Corcrain schaute sie fragend an, aber sie ließ ihn mit seiner Ungewissheit allein. Ihr ging es darum, zuallererst Congal ausfindig zu machen und ihm von der Höhle an der Steilküste von Aill Tuatha zu berichten. Das Wissen um das, was es mit ihr auf sich hatte, lag in seiner Verantwortung, damit wollte sie sich nicht belasten.
Die Möwen schwebten über die Anlegestelle aus grauem Granitgestein, schrien und stießen im Sturzflug nieder. Manchmal schien es, als hielten die stürmischen Winde sie gefangen und hinderten sie am Weiterfliegen, aber schon im nächsten Moment schlugen sie mit den Schwingen und stiegen erneut auf und nieder. Die See war kabbelig. Trotz des feuchtgrauen Nebels konnte Fidelma Ciardhas Boot ausmachen, das sich durch die Wellen kämpfte und den Hafen der Insel ansteuerte. Bekümmert stellte sie fest, dass ihre Rückfahrt nach An Chúis nicht gerade gemütlich werden würde.
Mit dem Boot erwartete man einen jungen Priester, der die Nachfolge von Pater Patrick auf der Insel antreten sollte. Der alte Mann war in einen friedlichen Schlaf gefallen und wenige Stunden, nachdem Fidelma ihn verlassen hatte, aus dem Leben gegangen.
Für Fidelma war es eine schwierige Entscheidung gewesen. Sie war in die Hütte des bó-aire zurückgekehrt und hatte im Lichte dessen, was sie inzwischen erfahren hatte, die ganze Nacht über dessen Bericht gebrütet.
Jetzt stand sie und erwartete die Ankunft des Bootes, das sie wieder von der Insel bringen sollte, neben ihr der nervös dreinschauende junge Schiedsmann.
Das Boot hatte sein Ziel erreicht. Taue wurden geworfen und festgezurrt, und die wenigen Fahrgäste begannen, sich die Strickleiter hochzuhangeln. Als Erster erschien ein junger Mann mit klaren, fast noch jungenhaften Gesichtszügen. Er bewegte sich in seinem Habit, als trüge er ein neu erworbenes Symbol zur Schau. Congal und Corcrain waren zugegen und nahmen ihn in Empfang.
Schwester Fidelma betrachtete ihn kopfschüttelnd. Der Neuankömmling machte den Eindruck, als wüsste er noch nicht, wie man mit einem Rasiermesser umgeht, und sollte doch schon hundertundsechzig Seelen ein Vater sein. Sie wandte sich dem Friedensrichter neben ihr zu und streckte ihm die Hand entgegen. »Vielen Dank für deine Hilfe und Gastfreundschaft, Fogartach. Ich werde dem Obersten Brehon und auch Fathan von den Corco Dhuibhne Bericht erstatten. Wenn das erledigt ist, werde ich mit Freuden meine unterbrochene Reise fortsetzen und zur Abtei von Kildare zurückkehren.«
Der junge Mann hielt ihre Hand etwas länger fest als schicklich und suchte ihren Blick.
»Und mein Bericht, Schwester?«
Sie drehte sich um und begann den Abstieg. Auf der obersten Leitersprosse blieb sie kurz stehen. Zwar war er ein eingebildeter Bursche, aber sie durfte nicht weiter mit ihm Katz und Maus spielen.
»Es ist, wie du gesagt hast, Fogartach, der Fall liegt eindeutig. Äbtissin Cuimne ist gestrauchelt und zu Tode gestürzt. Ein tragischer Unfall.«
Das Gesicht des bó-aire entspannte sich. Zum ersten Mal zeigte er ein Lächeln, und er hob die Hand zum Gruß.
»Ich hab durch dich manches hinzugelernt, anruth am Gerichtshof der Brehons«, rief er ihr etwas steif zu. »Gott möge dich auf deiner Reise schützen, auf dass du wohlbehalten dein Ziel erreichst!«
Schwester Fidelma lächelte zurück und hob gleichfalls die Hand. »Jedes erreichte Ziel ist nur das Tor zum nächsten, Fogartach«, rief sie, lachte verschmitzt, stieg die Leiter hinab und sprang ins Heck des sanft schaukelnden Bootes.