ANGSTSCHREI AUS DER GRUFT

Es war am Abend vor Allerheiligen. Tressach, ein Krieger der Garde vom königlichen Palast in Tara, wo Sechnasach, der Hochkönig von Irland, residierte, war unglücklich. Ausgerechnet an diesem Abend hatte er den meist gehassten Dienst: Er hatte auf dem Teil des Palastgeländes Wache zu halten, wo ganze Generationen von Hochkönigen begraben lagen. Gedenktafeln aus Granit mit Inschriften gaben Auskunft darüber, welche Monarchen unter den Hügeln ruhten; oft genug hatte man sie mitsamt ihren Streitwagen und ihrer Rüstung bestattet, dazu mit Grabbeigaben, die sie auf ihrer Reise in die Anderswelt begleiten sollten.

Tressach fühlte sich nicht wohl in seiner Haut. Musste ihn dieser Dienst auch gerade in der gefürchtetsten aller Nächte treffen! Von alters her hatte der Abend vor Allerheiligen besondere Bedeutung. Noch heute wurde er von vielen unter dem alten Namen Samhain-Fest begangen, obwohl die fünf Königreiche längst den neuen Glauben der Christenheit angenommen hatten. Nach der Tradition aus vergangenen Zeiten war Samhain die Nacht des Jahres, in der den Lebenden das Reich der Anderswelt erschien, in der die Seelen der Toten das Diesseits betreten und sich an jedem, der ihnen zu Lebzeiten Unrecht getan hatte, rächen durften. Die Vorstellung war in den Menschen tief verwurzelt, selbst der Neue Glauben hatte nichts dagegen ausrichten können. Die Christen hatten einen Ausweg ersonnen, indem sie zwei unterschiedliche Feiern eingeführt hatten, um so das alte Fest mit einzubeziehen. Zu Allerheiligen wurde der Heiligen gedacht, der bekannten und der weniger bekannten, und der darauffolgende Tag Allerseelen war dem Gedenken an die Seelen der in Christo Verstorbenen vorbehalten.

Tressach hatte den von einer Mauer abgeschirmten Bezirk mit den Gräbern vor sich, der weitab von den Palastgebäuden lag. Ihn fröstelte in der kalten Abendluft. Der Herbst verabschiedete sich zusehends, und der Winter schickte seine Vorboten, weiße Finger eines schleichenden Bodenfrostes, der von den heiligen Hügeln im Königsgau Meath kam.

Tressach blieb stehen und tastete mit den Augen die Wegstrecke zwischen den düsteren Grabhügeln und ihren Portalen aus Granitgestein ab. Man hatte ihr den Namen »Allee der großen Könige« gegeben, denn hier hatten die berühmtesten der früheren Herrscher ihre letzte Ruhestätte gefunden. Hier befand sich das prunkvolle Grab von Ollamh Fodhla, dem vierzigsten König, der die Gesetze Irlands gesammelt und einen féis, einen Konvent, begründet hatte, der alle drei Jahre zum Samhain-Fest in Tara zusammentrat. Dann trafen sich Richter, Anwälte und Stammesbeauftragte, debattierten über Gesetze und überarbeiteten sie. Just in diesem Jahr kam es wieder zu einer solchen Begegnung, und Tressach wusste, dass bereits viele Richter und Anwälte in Tara eingetroffen waren. Ihre Beratungen sollten am nächsten Morgen beginnen.

Eine andere bemerkenswerte Grabstätte war die von Macha Mong Ruadh, Macha mit dem Fuchshaar, der sechsundsiebzigsten Monarchin und einzigen Frau, die über Irland regiert hatte. Dahinter reihten sich die Gräber von Conaire dem Großen, von Tuathal dem Rechtmäßigen, von Art dem Einzigen, von Conn der hundert Schlachten und von Fergus Schwarzzahn. Würde ihn jemand befragen, hätte Tressach ihm die Namen aller dort Ruhenden der Reihe nach herunterbeten können. So war es eben, selbst mächtige Herrscher sanken ins Grab.

Weshalb aber ein Krieger seine Zeit damit verschwenden sollte, diese Ruhestätte der Toten abzulaufen und zu bewachen, hatte er nie verstanden. Welche Notwendigkeit gab es, einen so trostlosen Ort wie diesen zu bewachen, noch dazu in der finstersten aller Herbstnächte? Er wünschte sich sehnlichst von hier weg … egal, wohin.

Wenigstens hatte er eine kleine Laterne, aber den rechten Trost spendete ihm ihr Licht auch nicht. Er begann, die dunkle Gräberreihe abzulaufen und beschleunigte seinen Schritt. Je schneller er sich seiner Aufgabe entledigt hatte, desto besser. Mit gutem Gewissen würde er seinem Vorgesetzten berichten können, dass in der Anlage alles in Ordnung war. Der Gedanke an einen Krug mit cuirm, einem starken Met, machte die Sache etwas erträglicher.

Er bog um eine Ecke und blieb an einer der Ehrenreihen gewissenhaft stehen, um sich etwas sorgsamer umzuschauen. An Stellen, von denen aus sich ein günstiger Überblick ergab, hielt er es für richtig, seinen Pflichten ausführlicher nachzukommen. Das schuldete er seinem Hauptmann und seinem Stolz als Krieger. Er leuchtete die Umgebung mit seiner Laterne ab und erspähte ein frisch ausgehobenes Grab. Nur keine Schwäche zeigen! Er wusste, dass Garbh, der Friedhofswärter, zu dessen Pflichten die Pflege der Ruhestätten und das Anlegen neuer Gräber gehörte, in den letzten zwei Tagen hier geschaufelt hatte. Noch waren die Arbeiten nicht beendet, und das Grab war leer, aber trotzdem fühlte sich Tressach wie magisch davon angezogen und starrte in das gähnende schwarze Loch mit der ringsherum frisch aufgehäuften schwarzen Erde. Seine Phantasie spielte verrückt, Angstvorstellungen aus seiner Kindheit schnürten ihm die Kehle zu. Jeden Augenblick konnte sich da unten etwas Schreckliches auftun. Er beugte das Knie und riss sich beherzt los.

Am Ende der Reihe mit den Gräbern aus der etwas jüngeren Zeit erhob sich ein Hügel, ein wenig abseits von den anderen. Es handelte sich um eine uralte Grabstätte, eine sogenannte dumma. Umringt war sie von Säulen aus Granit mit eingemeißelten Schriftzeichen in Ogham, der alten irischen Schrift, die mit der Einführung des Neuen Glaubens dem Lateinischen hatte weichen müssen. Im Dunkeln ließ sich nichts weiter erkennen, doch Tressach wusste auch so, dass dieses Grab reicher geschmückt war als die anderen. Unter dem Sturz aus einem Granitblock befanden sich schwere Eichentüren, mit Kupfer und Bronze beschlagen und mit Eisenbändern verstärkt. Die Täfelungen waren mit Gold- und Silberarbeiten besetzt.

Es war eins der ältesten Gräber in Tara. Wollte man den Chronisten Glauben schenken, so war es um die tausendfünfhundert Jahre alt und die letzte Ruhestätte von Tigernmas, dem sechsundzwanzigsten Hochkönig. Er war als »Herr des Todes« in die Geschichte eingegangen; von allen Königen aus alten Zeiten hatte er die meisten Kriege geführt und allein in einem Jahr neununddreißig Schlachten gewonnen. Während seiner Herrschaft, so berichteten die Geschichtenerzähler, wurden in Irland die ersten Gold- und Silberminen entdeckt und Schürfungen begonnen. Tigernmas wurde ein reicher und mächtiger König. Er verfügte, dass die Menschen Kleidung mit unterschiedlichen Farben zu tragen hatten, an denen ihre Clanzugehörigkeit und ihr Rang in der Gemeinschaft zu erkennen waren.

Unter all den Gräbern, an denen Tressach an diesem ohnehin unheimlichen Abend vorbei musste, war es das von Tigernmas, vor dem er sich am meisten fürchtete. Die Chronisten wussten zu berichten, dass Tigernmas sich von den alten Göttern abgewendet hatte, um ein Idol zu verehren, dessen Kult mit Blutvergießen und Rachetaten einherging. Anlässlich des Samhain-Festes ließ er auf der Ebene Magh Slecht Menschenopfer darbringen. Daraufhin ereilte ihn ein grausames Schicksal. Tigernmas und all seine Gefolgsleute starben an einer seltsamen Krankheit; seinen Leichnam brachte man nach Tara zurück, um ihn neben den anderen Königen zu bestatten.

Tressach war mit der Geschichte nur allzu gut vertraut und hätte etwas darum gegeben, wenn er sie zu dieser Stunde aus seinen Gedanken hätte verbannen können. Mit der einen Hand hielt er den Griff seines Schwertes fest umklammert, mit der anderen die Laterne etwas höher. Es beruhigte ihn. Er war im Begriff, an der Grabstätte des Tigernmas vorbeizuhasten, als ihn ein Schrei lähmte. Beine und Arme wollten ihm nicht länger gehorchen. Es war ein gedämpfter Schrei, ein erstickter Schmerzensschrei.

Unmittelbar darauf rief eine gequälte Stimme: »Zu Hilfe! Gott, erbarme dich!«

Tressach brach der kalte Schweiß aus. Er war außerstande, sich zu bewegen oder einen Laut hervorzubringen; die Kehle war ihm wie zugeschnürt und ausgetrocknet.

Nur das eine war ihm klar – der Schrei war aus der seit Jahrhunderten versiegelten Gruft des Tigernmas gekommen.

Abt Colmán, der geistliche Ratgeber der Großen Versammlung der Stammesfürsten der fünf Königreiche Irlands, ein untersetzter Mann mit rötlichem Gesicht und Mitte fünfzig, erhob sich, um die junge Nonne zu begrüßen, die soeben sein Zimmer betreten hatte. Sie war eine große Frau mit graugrünen Augen, und selbst ihr Schleier konnte das rote Haar nicht bändigen.

»Es tut immer wieder gut, dich hier in Tara zu sehen, Schwester Fidelma! Nur beglückst du uns allzu selten mit deinem Besuch.« Mit ausgestreckten Händen ging er auf sie zu.

»Dominus tecum«, erwiderte sie ernst und ließ mit dieser Anrede nicht das Protokoll außer Acht. Der schmunzelnde Abt wehrte kopfschüttelnd ab, ergriff warmherzig ihre Hände und führte sie zu einem Stuhl am Feuer. Sie waren alte Freunde, doch war eine lange Zeit verstrichen, seit sie sich das letzte Mal gesehen hatten.

»Ich hatte mich schon besorgt gefragt, ob wir dich zu unserer Versammlung hier würden begrüßen dürfen. Alle anderen Richter und Anwälte sind bereits eingetroffen.«

Mit einem schelmischen Lächeln sah ihn Schwester Fidelma, die zum Kloster der Heiligen Brigid von Kildare gehörte, an.

»Von einem Konvent wie diesem fernzubleiben, hätte ich mir nicht verzeihen können. Dafür stehen zu viele strittige Punkte zur Debatte, wegen denen ich mich mit dem Obersten Richter anlegen möchte.«

Ihre Antwort stimmte den Abt heiter, und freudig erkundigte er sich, ob ihr ein Becher gewärmter, aus Gallien eingeführter Wein genehm wäre. Sie war dem nicht abgeneigt, und so langte er nach einer Amphore aus Ton, goss daraus roten Wein in einen Krug, nahm einen glühend heißen Schürharken aus dem Feuer und tauchte ihn in die Flüssigkeit. Dann schenkte er ihr ein entsprechendes Maß in einen silbernen Becher.

Der Abend war kühl, und Fidelma sprach gern dem wärmenden Getränk zu.

»Ist es wirklich schon drei Jahre her, seit du zuletzt in Tara warst?« Der Abt mochte es kaum glauben. Kopfschüttelnd nahm er ihr gegenüber Platz.

»Es erscheint auch mir wie eine Ewigkeit«, stimmte sie ihm zu.

»Der König spricht immer noch voller Anerkennung von dir und wird dir nie vergessen, wie du das Rätsel um sein gestohlenes Schwert gelöst hast.«

»Ah ja, Sechnasach. Ist er wohlauf? Und des Königs Familie, wie geht es der?«

»Es gibt keinen Grund zur Klage. Deo gratias«, fügte er fromm hinzu. »Aber wie ich höre, ist dir in der Zwischenzeit allerlei widerfahren.«

Ein heftiges Klopfen an der Tür hinderte ihn am Weitersprechen. Entschuldigend sah er Fidelma an und forderte den Störenfried auf, einzutreten.

Es bedurfte keines Kennerblicks – der im Türrahmen wartende Krieger war total verstört. Obwohl er einen Schafspelz anhatte, bebte er am ganzen Körper, als fröre er erbärmlich, und das Gesicht war aschfahl. Seine Lippen zitterten, und die dunklen Augen hasteten unstet vom Abt zu der jungen Nonne und wieder zurück zum Abt.

»Nun los schon, Mann«, fuhr ihn Colmán ungehalten an, »heraus mit der Sprache. Worum geht es?«

»Ehrwürdiger Abt.« Mehr brachte er nicht heraus, und selbst die zwei Worte waren kaum zu verstehen.

Colmán wurde ungeduldig. »Nun rede endlich, Mann!«

»Ich bin Tressach von der Leibgarde des Königs. Irél, mein Befehlshaber, schickt mich, ich soll dich holen. Da ist etwas passiert …« Er verstummte.

»Etwas passiert? Was ist passiert?«

»Bei den Grabstätten der Hochkönige. Irél bittet dich, sofort zu kommen.«

»Warum? Was ist geschehen?« Colmán verspürte wenig Lust, die Wärme spendende Behaglichkeit von Feuer und Wein gegen die Kälte draußen einzutauschen. Aber er war geistlicher Ratgeber am königlichen Hof, jedes Vorkommnis, das das geistliche Leben in Tara betraf – bis hin zur Aufsicht über den Friedhof – fiel in seinen Verantwortungsbereich.

Fidelma nippte derweil an ihrem Wein, beobachtete aber aus einem Augenwinkel heraus den Krieger und sein aufgeregtes Gebaren. Der Mann hatte völlig die Fassung verloren, und die schroffe Art des Abts half ihm wenig, sie wiederzugewinnen. Sie stellte ihren Trinkbecher auf dem Tisch ab und lächelte ihm aufmunternd zu.

»Erzähl, was geschehen ist, und dann sehen wir gemeinsam, was wir tun können.«

Der Krieger machte eine hilflose Armbewegung, antwortete aber. »Ich hatte Wache. Bei den Grabstätten, genau gesagt. Ausgerechnet heute Abend, und ich dort allein. Aus dem Grab von Tigernmas kam plötzlich ein Schrei …«

»Aus dem Grab?«, vergewisserte sich Fidelma.

»Aus der Gruft, Schwester.« Der Krieger unterstrich seine Behauptung mit einem kurzen Beugen des Knies. »Ich hörte eine Stimme, die ganz deutlich Gott um Hilfe anrief. Ich war halbtot vor Angst. Gegen Feinde aus Fleisch und Blut kann ich mich zur Wehr setzen, aber nicht gegen umherirrende, gequälte Seelen von Toten.«

»Na, na«, verwahrte sich Colmán gegen die Vorstellung. »Vielleicht treibt da nur einer seinen Schabernack. Ich weiß sehr wohl, was für eine Nacht wir heute haben.«

Fidelma hingegen sah dem Gesicht des Mannes an, dass ihm keineswegs spaßig zumute war.

»Sprich weiter«, ermunterte sie ihn. »Was hast du daraufhin unternommen?«

»Unternommen? Ich bin gelaufen, was ich konnte. Ich bin zu Irél, meinem Befehlshaber, gerannt, um ihm zu berichten. Er ist mit einem anderen Krieger und mir zurück zur Grabstätte gegangen. Und was soll ich sagen, Schwester? Die Stimme war wieder da. Etwas schwächer zwar, aber wie zuvor rief sie um Hilfe. Irél und der andere Krieger haben es auch gehört.«

Colmán wollte ihm immer noch nicht glauben.

»Und was erwartet Irél nun von mir? Soll ich mich an den Ort begeben und für die Seelen der Toten beten?«

»Das nicht. Irél ist nicht einer von denen, die an umherirrende Geister glauben. Aber mein Hauptmann bittet um Erlaubnis, das Grab öffnen zu dürfen. Er glaubt, jemand steckt da drinnen und ist verletzt.«

Entsetzt schaute der Abt ihn an.

»Das Grab ist doch aber seit tausendfünfhundert Jahren nicht mehr geöffnet worden. Wie soll da jemand hineingeraten sein?«

»Genau das hat ihm Garbh auch gesagt.«

»Wer ist Garbh?«, fragte Fidelma.

»Der Friedhofswärter. Irél hat ihn rufen lassen und von ihm verlangt, er solle die Gruft öffnen.«

»Und hat Garbh das getan?«, forschte der Abt gereizt.

»Nein. Er hat sich geweigert, er ist nur bereit, es auf höheres Geheiß zu tun. Deshalb hat mich mein Hauptmann hergeschickt, er braucht deine Erlaubnis.«

»Da hat er recht. Das ist eine schwerwiegende Angelegenheit«, murmelte Colmán. »Gräber zu öffnen, das ist eine Entscheidung, die kein Soldat, auch nicht der Befehlshaber der königlichen Leibgarde, fällen kann.« Er erhob sich und schaute Fidelma an. »Wenn du mich bitte entschuldigst, Schwester …«

Doch auch Fidelma stand auf.

»Ich denke, ich sollte dich begleiten«, sagte sie ruhig. »Wenn aus einer versiegelten Gruft eine Stimme ertönt, dann muss auch jemand dort hineingekommen sein … oder aber, Gott behüte, es ist tatsächlich ein Geist, der nach uns ruft.«

Als sie an der Grabstätte ankamen, fanden sie dort den ernst dreinblickenden Befehlshaber der königlichen Leibgarde zusammen mit einem weiteren Krieger vor. Noch ein dritter Mann stand bei ihnen, stämmig, muskulös, in Lederjacke und Hosen, wie Arbeiter sie trugen. Er sah nicht nur kampfeslustig aus, sondern hatte sich offensichtlich auch mit dem Hauptmann angelegt. Als er sie bemerkte, war er sichtlich erleichtert und begrüßte zuerst den Abt.

»Ich bin froh, ehrwürdiger Abt Colmán, dass du gekommen bist. Der Mann hier verlangt von mir, das Grab aufzubrechen. Das zu tun ist Frevel, und ich habe mich geweigert, es sei denn, ein Kirchenmann mit Rang und Namen gebietet es mir.«

Irél trat einen Schritt vor, grüßte in aller Form und fragte ohne Umschweife: »Hat dir Tressach berichtet, was vorgefallen ist?«

Spöttisch schaute ihn der Abt an, als nähme er die Sache nicht sehr ernst, und fragte mit sarkastischem Unterton: »Könnten wir die Stimme bitte mal hören?« Dabei hielt er die Hand ans Ohr wie zum Lauschen.

»Seit ich Garbh habe holen lassen, haben wir nichts mehr gehört«, erklärte Irél und bemühte sich, seinen Ärger hinunterzuschlucken. »Ich habe die ganze Zeit Garbh dazu bewegen wollen, das Grab zu öffnen. Jede Minute zählt, vielleicht liegt dort jemand im Sterben.«

Garbh gab einen Lacher von sich.

»Man braucht sich doch nur die Türen anzugucken. Fünfzehnhundert Jahre sind die schon verschlossen. Wenn da einer gestorben ist, dann vor über einem Jahrtausend.«

»Als Friedhofswärter hat Garbh völlig richtig gehandelt, wenn er sich deiner Aufforderung verweigerte«, bestätigte Colmán. »Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich dir eine solche Erlaubnis erteilen darf.«

Das war der Moment, in dem sich Fidelma zu Wort meldete.

»Wenn das so ist, dann fälle ich die Entscheidung. Meiner Meinung nach sollten wir die Gruft unverzüglich öffnen.«

Mit einer heftigen Bewegung drehte sich Colmán zu ihr um und fragte besorgt: »Meinst du das ernst?«

»Wenn ein erfahrener Befehlshaber der Garde und ein Krieger die Sache ernst nehmen, sollte das Grund genug sein, ihnen zu glauben, dass sie etwas gehört haben. Sehen wir doch einfach nach, ob dem so ist.«

Überrascht blickte Irél die junge Nonne an, während Garbh nur höhnisch grinste. Colmán fügte sich seufzend und bedeutete Garbh, mit der Graböffnung zu beginnen.

»Schwester Fidelma ist eine dálaigh, Anwältin bei Gericht, und das im Range eines anruth«, erklärte er den Umstehenden und rechtfertigte damit seine Entscheidung. »Sie hat Verfügungsgewalt.«

Fast unmerklich zuckte es um Garbhs Augen. Es war die einzige Regung, die er zeigte, als er vernahm, dass die junge Nonne den zweithöchsten Grad erlangt hatte, den es im Rechtswesen des Landes überhaupt gab. Irél war sichtlich erleichtert, weil endlich eine Entscheidung getroffen worden war.

Grabh brauchte einige Zeit, bis er die alten Verriegelungen aufgeschlagen hatte und die Tür aufschieben konnte.

Sie drängten nach vorn, und einem wie dem anderen entfuhren Entsetzenslaute.

Unmittelbar an der Tür lag die Leiche eines Mannes.

Dass es kein Leichnam aus früheren Zeiten war, sahen sie sofort. Der Tod war erst vor kurzem eingetreten. In seinem Rücken steckte ein Stab aus Holz, mit dem man ihn offensichtlich erschossen oder erstochen hatte. Er sah wie der Schaft eines Pfeils aus, aber ohne die Schwungfedern am Ende. Der Mann lag mit dem Gesicht nach unten mit ausgestreckten Armen, als hätte er versucht, die Tür von innen zu öffnen. Die Fingernägel waren abgebrochen, und an den Fingern, mit denen er in seiner Verzweiflung an der Tür herumgekratzt hatte, klebte Blut. Und erst sein Gesicht! Die Augen angstgeweitet, als wäre ihm eine finstere Macht erschienen.

Tressach zitterte heftig. »Gott habe Erbarmen mit uns!«

Grabh rieb sich verstört das Kinn.

»Die Grabstätte war nach allen Regeln der Kunst verriegelt«, murmelte er. »Ihr alle habt die Siegel an der Tür gesehen. Versiegelt seit fünfzehnhundert Jahren.«

»Und doch steckte der Mann hier drinnen und versuchte, ins Freie zu gelangen«, stellte Fidelma sachlich fest. »Offensichtlich kämpfte er mit dem Tod, als Irél veranlassen wollte, die Gruft zu öffnen. Was Tressach und Irél gehört haben, waren seine Todesschreie.«

Irél sah sie an, und als sie sich beherzt einen Schritt vorwagte, warnte er: »Das ist schwerlich der richtige Anblick für eine fromme Schwester.«

»Ich bin eine dálaigh«, erinnerte sie ihn. »Ich übernehme die Untersuchung des Falls.«

Fragend schaute Irél zum Abt, der aber nickte leicht. Daraufhin gab er den Weg frei und ließ Fidelma die Grabstätte betreten. Sie verlangte nach Laternen, die ihr den Innenraum erleuchten sollten.

Eine gewisse Neugierde trieb sie voran. Sie kannte all die Geschichten über Tigernmas, den unrühmlichen König, der seine Druiden hatte töten lassen und sich der Verehrung eines mächtigen Idols verschrieben hatte. Generationen von Kindern hatte man mit Schauermärchen verängstigt, die Seele des bösen Königs würde aus der Anderswelt aufsteigen und sie mitnehmen, wenn sie nicht den Eltern gehorchten. Und nun stand sie an der Tür zu seinem Grab, die unberührt geblieben war, seit man seinen Leichnam vor langen Zeiten hier bestattet hatte. Einladend war der Ort nicht. Die Luft war muffig, feucht, es roch nach verrotteter Erde und verwesten Pflanzen.

Das Erste, was ihr auffiel, war, dass es sich bei dem Leichnam um einen Mann mittleren Alters handelte, rundlich von der Statur her, mit weißem Haar. Sie untersuchte die aufgeschürften und blutigen Hände und stellte fest, dass Finger und Handflächen eher weich und geschmeidig waren und nicht von handwerklicher Arbeit zeugten. Auch ein näheres Betrachten der Kleidung ergab, dass sie, abgesehen vom Staub und Schmutz, die von der Grabstätte herrührten, und abgesehen von den Blutflecken um seine Wunde, gepflegt war, wie es sich für jemand höheren Ranges geziemte. Schmuck trug der Mann jedoch nicht, auch keinerlei Zeichen seines Amtes, und die Lederbörse, die er am Gürtel hatte, war bis auf ein paar Münzen leer.

Erst nach all diesen Überprüfungen wendete sie ihre Aufmerksamkeit dem Gesicht zu. Sie versuchte, sich die schreckverzerrte Grimasse wegzudenken. Doch schon im nächsten Moment zog sie die Stirn in Falten, bat darum, man möge eine Laterne näher halten, und überlegte krampfhaft, wo sie das Gesicht schon mal gesehen hatte. Von irgendwoher kannte sie es.

»Abt Colmán, schau doch mal her«, rief sie. »Ich habe das Gefühl, ich kenne den Mann.«

Nur zögernd kam der Abt ihrer Aufforderung nach und beugte sich neben ihr nieder.

»Gott verdamm mich«, stieß er entsetzt aus und merkte nicht, was ihm da herausgerutscht war. »Es ist Fiacc, der Oberste Brehon von Ardgal.«

Fidelma stimmte ihm mit bitterem Nicken zu. Sie hatte sich also nicht geirrt. Der Oberste Richter des Clans von Ardgal war einer der landesweit anerkannten Brehons.

»Er wollte gewiss an der Ratsversammlung teilnehmen«, brachte Colmán erschüttert hervor.

Fidelma erhob sich und klopfte den Staub von ihrem Habit. »Weit wichtiger ist, dass wir herausfinden, was er ausgerechnet hier suchte«, meinte sie. »Wie gelangt ein anerkannter Richter in eine Grabstätte, die über Generationen hinweg nie geöffnet wurde, und wird dort erstochen?«

»Hexerei!« Die Antwort kam mit tonloser Stimme von Tressach.

Irél strafte seinen Untergebenen mit einem sarkastischen Blick. »Lehrt uns nicht Patrick, dass es so etwas wie Hexerei nicht gibt?«, tadelte er und meinte dann zu Fidelma: »Die Sache muss sich doch irgendwie erklären lassen, Schwester.«

Sie schmunzelte über seine selbstverständliche Art, sie mit einzubeziehen.

»Für alles, was geschieht, gibt es eine Erklärung«, bestätigte sie und warf dabei einen Blick in das Innere der Grabstätte. »Sie zu finden ist jedoch nicht immer leicht.« Sie wandte sich an Colmán. »Würdest du bitte den Vorsitzenden des Konvents fragen gehen, ob Fiacc schon sein Quartier bezogen hatte und ob er als Redner vorgesehen war?«

Der Abt ließ sich nicht lange bitten und eilte davon.

Fidelmas Aufmerksamkeit galt erneut der Leiche. Die Todesursache war offenkundig. Der pfeilähnliche Holzstab steckte im Rücken des Toten unterhalb des Schulterblattes.

»Die dümmste Stelle, wenn man jemand erstechen will«, brummelte Irél abfällig. »Jemand in den Rücken stechen«, fügte er hinzu, als er Fidelmas fragenden Blick sah. »Von hinten kann man sich nie sicher sein, ob man sein Opfer wirklich getötet hat. Zu viele Knochen versperren den Weg zu lebenswichtigen Organen, an jedem einzelnen kann die Waffe abprallen. Man sollte immer von vorn unterhalb des Rippenbogens zustechen und dann leicht nach oben.« Man hörte den Krieger sprechen.

»Deiner Meinung nach hat die Person, die den Todesstoß ausgeführt hat, vom Töten nichts verstanden?«, fragte Fidelma mit bitterem Hohn.

Er überlegte. »Das würde ich nicht unbedingt sagen. Der Stab wurde leicht seitlich angesetzt und dann mit jäher Wucht in die Herzgegend getrieben. Der Mörder wusste, was er tat. Er wollte auf Anhieb das Herz durchbohren. Trotzdem hat sein Opfer noch eine Weile gelebt, sonst hätten wir ja nicht seine Schreie gehört und den Leichnam entdeckt.«

»Deine Beobachtungsgabe ist bemerkenswert, Irél. Aber sag mir eins, weshalb ordnest du den Mord einem Mann zu?«

»Das ist doch ganz logisch. Schau dir mal an, wie tief sich das Holz ins Fleisch gegraben hat. Dazu braucht man Kraft.«

Dem war nichts entgegenzusetzen. Fidelma betrachtete jetzt den Holzschaft etwas genauer. Er war aus Espe, etwa achtzehn Zoll lang, auch waren Schriftzeichen in Ogham eingeritzt. Sie ließ die Finger über die Lettern gleiten, das noch leicht klebrige Mark war zu spüren. Die eingeritzten Wörter hießen so viel wie »Mögen die Götter uns behüten«. Damit war klar, was für ein Stab das war, nämlich ein Maß, mit dem man Leichen und Gräber vermessen konnte, ein sogenannter . Der Messstab galt als ein Unheil bringendes Werkzeug, aus freien Stücken würde ihn niemand anfassen.

Selbst Fidelma musste sich gut zureden, ehe sie ihn anpackte und aus dem Leichnam zog. Auf den ersten Blick erkannte sie, dass es sich um keinen allgemein üblichen handelte. An dem Ende, das im Körper gesteckt hatte, war herumgeschnitzt worden, sodass sich vorn eine Spitze ergab. Sie wischte das Blut an der Kleidung des Toten ab. Jetzt war deutlich zu erkennen, dass man die Spitze im Feuer erhärtet hatte.

Zutiefst erschrocken sah Tressach ihr zu, wie sie den Holzstab in den Händen hin und her drehte. »So etwas anzufassen bringt Unglück, Schwester«, sagte er vorwurfsvoll. »Und erst recht, wenn es der ist, mit dem das Grab für Tigernmas ausgemessen wurde.«

Fidelma beachtete ihn nicht. Sie stand auf und begann, sich in der Grabstätte genauer umzusehen.

Es handelte sich um eine oval geformte Kammer, die man in einen Erdhügel eingelassen hatte; ihr Boden war mit Steinen ausgelegt, während die Wände aus Granitblöcken bestanden. Sie waren so angeordnet, dass das Dach eine bogenförmige Struktur hatte. Die gesamte Grabstätte war etwa fünfzehn Fuß lang und gute zwölf Fuß breit. Die offenstehenden Türen empfand Fidelma als Erleichterung, weil die frische und kühle Abendluft, die von draußen hereinkam, ein wenig den übelriechenden Mief überdeckte.

Nach den sterblichen Überresten von Tigernmas brauchte man nicht zu suchen. Am hinteren Ende der Grabstätte stand mittig und aufrecht ein verrostetes Eisengestell. Da drin lagen die kläglichen Reste eines Skeletts, auch ein paar Stofffetzen, eine Gürtelspange aus Metall, ein verrostetes Schwert. Früher hatte man die Stammesfürsten und großen Herrscher in aufrechter Haltung bestattet, das Gesicht dem Feind zugewendet und mit dem Schwert in der Hand. Der Kastenrahmen aus Eisen war vermutlich dafür gedacht, den Leichnam in der Grabkammer aufrecht stehend zu halten. Man glaubte, dass so der Nimbus des Toten die Lebenden beschützen würde. Der auf der Erde liegende Schädel starrte mit seinen Augenhöhlen gespenstisch auf den toten Fiacc. Sein boshaftes Grinsen hatte eine gewisse Schadenfreude. Fidelma ging mit sich ins Gericht, derart unfreundliche Bilder hätten sich ihr nicht aufdrängen dürfen.

An einer Seite der Grabstätte befanden sich die spärlichen Reste eines Streitwagens. Man hatte dem König sein über alles geliebtes Gefährt beigegeben, damit es ihm die Reise in die Anderswelt erleichterte. Daneben lagen und standen Krüge und Töpfe, die ursprünglich des Königs Lieblingsspeisen und Getränke enthalten hatten, sowie große Gefäße aus Bronze und Kupfer, Zeugen uralten Kunsthandwerks.

Fidelma tastete sich weiter vor und stieß mit dem Fuß an etwas. Sie bückte sich und hob ein kleines, wenngleich schweres Metallstück auf. Im Schein von Iréls Laterne unterzog sie es einer gewissenhaften Prüfung und stellte fest, dass sie Silber in der Hand hielt. Sorgfältig legte sie es auf die Erde zurück und entdeckte dabei etliche herumliegende Broschen, Halbedelsteine in Gold gefasst. Auch das war erklärlich, denn es war Sitte gewesen, einem großen Stammesfürsten einen Teil seiner Kostbarkeiten mit ins Grab zu geben, damit er auf seiner Reise in die Anderswelt nicht mittellos dastand. Nachdenklich überprüfte sie die verbleibenden Flächen der Grabstätte.

Das Laternenlicht zeigte ihr eine kleine Blutspur, die an dem Eisenkasten mit dem Skelett anfing und bis zu Fiaccs Leichnam an den Eingangstoren führte. Auf dem Fußboden waren Kratzspuren zu erkennen.

Irél, der neben ihr stand, sprach aus, was sie dachte.

»Man hat ihn offensichtlich erstochen, als er an dem Eisengestell stand, und dann hat er es noch geschafft, sich bis zu den Türen zu schleppen.«

»Das sehe ich auch so«, sagte sie nur.

Draußen am Eingang wartete Garbh, der Friedhofswärter, zusammen mit Tressach und dem anderen Krieger. Alle drei verfolgten gespannt ihr Tun.

»Da wir von dem Offensichtlichen sprechen, wundert es dich nicht auch, dass auf der Erde hier kaum Staub und Schmutz sind?«, fragte sie Irél. »Fast könnte man glauben, jemand hätte hier gerade gefegt.«

Verblüfft starrte er sie an. Scherzte sie oder war es ihr ernst? Doch sie war schon weitergegangen, den Blick aufmerksam auf den Boden gerichtet und auf eine der Steinplatten. Sie zeigte auf Schleifspuren.

»Komm mal mit deiner Laterne etwas näher. Wie deutest du das hier?«

Er zuckte mit den Achseln. »Könnte von den Seilen herrühren, mit denen die Steine eingelassen wurden.«

»Das ist gut möglich. Ist dir sonst noch etwas Merkwürdiges an der Grabstätte aufgefallen?«

Flüchtig schaute sich Irél noch einmal um und schüttelte dann den Kopf.

»Tigernmas, der später im Ruf eines Bösewichts stand, gilt aber auch als der König, der als Erster dafür gesorgt hat, dass Gold und Silber geschürft und geschmolzen wurde und dass in unserem Land große Kunstwerke geschaffen wurden«, sagte sie.

»Ich habe davon gehört, ja«, erwiderte Irél.

»Und es war guter Brauch bei uns, Grabbeigaben beizufügen, unter anderem auch Symbole von Reichtum und Macht.«

»Das ist nichts Neues«, meinte Irél und ärgerte sich ein wenig, dass Fidelma nicht auf dringlichere Dinge zu sprechen kam.

»Ich habe nur ein paar goldene Broschen und einen Silberbarren gesehen, und die liegen hier so, als ob man sie in aller Eile hingeworfen hätte. Wo sind die Reichtümer und Wertsachen, die man in einem Grab wie diesem erwartet? Was das angeht, ist es gähnend leer.«

Irél sah beim besten Willen keinen Zusammenhang zwischen Fidelmas Feststellung und dem Mord an Fiacc, und für die Sitten und Bräuche der Vorfahren hatte er herzlich wenig übrig.

»Ist das so wichtig?«

»Vielleicht doch.«

Fidelma ging noch einmal zu dem Leichnam und warf einen letzten prüfenden Blick auf ihn. Draußen entstand Bewegung, Colmán war zurück.

»Es steht fest, dass Fiacc morgen am Konvent teilnehmen sollte«, berichtete er. »Nach Auskunft des Vorsitzenden sind Fiacc und seine Frau schon vor ein paar Tagen in Tara eingetroffen. Aber da gab es noch ein Problem, der Vorsitzende sagt nämlich, Fiacc war zum Obersten Richter zu einer Anhörung geladen, um sich wegen Anschuldigungen zu erklären. Sollten sich die Anschuldigungen als berechtigt erweisen, würde er nicht länger das Amt eines Richters ausüben dürfen.«

»Eine außergewöhnliche Anhörung?« Fidelma war bislang nichts von Ungereimtheiten in diesem Zusammenhang zu Ohren gekommen. Sie riss sich von der Grabstätte los und widmete sich Colmán.

»Weiß der Mann Genaueres, was gegen Fiacc vorliegt?«

»Nur, dass es etwas mit Amtsvergehen zu tun hat. Die Einzelheiten sind allein dem Obersten Richter bekannt.«

»Hat man Étromma vom Tod ihres Mannes in Kenntnis gesetzt?«

»Ja, das habe ich getan.«

»Dann gehe ich am besten gleich zu ihr.«

»Muss das sein? Sie wird mit sich zu tun haben. Wäre es morgen früh nicht besser?«

»Wenn ich das Rätsel lösen soll, muss ich sie jetzt sehen.«

»Wie du meinst …« Er machte eine hilflose Geste mit den Händen und fügte sich. Dann wies er auf die Grabstätte. »Wäre es nicht angebracht …«

Er kam nicht dazu, den Satz zu beenden, denn Garbh fiel ihm ins Wort. »Sollten wir nicht den Leichnam des Mannes da rausschaffen, damit ich die Grabstätte wieder verschließen kann?«

»Im Augenblick noch nicht«, befand Fidelma. »Stell einen Wachtposten davor auf, Irél. Alles bleibt so, wie es ist, bis ich etwas anderes anordne. Ich denke, ich habe das Rätsel noch vor Mitternacht gelöst. Dann kann die Gruft verschlossen werden.«

Sie wandte sich zum Gehen und schritt langsam und in Gedanken versunken durch die Gräberreihen der Hochkönige. Sie blieb einen Moment stehen, um auf Abt Colmán zu warten, der Irél noch letzte Anweisungen gab. Ein Frösteln überkam sie, als sie merkte, dass sie das gähnende Loch des frisch ausgehobenen Grabs vor sich hatte. Aber da kam auch schon Colmán angekeucht, und gemeinsam strebten sie den Lichtern der Palastbauten zu.

Für die Frau eines Richters in den Fünfzigern war Étromma mit ihren höchstens achtzehn Jahren unwahrscheinlich jung. Kerzengerade und gefasst saß sie da und schien nicht im mindesten bekümmert oder verzweifelt. Mit kalten blauen Augen sah sie Fidelma feindselig an. Die Lippen waren zu einem dünnen Strich aufeinandergepresst. In einem Mundwinkel zuckte es etwas, das war aber auch alles an Regung in ihrem Gesicht.

»Ich war im Begriff, mich von Fiacc scheiden zu lassen. Alles deutete darauf hin, dass man ihm untersagen würde, weiterhin als Richter tätig zu sein, und er hatte kein Geld«, erklärte sie ungerührt auf eine Frage, die Fidelma ihr gestellt hatte.

»Was das eine mit dem anderen zu tun hat, will mir nicht recht in den Kopf«, merkte Letztere an. Fidelma saß ihr gegenüber, während Colmán mit zwiespältigen Gefühlen in der Nähe des Feuers stehen geblieben war.

»Ich habe nicht die Absicht, mein Leben in Armut zu verbringen. Wir hatten uns darauf verständigt. Fiacc war ein alter Mann. Ich habe ihn nur geheiratet, damit er mich versorgt. Er wusste das.«

»Und Liebe spielte gar keine Rolle?«, fragte Fidelma vorsichtig. »Hast du nichts für ihn empfunden?«

Zum ersten Mal zeigte sie so etwas wie ein Lächeln, verzog zumindest den Mund. »Was heißt Liebe? Was bringt das? Bürgt Liebe für Wohlstand?«

Fidelma seufzte kaum merklich.

»Warum drohte Fiacc der Entzug seiner Berechtigung, den Beruf als Richter auszuüben?«

»Im letzten Jahr hat er eine Reihe falscher Urteile gefällt. Wie du weißt, war er Richter des Stammes der Ardgal. Nach den vielen Fehlurteilen vertrauten ihm die Leute nicht mehr. Die fortlaufende Zahlung der Entschädigungssummen hatte ihn mittellos gemacht.«

Für jeden Fall, den ein Richter vor Gericht verhandelte, musste er fünf séds – das entsprach fünf Unzen Silber – als Sicherheit hinterlegen für ein mögliches Fehlurteil. Fühlte sich ein Angeklagter falsch behandelt, konnte er sich an höhere Richter wenden, und die mussten – mindestens zu dritt – die Sachlage prüfen. Kamen sie zu der Auffassung, dass ein Fehlurteil vorlag, wurde die Sicherheitssumme einbehalten, und der betroffene Richter hatte eine weitere Entschädigung von einem cumal zu zahlen, was dem Wert von drei séds in Silber entsprach. Selbstverständlich waren diese Regelungen Fidelma bekannt.

»Wie viele Fehlurteile hatte denn dein Mann im Laufe des Jahres getroffen, dass er mittellos dastand?«

»Meines Wissens waren es elf.«

Das übertraf Fidelmas Erwartungen. Achtundachtzig Silberséds, mit denen man an die dreißig Milchkühe erstehen konnte, waren eine erschreckende Summe, um sie innerhalb eines Jahres abzuzahlen. Kein Wunder, wenn davon die Rede war, Fiacc seines Amtes zu entheben.

»Der Oberste Richter hatte ihn zur Vernehmung geladen. Er sollte Rede und Antwort stehen, weil er sich wegen der Abzahlung verschuldet hatte, und sollte erklären, wie er seine Arbeit als Richter sah.«

»Heißt das, er hatte sich Geld geliehen, um zahlungsfähig zu sein?«

»Eben deshalb wollte ich mich von ihm scheiden lassen.«

Einen Richter, der so in Not geraten war, dass er zu Geldverleihern ging, würde man mit Fug und Recht seines Amtes verweisen müssen, es sei denn, er konnte triftige Gründe für sein Verhalten vorbringen. Schwerlich nachzuvollziehen, wie sich Fiacc da hatte herausretten wollen. In Fidelma arbeitete es.

»Ich kann mir vorstellen, wie sehr deinen Mann die Lage, in die er sich gebracht hatte, bedrückte.«

»Bedrückte? Dass ich nicht lache! Bedrückt war er weiß Gott nicht. Zumindest zuletzt nicht.«

»Nicht bedrückt?« Fidelma ließ nicht locker.

»Er wollte mich von der Scheidung abhalten, behauptete, es wäre nur ein zeitweiliges Problem, bettelarm wäre er nicht. Er gaukelte mir vor, er hätte Geld in Aussicht, und dann wäre er reich genug, um auch ohne Arbeit leben zu können, falls man ihn nicht mehr als Richter haben wolle.«

»Hat er gesagt, woher das Geld kommen würde? Wie dachte er denn, die Schulden abzuzahlen, woher das Geld zu nehmen, um den Rest seines Lebens gut und bequem verbringen zu können?«

»Er hat nichts weiter dazu gesagt. Es war mir auch egal. Entweder er hat gelogen oder er war einfach närrisch. Wie er mit der Geschichte klarkam, war seine Sache. Er wusste, ich würde ihn verlassen, wenn er mich belog, er sein Richteramt hergeben musste und ohne jeden Pfennig dastand. So einfach war das. Ich war nicht gewillt, unter solchen Bedingungen bei ihm zu bleiben.«

Fidelma war darauf bedacht, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr ihr die kalte, berechnende Art der jungen Frau missfiel.

»Es machte dich kein bisschen neugierig, wie dein Mann plötzlich zu Geld kommen wollte?«

»Für mich stand fest, dass das sowieso nicht klappen würde. Er war ein Lügner.«

»Ab wann zeigte er sich so zuversichtlich, bald genug Geld zu haben, um seine Schulden zu bezahlen?«

Die junge Frau überlegte.

»Das mit der Prahlerei, er würde die Sache in den Griff kriegen, ging vor ein, zwei Tagen los. Doch, erst gestern Morgen war’s.«

»Du meinst, bis gestern Morgen war er sich da nicht so sicher?«

»Ich würde sagen, ja.«

»Wann seid ihr beide hier in Tara angekommen?«

»Vor vier Tagen.«

»Und die ganze Zeit war Fiacc mit sich und seinen Gedanken beschäftigt? Erst gestern Morgen schlug plötzlich seine Stimmung um?«

»Jedenfalls kam es mir so vor.«

»Hat er sich hier mit anderen getroffen?«

Étromma zuckte mit den Achseln. »Er war bei vielen bekannt. Aber mit wem er Umgang hatte, kann ich nicht sagen.«

»Mir geht es einfach darum, ob es irgendeinen Menschen hier in Tara gab, mit dem er die Zeit verbrachte. Jemand, den man als einen engen Freund oder Vertrauten bezeichnen könnte.«

»Nicht, dass ich wüsste. Er war ein Einzelgänger. Ich glaube nicht, dass er sich mit irgendjemand hier getroffen hat. Er ist mehr für sich geblieben. Ich weiß nur, dass es ihn immer wieder zu den Grabmalen der Hochkönige zog und er dort spazieren ging. Ich dachte schon, er würde altersschwach und rührselig. Aber, wie gesagt, als er gestern zurückkam, grinste er wie ein Kater, der einen Napf Sahne geschleckt hat, und beteuerte, alles würde gut werden. Mir war klar, dass er log, umstimmen konnte er mich nicht.«

Unversehens stand Fidelma auf.

»Mein Mitgefühl brauche ich dir nicht auszusprechen, Étromma«, erklärte sie mit Nachdruck. »Du erwartest es ohnehin nicht. Es geht dir vorrangig ums Geld. Als Fiacc starb, war er noch dein Ehemann. Er wurde ermordet. Ich glaube, ich weiß, wer der Mörder ist, und sollte er der Tat überführt werden, dann steht dir wahrscheinlich eine Entschädigung in Höhe von drei séds in Silber zu. Ein Vermögen ist das nicht, aber es dürfte reichen, um dich nicht in Armut fallen zu lassen, und zweifelsohne wirst du bald jemand finden, der dich ernährt und unterhält.«

Bekümmert trottete Abt Colmán hinter Fidelma durch die Gänge des Palastes zu seinem Gemach. »Du bist sehr hart mit ihr umgegangen, Schwester. Sie ist eben erst Witwe geworden und achtzehn Jahre jung.«

Sie nahm seine Bemerkung ungerührt hin.

»Ich habe mich absichtlich so verhalten. Sie hat nichts für Fiacc empfunden, hat ihn nur als Geldquelle benutzt. Ohne Gewissensbisse folgt sie dem Grundsatz lucri bonus est odor ex re qualibet

»Ist das nicht Juvenal, aus seinen Satiren? ›Süß ist der Geruch des Geldes, egal, woher es kommt.‹«

Heiter nickte sie ihm zu.

»Bestell Irél, Tressach und Garbh auf dein Zimmer. Ich bin so weit, ich glaube, ich hab des Rätsels Lösung.«

Nur wenig später drängten die drei Männer gespannt herein. Fidelma hatte vor dem Feuer auf einem Stuhl Platz genommen, während Colmán neben ihr stand, die Hände auf dem Rücken.

Aufmerksam sah sie einen nach dem anderen an, ehe sie sich Tressach, dem Krieger, zuwandte.

»Wie lange stehst du schon hier in Tara im Dienst, Tressach?«

»Drei Jahre, Schwester.«

»Und seit wann ist auch die Überwachung der Grabmäler der Hochkönige Teil deiner Pflichten?«

»Seit einem Jahr.«

»Und du, Irél? Du bist der Befehlshaber der Leibgarde in Tara. Seit wann tust du hier Dienst?«

»Ich habe vor zehn Jahren meinen Dienst bei den Hochkönigen angetreten. Damals war noch Conall Cáel der Hochkönig. Befehlshaber bin ich seit einem Jahr.«

Ernst ruhte ihr Blick auf beiden, dann schüttelte sie verständnislos den Kopf.

»Seit wann ist Sechnusach Hochkönig?«

Irél krauste die Stirn, er begriff den Sinn ihrer Frage nicht. Machte sie sich über ihn lustig? Sie verzog doch aber keine Miene!

»Seit wann? Das weißt du nur allzu gut. Jeder weiß das. Vor drei Jahren raffte die Gelbe Pest innerhalb einer Woche die beiden Hochkönige Diarmuid und Blathmac dahin. Nach ihnen wurde Sechnasach Hochkönig.«

»Vor drei Jahren war das?«

Auch Colmán wunderte sich, wie sie das vergessen haben konnte. »Du musst das doch wissen, Fidelma. Du warst doch damals selbst in Tara.«

Sie beachtete seinen Einwurf nicht und stellte Irél unbeirrt weitere Fragen.

»Wie steht es um den Hochkönig? Ist er bei guter Gesundheit?«

»Meines Wissens, ja, Gott sei es gedankt«, erwiderte Irél, nun schon leicht gereizt.

»Und seine Familie?«, fuhr Fidelma erbarmungslos fort. »Ist auch sie wohlauf?«

»O ja, der Hochkönig ist glücklich und zufrieden.«

»Bei deiner Ankunft hier habe ich dir doch davon berichtet«, warf Colmán verdrossen ein und fürchtete schon, Fidelma leide an Gedächtnisschwund.

»Was für einen Grund gibt es dann, hinter der Grabstätte von Tigernmas ein neues Grab auszuheben?«

Sie hatte die Frage so leise gestellt, dass ein, zwei Augenblicke vergingen, ehe alle den Sinn ihrer Worte begriffen hatten. Fidelmas wache, grüne Augen ruhten auf dem Friedhofswärter.

Garbh machte den Mund auf und stammelte etwas, verstummte aber gleich wieder und senkte den Kopf.

»Haltet ihn«, wies sie die anderen ruhig an. »Er ist wegen vorsätzlichen Mordes und Grabschändung festzunehmen.«

Vollends überrascht folgten Irél und Tressach ihrer Anordnung und nahmen den Friedhofswärter in ihre Mitte.

Fidelma erhob sich und sah Garbh voller Trauer an. »In den vergangenen drei Jahren ist weder ein Hochkönig noch ein Mitglied seiner Sippe verstorben. Sechnusach ist jung und erfreut sich bester Gesundheit. Warum also musste bei den Grabmälern der Hochkönige ein neues Grab ausgehoben werden? Könntest du uns das erklären, Garbh, oder soll ich es für dich tun?«

Garbh schwieg.

»Du hast ein Grab ausgehoben, um einen Durchgang zu Tigernmas’ Grabstätte zu schaffen, nicht wahr?«

»Was sollte einen veranlassen, in eine alte Grabstätte einzudringen?«, fragte Colmán, den es verdross, das ihn der Anblick des frisch ausgehobenen Grabes nicht selbst stutzig gemacht hatte.

»Das Vorhaben, sie auszurauben«, erwiderte Fidelma. »Wo sind all das Gold, Silber und die Juwelen geblieben, die man mit Sicherheit Tigernmas beigegeben hat? Ein einziger Silberbarren und ein paar verstreute Edelsteine lagen in der Grabkammer auf der Erde herum. Tigernmas’ Leben war von vielen Legenden umwoben. Aber man weiß auch, dass er über einen reichen Königshof geherrscht hat. Gewiss haben ihm unsere Vorfahren, wie es Sitte und Brauch war, reiche Grabgaben auf die Reise in die Anderswelt mitgegeben.«

Beschämt blickte Irél drein. Fidelma hatte ihn bei der gemeinsamen Besichtigung darauf hingewiesen, aber er hatte sich nichts weiter dabei gedacht.

»Trotzdem bleibt vieles ungeklärt«, meinte er. »Wie ist, zum Beispiel, Fiacc, dieser Richter, da hineingelangt? War er dahintergekommen, was Garbh vorhatte, und wollte ihn überführen?«

Fidelma schüttelte den Kopf. »Das Grab auszurauben war in erster Linie Fiaccs Idee. Er war mit einer raffgierigen jungen Frau verheiratet. Obendrein hatte er in der Rechtsprechung etliche Fehler gemacht und war durch die Zahlung von Entschädigungsgeldern mittellos geworden. Er hatte sich hoch verschuldet und brauchte dringend Geld. Und zwar brauchte er es noch vor seiner Vernehmung morgen beim Obersten Richter. Geld, um seine Schulden zu begleichen und seine junge Frau bei Laune zu halten. So war er auf den Gedanken gekommen, Tigernmas’ Grab auszurauben, denn den Chronisten zufolge würden sich dort wahre Reichtümer befinden. Aber wie sollte er das allein anstellen?«

»Hast du eine Erklärung?«, wollte Colmán wissen.

»Nach seiner Ankunft in Tara hat er sich ein oder zwei Tage ausgiebig auf dem Friedhof umgetan. Dabei reifte in ihm die Erkenntnis, dass es nur eine Möglichkeit gab, sich Zugang zu der Grabkammer zu verschaffen, ohne Aufsehen zu erregen. Für sein Vorhaben musste er Garbh mit einbeziehen, er brauchte seine Hilfe. Als der die Sache durchschaute und merkte, wie einfach sie zu bewerkstelligen war, wuchs in ihm die Gier. Dem Reiz des Geldes kann selten jemand widerstehen.

Garbh ist ständig auf dem Friedhof, wo er mit der Instandhaltung der Gräber beschäftigt ist. Auch hatte er die Aufgabe, Gräber auszuheben, wenn ein Hochkönig oder ein Mitglied seiner Familie gestorben ist. Es fand also niemand etwas Besonderes dabei, als er sich daran machte, in der Nähe der Grabstätte von Tigernmas herumzuschaufeln. Keiner kam auf den Gedanken, ihn danach zu fragen, wieso er ein Grab aushob. Jedermann nahm es als selbstverständlich hin, schließlich gehörte es zu seinem Tagewerk.

Heute Abend nun verschafften sich Garbh und Fiacc Zugang zu Tigernmas’ Grabstätte. Wenn ihr euch das neu ausgehobene Grab näher anschaut, das Garbh morgen wieder zuzuschaufeln gedachte, werdet ihr Spuren eines kurzen Tunnelgangs finden. Er endet unter der Grabkammer, unter einer der Granitplatten. Das ist die mit den Schleifspuren, Irél, die du sachkundig auf Seile bei ihrem Wiedereinsetzen zurückgeführt hast. Der Plan von Garbh und Fiacc sah vor, die Grabbeilagen zu entwenden und den Zugang wieder zu verschließen, sodass niemand merken würde, dass jemand die heilige Stätte betreten hatte. In der Eile, möglichst alles mitgehen zu lassen, hatten sie einige wenige Dinge leider übersehen. Ein Silberbarren und ein paar Edelsteine blieben zurück, mehr aber auch nicht.«

»Und wie ist Fiacc zu Tode gekommen?«, forschte Irél, der versuchte, den Verlauf der Geschichte zu erfassen.

»Vielleicht hat ihn der Fluch des Tigernmas niedergestreckt«, mutmaßte Tressach angsterfüllt.

»Fiacc starb, weil Garbh für sich entschieden hatte, den Schatz, zu dem er so unverhofft kam, nicht mit einem anderen zu teilen. Als er begriffen hatte, wie vergleichsweise mühelos man zu Reichtum gelangen konnte, wollte er alles für sich. Er musste nur den richtigen Moment abpassen. Er und Fiacc nahmen die Beute an sich und verwischten die Spuren. Als Richter hatte Fiacc alles peinlich genau durchdacht. Unvorhergesehene Ereignisse könnten ja mal dazu führen, dass man das Grab öffnete, also war es in seinen Augen erforderlich, den Staub, den sie aufgewirbelt hatten, wegzufegen, um keinerlei Spuren zu hinterlassen.«

Irél stöhnte auf. Auch darauf hatte ihn Fidelma hingewiesen, und er hatte ihre Bemerkung als unwichtig abgetan. »Weshalb Fiacc sterben musste, wissen wir jetzt. Aber wie ist er umgebracht worden?«

»Nachdem die Beute herausgeschafft und die Spuren getilgt worden waren, nahm Garbh den , den Messstock für Gräber, und stach ihn mit Gewalt Fiacc in den Rücken. Im Glauben, ihn getötet zu haben, verließ er die Grabkammer, verschloss den Zugang und begab sich zurück in das von ihm geschaufelte Grab, füllte vielleicht auch den Tunnel gleich auf. Das werden wir später noch sehen. Ich könnte mir vorstellen, dass er das Raubgut in seiner Hütte oder irgendwo in deren Nähe versteckt hat.«

Unruhig trat Garbh von einem Fuß auf den anderen, und Fidelma deutete das als Zeichen dafür, dass sie mit ihrer Vermutung recht hatte.

»Ja, Irél, du dürftest den Grabschatz in oder bei Garbhs Hütte finden.«

»Fiacc war doch aber nicht auf der Stelle tot«, gab Tressach zu bedenken. »Garbh hat ihn verwundet liegenlassen und ihn eingesperrt.«

»Damit hat Garbh nicht gerechnet. Er glaubte, Fiacc getötet zu haben. Fiacc war schwer verletzt und verlor das Bewusstsein. Er lag im Sterben, kam aber noch einmal zu sich und begriff, dass er in der Gruft eingeschlossen war. Mit Schrecken ging ihm auf, dass er bei lebendigem Leibe begraben war. Angsterfüllt schrie er los, und das hast du im Vorbeigehen gehört, Tressach. Dann hat er sich bis zu den Türen geschleppt, immer noch schreiend. Dass Tressach ihn gehört hatte, konnte er nicht wissen, verzweifelt kratzte er mit den bloßen Händen an den Türen herum, bis der Tod eintrat.«

»Ich habe ihn nicht töten wollen. Es geschah im Streit«, sagte Garbh langsam und gab damit seine Schuld zu. Bislang hatte er geschwiegen. »Fiacc wollte den größeren Teil des Schatzes für sich haben und mir nur etwas abgeben. Als ich auf die mir zustehende Hälfte bestand, fiel er über mich her. Er griff sich das alte Grabmaß und schlug zu. Ich setzte mich zur Wehr, und in dem Kampf hat es ihn erwischt. Ein Mord war das nicht. Dafür kann man mich nicht bestrafen.«

»O nein, Garbh«, widersprach Fidelma. »Du hast von Anfang an vorgehabt, Fiacc zu töten. Als Fiacc dir sein Vorhaben erklärt hatte, stand für dich fest, du würdest den gesamten Grabschatz an dich bringen. Solange du ihn brauchtest, um in die Gruft vorzudringen und die Grabbeigaben herauszuholen, hast du ihn als Helfershelfer benutzt. Du hattest dir fest vorgenommen, du würdest ihn töten und im Grabmal zurücklassen, in der Hoffnung, niemand würde es jemals wieder öffnen. Zwei Fehler sind dir zum Verhängnis geworden: du hast dich nicht vergewissert, ob er wirklich tot ist, und dazu kommt deine Eigenliebe.«

»Dass es mein Vorsatz war, Fiacc zu töten, kannst du nicht beweisen!«, schrie Garbh. »Hätte ich das wirklich gewollt, würde ich eine Waffe bei mir gehabt haben. Fiacc ist aber durch ein altes Grabmaß zu Tode gekommen, das dort herumlag. Selbst Irél wird dir das bestätigen.«

Zögernd nickte Irél. »Das könnte stimmen, Schwester. Es war ein , der ihm im Rücken steckte. Du hast es selbst gesehen. Und die eingeritzten Zeichen waren in Ogham. Ich kann die alte Schrift lesen. ›Mögen die Götter uns behüten‹ stand da. Dass es die Götter hieß und nicht Gott, deutet auf das alte heidnische Grab. Der Stab muss folglich dort gelegen haben.«

»Du irrst. Das Grabmaß hat Garbh selbst angefertigt.« Sie zeigte auf den Tisch. Sie hatte den , den sie aus der Gruft mitgenommen hatte, dort hingelegt. »Mit diesem wurde nicht das Grab des Tigernmas vermessen. Schau genau hin. Das Holz ist frisch. Die eingekerbten Schriftzeichen sind neu. Sieh dir die Schnittstellen an, und du wirst noch Spuren von dem Saft erkennen, der aus dem Mark austritt und gerade erst trocknet. Das Schnitzwerk ist noch keine vierundzwanzig Stunden alt.«

Colmán hatte nach dem Stock gelangt, nicht ohne das Knie zu beugen, um keinen Schaden zu nehmen, wenn er ein Unglück bringendes Werkzeug in Händen hielt, und betrachtete es näher.

»Das Espenholz ist noch frisch und voller Saft«, bestätigte er.

»Garbh hat auch die Spitze vorn angebrannt, um sie härter zu machen. So konnte er wie mit einem Dolch zustoßen. Erst dann verführte ihn seine Eigenliebe, noch etwas in Ogham hineinzuschnitzen. Ihm war aufgefallen, wie genau Fiacc alle Einzelheiten geplant hatte, und wollte dem noch eins draufsetzen. Sollte es einmal dazu kommen, dass man das Grab öffnete, würde man Fiacc mit einem alten heidnischen im Herzen finden. Garbh wollte besonders klug sein und hat sich damit selber hineingeritten. Dass der frisch geschnitzt ist, war leicht zu erkennen, und beweist, dass es sich um einen vorsätzlichen Mord handelt. Garbh hat die Mordwaffe angefertigt, noch ehe er die Grabstätte betrat. Es gab keinen unvorhergesehenen Streit.«

Garbh schwieg. Das Blut war ihm aus dem Gesicht gewichen.

»Du kannst ihn jetzt abführen«, sagte Fidelma abschließend zu Irél. »Auch kannst du veranlassen, dass das Grab wieder geschlossen wird, aber erst, nachdem die Grabbeigaben zurückgelegt worden sind.« Und mit einem schelmischen Schmunzeln fügte sie hinzu: »Es würde uns schlecht bekommen, ausgerechnet in der heutigen Nacht den Geist des Tigernmas herauszufordern, weil wir uns an seinem Gold und Silber vergehen, oder?«

Abt Colmán schenkte noch etwas angewärmten Wein ein und reichte Fidelma den Becher. »Fürwahr, eine traurige Geschichte.« Er seufzte. »Ein habgieriger Totengräber und ein verderbter Richter. Wie lässt sich solche Schlechtigkeit der Menschen erklären?«

»Du vergisst in deiner Aufzählung Étromma«, meinte Fidelma. »Sie war der Auslöser allen Übels. Ihretwegen brauchte Fiacc so dringend Geld, und ihretwegen kam die ganze Geschichte ins Rollen. Auf ihre fehlende Liebe, ihren Eigennutz und vor allen Dingen auf ihre Raffgier ist diese menschliche Tragödie zurückzuführen. Wie heißt es doch in der Heiligen Schrift im ersten Brief an Timotheus – radix omnium malorum est cupiditas

»Die Wurzel aller Übel ist die Gier«, übersetzte Abt Colmán und neigte zustimmend das Haupt.

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