VOR DEM ZELT DES HOLOFERNES

Schwester Fidelma hielt ihre Stute an und schaute hinunter in das breite Tal. Der vor ihr liegende Weg schmiegte sich um die Flanke des Bergs, und ein blassblauer Fluss schlängelte sich durch das Grün der Clanländereien der Uí Dróna. In der Ferne erkannte sie die grauen Granitmauern der Burg, des Stammessitzes, der ihr Ziel war. Über ihr verschwitztes Gesicht glitt ein Lächeln freudiger Erwartung. Seit ihrem Aufbruch vom Kloster Durrow waren vier Tage vergangen. Sie war ermüdet und fühlte sich in den vom Reisestaub bedeckten Sachen nicht wohl. Doch es waren nicht nur ein Bad, saubere Kleidung und das Ausruhen nach dem langen Ritt, worauf sie sich freute. Vor allem beglückte sie der Gedanke, Liadin wiederzusehen.

Fidelma war als einzige Tochter zwischen älteren Brüdern großgeworden, und Liadin, ihre Freundin aus Kindheitstagen, war ihr gewissermaßen eine Schwester gewesen. Beide verband eine innige Beziehung. Gemeinsam waren sie bis zum Alter der Wahl aufgewachsen, dem Jahr, in dem sie das Gesetz zu mündigen Frauen erklärte. Damals war Fidelma die anamchara, die Seelenfreundin Liadins geworden, ihre geistliche Vertraute und Ratgeberin, wie es in Irland entsprechend dem Neuen Glauben üblich war.

In ihrer Tasche steckte eine dringende Nachricht von Liadin, die sie vor einer Woche in Durrow erhalten hatte. »Komm sofort! Ich bin in großer Not. Liadin«, hieß es da. Jetzt, kurz vor dem Ende ihrer Reise, sah Fidelma erregt der Wiederbegegnung entgegen, fürchtete sich aber zugleich davor.

Seit Jahren hatten sie einander nicht mehr gesehen. Ihre Wege hatten sich getrennt: Fidelma war nach Tara gegangen, um ihre Studien fortzusetzen, während Liadin geheiratet hatte.

Fidelma erinnerte sich, dass ihre Freundin der Heirat mit Zittern und Zagen entgegengesehen hatte. Liadins Vater, ein Kleinkönig von Cashel, drängte sie aus politischen Erwägungen in eine arrangierte Ehe. Liadin wäre viel lieber Lehrerin geworden. Sie verfügte über gute Kenntnisse des Griechischen und Lateinischen und auch in anderen Fächern. Und nun sollte sie einen fremdländischen Stammesfürsten heiraten. Es war ein Gallier namens Scoriath vom Stamme der Fir Morc, den seine Stammesgenossen ins Exil nach Irland getrieben hatten. Dort hatten ihm die Uí Dróna im Königreich Lagin Zuflucht gewährt, und er wurde sogar zum Hauptmann der Leibgarde ernannt. Der Stammesfürst der Uí Dróna hatte Liadins Vater davon überzeugt, dass es politische und finanzielle Vorteile brächte, seine Tochter mit einem Krieger aus Gallien zu verheiraten.

Damals hatte sich Fidelma sehr gesorgt um ihre unglückliche Seelenfreundin. Während die in eine Zwangsheirat einwilligen musste, ging Fidelma ihrem Studium der Rechtsvorschriften nach und wurde schließlich sogar als dálaigh, Anwältin bei den Gerichten in Irland, zugelassen.

Nach der Heirat hatte Fidelma ihre Freundin nur noch einmal getroffen, und da schwebte sie im siebenten Himmel, denn entgegen aller Erwartungen hatte sie ihren Mann lieben gelernt. Fidelma hatte nicht schlecht gestaunt über die Verwandlung ihrer Jugendgefährtin. Den überschwänglichen Schilderungen zufolge musste Fidelma annehmen, Liadin und Scoriath wären buchstäblich ineinander verschlungen wie ein Weinstock, der sich um einen Baum rankt. Fidelma hatte sichüber die Maßen gefreut und erst recht über die bald danach erfolgte Geburt ihres Sohnes. Dann hatten sie einander wieder aus den Augen verloren.

Das Kind müsste jetzt drei Jahre alt sein, überlegte Fidelma, als sie ihr Ross zur Stammesfestung der Uí Dróna lenkte. Was für ein Unheil mochte Liadin zugestoßen sein, dass sie ihr nun so eine Nachricht sandte?

Fidelma war längst aufgefallen, dass ein Mann sie beobachtete. Sie hatte den Vorsprung des Berges umrundet und ritt achtsam talwärts auf die düstere Festung zu. Er stand lässig mit untergeschlagenen Armen am Tor des rath und änderte auch bei ihrem Näherkommen seine Haltung nicht. Sie brachte ihr Pferd zum Stehen.

»Was suchst du hier?«, schnauzte er grob.

Fidelma schaute gereizt auf ihn herab. »Ist das die Stammesfestung der Uí Dróna?«

Der Mann bestätigte es mit einem Kopfnicken.

»Dann begehre ich Einlass.«

»Was führt dich her?«

»Das ist meine Sache.« Ihre Stimme war ruhig, aber entschieden.

»Ich bin Conn, tánaiste der Uí Dróna. Es ist meines Amtes, zu erfahren, weshalb du Einlass begehrst«, erwiderte er keineswegs zurückhaltend.

Die Reiterin blieb unbeeindruckt. »Ich bin gekommen, um Liadin zu besuchen. Ich bin Fidelma von Kildare.«

Sie nahm wahr, wie sich die Miene des Mannes für einen Augenblick änderte. Dabei hatte sie das seltsame Gefühl, er schien erleichtert, doch die Regung schwand, ehe sie sich dessen noch sicher sein konnte. Der tánaiste streckte sich.

»Ich bedauere, Schwester. Liadin wird eben jetzt, während wir miteinander sprechen, von Brehon Rathend vernommen.«

Überraschung malte sich auf Fidelmas Zügen. »Sie wird vernommen? Willst du damit sagen, sie muss sich in einem Gerichtsverfahren vor dem Brehon verantworten?«

Der tánaiste zögerte. »In gewisser Weise schon. Sie beteuert ihre Unschuld.«

»Ihre Unschuld? Welcher Straftat bezichtigt man sie?«

»Liadin ist angeklagt, ihren Mann Scoriath vom Stamme der Fir Morc und ihren Sohn ermordet zu haben.«

Brehon Rathend war schlank und dürr, mit bleicher, wie blutleer wirkender Haut. Der Richter hatte tiefliegende Augen mit Tränensäcken; das gab ihm das Aussehen eines Menschen, der zu wenig Schlaf fand. Die scharfen Gesichtszüge ließen darauf schließen, dass er kaum Sinn für Humor hatte. Insgesamt machte er einen kränklichen und missmutigen Eindruck.

»Woher nimmst du dir die Freiheit, diesen Prozess zu unterbrechen, Schwester?«, fragte er mürrisch, kaum dass er den Raum betrat, in den man Fidelma geführt hatte. Sie hätte den Rang einer dálaigh, erklärte sie ihm und verlangte zu wissen: »Wird Liadin von den Uí Dróna von einem Anwalt vertreten?«

»Nein«, entgegnete er. »Sie lehnt eine Verteidigung ab.«

»Dann werde ich sie in diesem Verfahren verteidigen. Ich fordere eine Vertagung der Anhörung um vierundzwanzig Stunden, um mich mit meiner Mandantin zu beraten …«

Rathend war unentschlossen. »Das dürfte schwierig sein. Woher willst du überhaupt wissen, ob sie dich als Anwältin möchte?«

Herausfordernd sah Fidelma den Brehon an. Rathend war bemüht, ihrem Blick standzuhalten, senkte dann aber den Kopf.

»Selbst wenn sie dich als Anwältin annimmt – ich gebe zu bedenken, dass man zur Eröffnung des Verfahrens und der Verlesung der Anklage bereits versammelt ist«, erklärte er lahm.

»Der Zweck eines Gerichtsverfahrens ist, Gerechtigkeit walten zu lassen, nicht eine Zuschauerschar zu befriedigen. Das Gesetz gestattet den Aufschub einer Anhörung.«

Die fahlen Wangen des Richters verfärbten sich leicht. Er setzte zu einer Erwiderung an, als die Tür aufgerissen wurde und eine junge Frau hereinkam. Trotz ihrer Adlernase und blässlichen Hautfarbe war sie eine gutaussehende Erscheinung. Ihre dunklen Augen blitzten lebhaft, und das schwarze Haar gab ihr etwas Fremdländisches. Offensichtlich war sie eine Frau von Rang und Namen.

»Was hat diese Unterbrechung des Verfahrens zu bedeuten, Rathend?« Sie erspähte Fidelma und schöpfte Verdacht. »Wer ist das da?«

»Schwester Fidelma ist Anwältin und gekommen, um Liadin in dem Prozess zu verteidigen«, erklärte Rathend unterwürfig.

Unmut trieb der Frau die Röte ins Gesicht. »Da kommst du leider zu spät, Schwester.«

Gelassen ließ Fidelma ihren Blick über die hochmütigen Züge der Streitsüchtigen gleiten.

»Und du bist …«, fragte sie leise und erinnerte Rathend daran, dass er die Etikette verletzt hatte, woraufhin die Frau erst recht rot wurde.

»Das ist Irnan, die Stammesfürstin der Uí Dróna«, beeilte sich der Richter zu sagen. »Du befindest dich in ihrem rath

Um Fidelmas Mundwinkel spielte ein Lächeln, sie neigte das Haupt, mehr als Würdigung des Rangs ihres Gegenübers denn aus Ehrerbietung.

»Ob ich nun zu spät oder zu früh gekommen bin, Irnan, Stammesfürstin der Uí Dróna, spielt keine Rolle. Entscheidend ist, dass ich jetzt hier bin und dazu beitragen werde, dass der Gerechtigkeit Genüge getan wird.« Sie wandte sich wieder Rathend zu. »Um mich auf Liadins Verteidigung einzustellen, muss ich die Möglichkeit haben, sie anzuhören. Deshalb benötige ich einen Aufschub der Eröffnung des Verfahrens um vierundzwanzig Stunden.«

»Verteidigung?« Klang da blanker Hohn in Irnans Zwischenruf? »Wie kann man dieses Weib verteidigen?«

Fidelma würdigte sie kaum eines Blickes. »Ich werde dem Gericht mitteilen, dass ich die Verteidigung übernehme, sobald ich mit Liadin habe sprechen können.«

»Der Fall ist doch völlig klar«, warf Irnan hin. »Liadin hat ihren Mann ermordet und dann noch ihren Sohn.«

»Was für einen Grund sollte sie dafür gehabt haben?«, fragte Fidelma unbeirrt.

»Sie lebten in einer arrangierten Ehe. Vielleicht hat Liadin Scoriath gehasst? Wer weiß?«, giftete die Stammesfürstin.

»Das kann als Grund kaum gelten. Sie hätte Zuflucht zum Gesetz nehmen und sich scheiden lassen können. Und warum soll sie das Kind ermordet haben? Welche Mutter tötet schon ihr eigenes Kind? Und warum mordet sie erst nach dreieinhalb Jahren im Aufbegehren gegen eine Zwangsehe, wie du es nennst?«

Irnans Augen funkelten wütend. Der Ton, in dem sie Fidelma antwortete, war der Ton einer Herrscherin, die keinen Widerspruch duldete. »Nicht ich stehe hier vor Gericht, Schwester. Bilde dir nicht ein, dass ich deine Fragen beantworte.«

»Jemand wird sie aber beantworten müssen«, erklärte Fidelma ruhig und erkundigte sich bei dem Richter: »Wirst du also die Vertagung genehmigen?«

Rathend schien sich bei Irnan vergewissern zu wollen, ehe er antwortete. Aus dem Augenwinkel sah Fidelma, dass die Fürstin die Achseln zuckte. Mit einem Seufzer nickte er zustimmend.

»Gut, Schwester. Du hast vierundzwanzig Stunden, dann tritt das Gericht zusammen. Ich warne dich, die Anklage lautet auf fingal, Ermordung nächster Angehöriger. Sie ist in diesem Falle derart schwerwiegend, dass es nicht auf eine Wiedergutmachung in Form des üblichen Sühnegelds hinauslaufen kann. Wenn Liadin schuldig gesprochen wird, dann wird man sie, weil sie ein so grässliches Verbrechen begangen hat, in einem offenen Boot auf hoher See ohne Ruder, Segel, Nahrung oder Wasser aussetzen. Sollte sie überleben und nach Gottes Willen irgendwo an Land geworfen werden, dann kann jeder, der sie findet, über ihr Leben oder ihren Tod bestimmen. Das ist der in den Gesetzen vorgeschriebene Urteilsspruch.«

Schwester Fidelma kannte die Strafe sehr wohl, die für kapitale Mordfälle vorgesehen war. »Doch nur, wenn sie schuldig gesprochen wird«, wiederholte sie verhalten.

Irnan lachte schallend auf. »Was mit Sicherheit der Fall sein dürfte«, höhnte sie und stürmte hinaus. Verunsichert und bekümmert schaute ihr der Richter hinterher.

Die beiden Frauen lösten sich aus ihrer Umarmung. Besorgt schaute Fidelma ihre Freundin an. Liadin war schmächtiger als Fidelma, hatte dichtes kastanienbraunes Haar und bleiche Haut. Ihre dunkelbraunen Augen wirkten von weitem fast schwarz. Sie sah angestrengt aus und hatte Ringe unter den Augen; ihr Gesicht war fast blutleer und von scharfen Falten gezeichnet.

»Fidelma! Gelobt seien alle Heiligen, dass du endlich gekommen bist. Ich hatte schon jede Hoffnung aufgegeben. Glaub mir, ich habe weder Scoriath noch meinen Sohn Cunobel umgebracht.«

»Das brauchst du mir nicht zu versichern«, erwiderte Fidelma rasch. »Ich habe erreicht, dass dein Prozess um vierundzwanzig Stunden vertagt wird. Erzähl mir alles, was du weißt, damit ich mir zurechtlegen kann, wie ich dich am besten verteidige.«

Liadin schluchzte still vor sich hin. »Seit ich die schreckliche Kunde von Scoriaths Tod erhalten habe, kann ich überhaupt nicht mehr klar denken. Wie betäubt bin ich von dem Schock und kann es nicht fassen, dass man mich jetzt anklagt. Ich habe geglaubt, ich würde aufwachen und von all dem … von …« Ihre Stimme versagte, und Fidelma drückte ihrer Freundin mitfühlend die Hand.

»Ich will es übernehmen, für dich zu denken. Erzähl mir einfach, was sich ereignet hat.«

Liadin wischte sich die Tränen ab und zwang sich zu einem Lächeln. »Ich schöpfe wieder Hoffnung. Doch viel kann ich dir nicht berichten.«

»Bei unserem letzten Beisammensein hattest du mir vorgeschwärmt, wie glücklich du mit Scoriath warst. Hatte sich seither etwas verändert?«

Liadin schüttelte energisch den Kopf. »Wir lebten glücklich und zufrieden und hatten ein prächtiges Kind.«

»War Scoriath bis zuletzt Hauptmann der Leibwache der Stammesfürstin?«

»Ja. Auch als Irnan vor einem Monat ihrem Vater Drón als Anführer des Clans folgte, blieb Scoriath ihr Hauptmann. Doch er trug sich mit dem Gedanken, das Kriegshandwerk ganz und gar aufzugeben und sich nur noch der Bewirtschaftung seines Grund und Bodens zu widmen.«

Fidelma schürzte die Lippen. Sie musste daran denken, wie gehässig sich Irnan über Liadin geäußert hatte.

»Hat er sich mit jemand in einflussreicher Stellung nicht vertragen? Wie stand er sich mit dem tánaiste? Gab es Spannungen zwischen ihm und dem gewählten Thronfolger?«

»Conn? Nein, da war keinerlei Zwietracht zwischen den beiden.«

»Kommen wir auf den Tod von Scoriath und deinem Sohn zu sprechen.« Trösten würde sie ihre Freundin später können.

»Es geschah vor einer Woche. Ich war gerade nicht hier.«

»Das musst du mir erklären. Wenn du nicht hier warst, wie kann man dich beschuldigen, die Morde begangen zu haben? Fang bitte ganz vorn an.«

Liadin hob hilflos die Arme. »Am Tag, als das passierte, hatte ich Scoriath und unser Kind allein gelassen und war zu einer erkrankten Verwandten, meiner Tante Flidais, geritten. Doch so schlimm, wie erwartet, stand es mit ihr nicht. Ich traf sie schon fast genesen an, es war nur eine Erkältung gewesen. So konnte ich bald wieder zurückreiten und erreichte die Festung etwa eine Stunde nach Sonnenuntergang. In dem Moment, da ich unsere Wohnstatt betreten wollte, kam Conn herausgestürzt und packte mich derb an.«

»Er packte dich derb an? Warum?«

»Ich habe nur noch eine verschwommene Vorstellung von allem. Er brüllte los, Scoriath und mein Sohn seien erschlagen. Ich war fassungslos. Er muss mich auch sofort beschuldigt haben.«

»Ohne jeden Grund?«

»Er hatte ein blutiges Messer und blutbefleckte Kleidungsstücke von mir gefunden, angeblich in meiner Ankleidekammer verborgen. Scoriath und mein Sohn hätten in unseren Räumen gelegen – beide erstochen.«

»Du hast natürlich sofort seine Anschuldigung zurückgewiesen?«

Liadin nickte heftig. »Der Gedanke, eine Mutter würde ihr eigenes Kind abschlachten, ist doch völlig abwegig!«

»Dergleichen ist leider schon vorgekommen, Liadin. Wir müssen die Dinge so sachlich wie möglich betrachten. Haben sie noch andere Beweise gegen dich vorgebracht?«

Liadin überlegte einen Moment. »Eine Bedienstete hat gegen mich ausgesagt. Die Magd Branar behauptet, sie sei Zeugin gewesen, wie Scoriath und ich uns an dem Tag heftig gestritten hätten.«

»Zeugin sei sie gewesen? Wäre das vorstellbar?«

»Natürlich nicht. Ich hatte Branar den ganzen Vormittag über nicht gesehen.«

»Dann lügt sie also? Wie kann sie aber behaupten, sie hätte euren Streit miterlebt?«

»Sie sagt, sie hätte so etwas gehört«, berichtigte sich Liadin sofort. »Sie wäre an unserer Schlafkammer vorbeigekommen und hätte gehört, dass wir uns erbittert zankten, habe es jedoch für ratsam gehalten, nicht stehen zu bleiben. Ich habe das bestritten, doch niemand will mir glauben.«

»Wer hatte dir die Nachricht gebracht, dass deine Tante erkrankt wäre?«

»Ein Mönch vom Kloster des heiligen Moling, das hier in der Nähe ist. Der Bruder heißt Suathar.«

»Hat dich jemand gesehen, wie du den rath verlassen hast, als du zu deiner Tante aufgebrochen bist?«

»Viele Leute waren zugange. Es war ja Mittag, als ich losritt.«

»Also war es doch bekannt, dass du die Festung verlassen hattest.«

»Das ist anzunehmen.«

»Und wer hat dich gesehen, als du abends zurückkamst?«

»Conn natürlich, der hat mich ja gleich derb gepackt.«

Fidelma runzelte die Stirn. »Mir geht es um die Toreinfahrt. Er hat dich hereinkommen sehen und dich dann später gegriffen?«

Verwirrt schüttelte Liadin den Kopf. »Nein. Er hat mich in dem Augenblick gesehen, als er mich an der Tür zu unseren Gemächern festhielt.«

»Demnach hat niemand dich wirklich gesehen, als du heimkamst? Es wäre für andere durchaus vorstellbar, dass du früher zurückgekehrt bist. Du warst mit dem Pferd unterwegs. Was sagen die Stallburschen?«

Liadin sah gequält und geängstigt aus. »Ich begreife, worauf du hinaus willst. Im Stall war niemand. Ich habe mein Pferd allein abgesattelt. Tut mir leid, aber es war niemand da, der gesehen haben könnte, wie ich zurückkam.«

»Aber deine Tante, die könnte bezeugen, wann du sie verlassen hast?«

»Meine Tante ist bereits hier und hat das bezeugt, doch Rathend sagt, das tut wenig zur Sache. Keiner stellt in Abrede, dass ich meine Tante besucht habe und noch an dem Abend heimgekehrt bin. Es heißt jedoch, ich hätte schon früher zurückgekommen sein können, wäre sofort zu Scoriath geeilt, hätte erst ihn und danach mein Kind ermordet, hätte mich dann im Dunkeln davongeschlichen und schließlich eine spätere Heimkehr vorgetäuscht, in der Hoffnung, man würde während meiner Abwesenheit die Leichen gefunden haben.«

Nachdenklich nagte Fidelma an ihrer Unterlippe. »Wie es aussieht, ist Branar die Hauptzeugin der Anklage. Sie liefert uns ein Motiv, nämlich dass deine Beziehungen mit Scoriath nicht so herzlich waren, wie du sie darstellst. Wenn es keinen Streit zwischen dir und Scoriath gegeben hat, dann ist Branar einem Irrtum erlegen oder sie lügt. Hat jemand Scoriath nach eurem angeblichen Streit gesehen?«

»O ja«, rief Liadin sofort. »Unser Sohn Cunobel war den ganzen Nachmittag in Branars Obhut, denn ich war unterwegs, und Scoriath hat Irnan zur Ratsversammlung des Clans begleitet. Die Versammlung löste sich bei Sonnenuntergang auf. Doch wie sollen das Messer und die blutbesudelten Kleider in meine Kammer gekommen sein?«

»Beweismaterial solcher Art lässt sich leicht fingieren, aber im vermeintlichen Ablauf des Geschehens, da sehe ich einen Widerspruch. Schwer vorstellbar, dass du derartige Beweise in deiner Kammer liegenlässt, dich im Dunkel der Nacht wieder davonschleichst und dir so ein Alibi zu verschaffen glaubst.«

Liadin versuchte die Logik der Beweisführung zu begreifen, nickte und lächelte flüchtig. »So habe ich das noch nicht gesehen.«

»Da hast du es«, sagte Fidelma aufmunternd. »Die gegen dich vorgebrachten Beweise sind nicht folgerichtig. Und alles sind nur Indizien, keine handfesten Tatsachen. Hat jemand Gründe angeführt, weshalb du deinen Mann und dein Kind umbringen wolltest?«

»Richter Rathend ist der Auffassung, ich hätte es in einer unbeherrschten Aufwallung der Gefühle, in einem Eifersuchtsanfall getan.«

Fidelma schaute ihre Freundin durchdringend an. »Hattest du Anlass, eifersüchtig zu sein?«, fragte sie leise.

Liadin schoss die Röte in die Wangen und trotzig hob sie das Kinn. »Auf Scoriath? Niemals!«

»Hatte er Feinde? Als Hauptmann der Leibwache und als Fremder in diesem Land war ihm manch einer gewiss nicht wohlgesinnt. Weißt du, ob ihm jemand besonders grollte?«

Liadin zog die Brauen zusammen und dachte nach. »Ich wüsste niemand, den ich beim Namen nennen könnte. Mir ist nur aufgefallen, dass Scoriath seit ein paar Wochen verstimmt war. Er wollte mir aber nicht sagen, was ihn quälte. Eine Sache, die er vorbrachte, klang allerdings seltsam. Wir redeten darüber, dass er mit dem Gedanken spielte, sein Kommando über Irnans Leibwache aufzugeben. Wie ich ja schon erwähnte, wollte er nicht länger Krieger sein und fortan nur noch seine Felder bestellen. Aber irgendetwas beschäftigte ihn, er wirkte geradezu niedergeschlagen. Und mitten in einer Unterhaltung sagte er plötzlich: ›Ich will Landmann werden, es sei denn, die Jüdin will uns unseren Frieden nehmen.‹«

Fidelma stutzte. »Die Jüdin? Wen meinte er damit?«

Liadin zuckte die Achseln. »Ich habe keine Ahnung. Soviel ich weiß, gibt es im ganzen Königreich keine Jüdin.«

»Du hast ihn bestimmt gebeten, dir zu erklären, was er damit meinte.«

»Er hat das mit einem Lachen abgetan, es wäre nur ein dummer Scherz gewesen.«

»Kannst du wiederholen, was genau und wie er es gesagt hat?«

Das tat Liadin, doch davon wurde Fidelma nicht klüger. Grübelnd stand sie auf, lächelte aber ihre mutlose Freundin zuversichtlich an und sagte: »Irgendetwas an der ganzen Geschichte erscheint mir rätselhaft, Liadin. Es ist wie ein Wanzenstich, ich weiß nur noch nicht, wo ich kratzen soll. Macht nichts, ich werde weitere Nachforschungen anstellen. Sorg dich nicht. Alles wird gut.«

Leicht befangen stand Conn, der tánaiste der Uí Dróna, vor Schwester Fidelma. Der blonde und gutaussehende Mann verlagerte hin und wieder sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen und versuchte möglichst gleichgültig dreinzuschauen.

An einem Nebentisch saß Brehon Rathend, der, wie das Gesetz es vorschrieb, bei der Befragung von Zeugen zugegen sein musste. Für die Unterredung des Anwalts mit dem Angeklagten galt das nicht. Er war lediglich Beobachter, durfte keine Fragen stellen oder sonstwie eingreifen, es sei denn, die dálaigh hielt sich nicht an die Regeln, die für Vernehmungen vor dem eigentlichen Gerichtstag festgelegt waren.

»Schildere mir die Ereignisse, die dazu führten, dass du Liadin verhaftet hast.«

Der junge Krieger räusperte sich und sprach tonlos, als sagte er etwas auswendig Gelerntes her: »Ich fand die Waffe, mit der Scoriath getötet wurde, in der Schlafkammer von …«

»Lass nicht den Anfang aus«, unterbrach ihn Fidelma unwirsch. »Wann hast du Scoriath zum letzten Mal gesehen? Lebendig gesehen, meine ich.«

Conn dachte einen Augenblick nach. »Am Abend des Tages, an dem er umkam. Anlässlich des Festes des heiligen Mochta, der ein Jünger Patricks war, hatten wir nachmittags eine Clan-Versammlung. Scoriath, ich und einige andere Krieger gehörten zum Gefolge unserer Stammesfürstin Irnan in der Beratungshalle. Eine Stunde vor Sonnenuntergang gingen alle Mitglieder des Rats auseinander, sodass jeder noch sein Heim erreichen konnte, ehe es dunkel wurde.«

»Und das war das letzte Mal, dass du Scoriath lebend gesehen hast?«

»Ja, Schwester. Ein jeder begab sich nach Hause. Später kam ein Bote von Irnan zu mir und sagte, er sei auf der Suche nach Scoriath. Die Stammesfürstin wollte ihn sprechen. Der Bote berichtete weiterhin, beim Hauptmann hätte niemand geöffnet.« Conn machte eine Pause, zog die Brauen zusammen und rieb sich die Stirn, als würde das seinem Gedächtnis nachhelfen. »Das kam mir merkwürdig vor, ich wusste ja, dass Scoriath ein Kind hatte, und wenn er nicht zu Hause war, so hätten doch seine Frau und sein Kind oder die Magd da sein müssen.«

Wieder schwieg er und schien von Fidelma eine Bestätigung seiner Überlegung zu erwarten. Doch die bedeutete ihm nur, weiterzureden.

»Ich bin also mit dem Boten zum Haus gegangen. Auf unser Klopfen hat niemand geantwortet, da habe ich aufgemacht und bin hineingegangen. Ich weiß nicht, was das war, irgendwie kam es mir unheimlich vor. In der Schlafkammer brannte eine kleine Öllampe; durch einen Spalt in der Tür konnte ich das Licht sehen. Ich ging hin und stieß die Tür auf.« Er beugte flüchtig das Knie. »Da sah ich Scoriath auf dem Boden liegen, mit dem Gesicht nach unten. Aus einer schrecklichen Wunde an seinem Hals floss Blut.«

»Floss Blut?«, unterbrach ihn Fidelma.

Conn nickte. »Offenbar war er noch nicht lange tot. Ich habe ihn leicht zur Seite gedreht, und da sah ich, dass man ihm die Kehle durchgeschnitten hatte. An der Tür zur kleinen Nebenkammer lag der Leichnam von Scoriaths Jungen, Cunobel. Auch er war tot, hatte mehrere Stichwunden in der Brust. Blutspritzer waren überall.«

Der tánaiste schluckte erregt, ehe er fortfuhr: »Die Tür zur Nebenkammer, in der sonst der Knabe schlief, war angelehnt. Scoriaths Frau nutzte den Raum auch als ihr Ankleidezimmer. Eine Blutspur führte dorthin. Ich folgte ihr, und sie lenkte mich zu einer Truhe. In der Truhe lag ein Messer, an dem Blut klebte, und ein blutbeflecktes Kleid, das Liadin gehörte.«

Er schwieg so lange, dass Fidelma ihn mahnte: »Und wie weiter?«

»Ich habe den Boten zu Irnan zurückgeschickt, er sollte ihr berichten, was wir entdeckt hatten. Für mich gab es nicht den geringsten Zweifel, dass Liadin dieses Blutbad angerichtet hatte.«

»Warum?«

Der junge Mann blinzelte. »Warum?«, wiederholte er, von ihrer Frage überrascht. »Weil ich das Messer und das Gewand gefunden hatte. Sie waren in einer Truhe in Liadins Kammer versteckt. Das Kleid gehörte Liadin, sie hat es oft getragen.«

»›Versteckt‹ ist in diesem Fall wohl kaum das richtige Wort, Conn«, bemerkte Fidelma. »Eine Blutspur hat dich zur Truhe geführt.«

Er tat ihren Hinweis mit einem Achselzucken ab.

»In ihrer panischen Angst, die Beweise für ihre Schuld zu verbergen, hat sie die Bluttropfen wahrscheinlich nicht bemerkt.«

»Könnte sein. Doch das ist bloße Vermutung. Angenommen, du hättest diese Tat begangen, wärst du dann in deine Kammer geeilt, um Waffe und blutbesudeltes Gewand zu verstecken? Auch ohne Blutspur würde man doch später die besagte Kammer absuchen.«

Das verwirrte Conn. »Da hast du schon recht, Schwester. Aber die Einzige, die den Mord begangen haben kann, ist Liadin, und dafür gibt es einen guten Grund.«

Fragend zog Fidelma die Augenbrauen hoch. »Nämlich?«

»Scoriath war ein Krieger. Er war kräftig und in allen Kampfkünsten geübt. Und doch hat er dem Mörder den Rücken zugewandt und es geschehen lassen, dass er ihm von hinten um den Hals greift und ihm die Kehle aufschlitzt. Der Einschnitt begann links am Hals, und dann hat man die Klinge über die Kehle nach rechts gezogen. Nur jemand, dem Scoriath voll vertraute, konnte so dicht hinter ihm stehen und die Tat vollbringen. Wer aber sonst genoss sein ganzes Vertrauen, wenn nicht die Frau, mit der er zusammenlebte?«

Einige Minuten saß Fidelma still und überlegte. »Hätte ihm die Verwundung nicht auch ein Linkshänder beibringen können, der Scoriath gegenüberstand?«

Wieder blinzelte Conn. Offensichtlich war das eine Angewohnheit, die andeutete, dass er nachdachte. »Aber Liadin ist Rechtshänderin.«

»Gut, lassen wir das«, sagte Fidelma mehr zu sich.

Conn ging achtlos über ihren Einwurf hinweg. »Wenn der Mörder vor Scoriath gestanden hätte, wäre es ihm ein Leichtes gewesen, den Angriff abzuwehren.«

Das musste ihm Fidelma stillschweigend zubilligen. »Fahre mit deinem Bericht fort, Conn. Du sagst, du hast den Boten zu Irnan geschickt. Was geschah dann?«

»Ich stand noch da und prägte mir die Szene ein, da hörte ich draußen vorm Haus ein Geräusch. Ich ging zur Tür, riss sie auf und ertappte Liadin, wie sie sich ins Gebäude stehlen wollte, wahrscheinlich um sich Messer und Kleid aus ihrer Kammer zu holen.«

»Das ist wieder eine reine Vermutung deinerseits«, rügte ihn Fidelma.

»Sei’s drum«, meinte Conn ungerührt. »Jedenfalls stand Liadin vor der Tür, und ich habe sie festgenommen. Gleich darauf kam Irnan mit Rathend, dem Brehon. Liadin wurde in Gewahrsam gebracht. Mehr habe ich nicht zu berichten.«

»Hast du Scoriath gut gekannt?«

»Gut eigentlich nicht, bis auf die Tatsache, dass er Hauptmann der Leibwache war.

»Warst du eifersüchtig auf ihn?«

Die Frage traf Conn unvermittelt und schien ihn zu verunsichern.

»Eifersüchtig?«

»Scoriath war ein Fremder hier«, setzte ihm Fidelma auseinander. »Ein Gallier. Und doch hatte er unter den Uí Dróna ein hohes Amt inne. Hat es dich nicht gewurmt, dass ein Fremdling ein solches Ansehen genoss?«

»Er war ein guter Mann, ein prächtiger Kämpfer. Es kommt mir nicht zu, Entscheidungen in Frage zu stellen, die von den Ratgebern des Königs oder von meinem Stammesfürsten getroffen werden. Für mich galt, er war ein tüchtiger Krieger. Und was das hohe Amt angeht … Ich selber bin doch der erwählte Nachfolger des Stammesfürsten, welchen Grund sollte ich gehabt haben, auf ihn eifersüchtig zu sein?«

»Und welche Beziehung hattest du zu Liadin?«

Überzog seine Wangen eine leichte Röte?

»Überhaupt keine«, knurrte er kurz angebunden. »Sie war Scoriaths Ehefrau.«

»Eine gute Ehefrau, soviel du weißt?«

»Ich denke schon.«

»Auch eine gute Mutter?«

»In derlei Dingen kenne ich mich nicht aus. Ich bin unverheiratet.«

»Wenn sie Scoriath ermordet hat, wie du vermeinst, wundert es dich dann nicht, dass sie auch ihr eigenes Kind … einen drei Jahre alten Jungen umgebracht hat?«

Conn blieb stur. »Ich kann nur aussagen, was ich weiß.«

»Hat Scoriath dir gegenüber jemals eine Jüdin erwähnt?«

Auch jetzt war Conn von dem jähen Wechsel der Fragestellung wie vor den Kopf geschlagen. »Nie. Ich habe nie gehört, dass eine Frau von dieser Religion hier in unserer Gegend lebt. Freilich spricht man darüber, dass viele jüdische Händler den Hafen von Síl Maíluidir an unserer Südküste anlaufen. Irnan kann dir vielleicht eine Antwort geben, sie hat einige Jugendjahre dort verbracht.«

Die Magd Branar war ein grobknochiges Mädchen mit frischer Gesichtsfarbe und großen, unschuldig dreinschauenden blauen Augen. Jung, wie sie war, wusste sie nicht recht, wie sie sich verhalten sollte. Das Alter der Wahl hatte sie höchstens vor einem oder zwei Jahren erreicht. Schwester Fidelma lächelte ihr aufmunternd zu und bot ihr eine Sitzgelegenheit an. Richter Rathend, der dem Gespräch beiwohnte, war leicht verärgert, denn Fidelma hatte Branars Mutter nicht gestattet, während der Vernehmung der Tochter dabei zu sein, und hatte sie in ein Nebengelass verwiesen. Rathend war der Ansicht, Fidelma hätte mehr Mitgefühl für das junge Mädchen aufbringen müssen, das in Begleitung ihrer Mutter gekommen war. Branar war aufgeregt und eingeschüchtert.

»Wie lange dienst du schon Liadin und Scoriath als Magd?«, begann Fidelma die Befragung.

»Noch kein ganzes Jahr, Schwester.« Unruhig wackelte das Mädchen mit dem Kopf. Ihr ängstlicher Blick wanderte von Fidelma zu der steinernen Miene des Brehon und zurück zu Fidelma.

»Ein Jahr, sagst du. Arbeitest du gern für sie?«

»O ja, sie haben mich immer gut behandelt.«

»Und deine Arbeit macht dir Spaß?«

»O ja.«

»Hattest du manchmal Schwierigkeiten mit Liadin oder mit Scoriath? Haben sie niemals mit dir gezankt?«

»Nein. Ich war stets froh und zufrieden.«

»War Liadin eine liebevolle Ehefrau und Mutter?«

»O ja.«

Fidelma versuchte, anders an sie heranzukommen. »Ist dir etwas über eine Jüdin bekannt? Hat Scoriath mit einer solchen Frau zu tun gehabt?«

Erstmals zeigte Rathend eine Regung. Überrascht zog er eine Braue hoch und musterte Fidelma, hielt sich aber zurück.

»Eine Jüdin? Nie.«

»Was geschah an dem Tag, als Scoriath getötet wurde?«

Die Magd schwieg beklommen, dann hellte sich ihr Gesicht auf. »Du meinst den Streit, den ich gehört habe? Ich bin an dem Morgen wie immer in das Haus gegangen, um bei Liadin und Scoriath sauberzumachen. Sie waren in der Schlafkammer, und die Tür war geschlossen; sie schrien einander an und zankten sich fürchterlich.«

»Worum ging es? Was haben sie gesagt?«

»Das konnte ich nicht verstehen. Die Tür war ja zu.«

»Aber du hast ihre Stimmen ganz klar erkannt und gehört, dass sie sich heftig stritten, richtig?«

»Ja. Sie haben laut miteinander geredet und waren sehr wütend.«

Fidelma blickte dem Dienstmädchen ins treuherzige Gesicht. »Du hast Liadins Stimme nur durch die geschlossene Tür gehört, bist dir aber ganz sicher, sie nicht mit einer anderen zu verwechseln?«

Branar nickte eifrig.

»Na schön. Was meinst du, hast du dich an meine Stimme so gewöhnt, dass du sie ohne weiteres erkennen würdest?«

Sie zögerte verunsichert, bestätigte es dann aber mit Kopfnicken.

»Und du würdest auch die Stimme deiner Mutter erkennen?«

Das Mädchen lachte auf, weil ihr die Frage derart dumm vorkam.

Schwester Fidelma stand auf. »Ich gehe jetzt in den Nebenraum, werde die Tür zumachen und dort drinnen ganz laut reden. Wollen mal sehen, ob du verstehst, was ich sage.«

Rathend holte hörbar Luft. Nach seinem Empfinden ging Fidelma reichlich theatralisch vor.

Die Anwältin begab sich in den Nebenraum und schloss die Tür hinter sich. Branars Mutter stand sofort ehrerbietig auf und erkundigte sich ängstlich: »Ist die Befragung schon vorbei, Schwester?«

Freundlich erklärte ihr Fidelma, was sie vorhatte. »Ich möchte, dass du, so laut du nur kannst, ein paar Sätze sprichst. Sag einfach, was dir gerade einfällt. Ich will nur etwas ausprobieren.«

Die Frau starrte Fidelma an, als wäre die nicht richtig im Kopf, doch als die dálaigh ihr auffordernd zunickte, begann sie mit kräftiger Stimme zu reden. Es war eine Mischung aus sinnvollen Sätzen und unverständlichem Kauderwelsch. Schließlich gab Fidelma ihr ein Zeichen zu schweigen, öffnete die Tür und rief Branar, die sich verunsichert erhob.

»Nun, was hast du gehört?«

»Ich habe dich ganz laut reden hören, Schwester, nur konnte ich nicht alles verstehen, was du gesagt hast.«

Fidelma strahlte übers ganze Gesicht. »Aber du hast meine Stimme gehört?«

»O ja.«

»Klar und deutlich meine Stimme?«

»O ja.«

Fidelma wandte sich um und stieß die Tür weiter auf. Branars Mutter schlurfte näher und war nicht weniger verblüfft als ihre Tochter.

»Die Stimme, die du gehört hast, war die Stimme deiner Mutter, Branar. Bist du immer noch bereit, zu schwören, dass es Liadin war, die sich mit Scoriath hinter der geschlossenen Tür stritt?«

Die Räumlichkeiten, die Liadin und Scoriath bewohnt hatten, lagen neben den Stallungen, nicht weit vom Haupttor der Festung entfernt. Die Wohnung bestand aus drei Kammern: einem Wohnraum, einer Schlafkammer und einem davon abgehenden Gelass, in dem ihr kleiner Sohn sein Bett hatte und in dem Liadin ihre Gewänder aufbewahrte. Die Räume wirkten jetzt kalt und unwirtlich, obwohl sie genügend Gegenstände enthielten, die einst ein Gefühl der Behaglichkeit verbreiteten. Vielleicht lag es daran, dass auf der Herdstelle kein Feuer brannte und der düstere Tag alles noch kälter erscheinen ließ.

Rathend durchquerte den Raum, in dem Mahlzeiten gekocht und gegessen wurden; über der toten Asche hing ein eiserner Kessel an einem Haken.

»Hier wurde Scoriath ermordet«, erklärte Rathend und betrat die geräumige Schlafkammer.

Die Granitblöcke der Wände waren mit Wandbehängen verkleidet. Es gab keine Fenster, der Raum war dunkel. Rathend bückte sich und entzündete eine Talgkerze. Im Lichtschein war eine breite, mit Schnitzwerk verzierte Bettstatt zu erkennen, auf der in einem wüsten Durcheinander Laken und Decken lagen. Sie wiesen Flecken getrockneten Bluts auf.

»Scoriath hat hier gelegen. Das Kind haben wir da an der Tür zur Nebenkammer gefunden«, erläuterte Rathend.

Fidelma bemerkte die dunkle Spur auf dem Fußboden, die zum überwölbten Durchgang in das kleinere Gelass führte. Neben der Schwelle war ein etwas größerer Blutfleck. Sie folgte Rathend in den Nebenraum. Im Schein der Kerze, die er hochhielt, sah sie, dass die Blutspur bis zu einer großen Holztruhe führte, wie Conn es geschildert hatte. Ihr fielen größere Fußspuren in dem getrockneten Blut auf; offenbar hatte Conn sie bei der Durchsuchung des Tatorts hinterlassen und damit die eigentlichen Spuren des Mörders überdeckt.

»Das ist die Truhe, in der Liadins blutbeflecktes Kleid und das Messer gefunden wurden«, bedeutete ihr der Brehon. »Neben der Truhe steht das Kinderbettchen. Dort sind keine Blutflecken, sodass wir schließen können, der Junge wurde da erstochen, wo wir ihn fanden.«

Fidelma erwiderte nichts, ging zur größeren Schlafkammer zurück und sah sich darin um.

»Suchst du etwas Bestimmtes, Schwester?«

»Ich weiß es selber nicht … Doch da!« Sie wies auf eine Buchtasche, die an der Wand hing. Sie nahm sie herunter und zog einen Codex heraus. Der Ledereinband war künstlerisch verziert, aber leider durch dunkle Schmierflecken verdorben.

Ehrfürchtig legte sie den Band auf einen Tisch und winkte Rathend, die Kerze höher zu halten.

»Herrlich«, sagte sie beim Aufschlagen der ersten Seite. »Das ist eine Abschrift der Hexapla des Origenes. Was haben Scoriath oder Liadin ausgerechnet damit gewollt?«

Dem Brehon dauerte das alles schon zu lange. »Ich kenne kein Gesetz, das den Besitz von Büchern verbietet.«

»Dennoch ist es ungewöhnlich, gerade dieses Werk hier zu finden.« Fidelma ließ sich von ihrem Vorhaben nicht abbringen und blätterte Seite um Seite um. Es war eine Sammlung hebräischer religiöser Texte, die Origenes, Haupt der Christenschule von Alexandria, vor drei Jahrhunderten zusammengestellt hatte. Er hatte in nebeneinander stehenden Spalten den Text in Hebräisch, Griechisch und auch Latein angeordnet.

Bei einem Blatt stutzte Fidelma. Dort begann ein Kapitel mit der Überschrift Apokrypto, und jemand hatte einen Abschnitt darin angestrichen. Fidelma besann sich auf ihre Griechisch-Kenntnisse. Das Wort bedeutete »verborgene Texte«. Sie las den Abschnitt und runzelte die Stirn. Die Geschichte handelte von dem assyrischen König Nebukadnezar, der sein Heer gegen die Israeliten sandte. Das Heer stand unter dem Oberbefehl des unbesiegbaren Feldherrn Holofernes. Als die Assyrer die israelische Stadt Bethulia belagerten, ging eine jüdische Frau namens Judith ins Lager der Assyrer und wurde vor Holofernes gebracht. Sie verführte ihn, und als er später, sinnlos betrunken, schlief, hieb sie ihm den Kopf ab und kehrte damit zurück zu ihrem Volk. Die Belagerten nahmen das als ein Zeichen ihres Gottes, schöpften neuen Mut, stürzten sich auf die Feinde und schlugen sie in die Flucht.

Fidelma konnte sich eines Lächelns nicht erwehren. Diese Geschichte hätten auch die alten irischen Barden erzählen können. Damals glaubte man, die Seele wohnt im Kopf des Menschen, und daher war es ein besonderes Zeichen der Hochachtung, dem besiegten Feind den Kopf abzuschlagen. Während sie den hebräischen Text mit der Fassung in Griechisch und Latein verglich, verschlug es ihr fast den Atem, denn ihr ging auf, dass der Name Judith ja nichts anderes als »Jüdin« bedeutete.

Warum war gerade diese Stelle angestrichen worden? Was hatte Scoriath damit gemeint, als er Liadin gestand, er möchte das Kriegshandwerk aufgeben und Landmann werden, falls ihm die »Jüdin« das nicht verwehrte? Scoriath war ein Fremdländischer und zudem gewissermaßen der Feldhauptmann seiner Krieger wie Holofernes. Auch war sein Kopf fast abgetrennt worden. Hatte das etwas zu bedeuten, absonderlich, wie es war?

Nachdenklich schob sie die Handschrift in die Schutztasche zurück. Der Richter, der ihr zugeschaut hatte, konnte sich keinen Reim darauf machen. »Hast du nun alles gesehen, was du sehen wolltest?«

Fidelma blickte auf und verkündete: »Ich wünsche den Sippenkundigen der Uí Dróna zu sprechen.«

»Jetzt auch noch die Stammesfürstin! Willst du sie allen Ernstes befragen? Was hat sie mit der ganzen Sache zu tun?«

Erst eine Stunde war vergangen, und Rathend und Fidelma saßen in der großen Halle der Festung.

»Das herauszufinden ist nun einmal meine Sache«, erwiderte Fidelma. »Ich bin befugt, Irnan zur Vernehmung vorzuladen. Oder streitest du das ab?«

»Es steht dir frei, ja.« Nur zögerlich räumte Rathend es ein. »Ich kann nur hoffen, du weißt, worauf du dich da einlässt, Fidelma von Kildare.«

Irnan erschien, nachdem die beiden sie eine Weile, unbehaglich schweigend, erwartet hatten. Kaum stand die Stammesfürstin in der Tür, da sprang Richter Rathend schon auf.

»Warum lädt man mich vor, Rathend?«, fragte Irnan gereizt und überging Fidelma absichtlich. Doch es war die Anwältin, die ihr antwortete.

»Seit wann war Scoriath dein Liebhaber, Irnan?«

Selbst wenn nur eine Nadel zu Boden gefallen wäre, man hätte es gehört. Die Frau mit dem dunklen Teint wurde bleich und presste die Lippen zusammen. Der Schreck saß tief.

Fassungslos starrte Rathend Fidelma an und traute seinen Ohren nicht.

Einen Augenblick später schien Irnan alle Kraft zu verlassen. Sie sank auf einen Sessel. In ihren Blicken, die sich unverwandt auf Fidelma richteten, mischten sich Verwirrung und Furcht. Da sie schwieg, redete Fidelma weiter.

»Vor deiner Geburt hat sich dein Vater Drón, wie ich erfahren habe, im Hafen von Síl Maíluidir aufgehalten. Er wollte einige Kaufleute des Clans ermutigen, dort Handel zu treiben. Auch mit einem Kaufherrn aus Phönizien, der eine schöne Tochter hatte, wurde er handelseinig. Drón heiratete sie, und sie hatten ein Kind. Das warst du. Deine Mutter hieß Judith – die Jüdin. Sie ist nur wenige Monate nach deiner Geburt gestorben. Nach ihrem Tod nahm dich dein Vater hierher mit, und hier bist du aufgewachsen.«

»Daraus mache ich kein Geheimnis«, erwiderte Irnan bissig. »Gewiss hat dir Moluan, der Genealoge, davon erzählt.«

»Wann hat Scoriath dir gestanden, dass er dich nicht mehr liebt, dir seinen Befehlsstab zurückgeben und als einfacher Landmann leben will?«

Sie hatte sich bereits wieder in der Hand und lachte kurz auf. »Du weißt längst nicht alles, du kluge dálaigh beim hohen Gericht. Scoriath hat mich immer geliebt und hat mir das noch an dem Tag versichert, als seine Frau ihn aus Eifersucht ermordete.«

Dass Irnan sich so unverblümt äußerte, überraschte Fidelma.

»Scoriath hat mich geliebt, aber er war ein Ehrenmann«, sagte Irnan schneidend. »Er wollte Liadin nicht verletzen und schon gar nicht seinen kleinen Sohn, deshalb wollte er sich von seiner Frau nicht scheiden lassen. Er wollte sich nicht von ihnen trennen.«

»Damit war für dich ein Motiv gegeben, ihn zu töten«, stellte Fidelma fest.

»Ich habe Scoriath geliebt. Nie hätte ich ihm ein Leid angetan.«

»Willst du uns glauben machen, dass du dich mit der Situation abgefunden hattest?«

»Gleich an dem Tag, an dem Scoriath zu uns kam, haben wir uns ineinander verliebt. Mein Vater, der damals Stammesfürst war, merkte das bald. Scoriath hat er zwar als Krieger geschätzt, doch sollte ich mit einem wohlhabenden irischen Fürsten verheiratet werden. Nach meinem Dafürhalten lag ihm vor allem deshalb daran, weil ich die Tochter meiner fremdländischen Mutter bin und er meine fremde Herkunft vor den Leuten verbergen wollte. Er zwang Scoriath in eine arrangierte Ehe mit Liadin. Doch geliebt hat er sie nie.«

Irnan hielt inne und blickte gedankenverloren ins Feuer, ehe sie mit ihren dunklen Augen Fidelma erneut ins ernste Gesicht sah. »Als mein Vater starb, wurde ich die Anführerin der Uí Dróna und durfte nach meinem eigenen, freien Willen handeln. Ich drängte Scoriath, sich von Liadin zu trennen und ihr und dem Kind eine ansehnliche Abfindung zu geben. Er konnte sich dazu nicht durchringen, es ging ihm gegen seine Ehre. Er wollte Liadin nicht weh tun. Und so blieb es bei unserem Liebesverhältnis.

Dann erfuhr ich, auf welche Weise Scoriath und sein Sohn zu Tode gekommen waren. Wer es getan hatte, war ganz offensichtlich. Liadin muss hinter unser Verhältnis gekommen sein und hat ihn in einem Eifersuchtsanfall getötet.«

Schwester Fidelma schaute Irnan nachdenklich an. »Vielleicht ist die Schuldfrage doch nicht ganz so offensichtlich. Wir haben nur deine Erklärung, wie Scoriaths Gemütsverfassung war. Genauso gut hättest du Scoriath ermorden können, weil er deine Liebe zurückwies.«

Irnan sah ihr streitsüchtig in die Augen. »Ich lüge nicht. Mehr habe ich dazu nicht zu sagen.« Sie stand auf. »Bist du mit deiner Befragung fertig?«

»Erst einmal, ja.«

Ohne Rathend oder Fidelma noch eines Blickes zu würdigen, wandte sich die Stammesfürstin um und rauschte davon.

Fidelma war mit sich unzufrieden. Irgendetwas beunruhigte sie, doch konnte sie es nicht recht einordnen.

Rathend wollte gerade etwas sagen, da öffnete sich die Tür zur Halle, und ein schüchterner Bursche trat herein. Er trug die braune, grob gewebte Kutte eines Mönchs.

»Ist Brehon Rathend hier?«, fragte er unsicher, und da er Fidelma erblickte, murmelte er rasch: »Bene vobis, Schwester.«

»Ich bin Rathend«, sagte der Richter. »Weshalb wünschst du mich zu sprechen?«

»Ich bin Suathar aus dem Kloster des heiligen Moling. Ich möchte einen Band abholen, den wir Scoriath ausgeliehen haben. Doch man hat mich an dich verwiesen. Bevor ich das Buch in Empfang nehmen kann, bedarf es deiner Einwilligung, hieß es.«

Fidelma griff rasch ein. »Hat Scoriath die Abschrift der Hexapla des Origenes aus eurer Klosterbibliothek entliehen?«

»Ja, vor einer Woche«, bestätigte der junge Bursche.

»Ist Scoriath selbst in die Bibliothek gekommen, um sich die Handschrift auszuleihen?«

Suathar wunderte sich über die Frage und schüttelte den Kopf.

»Nein. Er hat in einem Brief darum gebeten, ihm den Band zu bringen, sobald jemand im rath der Uí Dróna zu tun hat. Vor sechs Tagen führte mich mein Weg hierher, weil die Tante von Lady Liadin erkrankt war und deren Pflege brauchte. Bei der Gelegenheit habe ich die Handschrift Liadin übergeben.«

Rathend händigte dem Mönch die Buchtasche aus.

»Überprüfe erst, ob alles in Ordnung ist«, riet Fidelma dem jungen Mann, der sich schon bedankte.

Der Mönch zögerte kurz und nahm dann den in Leder gebundenen Band heraus, wendete ihn hin und her und öffnete ihn.

»Gibt es vielleicht eine Markierung bei der Geschichte des Holofernes?«, erkundigte sich Fidelma.

»Ja«, stellte er fest, »aber als ich die Handschrift brachte, war die noch nicht da. Außerdem«, fast traute er sich nicht, es zu sagen, »waren da auch nicht diese dunklen, bräunlichen Flecken auf dem Einband. Die sehen aus wie der Abdruck einer Handfläche.«

Fidelma holte tief Luft und schalt sich wegen ihrer Blindheit. Sie nahm den Band, betrachtete ihn und legte die Hand zum Größenvergleich auf den Abdruck. »War ich ein Narr!«, sagte sie zu sich selbst, fing sich aber gleich wieder. »Suathar, wird dieses Werk des Origenes oft ausgeliehen, ist es sehr gefragt?«

»Sehr gefragt eigentlich nicht. Du weißt ja selbst, Schwester, wir christlichen Gläubigen haben kaum noch ein Interesse daran, denn der große Origenes hat da hebräische Texte zusammengetragen, die fragwürdiger Natur sind. Wir nennen diese Geschichten jetzt die ›Apokryphen‹ nach der griechischen Bezeichnung.«

Fidelma hob die Hand, um seinem Redefluss Einhalt zu gebieten. »Stimmt. Findet sich die Geschichte von Judith und Holofernes sonst noch irgendwo?«

»Nicht dass ich wüsste, Schwester.«

»Hat Lady Liadin die Bibliothek eures Klosters schon einmal besucht?«

Suathar verzog den Mund und dachte nach.

»Doch ja. Das ist allerdings ein paar Wochen her.«

Mit ernster Miene wandte sich Fidelma dem Richter zu. »Ich habe meine Nachforschungen abgeschlossen. Ich muss nur noch einmal Liadin aufsuchen. Die Verhandlung kann morgen stattfinden.«

»Dann wird deine Verteidigung für Lady Liadin wohl auf ein ›Nicht schuldig‹ hinauslaufen?«, fragte Rathend.

Fidelma schüttelte den Kopf und teilte dem Brehon, der bei ihren Worten zusammenzuckte, mit: »Nein, ich werde auf ›schuldig‹ plädieren. Liadin ist sehr raffiniert zu Werke gegangen, aber nicht raffiniert genug.«

Bevor Schwester Fidelma in Liadins kleine Zelle trat, hatte sie Conn, der jetzt die Leibwache befehligte, gebeten, sie zu begleiten und vor der Tür zu warten, falls sie ihn benötigte.

Hoffnungsvoll blickte ihr Liadin entgegen, während sie sich erhob, doch Fidelma blieb in der Tür stehen und verschränkte die Arme.

»Ich werde dich verteidigen, Liadin«, begann sie in kühlem Ton, »doch nur, um mildernde Umstände für deine Schuld zu erwirken. Es ist nicht leicht für mich, erkennen zu müssen, dass du gedachtest, mich zu missbrauchen und in diesen verwerflichen Plan einzubeziehen.«

Nur langsam begriff Liadin, was Fidelma gesagt hatte. Sie wollte sich zur Wehr setzen, doch ihre Anwältin unterbrach sie sofort.

»Ich weiß, wie du vorgegangen bist. Mit einer Reihe falscher Fährten wolltest du meinen Verdacht auf Irnan lenken und hast dabei mit meiner intellektuellen Eitelkeit gerechnet. Darüber hinaus hast du auf meine menschliche Schwäche vertraut, denn du hast darauf gebaut, dass unsere so viele Jahre währende Freundschaft nicht zu erschüttern wäre und ich überzeugt sein würde, dass du nie zu so einer Tat imstande wärst.«

Liadins Gesicht wirkte plötzlich wie versteinert. Sie ließ sich auf die Bettstatt fallen.

»Du hast erfahren, dass Scoriath dich nie wirklich geliebt hat«, fuhr Fidelma erbarmungslos fort. »Du kamst dahinter, dass er ein Verhältnis mit Irnan hatte. Das Verbrechen war von langer Hand vorbereitet. Wenn du ihn nicht haben konntest, so sollte auch Irnan ihn nicht haben. Du hast einen hinterhältigen Plan ausgeheckt und zu einer doppelten List gegriffen. Ich sollte dich verteidigen, gleichzeitig aber durch die falsch gelegte Fährte Irnan verdächtigen.«

»Nie hätte ich so etwas bewerkstelligen können«, begehrte die Gefangene auf.

»Dir war Irnans Abstammung nicht verborgen geblieben, und das brachte dich auf die Geschichte mit Holofernes. Im Griechischen warst du immer gut, und da verfielst du darauf, einen Köder auszulegen, auf den ich anspringen würde. Bei einem Besuch in der Bibliothek des Klosters Moling hast du die Geschichte in der Hexapla des Origenes überprüft. Als du die Zeit für gekommen hieltest, hast du in Scoriaths Namen die Anforderung geschickt, Suathar möchte dir den Band bringen, der mir den nächsten Hinweis liefern sollte. Deshalb hast du in unserem Gespräch fallenlassen, dass Scoriath sich vor einer fürchtete, die einfach die ›Jüdin‹ genannt wurde.«

Fidelma machte eine Pause. Traurig und bekümmert schaute sie ihre Freundin an.

»Die Buchtasche mit der Handschrift hast du in der Schlafkammer aufgehängt. Dann geschah etwas Unerwartetes. Branar hörte zufällig deinen Streit mit Scoriath mit. Deine Pläne durchkreuzte das nicht, denn ich war ja deiner Ansicht nach fest von deiner Unschuld überzeugt. Ich griff zu einer harmlosen List, die Branars Aussage unglaubwürdig erscheinen ließ. Und ich war sogar stolz darauf. Bei der Anwendung einer List ist Vorsicht jedoch geboten, umso mehr, wenn man von einer vorgefassten Meinung ausgeht. Es kann schlimme Folgen haben.

Du bist zu deiner Tante geritten und später ungesehen zurückgekommen. In euren Räumlichkeiten hast du Scoriath angetroffen. Der hatte keinen Grund, dir zu misstrauen, und du hast ihn von hinten angefallen. Vielleicht ist dir dann eingekommen, dass du wegen eures Streits am Morgen vergessen hattest, den Hauptbeweis bereitzulegen, der mich auf die falsche Spur bringen sollte. Du hattest nicht daran gedacht, den Abschnitt über Judith und Holofernes zu kennzeichnen. Das hast du in aller Eile nachgeholt. Zwar war danach der Einband mit Blutflecken verdorben, doch das hatte niemand bemerkt.

Dann hast du dich in den Stallungen versteckt und gewartet, bis Conn die Leiche entdeckt. Du bist wieder aufgetaucht und hast vorgegeben, du seist gerade von deiner Tante zurückgekehrt. Du wusstest, dass man dich beschuldigen würde, hattest mich bereits kommen lassen und die irreführende Fährte gelegt. Eins hat mich allerdings mehrfach beschäftigt, du musst mich schon vor dem geplanten Mord benachrichtigt haben, damit ich zur rechten Zeit eintreffen konnte.«

»Das ist nicht wahr«, jammerte Liadin. »Selbst wenn ich Scoriath aus Eifersucht getötet hätte, in deiner Beweiskette da ist ein Fehler, und du weißt genau, welchen ich meine.«

Fidelma hielt dem Blick ihrer Freundin stand. Blitzte in deren Augen ein leichter Triumph auf?

»Nämlich welchen?«

»Du weißt ganz genau, dass ich nicht fähig wäre, meinen eigenen Sohn zu töten. Und weil du deiner inneren Stimme traust, wirst du mit allen dir zur Verfügung stehenden Mitteln für mich eintreten und mich von diesem Verbrechen freisprechen.«

»Da magst du recht haben«, gestand Fidelma ihr zu. »Ich weiß, du könntest dein Kind nicht töten.«

Fidelma vernahm ein Geräusch draußen vor der Zelle, behielt aber Liadin mit ihrem siegessicheren Blick im Auge.

»Komm rein, Conn«, rief sie, ohne den Kopf zu wenden, »und antworte mir: Warum musstest du Liadins kleinen Sohn ermorden?«

Der blonde, junge tánaiste trat mit gezogenem Schwert in die Zelle. »Aus demselben Grund, aus dem ich dich jetzt töten muss«, erwiderte er eiskalt. »Im Wesentlichen war alles so ausgedacht, wie du es geschildert hast, doch mit einem geringfügigen Unterschied. Der führende Kopf war ich. Liadin und ich liebten uns.«

Liadin hatte leise zu schluchzen begonnen, da nun die Wahrheit an den Tag kam.

»Ich wollte von Scoriath frei sein und mit Conn zusammenleben. Ich wusste, in eine Scheidung würde er nie einwilligen, das wäre gegen seine Ehrauffassung gewesen. Ich sah keinen anderen Ausweg. Ich musste dich glauben machen, er hätte ein Verhältnis mit Irnan …«

Spöttisch hob Fidelma eine Braue. »Du kannst mir nicht erzählen, du hättest nicht gewusst, dass Scoriath und Irnan in Wahrheit ein Liebesverhältnis hatten.«

Ihre verschreckte Miene bestätigte Fidelma, dass sie tatsächlich ahnungslos war.

»Du willst auch nicht gewusst haben, dass Scoriath sich hätte scheiden lassen, wenn du ihn einfach vor die Frage gestellt hättest? Oder, dass er nur bei dir geblieben ist, weil er das dir und seinem Sohn gegenüber für seine Pflicht hielt?«

Liadin war vor Entsetzen wie erstarrt. »Aber Conn … Conn hat gesagt … O mein Gott!«, stammelte sie. »Hätte ich das bloß gewusst … Dann hätte all das Furchtbare nicht geschehen müssen. Conn und ich hätten beieinander sein können, ohne Schuld auf uns zu laden.«

»Ganz so wäre das nicht gekommen, nicht wahr, Conn, tánaiste der Uí Dróna?«

Mit mürrischem und trotzigem Gesicht verharrte der junge Mann auf seinem Fleck.

»Du musst einsehen, dass Conn dich nur für seine Pläne benutzt hat, Liadin«, eröffnete Fidelma ihrer Freundin. »Er hat dich überredet, den Mordanschlag so zu planen, dass Irnan mit in Verdacht geriet. Ich sollte deiner falschen Fährte folgen und aufzeigen, dass auch Irnan tatverdächtig war, irgendwie also Mitschuld trägt an Scoriaths Tod. Dann wäre sie gezwungen gewesen, als Stammesführerin zurückzutreten. Ein Stammesfürst muss ohne Fehl und Tadel sein, er darf nicht unter dem Verdacht stehen, Unrechtmäßiges getan zu haben. Wer hätte davon einen Nutzen gehabt? Niemand anderes als der tánaiste – der gewählte Nachfolger!«

Ungläubig schaute Liadin auf Conn. »Weise das zurück!«, schrie sie. »Sag, dass das nicht wahr ist!«

Conn zuckte hochmütig die Achseln. »Warum nur um Liebe buhlen, wenn man sogar die Macht ergreifen kann? Wir hatten unser Vorgehen so geplant, wie du geschlussfolgert hast, Fidelma von Kildare. Bis auf eines. Ich habe auch Scoriath erschlagen. Und als der Junge in die Kammer stolperte und mich sah, musste ich ihn töten, wie ich jetzt dich töten muss …«

Conn holte mit dem Schwert aus. Fidelma zuckte zusammen und schloss die Augen. Sie hörte Liadin aufkreischen. Der Hieb blieb aus. Sie öffnete die Augen und sah, wie Liadin sich an Conns Schwertarm klammerte. Rathend und zwei Krieger drängten in die Zelle, entwaffneten Conn und schleppten den sich Wehrenden fort.

Haltlos schluchzend brach Liadin auf dem Bett zusammen.

Mit einer Mischung aus Entsetzen und Bewunderung schaute Rathend Fidelma an. »Also hast du doch recht gehabt, Fidelma von Kildare. Was hat dich nur so sicher gemacht?«

»So sicher bin ich keineswegs gewesen, doch mein Gefühl hat mich nicht getrogen. Ich war überzeugt, Liadin konnte nicht ihren eigenen Sohn umgebracht haben. Wiederum stand das gegen die Erkenntnis, dass sie mir eine Reihe ausgefallener falscher Fährten gelegt hatte. Sie konnte damit rechnen, dass diese versteckten Hinweise meinem Ehrgeiz schmeicheln würden, Geheimnisse lüften zu können. Es schälte sich heraus, dass Liadin einen Mitverschwörer hatte, und bei dem war ein Tatmotiv zu erkennen. Ich begann, Conn zu verdächtigen, als er mir so bereitwillig den Hinweis auf Irnan und die Jüdin bot.

Liadin ist wirklich zu bedauern. Auch als sie wusste, dass Conn ihr Kind erschlagen hatte, hielt sie aus Liebe zu ihm an dem Plan fest. Schlimm, wie sich auch hier die Redensart bewahrheitet: Liebe macht blind.«

Mitfühlend schaute sie auf ihre Freundin.

»Erst als ich begriff, dass die Breite des Handabdrucks auf dem Bucheinband auf die Hand eines Mannes verwies, wurden mir Zusammenhänge klar. Conn ist für den Mord verantwortlich zu machen. Er musste sich vergewissern, dass Liadin den Hinweis an der richtigen Stelle angebracht hatte. Er tat es und hinterließ den Handabdruck. Mich hatten sie in ihren Plan mit einbezogen, ich sollte der falschen Fährte folgen. Ich traf erst ziemlich spät ein, und Conn erwartete mich bereits am Tor. Mich wunderte, weshalb er erleichtert schien, als ich kam.«

Rathend fiel es schwer, die gesamte Niedertracht des Verbrechens zu erfassen. »Conn hat also seine Partnerin zur Mittäterschaft überredet, indem er sie glauben ließ, alles geschehe aus Liebe zu ihr? Und in Wirklichkeit hatte er die ganze Zeit nichts anderes im Sinn, als nach der Macht zu greifen.«

»Liadin ist schuldig, aber die größere Schuld trägt Conn. Er hat mit ihren Gefühlen gespielt wie ein Fiedler auf seinem Instrument. Ach, Liadin, Liadin!« Betrübt schüttelte Fidelma den Kopf. »Da glaubt man, dass man jemand wirklich gut kennt, doch in den tiefsten Winkel des Herzens kann man selbst beim besten Freund nicht schauen.«

»Immerhin hat sie dein Leben gerettet. Und das dürfte als mildernder Umstand gelten, wenn sie vor Gericht steht.«

»Wäre Scoriath nur ehrlich mit ihr umgegangen«, sagte Fidelma. »Hätte er ihr gestanden, dass er ein Verhältnis mit Irnan hat, und ihr gesagt, dass er eine Scheidung wünschte, dann wäre sie nicht in dieses schreckliche Komplott verstrickt worden.«

»Man könnte fast meinen, Scoriath hat sich sein Schicksal selbst zu verdanken«, äußerte Rathend.

»Wahrscheinlich war er zu feige, sich seine Gefühle einzugestehen und sich selbst treu zu bleiben«, stimmte ihm Fidelma betroffen zu. Sie ließen die schluchzende Liadin allein zurück. »Männer sind oft so. Deus vult!«

»Alles steht in Gottes Hand«, bekräftigte Rathend pathetisch.

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