DIE SICH AN UNS VERSÜNDIGEN

»Für mich ist die Angelegenheit klar. Ich kann nicht verstehen, weshalb der Abt dich extra hergeschickt hat.«

Pater Febal war gereizt und offensichtlich verstimmt über die Anwesenheit der Anwältin in seiner kleinen Kirche, besonders da es sich bei ihr um die hübsche, rothaarige Nonne handelte, die ihm in der engen Sakristei gegenübersaß. Im Gegensatz zu ihrer entspannten Haltung strahlte sein Verhalten Rastlosigkeit und Misstrauen aus. Er war ein kleiner Mann, der trotz beinahe leichenhaft blasser Gesichtszüge dunkel wirkte. Der Ansatz seines Bartes, obwohl rasiert, bildete einen blauen Schatten auf seinem Kinn und seinen Wangen, und sein Haar war so schwarz wie das Gefieder eines Raben. Seine Augen waren tiefliegend, aber dunkel und stechend. Als er seiner Gereiztheit Ausdruck verlieh, zeigte sein ganzer Körper seinen Ärger.

»Vielleicht liegt es daran, dass die Angelegenheit für den Abt so unklar ist, wie sie dir klar erscheint«, antwortete Schwester Fidelma in unschuldigem Tonfall. Das aggressive Verhalten des Priesters beeindruckte sie nicht.

Pater Febal runzelte die Stirn. Mit verengten Augen studierte er ihre Gesichtszüge, als suche er nach irgendeiner versteckten Botschaft. Doch Fidelmas Gesicht blieb eine Maske ungerührter Aufrichtigkeit. Er presste verärgert die Lippen zusammen.

»Dann kannst du zum Abt zurückkehren und ihm berichten, dass es keinen Grund zur Beunruhigung für ihn gibt.«

Fidelma lächelte. In der Haltung ihrer Schultern deutete sich ein Achselzucken an.

»Der Abt nimmt seine Stellung als Vater seiner Herde sehr ernst. Er wird mehr über dieses Unglück wissen wollen, bevor er überzeugt ist, dass er sich nicht beunruhigen muss. Da die Angelegenheit für dich so klar ist, kannst du sie mir vielleicht erklären?«

Pater Febal blickte die Nonne an. Zum ersten Mal bemerkte er einen Unterton kalter Entschlossenheit in ihrer sanften Stimme.

Er war sich bewusst, dass Fidelma nicht nur eine einfache Nonne war, sondern eine anerkannte Anwältin an den Gerichtshöfen der Brehons der fünf Königreiche. Er wusste außerdem, dass sie die jüngere Schwester des Königs Colgú von Cashel selbst war. Anderenfalls hätte er der jungen Frau vielleicht schroffer geantwortet. Er zögerte einige Augenblicke und zuckte dann gleichgültig mit den Schultern.

»Die Tatsachen liegen deutlich zutage. Mein Gehilfe, Pater Ibor, ein junger und arbeitsscheuer Mann, verschwand vorgestern. Ich wusste schon seit einiger Zeit, dass ihm etwas Sorgen bereitete, etwas, das ihn von seinen priesterlichen Pflichten ablenkte. Ich habe versucht, mit ihm darüber zu sprechen, aber er hat sich geweigert, sich von mir leiten zu lassen. Ich kam an diesem Morgen in die Kirche und sah, dass unser goldenes Altarkruzifix und der silberne Kelch, mit dem wir beim Abendmahl den Wein ausgeben, verschwunden waren. Nachdem ich herausgefunden hatte, dass auch Pater Ibor aus unserer kleinen Gemeinde verschwunden war, bedurfte es keines besonderen Spürsinns, um die beiden Ereignisse miteinander in Verbindung zu bringen. Er hatte offensichtlich die heiligen Gegenstände gestohlen und war geflohen.«

Schwester Fidelma nickte langsam.

»Nachdem du zu diesem Schluss gekommen warst, was hast du als Nächstes getan?«

»Ich habe sofort die Suche nach Pater Ibor organisiert. Unserer kleinen Kirche hier dienen Bruder Finnlug und Bruder Adag. Sie habe ich um Hilfe gebeten. Bevor Bruder Finnlug in den Orden eingetreten ist, war er oberster Jäger des Lords von Maine, ein hervorragender Fährtensucher und Jäger. Wir nahmen Ibors Spur auf und folgten ihr in die nah gelegenen Wälder. Wir waren noch nicht weit in den Wald vorgedrungen, als wir seine Leiche fanden. Er hing am Ast eines Baumes, die Kordel seiner Kutte als Schlinge um den Hals.«

Schwester Fidelma war nachdenklich geworden.

»Und wie hast du das gedeutet?«, fragte sie leise.

Pater Febal war verwirrt.

»Wie hätte ich es schon deuten sollen?«, wollte er wissen.

Fidelmas Miene veränderte sich nicht.

»Du hast mir gesagt, du glaubtest, dass Pater Ibor das Kruzifix und den Kelch gestohlen und sich davongemacht hätte.«

»Das ist wahr.«

»Dann sagtest du, dass ihr ihn, an einem Baum hängend, gefunden habt.«

»Wieder richtig.«

»Nachdem er die wertvollen Gegenstände gestohlen hatte und davongelaufen war, weshalb sollte er sich erhängen? Diese Vorgehensweise erscheint mir etwas unlogisch.«

Pater Febal versuchte nicht einmal, sein höhnisches Lächeln zu verbergen.

»Das sollte für dich ebenso offensichtlich sein wie für mich.«

»Ich würde gerne hören, was du gedacht hast.« Fidelma ließ sich von seinem verächtlichen Tonfall nicht provozieren.

Pater Febal lächelte dünn.

»Nun, Pater Ibor wurde von Reue überwältigt. Da er wusste, dass wir ihn stellen würden, und erkannte, wie abscheulich sein Verbrechen gegen die Kirche war, gab er sich der Verzweiflung hin und vollstreckte seine eigene Strafe. Er erhängte sich. Seine Furcht, wir könnten ihn noch lebend vorfinden, war so groß, dass er sich auch noch selbst mit dem Messer ins Herz stach, während er schon in der Schlinge erstickte.«

»Das muss heftig geblutet haben. War viel Blut auf der Erde?«

»Soweit ich mich erinnere, nicht.« In der Stimme des Priesters schwang Widerwillen mit, so als meinte er, die Nonne sei über Gebühr an den blutigen Einzelheiten interessiert. »Wie auch immer, das Messer war ihm aus der Hand geglitten und lag auf der Erde unter der Leiche.«

Fidelma sagte lange Zeit nichts. Sie sah den Priester weiterhin nachdenklich an. Pater Febal starrte trotzig zurück und wandte dann als Erster den Blick ab.

»War Pater Ibor ein so schwacher junger Mann?«, überlegte Fidelma leise.

»Natürlich. Was sonst außer Schwäche sollte ihn so handeln lassen?«, fragte der Priester.

»So? Ihr habt also sowohl das Kruzifix als auch den Kelch bei ihm wiedergefunden?«

Pater Febal zögerte einen Moment lang. Er machte mit einer Hand eine verneinende Geste.

Fidelmas Augen weiteten sich, und sie beugte sich vor.

»Soll das heißen, ihr habt die vermissten Gegenstände nicht wiedergefunden?« fragte sie scharf.

»Nein«, gab der Priester zu.

»Dann ist die Angelegenheit überhaupt nicht klar«, stellte sie grimmig fest. »Bestimmt erwartest du nicht vom Abt, dass er beruhigt ist, wenn diese Gegenstände nicht wiedergefunden wurden. Wie kannst du so sicher sein, dass Pater Ibor sie gestohlen hat?«

Fidelma hoffte auf eine Erklärung, doch es kam keine.

»Dann solltest du mir vielleicht besser sagen, wie du zu der Annahme gelangst, die Angelegenheit sei klar!« Ihr Tonfall war schneidend. »Wenn ich dem Abt erläutern soll, warum sie klar ist, muss ich mir auch selbst darüber im Klaren sein. Wenn Pater Ibor dachte, man würde ihn auf jeden Fall ergreifen und er sich deshalb selbst zum Tode verurteilte, was tat er dann mit den Gegenständen, die er gestohlen hatte?«

»Es gibt eine logische Antwort«, murmelte Pater Febal ohne Überzeugung.

»Welche?«

»Nachdem er sich erhängt hatte, kam zufällig irgendein streunender Dieb vorbei und nahm sie an sich, bevor wir eintrafen.«

»Und dafür gibt es einen Beweis?«

Der Priester schüttelte widerwillig den Kopf.

»Du vermutest das also nur?« In Fidelmas Stimme war nun ein Hauch von Spott.

»Welche andere Erklärung gibt es?«, wollte Pater Febal verärgert wissen.

Fidelma sah ihn voller Verachtung an.

»Willst du, dass ich dies dem Abt berichte und ihm sage, dass er sich nicht zu sorgen braucht? Dass ein wertvolles Kruzifix und ein Kelch aus einer seiner Kirchen gestohlen wurden und ein Priester erhängt aufgefunden wurde, aber es keinen Grund zur Sorge gibt?«

Pater Febals Miene verfinsterte sich.

»Ich bin überzeugt, dass Pater Ibor die Gegenstände gestohlen und sich in einem Anflug von Reue das Leben genommen hat. Ich bin überzeugt, dass jemand die Gegenstände gestohlen hat, nachdem Ibor Selbstmord begangen hatte.«

»Aber ich bin es nicht«, antwortete Fidelma beißend. »Schicke Bruder Finnlug zu mir.«

Pater Febal war bei ihrem befehlenden Tonfall automatisch aufgestanden. Nun zögerte er in der Tür der Sakristei.

»Ich bin es nicht gewohnt …«, begann er.

»Ich bin es nicht gewohnt, dass man mich warten lässt.« Fidelmas Stimme war eisig, als sie ihn unterbrach. Sie wandte den Kopf ab und entließ ihn so. Pater Febal blinzelte und schlug dann wütend die Tür hinter sich zu.

Bruder Finnlug war ein drahtig aussehender Mann; sein sehniger Körper, gebräunt von Sonne und Wind, zeugte davon, dass er jemand war, der es eher gewohnt war, bei jedem Wetter im Freien zu sein, als in den Kreuzgängen einer Abtei Schutz zu suchen. Fidelma begrüßte ihn, als er die Sakristei betrat.

»Ich bin Fidelma von …«

Bruder Finnlug unterbrach sie mit einem schnellen, freundlichen Lächeln und sagte: »Ich weiß sehr gut, wer du bist, Lady. Ich habe dich und deinen Bruder, König Colgú, viele Male während der Jagdgesellschaften meines Herrn, des Lords von Maine, gesehen.«

»Dann weißt du, dass ich auch Anwältin bei Gericht bin und es deine Pflicht ist, mir die Wahrheit zu sagen?«

»Das weiß ich. Du bist hier, um den tragischen Tod Pater Ibors zu untersuchen.« Bruder Finnlug war direkt und freundlich im Vergleich zu seinem Oberen.

»Weshalb nennst du seinen Tod tragisch?«

»Ist nicht jeder Tod tragisch?«

»Hast du Pater Ibor gut gekannt?«

Der ehemalige Jäger schüttelte den Kopf.

»Ich wusste nur wenig über ihn. Er war ein junger Mann, vor kurzem zum Priester geweiht und sehr unsicher. Er war erst ungefähr einen Monat hier.«

»Ich verstehe. War er das neueste Mitglied der Gemeinde? Wie lange ist beispielsweise Pater Febal schon hier?«

»Pater Febal ist hier seit sieben Jahren Priester. Ich kam vor einem Jahr hierher, und Bruder Adag ist seit etwas über einem Jahr hier.«

»Ich vermute, die Mitglieder eurer kleinen Gemeinde verstanden sich gut miteinander?«

Bruder Finnlug antwortete nicht.

»Ich meine, ich vermute, es gab keine Unstimmigkeiten zwischen euch vieren?«, erläuterte Fidelma.

Finnlugs Gesicht verzog sich zu einem Ausdruck, den Fidelma nicht deuten konnte.

»Um ehrlich zu sein, Pater Febal legt Wert darauf, zu betonen, dass er einen höheren Rang hat als wir. Ich glaube, er stammt aus einer Adelsfamilie, das hat er nie vergessen.«

»Wird ihm diese Einstellung verübelt?«

»Nicht von mir. Ich habe beim Lord von Maine gedient. Ich bin es gewohnt, Befehle zu empfangen und sie auszuführen. Ich kenne meinen Platz.«

War da ein etwas bitterer Unterton?, fragte sich Fidelma.

»Wenn ich mich recht erinnere, war der Lord von Maine ein großzügiger Mann, der gut für diejenigen sorgte, die ihm dienten. Es muss ein harter Schlag für dich gewesen sein, einen solchen Herrn zu verlassen und ein religiöses Leben zu beginnen?«

»Geistlicher Lohn ist oft wertvoller als weltlicher«, entgegnete Finnlug. »Doch wie ich schon sagte, ich bin es gewohnt, zu dienen. Das Gleiche könnte man von Bruder Adag behaupten, der einst Diener eines anderen Edelmannes war. Aber er ist auch ein ziemlich schlichter Mensch.« Der Mönch tippte sich an die Stirn. »Man sagt, solche Leute sind von Gott gesegnet.«

»Verstand sich Pater Ibor gut mit Pater Febal?«

»Ach, keine Ahnung. Er war ein stiller junger Mann. Blieb für sich allein. Ich glaube nicht, dass er Pater Febal mochte. Ich habe Missgunst in seinen Augen gesehen.«

»Warum sollte er missgünstig sein? Pater Febal war der Ranghöchste in eurer Gemeinde. Pater Ibor hätte seine Autorität anerkennen sollen, ohne sie zu hinterfragen.«

Der Mönch zuckte mit den Schultern.

»Ich hatte den Eindruck, dass er Pater Febals Autorität feindselig gegenüberstand.«

»Warum, denkst du, hat er das Kruzifix und den Kelch aus der Kirche gestohlen?«, fragte Fidelma mit schneidender Stimme.

Bruder Finnlugs Miene veränderte sich nicht.

Er breitete nur die Arme aus.

»Wer vermag zu wissen, was einen Menschen zu solch einer Handlung treibt? Wer kennt die tiefsten Geheimnisse seines Herzens?«

»Um das herauszufinden, bin ich hier«, antwortete Fidelma trocken. »Sicher hast du eine ungefähre Vorstellung? Oder wenigstens eine Vermutung?«

»Was meint Pater Febal?«

»Spielt es eine Rolle, was er meint?«

»Ich hätte gedacht, dass er Pater Ibor näherstand als Bruder Adag oder ich.«

»Ihm näherstand? Du hast doch gesagt, es hätte Feindseligkeiten zwischen ihnen gegeben.«

»Ich habe nicht behauptet, dass sie Freunde waren. Aber sie waren beide Priester. Sie waren von ähnlicher Herkunft, im Gegensatz zu Adag und mir. Als Brüder dieser Gemeinde sind wir eher Diener der Kirche als Gleichgestellte von Pater Febal und Pater Ibor.«

»Ich verstehe.« Fidelma schaute ihn nachdenklich an. »Ich bin sicher, der Abt wird bekümmert sein, wenn er erfährt, dass eure Gemeinde auf diese Art geleitet wird. Wir alle sind Diener Gottes und stehen alle vereint unter seiner Macht.«

»Das ist nicht so ganz die Glaubensrichtung, die Pater Febal vertritt.« Nun war die Bitterkeit in seiner Stimme nicht mehr zu überhören.

»Du weißt also nicht, weshalb Ibor das Kruzifix und den Kelch gestohlen haben könnte?«

»Es waren sehr wertvolle Gegenstände. Der Erlös würde sie für immer reich machen.«

»Sie?«

»Wer auch immer die Sachen gestohlen hat, meine ich.«

»Du zweifelst also daran, dass Pater Ibor der Dieb war?«

»Du bist scharfsinnig, Schwester. Ich habe leider nicht so eine präzise Ausdrucksweise wie du.«

»Warum, glaubst du, hat Pater Ibor sich erhängt, nachdem er mit den wertvollen Gegenständen geflohen war?«

»Um seiner Gefangennahme zu entgehen?«

»Du antwortest in Form einer Frage. Meinst du damit, dass du dir auch hierin nicht sicher bist?«

Bruder Finnlug zuckte mit den Schultern.

»Das ist nicht so einfach. Ich kann nicht verstehen, weshalb ein Priester sich überhaupt das Leben nehmen sollte. Sicherlich würde kein Priester eine solche Sünde begehen?«

»Willst du damit sagen, du bist dir nicht sicher, dass Pater Ibor sich das Leben nahm?«

Bruder Finnlug erschrak. »Habe ich das behauptet?«

»Du hast es angedeutet. Erzähle mir, mit deinen eigenen Worten, was in den letzten zwei Tagen geschehen ist. Gab es irgendwelche Spannungen zwischen Ibor und Febal oder jemand anderem?«

Bruder Finnlug starrte sie einen Moment lang an.

»Ich hörte Pater Ibor am Abend vor seinem Verschwinden mit jemandem streiten.«

Fidelma lehnte sich ermutigend vor.

»Streiten? Mit Pater Febal?«

»Ich bin nicht sicher. Ich kam an seiner Zelle vorbei und hörte ihn mit erhobener Stimme sprechen. Die andere Stimme war leise und gedämpft. Es war, als hätte Pater Ibor die Beherrschung verloren, aber die Person, mit der er stritt, die Ruhe behielte.«

»Du hast keine Vermutung, wer diese andere Person gewesen sein könnte?«

»Keine.«

»Und du hast nichts über den Gegenstand ihres Streites gehört?«

»Ich habe nur hin und wieder ein paar Worte verstanden.«

»Und welche Worte waren das?«

»Nichts, was einen Sinn ergäbe. Ibor sagte: ›Es ist der einzige Weg.‹ Dann hielt er inne, und nachdem die andere Person etwas gesagt hatte, antwortete er: ›Nein, nein, nein. Wenn es schon enden muss, will ich doch nicht derjenige sein, der es beendet.‹ Das war alles, was ich gehört habe.«

Fidelma schwieg, während sie über die Angelegenheit nachdachte.

»Hast du irgendetwas aus diesen Worten herausgelesen, besonders im Licht dessen, was danach geschah?«

Bruder Finnlug schüttelte den Kopf.

Plötzlich öffnete sich die Tür der Sakristei, und Pater Febal stand auf der Schwelle, einen seltsam zufriedenen Ausdruck im Gesicht. Er sah aus wie jemand, der gerade eine erfreuliche Nachricht erhalten hatte.

»Wir haben den Dieb gefunden, der Pater Ibor das Kruzifix und den Kelch abgenommen hat«, verkündete er.

Bruder Finnlug sprang schnell auf die Füße. Seine Augen zuckten von Pater Febal zu Schwester Fidelma. Fidelma sah etwas in seinem Gesicht, konnte es aber nicht deuten. War es Furcht?

»Bring den Dieb herein«, wies sie ruhig an, ohne aufzustehen.

Pater Febal schüttelte den Kopf.

»Das ist unmöglich.«

»Unmöglich?«, fragte Fidelma mit einem gefährlichen Unterton in der Stimme.

»Der Dieb ist tot.«

»Das solltest du besser erklären«, forderte Fidelma ihn auf. »Und zwar genau. Hat dieser Dieb einen Namen?«

Pater Febal nickte.

»Ihr Name war Téite.«

Bruder Finnlug holte scharf Luft.

»Du kanntest sie also, Bruder Finnlug?« Fidelma wandte ihm fragend den Kopf zu.

»Wir alle kannten sie«, antwortete Pater Febal kurz.

»Wer war sie?«

»Ein junges Mädchen, das nicht weit von unserer Gemeinde entfernt im Wald lebte. Sie war Näherin. Sie nähte unsere Kleidung und wusch sie für uns.«

»Wo wurde sie gefunden, und wie wurde sie als die Diebin erkannt?«

»Ihre Hütte steht nicht weit von der Stelle, an der wir Pater Ibor entdeckten«, erklärte der Priester. »Wie Bruder Adag mir sagte, hatte sie Kleidungsstücke von der Gemeinde abgeholt, und als sie heute Morgen nicht, wie abgesprochen, mit ihnen zurückkehrte, ging Bruder Adag zu ihrer Hütte und fand sie …«

Fidelma hob eine Hand und gebot ihm zu schweigen.

»Schicke Bruder Adag herein, damit er mir die Geschichte mit seinen eigenen Worten erzählen kann. Es gebührt sich, dass ich diese Sache aus erster Hand höre. Du und Bruder Finnlug, ihr könnt draußen warten.«

Pater Febal wirkte unangenehm berührt.

»Ich denke, ich sollte dich besser warnen, Schwester.«

»Warnen?« Fidelma hob schnell den Kopf und starrte den Priester an.

»Bruder Adag ist von etwas einfacher Natur. In vielerlei Hinsicht ist sein Geist nicht zu dem eines Erwachsenen gereift. In unserer Gemeinde ist es seine Aufgabe, einfache körperliche Arbeiten zu verrichten. Er … wie soll ich es erklären? … Er hat den Geist eines Kindes.«

»Es könnte erfrischend sein, mit jemandem zu sprechen, der ein Kind geblieben ist und nicht das gekünstelte Benehmen eines Erwachsenen entwickelt hat«, meinte Fidelma mit dünnem Lächeln. »Bring ihn her.«

Bruder Adag war ein gutaussehender junger Mann, aber offensichtlich einer, der es gewohnt war, Befehle entgegenzunehmen anstatt selbst zu denken. Seine Augen waren rund, und in ihnen schien ein Ausdruck von ewiger Unschuld, von harmloser Naivität zu liegen. Seine Hände waren schwielig und zeigten, dass er auch ein Mann war, der an körperliche Arbeit gewöhnt war.

»Mir wurde gesagt, du hättest die Leiche von Téite in ihrer Hütte gefunden?«

Bruder Adag zog die Brauen zusammen, als dächte er ernsthaft über ihre Frage nach, bevor er antwortete: »Ja, Schwester. Als sie am Mittag nicht mit den Kleidern, die sie gestern mitgenommen hatte und heute wiederbringen wollte, hier ankam, schickte mich Pater Febal, um sie zu holen. Ich ging zu ihrer Hütte, und sie lag ausgestreckt auf dem Fußboden. An ihrer Kleidung war Blut. Es war mehrmals auf sie eingestochen worden.«

»Ach? Pater Febal hat dich also zu ihrer Hütte geschickt?«

Der Junge nickte langsam.

»Wie alt war Téite? Kanntest du sie?«

»Jeder kannte sie, Schwester. Sie war achtzehn Jahre und drei Monate alt.«

»Du bist sehr genau.« Fidelma lächelte über seine sorgfältige Ausdrucksweise. Er schien über jedes Wort nachzudenken, bevor er es aussprach.

»Téite hat mir ihr Alter gesagt, und weil du danach gefragt hast, habe ich es dir gesagt.«

»War sie hübsch?«

Der Junge errötete ein wenig. Er schlug die Augen nieder.

»Sehr hübsch, Schwester.«

»Du mochtest sie?«, bohrte Fidelma nach.

Der junge Mann schien verstört. »Nein, nein, ich mochte sie nicht«, protestierte er. Sein Gesicht war hochrot.

»Warum denn nicht?«

»Das ist die Regel des Paters.«

»Pater Febals Regel?«

Bruder Adag ließ den Kopf hängen und antwortete nicht.

»Regel oder nicht; du mochtest sie trotzdem. Du kannst es mir ruhig sagen.«

»Sie war nett zu mir. Sie hat sich nicht über mich lustig gemacht wie die anderen.«

»Was hat dich denn davon überzeugt, dass sie das Kruzifix und den Kelch von Pater Ibor gestohlen hat?«

»Der Kelch lag doch neben ihr in der Hütte.«

Fidelma verbarg ihre Überraschung.

»Nur der Kelch?« Sie schluckte schwer. »Warum sollte jemand in ihre Hütte einbrechen, sie töten und einen so wertvollen Gegenstand neben ihrer Leiche zurücklassen?«

Bruder Adag verstand offensichtlich nicht, worauf sie hinauswollte. Er schwieg.

»Was hast du getan, nachdem du die Leiche gefunden hattest?«, fuhr sie nach einer kurzen Pause fort.

»Also, ich kam hierher, um es Pater Febal zu sagen.«

»Und den Kelch hast du dagelassen?«

Bruder Adag rümpfte abschätzig die Nase.

»Ich bin doch nicht blöd. Nein, ich habe ihn mitgebracht. Pater Febal hat die letzten zwei Tage lang danach gesucht. Ich habe ihn Pater Febal zurückgebracht. Ich habe sogar nach dem Kruzifix gesucht, aber ich konnte es dort nicht finden.«

»Das ist alles, Adag. Schicke Pater Febal zu mir herein«, wies Fidelma den Jungen an.

Schon im nächsten Moment trat der Priester ein und setzte sich, ohne auf eine Aufforderung zu warten, Fidelma gegenüber.

»Eine traurige Geschichte«, murmelte er. »Aber zumindest sollte die Angelegenheit nun zu deiner Zufriedenheit aufgeklärt sein. Du kannst zurückkehren und dem Abt berichten.«

»Wie gut kanntest du Téite?«, fragte Fidelma, ohne auf seine Äußerung einzugehen.

Pater Febal zog einen Augenblick lang die Brauen hoch und seufzte dann.

»Ich habe sie gekannt, seit sie ein kleines Mädchen war. Ich habe ihrer Mutter die Sterbesakramente erteilt. Téite hatte damals kaum das Alter der Wahl erreicht. Sie war jedoch geschickt mit der Nadel und daher gut in der Lage, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Meines Wissens nach hat sie seit ungefähr vier Jahren dort im Wald gelebt und oft Kleider für die Gemeinde geflickt oder angefertigt.«

»Kannte Pater Ibor sie?«

Febal zögerte und machte dann eine wegwerfende Geste.

»Er war ein junger Mann. Junge Männer fühlen sich oft zu jungen Frauen hingezogen.«

Fidelma sah den Priester neugierig an.

»Pater Ibor fühlte sich also zu dem Mädchen hingezogen?«, fragte sie betont.

»Er war öfter mit ihr zusammen, als es mir angebracht erschien. Es war ein Anlass für mich, ihn zurechtzuweisen.«

»Ihn zurechtweisen? Das klingt ernst.«

»Ich war der Meinung, dass er seine Pflichten vernachlässigte, um mit dem Mädchen zusammen zu sein.«

»Heißt das, Pater Ibor hatte eine Beziehung mit diesem Mädchen?«

»Ich kann so etwas nicht beurteilen. Ich weiß nur, dass sie in den letzten paar Wochen oft zusammen waren, eigentlich waren sie das, seit er in unserer kleinen Gemeinde ist. Ich war der Ansicht, dass er seine Pflichten seiner Gemeinde gegenüber missachtete. Das ist alles.«

»Hat er dir deine Ermahnung übelgenommen?«

»Ich habe wirklich keine Ahnung, ob er mir meinen Tadel übelgenommen hat oder nicht. Das war nicht mein Problem. Mir ging es darum, ihm bewusst zu machen, was in dieser Gemeinde von ihm erwartet wurde.«

»Du hattest mit ihm keinen Streit darüber?«

»Streit? Ich bin … Ich war sein Vorgesetzter, und als ich ihm meine Sorge mitgeteilt hatte, hätte dies die Sache beenden sollen.«

»Offensichtlich hat es sie nicht beendet«, bemerkte Fidelma.

Pater Febal warf ihr einen ärgerlichen Blick zu.

»Ich weiß nicht, was du meinst.«

»Die jüngsten Ereignisse haben gezeigt, dass die Sache nicht beendet war«, stellte Fidelma kalt fest. »Oder legst du diese Ereignisse anders aus?«

Pater Febal zögerte.

»Du hast recht. Du deutest an, die beiden hätten sich verschworen, das Kruzifix und den Kelch aus der Kirche zu stehlen. Nachdem Pater Ibor das getan hatte, wurde er von Reue überwältigt und brachte sich um …« Die Augen des Priesters weiteten sich plötzlich. »Nachdem er zuvor das Mädchen getötet hatte«, fügte er hinzu.

Fidelma strich sich nachdenklich mit dem Zeigefinger über die Nase.

»Das ist eine Erklärung«, gab sie zu. »Aber keine, die ich für besonders gut halte.«

»Warum nicht?«, wollte der Priester wissen.

»Die Hypothese wäre die, dass der junge Priester so sehr in das Mädchen verliebt war, dass sie beschlossen, gemeinsam fortzulaufen und die wertvollen Gegenstände zu stehlen, um sich so gegen Armut und Entbehrung abzusichern. Wir müssten außerdem schlussfolgern, dass der junge Priester von Reueüberwältigt wird, nachdem er die Hütte des Mädchens erreicht hat. Er gerät mit dem Mädchen in Streit und ersticht es. Dann, nachdem er den kostbaren Kelch neben der Leiche zurückgelassen, das Kruzifix aber seltsamerweise versteckt hat, geht er in den Wald und beschließt, als er schon eine Strecke Wegs zurückgelegt hat, in seiner Verzweiflung, sich zu erhängen. Und während er bereits am Baum hängt, während er erstickt, ist er außerdem noch in der Lage, ein Messer hervorzuholen und sich ins Herz zu stechen.«

»Und was stimmt nicht daran?«

Fidelma lächelte dünn.

»Lass uns noch einmal Bruder Adag hereinholen. Du kannst bleiben, Pater Febal.«

Der arglose junge Mönch stand da und schaute mit ungekünstelter Unschuld von Fidelma zu Pater Febal.

»Mir wurde gesagt, du hättest Téite gesehen, als sie gestern hierherkam?«

Der Junge dachte nach.

»Ja. Es ist meine Aufgabe, die Kleider zusammenzusuchen, die gewaschen oder geflickt werden müssen, und ein Bündel für Téite vorzubereiten.«

»Und das hast du gestern Morgen getan?«

»Ja.«

»Téite hat sie abgeholt? Waren es Kleider, die ausgebessert werden mussten?«

»Und zwei Kutten, die gewaschen werden mussten. Pater Febal und Bruder Finnlug hatten sie mir gegeben … Sie waren bei der Suche nach Pater Ibor zerrissen, und eine war mit Blut beschmiert.«

»Nur um ganz sicher zu sein«, unterbrach ihn Fidelma, »Téite holte die Kleider gestern Morgen ab?«

Bruder Adag sah zu Pater Febal hinüber, schlug die Augen nieder und trat von einem Fuß auf den anderen.

»Ja, gestern Morgen.«

»Du bist also sicher, dass sie sie abholte, nachdem die Suche nach Pater Ibor stattgefunden hatte?«

»Ja. Pater Ibor wurde am Tag vorher gefunden.«

»Denk genau nach!«, rief Pater Febal gereizt. »Denk noch mal nach!«

Der junge Mönch errötete und zuckte hilflos mit den Schultern.

Pater Febal rümpfte verärgert die Nase.

»Da hast du es, Schwester. Du siehst, dass man dem Erinnerungsvermögen dieses Dummkopfs wenig Vertrauen schenken kann. Die Kleider müssen abgeholt worden sein, bevor wir Pater Ibor gefunden haben.«

Der junge Mönch fuhr herum. Einen Moment lang glaubte Fidelma, dass er sich auf Pater Febal stürzen würde, denn er hob beide Hände, zu Fäusten geballt. Aber er drückte sie nur in abwehrender Haltung fest an seine Brust. Sein Gesicht war rot, und seine Augen blitzten vor Wut.

»Ich bin vielleicht dumm, aber wenigstens mir hat Téite etwas bedeutet!« Er schluchzte beinahe.

Pater Febal wich unbewusst einen Schritt zurück.

»Und wem hat Téite nichts bedeutet?«, fragte Fidelma sanft. »Pater Ibor?«

»Natürlich hat sie ihm nichts bedeutet. Aber er hat ihr etwas bedeutet. Sie hat ihn geliebt. Nicht wie …« Der Junge brach plötzlich ab.

»Ich würde die Torheit des Jungen nicht beachten, Schwester«, warf Pater Febal ungerührt ein. »Wir alle wissen, was geschehen ist.«

»Tun wir das? Wenn wir schon davon sprechen, wer sich von diesem jungen Mädchen angezogen fühlte, gehörte Bruder Finnlug auch dazu?«

»Finnlug?« Bruder Adag verzog abschätzig das Gesicht. »Er hat nichts für Frauen übrig.«

Pater Febal sah gequält aus. »Bruder Finnlug hat viele Fehler. Frauen gehören nicht dazu.«

»Fehler?«, drängte Fidelma interessiert. »Was hat er denn für Fehler?«

»Ach, wenn er nur die Gabe der Spiritualität besäße, wir wären entschädigt. Er ist lediglich durch seine Fähigkeit, zu jagen und Speisen für unseren Tisch herbeizuschaffen, von Nutzen für uns. Er ist für das religiöse Leben nicht geeignet. Ich glaube, wir haben jetzt genug gesagt. Lasst uns diese unglückliche Angelegenheit abschließen, bevor noch Dinge ausgesprochen werden, die wir später bereuen müssten.«

»Wir werden die Angelegenheit erst abschließen, wenn wir die Wahrheit herausgefunden haben«, antwortete Fidelma standhaft. »Die Wahrheit sollte man niemals bereuen.« Sie fragte Bruder Adag: »Ich weiß, du mochtest Téite. Aber nun ist sie tot, sie ist ermordet worden. Pater Febals Regel gilt jetzt nicht mehr. Du schuldest es deinen Gefühlen für sie, uns die Wahrheit zu sagen.«

Der Junge streckte das Kinn vor.

»Ich sage die Wahrheit.«

»Natürlich tust du das. Du sagst, dass Pater Ibor Téite nicht mochte?«

»Er liebte sie nicht so wie ich.«

»Und was hat Téite für Ibor empfunden?«

»Sie war von Pater Ibors Schläue geblendet. Sie dachte, sie liebte ihn. Ich habe die beiden gehört. Er sagte, sie solle aufhören, ihn zu … belästigen, das war das Wort … aufhören, ihn zu belästigen. Sie dachte, sie liebte ihn, so wie Pater Febal dachte, er liebte sie.«

Der Priester stand ärgerlich auf.

»Was redest du da, Junge?«, polterte er. »Du bist verrückt!«

»Du kannst nicht leugnen, dass du ihr gesagt hast, du liebtest sie«, antwortete Bruder Adag, von dem Aufbrausen des Priesters nicht eingeschüchtert. »Ich habe dich mit ihr streiten hören, am Tag vor Pater Ibors Tod.«

Pater Febals Augen wurden schmal. »Ach, jetzt bist du nicht so dumm, dass du Zeiten und Orte und Ereignisse vergisst. Dem Jungen kann man nicht vertrauen, Schwester. Ich würde seine Aussage nicht beachten.«

»Ich habe Téite geliebt, und man kann mir vertrauen!«, rief Bruder Adag.

»Ich habe sie nicht geliebt …«, beharrte Pater Febal. »Ich liebe niemanden.«

»Ein Priester sollte seine ganze Herde lieben.« Fidelma lächelte tadelnd.

»Ich meine die zügellose Liebe zu Frauen. Ich habe mich lediglich um Téite gekümmert, nachdem ihre Mutter gestorben war. Ohne mich hätte sie nicht überlebt.«

»Aber du dachtest vielleicht, dass sie dir etwas schuldete?«

Pater Febal sah sie fragend an.

»Wir sind nicht hier, um über Téite zu sprechen, sondern über Pater Ibors Verbrechen.«

»Sein Verbrechen? Nein, ich glaube, wir sind hier, um über ein Unrecht zu sprechen, das ihm angetan wurde, nicht eines, das er verübt hat.«

Pater Febal wurde blass.

»Was meinst du?«

»Téite wurde ermordet. Aber sie wurde nicht von Pater Ibor ermordet. Und sie hat auch nicht das Kruzifix oder den Kelch gestohlen, selbst wenn der Letztere bequemerweise neben ihrer Leiche gefunden wurde.«

»Wie kommst du darauf?«

»Schicke nach Bruder Finnlug. Dann können wir alle über die Lösung dieser Angelegenheit sprechen.«

Sie saßen ihr in der kleinen Sakristei gegenüber: Pater Febal, Bruder Finnlug und Bruder Adag. Ihre Gesichter drückten Neugierde aus.

»Die Menschen benehmen sich schon seltsam«, fing Fidelma an. »Selbst in den besten Zeiten kann ihr Verhalten merkwürdig sein. Aber ich bezweifle, dass sie sich auf die Weise verhalten würden, die mir hier präsentiert wird.«

Sie lächelte, während sie einen nach dem anderen anblickte.

»Was ist deine Lösung dieses Rätsels?«, fragte der Priester höhnisch.

»Jedenfalls nicht eine Lösung, bei der das Mordopfer lebendig und gesund herumläuft, nachdem sich der Mörder erhängt hat.«

Pater Febal blinzelte. »Adag muss sich irren.«

»Nein. Pater Ibor, das Kruzifix und der Kelch verschwanden vorgestern? Du schlugst sofort Alarm. Bruder Finnlug verfolgte Ibor in den Wald und ihr fandet ihn, an einem Baum hängend. Stimmt das nicht?«

»Es stimmt durchaus.«

»Hätte er Téite getötet, bevor er sich erhängte, wie jetzt behauptet wird, dann hätte sie nicht gestern hierherkommen können, um Kleider zum Waschen und Ausbessern abzuholen.«

»Warum lässt du die Möglichkeit außer Acht, dass Adag sich im Tag irren könnte?«

»Weil er Téite zwei Kutten gab, die auf der Suche nach Ibor zerrissen und mit Blut beschmiert wurden. Du und Finnlug habt sie getragen, als ihr Pater Ibor, am Baum hängend, fandet. Zweifelsohne wird man sie in ihrer Hütte entdecken, um dies zu beweisen.«

Fidelma machte eine kleine Pause und fuhr dann fort: »Muss ich annehmen, dass niemand daran gedacht hat, dem Mädchen zu sagen, dass man Ibor gerade erhängt aufgefunden hatte? Immerhin liebte sie ihn.«

»Ich habe das Mädchen nicht gesehen«, sagte Pater Febal schnell. »Bruder Adag hat sie gesehen.«

»Und Bruder Adag gibt zu, dass er Téite geliebt hat«, fügte Bruder Finnlug zynisch hinzu.

Der junge Mann hob trotzig den Kopf. »Ich leugne es nicht. Aber sie hat meine Liebe nicht erwidert, sie liebte Ibor, der sie abgewiesen hat.«

»Und das hat dich wütend gemacht?«, fragte Fidelma.

»Ja. Sehr wütend!«, antwortete Bruder Adag heftig.

Bruder Finnlug warf Adag einen misstrauischen Blick zu.

»Wütend genug, um sie beide zu töten?«, flüsterte er.

»Nein«, antwortete Fidelma, noch bevor Bruder Adag es abstreiten konnte. »Ibor und Téite wurden nicht im Zorn getötet, sondern mit Vorbedacht. Nicht wahr, Bruder Finnlug?«

Bruder Finnlug fuhr zu ihr herum, seine Augen waren plötzlich ausdruckslos.

»Woher soll ich das wissen, Schwester Fidelma?«

»Weil du sie beide getötet hast«, sagte Fidelma ruhig.

»Das ist Unsinn! Warum sollte ich das tun?«, rief der Mönch, nachdem er den ersten Schreck überwunden hatte.

»Weil du, als du das Kruzifix und den Kelch aus der Kirche gestohlen hast, von Pater Ibor ertappt wurdest. Du musstest ihn töten. Du erstachst ihn und brachtest die Leiche anschließend in den Wald, wo du einen Selbstmord durch Erhängen vortäuschtest. Dann wurde dir klar, dass man die Stichwunde entdecken würde, deshalb ließest du das Messer bei der Leiche liegen. Als ob jemand, der an einem Strick am Baum hängt, in der Lage wäre, ein Messer hervorzuholen und sich selbst ins Herz zu stechen. Und wie ist der arme Mann überhaupt an den Ast herangekommen, an dem er sich angeblich erhängt hat? Keiner von euch hat mir von einem Hilfsmittel berichtet, mit dem er hinaufgeklettert sein könnte. Denkt nur daran, wie mühsam das gewesen wäre. Die Leiche wurde von jemand anderem dort aufgehängt.«

Sie blickte Pater Febal an, der in Gedanken versunken war. Er schüttelte den Kopf zum Zeichen, dass auch er keine Erklärung parat hatte.

Fidelma richtete den Blick wieder auf Bruder Finnlug.

»Du hast einen raffinierten Plan ausgeheckt, um alle über das wahre Geschehen zu täuschen.«

Die Spannung in der Sakristei war geradezu greifbar.

»Du bist verrückt«, murmelte Bruder Finnlug.

Fidelma lächelte. »Du warst Jäger im Dienste des Lords von Maine. Wir haben bereits darüber gesprochen, wie großzügig er zu denen war, die ihm dienten. Ihnen fehlte es an nichts, nicht einmal, wenn die Ernte schlecht war. Als ich dich fragte, aus welchem Grund du einen solch vorteilhaften Dienstherrn verlassen hast, sagtest du, es sei aufgrund deiner Überzeugung geschehen. Bleibst du dabei? Dass du das weltliche Leben zugunsten eines geistlichen aufgabst?«

Pater Febal sah Bruder Finnlug verwirrt an. Der schwieg.

»Du hast mir auch, vielleicht unabsichtlich, deine Verbitterung über die Ordnung in dieser Gemeinde verraten. Wenn du ein geistliches Leben wolltest, dann sicher nicht so eines, nicht wahr?«

Pater Febal mischte sich leise ein: »Die Wahrheit ist, dass Finnlug vom Lord von Maine wegen Diebstahls entlassen wurde. Wir haben ihn hier aufgenommen.«

»Was beweist das schon?«, fragte Finnlug heftig.

»Ich versuche gar nicht, etwas zu beweisen. Ich werde dir sagen, was du getan hast. Ursprünglich hattest du gehofft, mit dem Diebstahl davonzukommen. Das Motiv war einfach, wie du mir selbst gesagt hast: Der Verkauf der wertvollen Gegenstände hätte dich ein Leben lang reich gemacht. Das hätte deinen Groll darüber beschwichtigt, dass andere Macht und Reichtümer besitzen, du aber nicht. Wie ich schon gesagt habe, Ibor ertappte dich und du erstachst ihn und brachtest seine Leiche in den Wald. Als du zurückkehrtest, stelltest du fest, dass du sein Blut an deiner Kutte hattest.

Der Diebstahl wurde nun entdeckt, und Pater Febal bat dich um Hilfe. Das Blut an deiner Kutte fiel keinem auf. Vielleicht hast du dir einen Umhang übergeworfen, um es zu verbergen. Du führtest Pater Febal zu Pater Ibors Leiche. Alles lief genau so ab, wie du es geplant hattest. Pater Ibor wurde des Diebstahls beschuldigt. Pater Febal musste glauben, dass sich Pater Ibor in einem Anflug von Reue selbst getötet hatte. Sogar die Herkunft der Stichwunde wurde erklärt. Die Tatsache, dass nur wenig Blut auf der Erde war, erweckte keinen Verdacht. Du konntest inzwischen vorgeben, dass die Blutflecke auf deiner Kutte von der Suche nach Ibor stammten. Vielleicht hast du, Finnlug, den Gedanken ins Spiel gebracht, dass das Kruzifix und der Kelch nach Ibors Tod von einem zufällig vorbeikommenden Dieb gestohlen wurden.

Am nächsten Tag kam Téite ahnungslos hierher, um die Kleider zum Waschen und Ausbessern abzuholen. Adag hatte sie wie immer zusammengesucht, unter ihnen auch deine Kutte, die mit den Blutflecken. Du hattest nicht vorgehabt, dass das Mädchen sie erhalten sollte. Du eiltest zu ihrer Hütte, um sicherzustellen, dass sie keinen Verdacht geschöpft hatte. Vielleicht fasstest du deinen Plan schon, bevor du zu ihr gingst? Du brachtest sie um und legtest den Kelch neben ihre Leiche. Das Kruzifix war schließlich wertvoll genug, dir Reichtum und Besitz zu verschaffen. Es war bekannt, dass Ibor und Téite irgendeine Art von Beziehung hatten. Jeder würde das Schlimmste vermuten. Du musstest nur noch zurückkehren und abwarten, bis du die Gemeinde verlassen könntest, ohne Verdacht zu erwecken.«

Bruder Finnlugs Gesicht war kreidebleich.

»Du kannst das nicht beweisen«, murmelte er ohne Überzeugung.

»Muss ich es beweisen? Sollen wir das Kruzifix suchen gehen? Wirst du uns sagen, wo es ist … oder soll ich es sagen?« Sie stand entschlossen auf, als wollte sie den Raum verlassen.

Bruder Finnlug stöhnte und vergrub das Gesicht in den Händen.

»Schon gut, schon gut. Es ist wahr. Du weißt, dass es in meiner Zelle versteckt ist. Es war eine Gelegenheit, zu entkommen … etwas Wohlstand, ein gutes Leben zu haben.«

Pater Febal ging langsam mit Fidelma zum Tor der zur Gemeinde gehörenden Gebäudegruppe.

»Woher wusstest du, wo Bruder Finnlug das Kruzifix versteckt hatte?«, fragte er.

Schwester Fidelma warf einen raschen Blick auf den ernst aussehenden Priester, und ein schnelles, verschmitztes Lächeln huschte über ihre Züge.

»Ich wusste es nicht«, gestand sie.

Pater Febal runzelte die Stirn.

»Wie wusstest du dann …? Wie wusstest du, dass Finnlug der Schuldige war und was er getan hatte?«, fragte er erstaunt.

»Mein Instinkt hat es mir gesagt. Natürlich war es eine Schlussfolgerung auf Grundlage der Tatsachen, die mir bekannt waren. Aber ich glaube, wenn Bruder Finnlug von mir verlangt hätte, meine Anschuldigung zu beweisen, wäre ich bei einer Gerichtsverhandlung unter Einhaltung der Vorschriften nicht dazu in der Lage gewesen. Es ist manchmal wichtiger, dass die schuldige Person denkt, du wüsstest etwas, und glaubt, dass du es beweisen kannst, als dass du es tatsächlich beweisen kannst. Ohne Bruder Finnlugs Geständnis hätte ich diese Angelegenheit am Ende womöglich gar nicht aufklären können.«

Pater Febal starrte sie noch immer entgeistert an, als sie zum Abschied die Hand hob und über die Straße in Richtung Cashel davonschritt.

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