Abt Laisran strahlte. Er war ein kleiner, rundlicher Mann mit roten Wangen, und sein Gesicht sah immer fröhlich aus. Denn er war mit der seltenen Gabe des Humors und der Vorstellung geboren, die Welt sei ihren Bewohnern zur Freude geschaffen. Sein Lächeln kam aus tiefstem Inneren. Und wenn er lachte, schien die Erde zu beben.
»Wie schön, dich wiederzusehen, Fidelma!«, dröhnte Laisrans Stimme. Man hörte, dass dies keine leeren Worte waren, sondern dass er sich ehrlich über ihre Begegnung freute.
Schwester Fidelma reagierte mit einem beinahe spitzbübischen Grinsen, das nicht recht zu ihrer Ordenstracht und ihrem Rang passen wollte. Wer die junge Frau näher betrachtete und das rote Haar sah, das unter ihrer Haube hervorquoll, wer das Lachen, das ständig in ihren grünen Augen aufblitzte, und die natürliche Fröhlichkeit auf ihrem frischen, hübschen Gesicht bemerkte, dem konnte sich tatsächlich die Frage aufdrängen, warum eine so attraktive junge Frau sich für das Leben einer Nonne entschieden hatte. Ihre hoch aufgeschossene, wohlproportionierte Figur schien ein Verlangen nach einem weit aktiveren Leben auszudrücken, als es in einem Kloster möglich war.
»Es tut auch mir gut, dich wiederzusehen, Laisran. Es ist mir immer ein Vergnügen, nach Durrow zu kommen.«
Abt Laisran streckte beide Arme aus und umfasste Fidelmas Hand zum Gruß, denn sie waren alte Freunde. Laisran kannte Fidelma, seit sie das Alter der Wahl erreicht hatte. Er war es gewesen, der sie dazu überredet hatte, das Studium der Rechte beim Brehon Morann von Tara aufzunehmen. Mehr noch, er hatte sie auch davon überzeugt, ihre Studien so lange fortzuführen, bis sie ihren Abschluss als anruth gemacht hatte. Und es war auch Laisran gewesen, der ihr geraten hatte, sich der Gemeinschaft der Brigid in Kildare anzuschließen, nachdem man sie als dálaigh zugelassen hatte. In alten Zeiten, ehe das Licht Christi die Ufer von Éireann erreichte, waren alle Menschen, die hohe Ämter bekleideten, Druiden gewesen. Nachdem die Macht von den Druiden auf die Priester und Ordensgemeinschaften Christi übergegangen war, schlossen sich die Angehörigen der gehobenen Berufe den neuen heiligen Orden an, genau wie es in alten Zeiten Brauch gewesen war.
»Bleibst du lange bei uns?«, fragte Laisran.
Fidelma schüttelte den Kopf.
»Ich bin unterwegs zum Schrein des heiligen Patrick in Ard Macha.«
»Nun, du musst auf jeden Fall bei uns übernachten und heute mit uns zu Abend essen. Ich habe so lange keine angeregte Unterhaltung mehr geführt.«
Fidelma lächelte vergnügt.
»Du bist der Abt eines der berühmtesten Klöster der Gelehrsamkeit in ganz Irland. Professoren aller möglichen Disziplinen wohnen hier, dazu noch Studenten aus allen vier Himmelsrichtungen. Wie kann es dir da an angeregter Unterhaltung fehlen?«
Laisran lachte glucksend.
»Diese Professoren neigen dazu, einem Vorlesungen zu halten, da ergibt sich kaum mal ein Dialog. Wie öde solche Monologe sein können! Manchmal entdecke ich mehr Intelligenz bei unseren Studenten.«
Das große Kloster lag auf einer von Eichen bewachsenen Ebene, und die Bäume hatten ihm den Namen Durrow gegeben. Es war kaum ein Jahrhundert alt, aber schon jetzt hatte sich sein Ruhm als Universität unter vielen Völkern Europas verbreitet. Aus unzähligen Ländern kamen die Studenten in hellen Scharen auf die Insel der Gelehrten mitten im Sumpf von Aillin. Der heilige Colmcille hatte seinerzeit eine Ordensgemeinschaft in Durrow gegründet, ehe der Hochkönig ihn ins Exil schickte und er die Ufer von Éireann verließ, um auf der Insel Iona im Lande Dál Riada seine berühmtere Gemeinschaft aufzubauen.
Schwester Fidelma schritt neben dem Abt durch die langen Gewölbegänge des Klosters zu seinen Gemächern. Ordensbrüder und Laien huschten leise hierhin und dorthin über die Flure. Sie hatten die Köpfe gesenkt und waren ganz auf ihre jeweiligen Vorlesungen oder Gebete konzentriert. In Durrow hatte man vier Fakultäten eingerichtet: Theologie, Medizin, Recht und Freie Künste.
Es war heller Morgen, die Zeit zwischen dem ersten Angelusläuten und dem Ruf des mittäglichen Angelus. Fidelma war bereits vor dem Morgengrauen aufgestanden und die fünfzehn Meilen nach Durrow geritten. Als Repräsentantin des Gerichts der Brehons genoss sie das Privileg, ein Pferd zu besitzen.
Ein Mönch mit ernstem Gesicht lief ihnen über den Weg, blieb kurz stehen und neigte den Kopf. Es war ein dünner, schwarzäugiger Mann mit dunkler Haut, dem der finstere Blick so sehr zur Gewohnheit geworden war wie Abt Laisran das Lächeln. Laisran erwiderte seinen Gruß mit einer seltsamen kleinen Handbewegung, die den Mann eher zu verscheuchen als willkommen zu heißen schien, und der Mönch verschwand rasch in einem Seitenzimmer.
»Das war Bruder Finan, unser Professor der Jurisprudenz«, erklärte Laisran beinahe entschuldigend. »Er ist ein guter Mensch, aber völlig humorlos. Ich denke oft, dass er seinen Beruf verfehlt hat und vielleicht sein Leben besser mit Wehklagen an der Totenbahre verbracht hätte.«
Er lächelte ihr schelmisch zu.
»Finan von Durrow genießt bei den Brehons großes Ansehen«, erwiderte Fidelma betont sachlich. In Laisrans Gesellschaft fiel es ihr immer schwer, ernst zu bleiben.
»Ach«, seufzte Laisran, »wie viel heller wäre unsere Welt, wenn du hierher kämest, um zu unterrichten, Fidelma. Finan lehrt das Gesetz buchstabengetreu, während du unseren Studenten erklären könntest, dass das Recht die Weisen führt und von Toren befolgt wird, dass aber die Gerechtigkeit manchmal weit über das Gesetz hinausgeht.«
Schwester Fidelma biss sich auf die Unterlippe.
»Manchmal ergeben sich moralische Probleme, die sich nur jenseits des Gesetzes lösen lassen«, stimmte sie ihm zu. »Ich habe schon zwischen Gesetz und Gerechtigkeit entscheiden müssen.«
»Genau. Wenn Finans Studenten unser Haus verlassen, besitzen sie ein fundiertes Wissen über die Gesetze, haben aber oft nur geringe Vorstellungen von Gerechtigkeit. Vielleicht ziehst du mein Angebot doch noch in Erwägung?«
Schwester Fidelma zögerte.
»Vielleicht«, erwiderte sie vorsichtig.
Laisran lächelte und nickte.
»Sieh dich um, Fidelma. Unser Ruhm als Ort der Gelehrsamkeit ist sogar bis nach Rom vorgedrungen. Weißt du, dass unter unseren Studenten nicht weniger als achtzehn Sprachen gesprochen werden? Wir verlegen uns auf Latein und manchmal auf Griechisch als unsere lingua franca. Und unsere Studierenden sind nicht nur Kinder der Gael. Wir beherbergen hier auch einen jungen fränkischen Prinzen, Dagobert, und sein Gefolge. Dazu noch die angelsächsischen Prinzen Wulfstan, Eadred und Raedwald. Eine ganze Reihe Angelsachsen. Da wäre zunächst noch Talorgen, ein Prinz von Rheged im Land der Britannier …«
»Ich habe gehört, dass die Angelsachsen gegen Rheged Krieg führen, dass sie versuchen, sein Land an sich zu reißen, um ihre eigenen Gebiete zu erweitern«, meinte Fidelma. »Das wird wohl die Beziehungen zwischen den Studenten nicht gerade einfach machen.«
»Ah, das stimmt. Unsere irischen Mönche in Northumbria versuchen, die Angelsachsen zu einem Leben im Sinne Christi, einem Leben der Gelehrsamkeit und Frömmigkeit zu erziehen, aber sie sind und bleiben nun einmal ein grimmiges Kriegervolk, das nur auf Eroberung, Plündern und Land aus ist. Elmet fiel, als ich noch ein Kind war. Wo früher einmal die Britannier von Elmet lebten, sind nun angelsächsische Bauern und angelsächsische Gefolgsleute angesiedelt.«
Sie blieben vor Laisrans Zimmertür stehen. Der Abt schloss sie auf und bat Fidelma herein.
Fidelma runzelte die Stirn. »Zwischen den Britannier und den Angelsachsen hat es in den letzten zweieinhalb Jahrhunderten ständig nur Krieg gegeben. Da ist es doch sicherlich schwierig, wenn Britannier und Angelsachsen im gleichen Hörsaal sitzen?«
Sie betraten Laisrans offiziellen Empfangsraum. Von hier aus lenkte er die Geschäfte dieses großen Klosters. Er bat Fidelma, sich an ein glimmendes Torffeuer zu setzen, schenkte am Tisch aus einem Tonkrug Wein in zwei Becher, reichte ihr den einen und hob den anderen, um ihr zuzutrinken.
»Agimus tibi gratias, omnipotens Deus – wir sagen Dir Dank, allmächtiger Gott«, sprach er feierlich, aber immer noch mit einem Funken Humor in den Augen.
»Amen«, antwortete Schwester Fidelma, führte ihren Becher an die Lippen und kostete den würzigen Rotwein aus Gallien.
Abt Laisran ließ sich auf einem Stuhl nieder und streckte die Beine zum Feuer.
»Ob es schwierig ist, die Britannier und Angelsachsen in Schach zu halten?«, sagte er nach einer Weile nachdenklich. Schwester Fidelma hatte beinahe schon vergessen, dass sie danach gefragt hatte. »Aber ja. Es gab bereits einige Prügeleien zwischen den Kampfhähnen. Bisher konnten wir ernstliche Verletzungen dadurch vermeiden, dass wir auf unserem geheiligten Boden keine Waffen dulden.«
»Warum schickt ihr dann nicht eine der beiden Gruppen in ein anderes Zentrum der Gelehrsamkeit?«
Laisran schnaubte verächtlich.
»Das hat ausgerechnet Finan auch schon vorgeschlagen. Es wäre eine ordentliche, praktische und logische Lösung des Problems. Die Frage ist nur … Wen sollen wir wegschicken? Sowohl die Britannier als auch die Angelsachsen weigern sich zu gehen, und jede Gruppe verlangt, wenn überhaupt jemand Durrow verlässt, sollen es die anderen sein.«
»Da habt ihr allerdings ein Problem«, meinte Fidelma.
»Ja. Beide Gruppen sind jähzornig und nachtragend, vergessen kaum je eine ihnen zugefügte Beleidigung, ob sie nun wirklich oder nur eingebildet war. Ein junger angelsächsischer Prinz, Wulfstan, ist besonders arrogant. Sein Gefolge besteht aus siebzehn Männern. Er kommt aus dem Land der südlichen Angelsachsen, einem der kleineren angelsächsischen Königreiche. Doch wenn man ihn reden hört, könnte man meinen, dass sein Königreich das größte der Welt ist. Er ist gewaltig mit der Sünde des Stolzes geschlagen. Nach seinem ersten Zwist mit den Britanniern verlangte er, man solle ihm ein Zimmer geben, dessen vergittertes Fenster gegen Eindringlinge gesichert ist und dessen Tür sich von innen verriegeln lässt.«
»Ein seltsames Ansinnen in einem Haus Gottes«, stimmte ihm Schwester Fidelma zu.
»Das habe ich ihm auch gesagt. Aber er erwiderte mir, er fürchte um sein Leben. Und wirklich war sein Verhalten so ängstlich, schien mir seine Furcht so echt, dass ich beschloss, seine Sorge zu lindern und ihm ein solches Zimmer zu überlassen. Er bewohnt nun einen Raum mit einem Gitter vor dem Fenster, in dem wir früher einmal Übeltäter eingesperrt haben. Unser Zimmermann hat die Tür so verändert, dass sie sich von innen verriegeln lässt. Wulfstan ist ein seltsamer junger Mann. Er geht nirgendwohin ohne seine Leibwache, die aus fünf Männern besteht. Nach der Vesper zieht er sich in sein Zimmer zurück, lässt es aber zuvor von seiner Leibgarde durchsuchen. Erst dann begibt er sich selbst hinein und verriegelt sofort die Tür. Bis zum Angelusläuten am nächsten Morgen bleibt er dort.«
Schwester Fidelma spitzte nachdenklich die Lippen und schüttelte verwundert den Kopf.
»Wahrhaftig, man würde meinen, dass er sehr bedrückt und ängstlich ist. Hast du mit den Britanniern gesprochen?«
»Das habe ich sehr wohl getan. Talorgen zum Beispiel gibt offen zu, dass für ihn alle Angelsachsen Blutsfeinde sind, dass er sich aber nicht so sehr vergessen würde, in einem Haus Gottes angelsächsisches Blut zu vergießen. Ganz im Gegenteil, der junge Britannier verwies nachdrücklich darauf, sein Volk sei schon vor Jahrhunderten zum Christentum übergetreten und habe im Gegensatz zu den Angelsachsen noch nie auf geheiligtem Boden Krieg geführt. Er erinnerte mich daran, dass noch vor kaum einem halben Jahrhundert der angelsächsische Krieger Aethelfrith von Northumbria Selyf map Cynan von Powys in einer Schlacht bei einem Ort namens Caer Legion besiegt hat, dann aber seinen Sieg entweiht hat, indem er tausend britannische Mönche aus Bangor-is-Coed niedermetzelte. Er behauptete, die Angelsachsen seien kaum in Gedanken Christen, noch viel weniger in Worten und Werken.«
»Mit anderen Worten …?«, wollte Fidelma dem Abt auf die Sprünge helfen, während Laisran eine Pause machte, um einen Schluck Wein zu trinken.
»Mit anderen Worten: Talorgen würde keinem Angelsachsen ein Haar krümmen, der auf dem geheiligten Boden eines christlichen Hauses Schutz genießt, aber er hat auch keinen Zweifel daran gelassen, dass er nicht zögern würde, Wulfstan außerhalb dieser Mauern zu erschlagen.«
»So viel zum Thema christliche Nächstenliebe und Vergebung.« Fidelma seufzte.
Laisran verzog schmerzlich das Gesicht. »Man darf nicht vergessen, dass den Britanniern in den letzten Jahrhunderten von den Angelsachsen Schlimmes angetan wurde. Schließlich sind die Angelsachsen in ihr Land eingefallen und haben den größten Teil davon erobert. Irland musste ganze Heerscharen von Flüchtlingen aufnehmen, die vor den angelsächsischen Eroberern ihres Reiches flohen.«
Fidelma lächelte traurig. »Entdecke ich in deinen Worten eine gewisse Zustimmung zu Talorgens Einstellung?«
Laisran grinste.
»Wenn du mich als Christen fragst, dann nein, nein, natürlich nicht. Wenn du mich als Mann eines Volkes fragst, das einmal mit unseren Vettern, den Britanniern, einen gemeinsamen Ursprung, einen gemeinsamen Glauben und ein gemeinsames Gesetz geteilt hat, dann muss ich dir sagen, dass ich insgeheim Talorgens Zorn nachempfinden kann.«
Plötzlich hämmerte jemand an die Tür des Arbeitszimmers, so laut und unvermittelt, dass Laisran und Fidelma zusammenzuckten. Ehe der Abt noch Zeit hatte, etwas zu rufen, flog die Tür auf, und ein Mönch mittleren Alters kam atemlos und mit hochrotem Kopf ins Zimmer gestürzt.
Mit bebenden Schultern und fliegendem Atem blieb er nach wenigen Schritten stehen.
Laisran erhob sich. Auf seiner Stirn zeigte sich eine für ihn ungewöhnliche Zornesfalte.
»Was hat das zu bedeuten, Bruder Ultan? Hast du den Verstand verloren?«
Der Mann schüttelte mit weit aufgerissenen Augen den Kopf. Er schnappte nach Luft, versuchte wieder zu Atem zu kommen.
»Gott schütze uns vor allem Bösen«, keuchte er schließlich. »Es ist ein Mord geschehen.«
Laisran erschrak.
»Ein Mord, sagst du?«
»Wulfstan, der Angelsachse, Bruder Abt! Er wurde in seiner Kammer erstochen.«
Laisran erbleichte und warf Schwester Fidelma einen erschrockenen Blick zu. Dann wandte er sich mit ernster Miene wieder Bruder Ultan zu.
»Fasse dich, Bruder«, sagte er freundlich, »und erzähle mir langsam und sorgfältig, was geschehen ist.«
Bruder Ultan schluckte nervös und versuchte, seine Gedanken zu sammeln.
»Eadred, Wulfstans Gefährte, kam am späten Morgen zu mir. Er war sehr besorgt. Wulfstan hatte nicht am Morgengebet teilgenommen und auch im Unterricht gefehlt. Niemand hatte ihn gesehen, seit er sich gestern Abend nach der Vesper in sein Zimmer zurückgezogen hatte. Darauf war Eadred zu seinem Zimmer gegangen und hatte die Tür verschlossen gefunden. Auf sein Rufen erhielt er keine Antwort. Also kam er zu mir, da ich der Verwalter hier bin. Ich begleitete ihn zu Wulfstans Zimmer. Und ganz richtig, die Tür war verschlossen und von innen verriegelt.«
Er hielt einen Augenblick inne und fuhr dann fort: »Nachdem ich mehrmals angeklopft hatte, brach ich mit Eadreds und seines Vetters Hilfe die Tür auf. Das dauerte eine Weile, und ich musste erst noch zwei Brüder zu Hilfe rufen, denn die Tür war von innen gesichert. In der Kammer …« Er biss sich auf die Unterlippe und erblasste bei der Erinnerung.
»Sprich weiter«, gebot ihm Laisran.
»In der Kammer befand sich der Leichnam Wulfstans. Er lag hinten auf seinem Bett. Er trug ein Nachthemd, das mit verkrustetem Blut besudelt war, und hatte an der Brust und am Bauch mehrere Wunden. Man hatte offenbar mehrmals auf ihn eingestochen.«
»Was dann?«
Inzwischen hatte sich Bruder Ultan wieder besser in der Gewalt. Er zuckte nur mit den Achseln.
»Ich weiß es nicht. Ich habe die beiden Brüder als Wachen vor dem Zimmer zurückgelassen. Und Eadred habe ich angewiesen, in sein Zimmer zurückzugehen und niemandem ein Wort zu verraten, ehe ich nach ihm schicke. Dann bin ich sofort zu dir geeilt, um dir Bericht zu erstatten, Bruder Abt.«
»Wulfstan ermordet?«, flüsterte Laisran und dachte sogleich an die Folgen. »Gnade uns Gott, wahrhaftig. Das Land der südlichen Angelsachsen mag ein kleines Königreich sein, aber man hält dort gegen alle Fremden fest zusammen. Es könnte durchaus zu einem Krieg zwischen den Angelsachsen und Éireann kommen.«
Schwester Fidelma beugte sich vor und schaute den Verwalter fragend an.
»Bruder Ultan, hast du nicht gesagt, dass die Kammertür von innen verschlossen war?«
Bruder Ultan sah verärgert zu ihr hin und wandte sich wieder Abt Laisran zu. Offenbar wollte er ihre Bemerkung übergehen.
»Schwester Fidelma ist eine dálaigh am Gericht der Brehons, Bruder«, sagte Laisran.
Die Augen des Mönches weiteten sich, und er blickte Schwester Fidelma nun mit mehr Respekt an.
»Ja, die Tür zu Wulfstans Kammer war von innen verriegelt.«
»Und das Fenster ist vergittert?«
Ultan schien zu ahnen, worauf sie hinauswollte.
»Niemand hätte durchs Fenster hinein- oder hinausklettern können, Schwester«, erwiderte er langsam und schluckte schwer, als er begriff, was er da sagte.
»Und doch kann niemand zur Tür hinausgegangen sein?«, drängte Schwester Fidelma erbarmungslos weiter.
Ultan schüttelte den Kopf.
»Bist du sicher, dass sich Wulfstan nicht selbst etwas angetan hat?«
»Nein!«, erwiderte Ultan entschieden und bekreuzigte sich hastig.
»Wie kann aber jemand in die Kammer eingedrungen sein, Wulfstan erstochen und die Kammer wieder verlassen und die Tür von innen verriegelt haben?«
»Gott steh uns bei, Schwester!«, rief Ultan aus. »Wer das getan hat, der kann zaubern! Der ist ein böser Geist, der durch Mauern gehen kann.«
Abt Laisran blieb unsicher am Ende des Flures stehen, in dem Wulfstans Kammer lag. Zwei Klosterbrüder hatten dort Posten bezogen, die allen neugierigen Mönchen und Studenten den Zugang verwehrten. Obwohl Bruder Ultan versucht hatte, die Angelegenheit geheim zu halten, wurde in den Kreuzgängen bereits von Wulfstans Tod getuschelt. Laisran drehte sich zu Schwester Fidelma um, die ihm gefolgt war und ruhig und gefasst dastand, die Hände bescheiden in den Falten ihres Ordensgewandes verborgen.
»Bist du sicher, dass du diese Aufgabe übernehmen möchtest, Schwester?«
Schwester Fidelma rümpfte die Nase.
»Bin ich nicht Anwältin am Gericht der Brehons? Wer sonst außer mir sollte diese Untersuchung leiten, Laisran?«
»Aber die Art, wie er zu Tode kam …«
Sie verzog das Gesicht und unterbrach ihn: »Ich habe bereits viele Tote gesehen, und die wenigsten von ihnen waren friedlich entschlafen. Für diese Aufgabe wurde ich ausgebildet.«
Laisran seufzte und bedeutete den beiden Brüdern mit einer Handbewegung, zur Seite zu treten.
»Dies ist Schwester Fidelma, eine dálaigh am Gericht der Brehons, die in meinem Auftrag Wulfstans Tod untersucht. Seht zu, dass ihr jede mögliche Hilfe zuteil wird.«
Laisran zögerte, zog dann beinahe ratlos die Schultern hoch, machte kehrt und entfernte sich.
Die beiden Mönche traten respektvoll zur Seite. Schwester Fidelma blieb an der Tür von Wulfstans Kammer stehen.
Die Kammer war eine von vielen, die im Erdgeschoss des Klosters von einem aus grauem Granit gemauerten Flur abgingen. Die Tür, die nun beschädigt in den Angeln hing, war dick – beinahe zwei Zoll – und mit schweren Eisenbändern beschlagen. Im Gegensatz zu den meisten Türen, die Fidelma kannte, hatte sie an der Außenseite keinen Eisengriff. Fidelma hielt inne und sah sich das Holz genau an, das Spuren von Ultans Versuchen aufwies, gewaltsam in die Kammer einzudringen.
Dann trat sie auf die Schwelle und ließ die Augen durch den Raum schweifen.
Hinten stand ein Bett, auf dem ein Leichnam mit ausgebreiteten Armen lag, die starren Augen zur Decke gerichtet, wie gefroren im letzten schmerzlichen Blick, ehe der Tod eingetreten war. Er war mit einem weißen, blutbefleckten Hemd bekleidet. Diese Verletzungen hatte sich der Mann gewiss nicht selbst beigebracht, das erkannte Fidelma sofort. Sie sah einen kleinen Holzstuhl mit einem Kleiderhaufen. Auf einem Tischchen mit einer Öllampe lagen einige Schreibgerätschaften. Sonst war nicht viel in diesem Raum zu finden.
Licht drang in die düstere Kammer nur durch ein kleines Fenster, das etwa zwei Meter über Bodenhöhe lag und mit einem eisernen Gitter gesichert war, durch das man einen Arm bis zur Schulter schieben konnte, aber sicher nicht weiter. Alle vier Wände der Kammer waren aus Steinblöcken gemauert, und der Boden war mit großen Granitplatten gefliest. Die Decke bestand aus schweren, dunklen Eichenbalken. Obwohl es bereits auf Mittag zuging, war es im Raum zu schummrig, um weitere Einzelheiten zu erkennen.
»Bringt mir eine helle Lampe, Brüder«, rief Fidelma den beiden Mönchen auf dem Gang zu.
»Es steht schon eine Lampe im Zimmer, Schwester«, erwiderte einer der beiden. Schwester Fidelma unterdrückte mit Mühe eine ärgerliche Reaktion.
»Ich möchte nicht, dass in diesem Zimmer irgendetwas verändert wird, ehe ich nicht alles sorgfältig untersucht habe. Jetzt geht mir eine Lampe holen.«
Sie wartete reglos, bis einer der Brüder davoneilte und mit einer Öllampe zurückkehrte.
»Zünde sie an«, forderte ihn Fidelma auf.
Der Mönch tat, worum sie ihn gebeten hatte.
Flüchtig dankend nahm ihm Fidelma die Lampe aus der Hand.
»Wartet draußen und lasst niemanden herein, bis ich es euch sage.«
Mit der Lampe in der Hand schritt sie in die seltsame Todeskammer hinein.
Man hatte Wulfstan mit einem Messer oder Schwert die Kehle durchgeschnitten. Auf der Brust waren in der Herzgegend einige große Stichwunden zu sehen. Das Nachthemd war von der Waffe zerrissen worden und mit Blut besudelt, ebenso wie das Laken rings um die Leiche.
Auf dem Boden neben dem Bett lag ein blutbeflecktes Stück Stoff. Das Blut war schon eingetrocknet. Fidelma hob den Stofffetzen auf und betrachtete ihn. Es handelte sich um ein Stück feines Leinen, auf das ein lateinischer Spruch gestickt war. Fidelma untersuchte die Blutflecken. Es schien, als hätte Wulfstans Mörder dieses Tuch aus der Tasche gezogen, die Mordwaffe daran abgewischt und es dann aus Versehen neben der Leiche auf dem Boden vergessen. Schwester Fidelma ließ das Tuch in der Tasche verschwinden, die in den Falten ihres Ordensgewandes verborgen war.
Als Nächstes schaute sie sich das Fenster an. Obwohl es zu hoch war, als dass sie hätte heranreichen können, schien das Gitter doch recht sicher zu sein. Dann richtete sie den Blick auf die schweren Holzbohlen und Balken, aus denen die Decke bestand. Der Raum war hoch, mehr als elf Fuß vom Boden bis zur Decke. Auch der Boden schien massiv zu sein.
Plötzlich fiel ihr Blick neben dem Bett auf ein Häufchen Asche. Sie hockte sich hin und bemühte sich, die Asche nicht mit ihrem Atem zu verstreuen. Es schienen die Überreste eines kleinen Stück Papiers oder eines Pergaments zu sein; sie waren jedoch bis zur Unkenntlichkeit verbrannt.
Nun nahm sich Fidelma die Tür vor. Man verriegelte sie, indem man zwei Balken auf beiden Seiten in eiserne, nach oben offene Halterungen legte. Die ersten Halterungen befanden sich etwa drei Fuß über der Unterkante der Tür, die zweiten etwa in fünf Fuß Höhe. Eine der eisernen Halterungen war aus dem Türrahmen gerissen, wahrscheinlich, als Ultan die Tür aufgebrochen hatte. Die unteren waren jedoch noch an Ort und Stelle, und es sah auch nicht so aus, als sei der zweite Balken beschädigt. Er lag gleich hinter der Tür. Beide Balken wirkten recht massiv. Bei beiden waren die Enden mit Seil umwickelt, damit, wie ihr schien, das Holz nicht an den eisernen Halterungen entlangscheuerte, in denen der Balken ruhte. An einem der Balken war das Seil beidseitig abgewickelt, schwarz und am Ende aufgefasert.
Hier gab es allerdings ein Problem zu lösen. Es sei denn, der Besitzer des Taschentuchs konnte ihr eine Antwort liefern.
Fidelma ging zur Tür zurück. Plötzlich glitt sie aus. Sie konnte sich gerade noch fangen. Gleich hinter der Tür entdeckte sie einen kleinen, dunklen Talgfleck. Fidelmas scharfe Augen bemerkten sofort einen ähnlichen Fleck auf der anderen Seite der Tür. Sie beugte sich hinab, um sie zu untersuchen. Da fielen ihr zwei Nägel im Türrahmen auf, einer rechts und einer links von der Tür. An jedem der Nägel hing ein Stück Seil, das ebenfalls geschwärzt und am Ende ausgefranst war.
Schwester Fidelma presste die Lippen aufeinander, stand eine Weile ruhig da und starrte auf die Tür, ehe sie sich umwandte und die Todeskammer verließ.
In Abt Laisrans Zimmer setzte sich Schwester Fidelma an den langen Tisch. Sie hatte mit dem Abt vereinbart, dass sie jeden befragen dürfte, von dem sie glaubte, er könnte ihr bei der Lösung des Problems behilflich sein. Laisran hatte ihr angeboten, bei den Befragungen anwesend zu sein, doch das hatte sie nicht für notwendig erachtet. Der Abt hatte sich in ein Nebenzimmer zurückgezogen, ihr aber eine Glocke gegeben, mit der sie ihn jederzeit herbeirufen konnte, falls sie seine Hilfe brauchte.
Bruder Ultan wurde dazu abgestellt, diejenigen herbeizuholen, die sie befragen wollte. Er wurde unverzüglich losgeschickt, um Wulfstans Gefährten Eadred, den zweiten angelsächsischen Prinzen, herbeizuschaffen, der Ultan zusammen mit seinem Vetter Raedwald geholfen hatte, die Tür von Wulfstans Kammer aufzubrechen.
Eadred war ein hochmütiger Jüngling mit flachsblondem Haar und kalten, ausdruckslosen blauen Augen. Seine Gesichtszüge waren in einer Mischung aus Verachtung und Langeweile erstarrt. Er trat ins Zimmer, und seine Augen verengten sich, als er Schwester Fidelmas ansichtig wurde. Ein großer, muskulöser Mann Ende zwanzig begleitete Eadred. Obwohl er keine Waffen trug, benahm er sich, als sei er der Leibwächter des Prinzen.
»Bist du Eadred?«, fragte Fidelma den jungen Mann.
Der sah sie nur finster an.
»Ich beantworte keine von einer Frau gestellte Frage.« Seine Stimme war so schroff und sein Akzent so kehlig, dass sein gestelztes Irisch sehr barsch klang.
Schwester Fidelma seufzte. Sie hatte schon gehört, dass die Angelsachsen überaus arrogant sein konnten und ihre Frauen eher wie Besitztümer als wie Menschen behandelten.
»Ich untersuche den Tod von Wulfstan, einem deiner Landsleute. Also muss ich darauf bestehen, dass meine Fragen beantwortet werden«, erwiderte sie mit fester Stimme.
Eadred ignorierte sie einfach.
»Lady.« Nun sprach der muskulöse Angelsachse. Sein Irisch war wesentlich besser als das seines Prinzen. »Ich bin Raedwald, Than von Staeningum, Vetter des Thans von Andredswald. Prinzen unseres Volkes reden nur mit Frauen, die von königlichem Geblüt und ihnen also gleichrangig sind.«
»Ich danke dir für deine Höflichkeit und die Erklärung eurer Sitten, Raedwald. Eadred, deinem Vetter, scheint es dagegen am Wissen über die Gesetze und Gebräuche des Landes zu mangeln, in dem er zur Zeit zu Gast ist.«
Sie übersah das zornige Stirnrunzeln Eadreds, griff nach der kleinen Silberglocke auf dem Tisch und läutete. Abt Laisran tauchte aus dem Nebenzimmer auf.
»Wie du mir angedeutet hast, Bruder Abt, scheinen die Angelsachsen tatsächlich zu glauben, dass sie über die Gesetze dieses Landes erhaben sind. Vielleicht werden sie aus deinem Munde eine Erklärung akzeptieren.«
Laisran nickte und wandte sich an die beiden jungen Männer. Er erklärte ihnen unumwunden, welchen Rang Fidelma in der Rechtsprechung innehatte, und betonte, dass selbst der Hochkönig von ihrer Weisheit und Gelehrsamkeit Notiz nehmen musste. Eadred blickte noch immer finster drein, neigte aber mit einer steifen Bewegung das Haupt, als Laisran ihm mitteilte, auch er sei nach den Gesetzen des Landes dazu verpflichtet, Fidelmas Fragen zu beantworten. Raedwald schien das als selbstverständlich hinzunehmen.
»Da dein Landsmann dich als eine Person von königlichem Rang einschätzt, werde ich mich herablassen, deine Fragen zu beantworten«, verkündete Eadred, trat vor und setzte sich hin, ohne auf Fidelmas Erlaubnis zu warten. Raedwald blieb stehen.
Fidelma wechselte einen Blick mit Laisran, der mit den Achseln zuckte. »Die Sitten der Angelsachsen sind nicht unsere Sitten, Schwester Fidelma«, erklärte er entschuldigend. »Ich bitte dich, ihre Neigung zu ungehobeltem Benehmen zu übersehen.«
Eadreds Gesicht überzog sich mit Zornesröte.
»Ich bin ein Prinz aus dem königlichen Geblüt der südlichen Angelsachsen, stamme in direkter Blutsverwandtschaft über meinen Vorfahren Aelle vom großen Gott Wodan ab!«
Raedwald, der still und mit verschränkten Armen hinter ihm stand, schaute unglücklich drein, wollte etwas sagen, schwieg dann aber.
Abt Laisran bekreuzigte sich entsetzt. Schwester Fidelma starrte den jungen Mann nur belustigt an.
»Also bist du noch kein wirklicher Christ, der nur an den einen wahren Gott glaubt?«
Eadred biss sich auf die Unterlippe.
»Alle Königshäuser der Angelsachsen führen ihre Abstammung auf Wodan zurück, ganz gleich, ob sie ihn als Gott, Mann oder Kriegsheld verehrten«, rechtfertigte er sich.
»Dann erzähle mir etwas über dich. Ich habe gehört, dass du ein Vetter von Wulfstan bist? Wenn du es schwierig findest, dich in unserer Sprache auszudrücken, kannst du gern Latein oder Griechisch sprechen. Ich bin in beiden Sprachen bestens bewandert.«
»Ich aber nicht«, bellte Eadred. »Ich spreche wegen meiner Studien hier eure Sprache, aber ich beherrsche keine andere fließend, wenn ich auch ein wenig Latein kann.«
Schwester Fidelma verbarg ihre Überraschung und forderte ihn mit einer Geste auf, fortzufahren. Die meisten irischen Prinzen und Stammesfürsten, die sie kannte, sprachen außer ihrer eigenen noch mehrere Sprachen fließend, vor allem Latein und Griechisch.
»Nun gut. Wulfstan war dein Vetter, nicht wahr?«
»Wulfstans Vater, Cissa, der König der südlichen Angelsachsen, war der Bruder meines Vaters Cymen. Ich bin Than von Andredswald, wie mein Vater vor mir.«
»Erzähle mir, wie Wulfstan und du hierher nach Durrow gekommen seid.«
Eadred schnaubte verächtlich.
»Vor einigen Jahren kam einer aus eurem Volk, ein Mann namens Diciul, in unser Land und begann von seinem Gott zu predigen, einem Gott ohne Namen, der einen Sohn namens Christus hatte. Cissa, der König, bekehrte sich zu diesem neuen Gott und wandte sich von Wodan ab.
Dem Mann aus Éireann wurde gestattet, in unserem Land eine Ordensgemeinschaft und ein Kloster in Bosas Ham zu gründen. Viele gingen dorthin und lauschten seinen Lehren. Cissa beschloss, dass Wulfstan, der Thronerbe des Königreiches, zur weiteren Erziehung nach Éireann reisen sollte.«
Schwester Fidelma nickte und überlegte, ob es wohl an seiner mangelhaften Beherrschung des Irischen lag, dass es sich so anhörte, als missbillige der junge Mann Cissas Bekehrung zum Christentum.
»Dann ist Wulfstan der tánist in eurem Land?«
Abt Laisran mischte sich lächelnd ein.
»Die Angelsachsen haben ein anderes Rechtssystem als wir, Schwester Fidelma«, unterbrach er sie. »Bei ihnen erbt der älteste Sohn alles. Es gibt keine Wahl des Nachfolgers durch die derbhfine wie bei uns.«
»Ich verstehe.« Fidelma nickte. »Fahre fort, Eadred. Cissa beschloss also, Wulfstan hierherzuschicken.«
Der junge Mann verzog säuerlich das Gesicht.
»Mir wurde befohlen, ihn zu begleiten und mit ihm zu studieren. Wir kamen zusammen mit unserem Vetter Raedwald, dem Than von Staeningum, und zehn Freien und fünf Sklaven, die für unser Wohl sorgen sollen. Nun sind wir bereits seit sechs Monden hier.«
»Und nicht gerade unsere hellsten Studenten«, murmelte Laisran.
»Das mag ja sein«, bellte Eadred. »Wir haben nicht darum gebeten, herkommen zu dürfen, sondern wurden von Cissa herbeordert. Es freut mich, dass wir nun endlich aufbrechen und den Leichnam meines Verwandten in unser Land mit zurücknehmen dürfen.«
»Sagt dir die lateinische Inschrift cave quid dicis etwas?«
Eadred rümpfte die Nase.
»Es ist das Motto des jungen fränkischen Prinzen Dagobert.«
Schwester Fidelma schaute den Burschen nachdenklich an, ehe sie sich wieder Raedwald zuwandte. Dessen Gesicht war gerötet, und er schaute verwirrt drein.
»Und du, Raedwald? Weißt du, was das heißt?«
»Leider kann ich kein Latein, Lady«, murmelte er.
»Ach so? Wann hast du Wulfstan zum letzten Mal gesehen?«
»Nach der Vesper.«
»Was ist da genau geschehen?«
»Wie üblich haben Eadred und ich Wulfstan zur Nachtruhe zu seiner Kammer begleitet, zusammen mit zwei von unseren Freien und zwei Sklaven. Wir haben wie immer das Zimmer durchsucht, und dann ist Wulfstan hineingegangen und hat uns fortgeschickt.«
Eadred nickte zustimmend und fuhr fort: »Ich habe mich danach auf dem Gang noch ein Weile mit Raedwald unterhalten. Wir haben beide gehört, wie Wulfstan die Holzbalken vorschob. Dann bin ich auf mein Zimmer gegangen.«
Wieder schaute Schwester Fidelma zu Raedwald hin.
»Du kannst das bestätigen, Raedwald?«
Erneut lief Eadreds krebsrot an.
»Du zweifelst an meinem Wort?« Seine Stimme klang schrill.
»Diese Untersuchung wird nach unseren Gesetzen durchgeführt, Eadred«, entgegnete ihm Fidelma verärgert.
Raedwald sah verlegen aus.
»Ich kann bestätigen, was Eadred gesagt hat, Lady«, antwortete er. »Der Than von Andredswald spricht die Wahrheit. Sobald wir gehört hatten, wie die Balken vorgelegt wurden, wussten wir, dass Prinz Wulfstan sein Zimmer für die Nacht verriegelt hatte. Also zogen wir uns beide in unsere Kammern zurück.«
Schwester Fidelma nickte nachdenklich.
»Du kannst auch bestätigen, Eadred, dass Wulfstan Angst hatte, man würde ihn angreifen? Warum war das so?«
Eadred schniefte.
»Es sind zu viele welisc hier, und einer von ihnen hat ihm verschiedentlich gedroht … dieser Barbar Talorgen!«
»Welisc? Wer sind die?«, fragte Schwester Fidelma.
Laisran lächelte müde.
»Die Angelsachsen nennen alle Britannier welisc. Das heißt so viel wie Fremde.«
»Ich verstehe. Also war Wulfstan sicher in seinem Zimmer verbarrikadiert, als ihr fortgingt? Ihr scheint ja nicht so viel Angst vor den Britanniern zu haben wie euer Vetter. Woran liegt das?«
Eadred lachte höhnisch.
»Ich wäre ja wohl nicht Than von Andredswald, wenn ich mich eines Rudels feiger welisc nicht zu erwehren wüsste. Nein, ich fürchte mich weder vor den Sprösslingen der Barbaren noch vor ihren Vätern.«
»Und der Rest deines angelsächsischen Gefolges? Fürchteten die die Britannier?«
»Es tut nichts zu Sache, ob die anderen sie fürchteten. Sie stehen unter meinem Befehl und tun, was ich sage.«
Schwester Fidelma seufzte. Es war wohl nicht so einfach, in einem angelsächsischen Land zu leben, wenn man kein König oder Than war, überlegte sie.
»Wann hast du bemerkt, dass Wulfstan fehlte?«, erkundigte sie sich.
»Bei den Gebeten nach der ersten Glocke …«
»Er meint das Angelus«, erklärte Laisran.
»Er ist nicht zum Gebet erschienen. Ich dachte, er hätte vielleicht verschlafen, und habe mich also in meinen Unterricht begeben.«
»Was für ein Unterricht war das?«
»Die Klasse des Frettchengesichts Finan über die Gesetze, die den Umgang zwischen Königreichen regeln.«
»Sprich weiter.«
»In der Morgenpause habe ich bemerkt, dass Wulfstan immer noch nicht aufgetaucht war, und bin zu seiner Kammer gegangen. Die Tür war verschlossen, was bedeutete, dass er noch drin sein musste. Ich hämmerte an die Tür. Keine Antwort. Dann habe ich Bruder Ultan geholt, den Hausbesorger …«
»Den Verwalter unserer Ordensgemeinschaft«, verbesserte ihn Laisran ruhig.
»Wir haben Raedwald geholt und sind zusammen zu Wulfstans Zimmer gegangen. Doch Ultan musste noch zwei Brüder herbeizitieren, die uns halfen, die Tür aufzubrechen. Wulfstan war ermordet worden. Nach dem Täter muss man ja wohl nicht lange suchen.«
»Wer könnte das sein?«, erkundigte sich Schwester Fidelma.
»Nun, das ist doch wohl klar! Der welisc Talorgen, der sich Prinz von Rheged schimpft. Er hat Wulfstan schon oft bedroht. Und es ist ja allgemein bekannt, dass die welisc auch zaubern können.«
»Was meinst du damit?«, fragte Fidelma mit scharfer Stimme.
»Nun, man hat Wulfstan in seiner Kammer ermordet, obwohl das Fenster vergittert und die Tür verschlossen und von innen verriegelt war. Wer außer einem welisc wäre in der Lage, seine Gestalt zu ändern und eine solche Untat zu begehen?«
Schwester Fidelma konnte ihr spöttisches Lächeln gerade noch verbergen.
»Eadred, ich denke, du hast noch viel zu lernen, denn du scheinst noch im Aberglauben deiner alten Religion befangen zu sein.«
Eadred sprang auf und fuhr mit der Hand dorthin, wo wohl sonst ein Messer am Gürtel hing.
»Ich bin der Than von Andredswald! Ich habe es zugelassen, dass ich von einer Frau befragt werde, weil es in eurem Land so Brauch ist. Aber ich lasse mich von keiner Frau beleidigen!«
»Es tut mir leid, wenn du glaubst, dass ich dich beleidigt habe«, erwiderte Schwester Fidelma mit einem gefährlichen Funkeln in den Augen. »Du kannst jetzt gehen.«
In Eadreds Gesicht zuckte es wütend; Laisran erhob sich und öffnete ihm die Tür.
Der junge angelsächsische Prinz drehte sich auf dem Absatz um und stürmte aus dem Raum. Raedwald zögerte einen Augenblick, machte eine beinahe entschuldigende Geste und folgte ihm.
»Habe ich dir nicht gesagt, dass diese Angelsachsen seltsame, hochmütige Leute sind, Fidelma?« Laisran lächelte beinahe traurig.
Schwester Fidelma schüttelte den Kopf.
»Es gibt bei ihnen wahrscheinlich Gute und Schlechte wie in allen Völkern. Raedwald scheint mehr von der Höflichkeit eines Prinzen zu besitzen als sein Vetter Eadred.«
»Nun, nach Eadred und seinem Gefolge zu urteilen, haben wir wohl die Schlechten erwischt. Was Raedwald betrifft, so ist er zwar ein Than und älter als Wulfstan und Eadred, aber sehr ruhig und lässt sich einfach von den beiden herumkommandieren. Er ist eher ein Diener als ein Herr. Ich habe mir sagen lassen, das liegt daran, dass seine Vettern beide in einem engeren Verwandtschaftsverhältnis zum König stehen als er.« Laisran hielt inne und warf ihr einen neugierigen Blick zu. »Warum hast du sie nach dem lateinischen Motto gefragt – cave quid dicis?«
»Diesen Satz fand ich auf ein Stück Leinen gestickt, mit dem das Messer abgewischt wurde, dem Wulfstan zum Opfer fiel. Vielleicht hat der Mörder das Tuch verloren, vielleicht hat es Wulfstan gehört?«
Laisran schüttelte den Kopf und sagte: »Nein, Eadred hatte recht. Das Motto kann nämlich auch bedeuten: ›Hüte deine Zunge‹. Es ist das Motto des fränkischen Prinzen Dagobert. Ich habe den jungen Mann erst kürzlich darauf hingewiesen, wie drohend sein Wahlspruch klingt.«
Schwester Fidelma rekelte sich und blickte ihn nachdenklich an. »Das ist schlecht für Dagobert, den Franken. Jetzt wird er des Mordes verdächtigt.«
»Nicht unbedingt. Jeder hätte das Tuch nehmen und dort fallen lassen können, und es gibt wahrhaftig viele, die die arroganten Angelsachsen hassen. Ich habe sogar gehört, wie es Finan einmal herausrutschte, er würde sie am liebsten alle miteinander ersäufen!«
Fidelma zog fragend die Augenbrauen hoch.
»Willst du damit sagen, dass wir Professor Finan auch zu den Verdächtigen zählen müssen?«
Plötzlich lachte Abt Laisran wieder.
»Oh, allein der Gedanke, dass Finan seine Gestalt ändert, um in einen verschlossenen Raum zu gelangen, dort einen Mord begeht und wieder herauskommt, ohne die Riegel zu entfernen, ist wirklich amüsant, aber kaum einer ernsthaften Erwägung wert.«
Schwester Fidelma schaute Laisran immer noch nachdenklich an.
»Du glaubst also, dass der Mörder tatsächlich zaubern kann?«
Laisrans rundliches Gesicht verfinsterte sich, und er bekreuzigte sich hastig.
»Gott schütze mich vor allem Bösen, Fidelma, aber gibt es eine andere Erklärung? Wir stammen beide aus einer Kultur, die eine Veränderung der Gestalt für völlig normal hält. Geh unter deine Leute, und dann sagen sie dir, dass die Druiden noch immer existieren und genau diese Fähigkeit besitzen. Wurde nicht Diarmuids Ziehbruder in einen Eber verwandelt, und ward nicht Caer, die Geliebte des Aengus Og, verflucht, jedes zweite Jahr ihre Gestalt zu ändern?«
»Das sind uralte Legenden, Laisran«, mahnte ihn Schwester Fidelma. »Wir leben in der Wirklichkeit, im Hier und Jetzt. Und denjenigen, der Wulfstan getötet hat, finden wir unter den Menschen dieser Gemeinschaft. Ehe ich jedoch Dagobert befrage, möchte ich mir noch einmal Wulfstans Zimmer ansehen.«
Abt Laisran zupfte sich an der Unterlippe. Er wirkte ein bisschen verwirrt.
»Das verstehe ich nicht, Schwester Fidelma. Jeder in unserer Gemeinschaft hier in Durrow hatte einen Grund, Wulfstan zu töten, und jeder ist verdächtig. Willst du das damit sagen? Dann ist zwar jeder verdächtig, aber gleichzeitig kann auch niemand die Tat begangen haben, denn sie liegt jenseits menschlicher Möglichkeiten.«
»Nun, das habe ich nicht gesagt«, erwiderte Schwester Fidelma dem Abt mit Bestimmtheit, während sie vor ihm her schritt. Sie blieb an der geöffneten Tür zu dem Raum stehen, der einmal Wulfstans Kammer gewesen war.
Man hatte Wulfstans Leichnam inzwischen in die Kapelle des Hl. Benignus geschafft. Dort traf man Vorbereitungen dafür, den Sarkophag an die Küste zu bringen, von wo Eadred und sein Gefolge ihn über das Meer zum Land der südlichen Angelsachsen begleiten würden, das an der Südküste Britanniens lag.
Wieder starrte Schwester Fidelma auf den grauen Steinfußboden, schritt über die großen Granitplatten, prüfte jede mit dem Fuß. Dann schaute sie zur Decke hinauf. Und schließlich wandte sie den Blick zu dem Gitter vor dem Fenster.
»Hilf mir«, verlangte sie plötzlich.
Abt Laisran sah sie überrascht an, als sie den Tisch zum Fenster zu schieben begann.
Schnell half er ihr bei ihren Bemühungen. Er lächelte ein wenig verlegen.
»Wenn meine Novizen ihren Abt sehen könnten, wie er Möbel rückt …«, hub er an.
»Dann würden sie merken, dass ihr Abt auch nur ein Mensch ist«, vollendete Fidelma lächelnd den Satz.
Sie schoben den Tisch unter das vergitterte Fenster, und zu Abt Laisrans Verwunderung kletterte Schwester Fidelma behende hinauf. Der Tisch war etwa drei Fuß hoch, und weil Schwester Fidelma groß war, konnte sie nun leicht die Gitterstäbe des Fensters erreichen, dessen Unterkante etwa acht Fuß über dem Boden lag. Sie packte nacheinander jede der zolldicken Eisenstangen mit beiden Händen und prüfte sie sorgfältig.
Enttäuscht ließ sie die Schultern hängen. Sie ergriff den hilfreich ausgestreckten Arm Laisrans und kletterte langsam wieder vom Tisch herunter.
»Ich dachte, die Gitterstangen wären vielleicht lose gewesen.«
»Ein guter Gedanke«, versuchte Laisran sie aufzumuntern.
»Komm, zeig mir das Stockwerk über diesem«, bat Schwester Fidelma ihn unvermittelt.
Mit einem Seufzer hastete Laisran hinter ihr her, als sie mit raschen Schritten davoneilte.
Auch das obere Stockwerk erwies sich als Enttäuschung. Über Wolfstans Kammer befand sich der Fußboden des Dormitoriums für die Novizen der Ordensgemeinschaft. Sorgfältig nahm Fidelma die Dielen in Augenschein, um festzustellen, ob man vielleicht eine hochgehoben hatte, um sich in das Zimmer darunter herabzulassen. Doch es war viele Jahre lang hier nichts angerührt worden. Auch hätte ein solches Vorgehen die Mitwirkung aller im Dormitorium erfordert.
»Sag mir, Laisran, was liegt unter Wulfstans Kammer?«, fragte Fidelma nun.
»Der Gedanke ist mir auch schon gekommen, Fidelma«, vertraute der Abt ihr an. »Darunter ist nichts als feste Erde. Es gibt keinen Keller, keinen Tunnelgang. Die Steinplatten wurden unmittelbar auf dem Erdboden verlegt. Es kann also niemand in die Kammer gelangt sein, indem er eine davon entfernte. Außerdem« – und hier lächelte er ironisch –, »was hätte wohl unser guter Wulfstan während des Aufruhrs gemacht, den es doch verursacht hätte, wenn jemand Deckenbohlen oder Fußbodenplatten oder Gitterstäbe am Fenster entfernt hätte?«
Schwester Fidelma lächelte zurück.
»Der Weg zur Wahrheit ist gepflastert mit dem Erwägen und Verwerfen aller Möglichkeiten, ganz gleich, wie unwahrscheinlich sie einem vorkommen, Laisran.«
»Die Wahrheit«, erwiderte der Abt besorgt, »ist, dass es unmöglich war, dass eine Menschenhand Wulfstan niederstreckte, während er allein in seiner verriegelten Kammer schlief.«
»Nun, darin kann ich dir zustimmen.«
Abt Laisran schaute sie verdutzt an.
»Ich dachte, du hättest gesagt, dass keine Zauberei im Spiel war. Meinst du, dass er nicht von Menschenhand getötet wurde?«
»Nein«, antwortete Schwester Fidelma mit einem Grinsen. »Ich meine, dass er nicht allein in seiner Kammer war. Es ist eine logische Folgerung: Wulfstan wurde erstochen. Wulfstan war in seiner Schlafkammer. Also war er nicht allein in seiner Schlafkammer, als er ermordet wurde.«
»Aber …«
»Wir haben ausgeschlossen, dass unser Mörder durch das Fenster gekommen sein kann. Bist du damit einverstanden?«
Laisran runzelte die Stirn, versuchte verzweifelt, ihrer Logik zu folgen.
»Wir haben die Möglichkeit ausgeschlossen, dass unser Mörder durch die Decke in die Kammer eingedrungen sein könnte.«
»Einverstanden.«
»Wir haben festgestellt, dass es für den Mörder unmöglich gewesen ist, durch den Steinfußboden in die Kammer zu gelangen.«
Abt Laisran nickte heftig.
»Dann bleibt nur noch eine Methode, hinein und wieder hinaus zu gelangen.«
»Ich verstehe nicht …«, setzte er an.
»Durch die Tür. Durch die Tür ist unser Mörder in die Kammer gekommen, und durch die Tür hat er sie auch wieder verlassen.«
»Unmöglich!« Laisran schüttelte den Kopf. »Die Tür war doch von innen verriegelt.«
»Trotzdem ist es so gewesen. Wer immer die Tat begangen hat, hoffte, uns würde diese seltsame Tatsache derart verwirren, dass wir das Motiv aus dem Auge verlieren. Denn er wünschte sich, dass wir zunächst an das Offensichtliche denken würden: den Hass zwischen Wulfstan und den Britanniern. Vorstellungen von Zauberei, bösen Geistern, der Gedanke, dass Wulfstan nicht von Menschenhand getötet wurde, all das sollte unsere Meinung beeinflussen. So hätte es jedenfalls unser Mörder gern gehabt.«
»Dann weißt du, wer es war?«
Fidelma schüttelte den Kopf.
»Ich habe noch nicht alle Verdächtigen befragt. Ich glaube, jetzt ist es an der Zeit, mit dem fränkischen Prinzen Dagobert zu sprechen.«
Dagobert war ein junger Mann, den man aus dem Land der Franken nach Durrow gebracht hatte, als er noch ein Kind war. Es wurde behauptet, er sei der Erbe des fränkischen Reiches, dass aber sein Vater abgesetzt worden wäre und der junge Prinz ins Exil nach Irland geschafft wurde, bis die Zeit für seine Rückkehr reif sei. Er war groß und dunkel und sah recht gut aus. Er sprach Irisch beinahe so fließend wie ein irischer Prinz. Laisran hatte Schwester Fidelma warnend mitgeteilt, der Prinz hätte gute Verbindungen und sei mit einer Prinzessin vom Königshof von Cashel verlobt. Es würde nicht ohne Folgen bleiben, wenn Dagobert nicht bis zum Letzten getreu dem Gesetz der Brehons behandelt würde.
»Du weißt, warum du hier bist?«, begann Schwester Fidelma.
»Das weiß ich«, erwiderte der junge Mann lächelnd. »Wulfstan, der angelsächsische Schweinehund, ist ermordet worden. Außer der Bande von Angelsachsen, die dem jungen Kerl folgte, tragen alle Studenten in Durrow ein erfreutes Lächeln auf dem Gesicht. Verwundert dich das, Schwester Fidelma?«
»Vielleicht nicht. Man sagt mir, dass du Streit mit ihm hattest?«
Dagobert nickte.
»Worüber?«
»Er war ein arrogantes Schwein. Er hat meine Ahnen beleidigt. Also habe ich ihm eins auf die Nase gegeben.«
»War das nicht schwierig? Er hatte doch eine Leibwache. Man hat mir auch erzählt, dass Raedwald nie weit entfernt war, und der ist ein kräftiger Kerl.«
Dagobert lachte glucksend.
»Raedwald wusste, wann er seinen Prinzen verteidigen musste und wann nicht. Er war, diplomatisch geschickt, aus dem Zimmer gegangen, als die Streiterei anfing. Es fehlt ihm nicht an Humor, diesem Raedwald von den südlichen Angelsachsen. Wulfstan hat ihn behandelt wie den Dreck unter seinen Füßen, obwohl er auch ein Than ist und ein Blutsverwandter.«
Schwester Fidelma griff in die Tasche, zog das blutbefleckte, bestickte Leinentuch heraus und legte es auf den Tisch.
»Erkennst du das?«
Dagobert hob das Tuch auf und drehte es mit verwundertem Gesicht in den Händen.
»Es ist ganz gewiss meines. Hier ist mein Wahlspruch. Aber die Blutflecken?«
»Es lag neben Wulfstans Leiche. Ich habe es dort gefunden. Man hat es offensichtlich dazu benutzt, die Mordwaffe abzuwischen.«
Dagobert erbleichte.
»Ich habe Wulfstan nicht umgebracht. Er war ein Schwein, aber er hatte nur eine gehörige Tracht Prügel nötig, damit er einmal bessere Manieren lernte.«
»Wie kommt dann dieses Tuch in seine Schlafkammer?«
»Ich … ich habe es jemandem geliehen.«
»Wem?«
Dagobert kaute auf der Unterlippe und zuckte die Achseln.
»Wenn du nicht dieses Verbrechens beschuldigt werden willst, Dagobert, musst du es mir sagen«, beharrte Fidelma.
»Vor zwei Tagen habe ich Talorgen, dem Prinzen von Rheged, das Taschentuch geliehen.«
Finan verneigte sich vor Schwester Fidelma.
»Dein Ruf als Anwältin am Gerichtshof der Brehons eilt dir voraus, Schwester«, grüßte sie der dunkle, hagere Mann. »Es erreichten uns bereits Gerüchte aus Tara, dass du einmal ein Komplott aufgedeckt hast, mit dem man den Hochkönig stürzen wollte.«
Fidelma bat Finan mit einer Handbewegung, sich zu setzen.
»Manchmal übertreiben die Leute ein bisschen, weil sie sich gern Helden und Heldinnen aufbauen, die sie verehren können. Du bist hier Professor der Jurisprudenz?«
»Das stimmt. Ich habe eine Ausbildung von sechs Jahren bis zum sai durchlaufen und bin nun Professor.«
Den Abschluss sai erreichte man nach sechs Jahren Studien. Er lag eine Stufe unter dem des anruth, den Fidelma erworben hatte.
»Und du hast Wulfstan unterrichtet?«
»Wir haben alle unser Kreuz zu tragen, genau wie Christus. Mein Kreuz war es, dass ich die angelsächsischen Thans unterrichten musste.«
»Doch nicht alle Angelsachsen?«
Finan schüttelte den Kopf.
»Nein, nur die drei Thans, denn sie weigerten sich, im Unterricht mit Bauern zusammenzusitzen. Nur auf ausdrücklichen Befehl von Abt Laisran kamen sie mit den anderen Studenten in den Hörsaal. Sie waren nicht gerade demütig vor dem Altar Christi. Im Gegenteil, ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass sie heimlich über Christus spotteten und weiterhin ihren befremdlichen Gott Wodan verehrten.«
»Du magst die Angelsachsen nicht?«
»Ich hasse sie!«
Die Entschiedenheit in Finans Stimme ließ Fidelma aufhorchen.
»Ist Hass nicht ein Gefühl, das einem Klosterbruder fremd sein sollte, besonders einem, der den Titel sai trägt?«
»Meine Schwester und mein Bruder nahmen das Ordensgewand und entschlossen sich, einem Ruf zu folgen, das Wort Christi im Land der östlichen Angelsachsen zu predigen. Vor einigen Jahren begegnete ich einem der Missionare, der mit dieser Gruppe aufgebrochen war. Sie hatten das Land erreicht und versuchten, dort das Wort des Herrn zu predigen. Die heidnischen Angelsachsen hatten sie jedoch gesteinigt, und nur zwei aus der Gruppe entgingen dem Tode. Unter denjenigen, die das Märtyrerschicksal erlitten, waren meine Schwester und mein Bruder. Seither hasse ich alle Angelsachsen.«
Schwester Fidelma schaute in Finans dunkle Augen.
»Hast du Wulfstan umgebracht?«
Finan erwiderte ihren Blick unerschüttert.
»Ich hätte es zu einer anderen Zeit, an einem anderen Ort tun können. Genügend Hass habe ich in mir. Aber nein, Schwester Fidelma, ich habe ihn nicht getötet. Weder besitze ich die Fähigkeit, in einen verriegelten Raum einzudringen, noch ihn wieder zu verlassen, als sei niemand darin gewesen.«
Fidelma nickte bedächtig.
»Du kannst gehen, Finan.«
Der Rechtsprofessor erhob sich zögerlich. Er hielt inne und bemerkte nachdenklich: »Niemand hier im Kloster mochte Wulfstan und Eadred. Viele heißblütige junge Männer haben sie zum Zweikampf herausgefordert, seit sie hier aufgetaucht sind. Dagobert, der Franke, zum Beispiel. Allein die Tatsache, dass derlei Herausforderungen auf heiligem Grund verboten sind, hat bisher ein Blutvergießen verhindert.«
Fidelma nickte noch einmal.
»Stimmt es, dass die Angelsachsen morgen abreisen?«, fragte Finan.
Sie hob den Kopf und schaute ihn an.
»Sie kehren mit dem Leichnam Wulfstans in ihr Land zurück«, bestätigte sie ihm.
Ein zufriedenes Lächeln erschien auf Finans Gesicht.
»Ich kann nicht behaupten, darüber betrübt zu sein, selbst wenn einer von ihnen sein Leben lassen musste, bis es so weit kam. Ich hatte gehofft, sie hätten Durrow bereits gestern verlassen.«
»Warum hätten sie fortgehen sollen?«, fragte Fidelma.
»Gestern Nachmittag ist irgendein angelsächsischer Bote hier im Kloster eingetroffen und suchte Wulfstan und Eadred. Ich hatte schon gehofft, dass man sie in ihr Heimatland zurückbeorderte. Wie auch immer, Gott sei gepriesen, dass sie nun verschwinden.«
Fidelma erwiderte ärgerlich: »Darf ich dich an eines erinnern, Finan: Wenn wir den Täter nicht finden, ist nicht nur diese Stätte der Gelehrsamkeit, dann sind alle fünf Königreiche von Éireann in Gefahr, denn die Angelsachsen werden sicherlich Vergeltung für den Tod ihres Prinzen üben wollen.«
Talorgen von Rheged war ein junger Mann von mittlerer Statur mit einem frischen Gesicht und sandbraunem Haar. Er trug einen dünnen Schnurrbart, aber seine Wangen und sein Kinn waren glattrasiert.
»Ja. Es ist kein Geheimnis, dass ich Wulfstan und Eadred zum Zweikampf herausgefordert habe.« Er sprach Irisch zwar mit Akzent, aber fließend, und er schien gefasst, als er sich auf den Stuhl setzte, auf den Schwester Fidelma gedeutet hatte.
»Warum?«
Talorgen grinste spitzbübisch.
»Ich habe mir sagen lassen, dass du Eadred bereits befragt hast. Von seinem Benehmen kannst du auf Wulfstans Arroganz schließen. Es ist nicht schwer, sich von denen provozieren zu lassen, selbst wenn sie keine Angelsachsen wären.«
»Du liebst die Angelsachsen nicht?«
»Sie sind nicht liebenswert.«
»Du bist ein Prinz von Rheged, und es wird berichtet, dass die Angelsachsen dein Land immer wieder angreifen.«
Talorgen nickte mit verkniffenem Mund. »Oswy nennt sich zwar christlicher König von Northumbria, doch trotzdem schickt er seine barbarischen Horden gegen die Königreiche der Britannier aus. Seit Generationen kämpfen nun die Bewohner meines Landes gegen die Angelsachsen, denn deren Hunger nach Land und Macht ist unersättlich. Owain, mein Vater, hat mich hierhergeschickt, aber ich wäre jetzt, so wahr Christus auferstanden ist, lieber an seiner Seite und schwänge mein Schwert gegen die angelsächsischen Feinde. Meine Klinge sollte das Blut der Feinde meines Stammes trinken.«
Schwester Fidelma betrachtete neugierig den jungen Mann, der mit hochrotem Kopf vor ihr saß.
»Hat deine Klinge denn schon das Blut der Feinde deines Stammes getrunken?«
Talorgen zuckte ungeduldig die Achseln, zögerte, doch dann entspannten sich seine Gesichtszüge. Er lachte leise.
»Du fragst, ob ich Wulfstan ermordet habe? Das habe ich nicht getan. Ich schwöre es beim lebendigen Gott! Aber lass es dir gesagt sein, Schwester Fidelma, das liegt nicht daran, dass ich es nicht wollte. Wahrhaftig, manchmal ist der christliche Glaube ein gestrenger Zuchtmeister. Wulfstan und sein Vetter Eadred waren so widerwärtig, dass ich kaum glauben kann, dass irgendjemand in dieser Gemeinschaft Wulfstan eine Träne nachweint.«
Fidelma zog das blutbefleckte Taschentuch hervor und legte es auf den Tisch.
»Dies wurde neben Wulfstans Leichnam gefunden. Man hat damit das Blut von der Mordwaffe abgewischt. Es gehört Dagobert.«
»Du meinst, Dagobert …?« Die Augen des Prinzen von Rheged weiteten sich, als er vom Taschentuch zu Schwester Fidelma schaute.
»Dagobert sagte mir, er hätte dir dieses Tuch vor zwei Tagen geliehen.«
Talorgen untersuchte das Taschentuch sorgfältig und nickte dann bedächtig.
»Er hat recht. Es ist das gleiche Tuch. Ich kann es an der Stickerei erkennen.«
»Wie ist es dann in Wulfstans Kammer gekommen?«
Talorgen zuckte die Achseln.
»Das weiß ich nicht. Ich erinnere mich, dass ich es gestern Morgen noch in meiner Kammer hatte. Dann bemerkte ich, dass es weg war, und dachte, Dagobert hätte es sich geholt.«
Schwester Fidelma schaute Talorgen einen Augenblick lang unverwandt an.
»Ich schwöre es, Schwester«, sagte der Prinz von Rheged ernst. »Außerhalb dieser Mauern hätte ich Wulfstan ohne Zögern umgebracht, aber hier auf diesem Gelände habe ich ihn nicht getötet.«
»Du bist aufrichtig, Talorgen.«
Der junge Mann hob die Schultern.
»Ich stamme aus dem Haus des Urien von Rheged, dessen Lob unser großer Barde Taliesin sang. Urien war der Goldene König des Nordens, der hinterlistig von einem Verräter niedergemetzelt wurde. Wir in unserem Hause sind unparteiisch, gerecht und aufrichtig. Wir glauben an die Ehrlichkeit. Wir treten unseren Feinden im hellen Licht des Tages auf dem Schlachtfeld entgegen, nicht bei Nacht in den finsteren Ecken irgendeiner Bettkammer.«
»Du sagtest, dass viele in dieser Gemeinschaft etwas gegen Wulfstan hatten? Dachtest du da an jemand Besonderen?«
Talorgen spitzte die Lippen.
»Unser Lehrer Finan hat oft gesagt, dass er die Angelsachsen hasst.«
Schwester Fidelma nickte.
»Ich habe schon mit Finan gesprochen.«
»Wie du bereits weißt, hat Dagobert sich vor zwei Tagen abends im Refektorium mit Wulfstan gestritten und ihm die Nase blutig geschlagen. Dann waren da noch Riderch von Dumnonia, Fergna von Midhe und …« Schwester Fidelma gebot ihm mit einer Handbewegung Einhalt.
»Ich denke, du hast den Beweis erbracht, Talorgen: Jeder in Durrow ist verdächtig.«
Schwester Fidelma fand Raedwald im Stall, wo er Vorbereitungen für die Rückreise in seine Heimat traf.
»Eine Frage möchte ich dir noch allein stellen, Raedwald. Muss ich dich an meine Autorität erinnern?«
Der angelsächsische Krieger schüttelte den Kopf.
»Ich habe viel über euer Gesetz und eure Gebräuche gelernt, seit ich in eurem Land bin, Schwester. Ich bin nicht wie Eadred.«
»Und du hast unsere Sprache einigermaßen fließend sprechen gelernt«, sagte Fidelma. »Sprichst besser und verstehst mehr als dein Vetter.«
»Es steht mir nicht zu, den Thronfolger des Königreichs der südlichen Angelsachsen zu kritisieren.«
»Aber ich glaube, du mochtest deinen Vetter Wulfstan nicht?«
Raedwald blinzelte überrascht ob ihrer unverblümten Frage und zuckte dann die Achseln.
»Ich bin nur ein Than im Hause Cissas, es steht mir nicht an, meinen neuen König zu mögen oder nicht zu mögen.«
»Warum hast du gestern Nacht nicht vor Wulfstans Kammer Wache gehalten?«
»Das habe ich nie getan. Sobald Wulfstan die Tür von innen verriegelt hatte, war er gut geschützt. Du hast die Kammer gesehen, die er sich von Abt Laisran erbeten hat. Sobald er sich drinnen verbarrikadiert hatte, gab es scheinbar keinerlei Gefahr mehr für ihn. Ich schlief in der Kammer nebenan und war immer bereit, falls er mich zu Hilfe rufen würde.«
»Aber er hat nicht um Hilfe gerufen?«
»Sein Mörder hat ihm gleich zuerst die Kehle durchgeschnitten. So viel war an seiner Leiche klar zu erkennen.«
»Es ist auch klar, dass er den Mörder freiwillig in seine Kammer gelassen hat. Deswegen muss er ihn gekannt und ihm vertraut haben.«
Raedwalds Augen verengten sich.
Fidelma sprach weiter.
»Sag mir, der Bote, der gestern aus eurem Land hier eintraf, welche Botschaft brachte er Wulfstan?«
Raedwald schüttelte den Kopf.
»Diese Botschaft war nur für Wulfstan bestimmt.«
»Ist der Bote noch hier?«
»Ja.«
»Dann möchte ich ihn gern befragen.«
»Du kannst ihn gern befragen, aber er wird dir nicht antworten.« Raedwald lächelte grimmig.
Schwester Fidelma presste verärgert die Lippen zusammen.
»Noch so ein angelsächsischer Brauch? Nicht einmal die Boten wollen mit Frauen sprechen?«
»Ja, ein angelsächsischer Brauch. Aber dies ist ein Brauch der Könige. Einem königlichen Boten wird die Zunge herausgeschnitten, damit er niemals den Feinden mündlich die Botschaft verraten kann, die ihm von den Königen und Prinzen anvertraut wurde.«
Mit einer Handbewegung bat Abt Laisran alle, die er auf Schwester Fidelmas Geheiß in seinem Studierzimmer versammelt hatte, sich einen Sitzplatz zu suchen. Auf ihren Mienen hatte sich, je nach ihrer Persönlichkeit, beim Betreten des Raumes entweder Neugier oder Trotz widergespiegelt, als sie Schwester Fidelma vor dem Kamin mit dem hohen Sims stehen sahen. Sie war in Gedanken versunken, hatte die Hände fromm vor sich gefaltet, schien sie nicht zu bemerken, während sie sich hinsetzten. Bruder Ultan, der Verwalter des Klosters, stellte sich vor die Tür, die Hände im Ordensgewand verborgen.
Abt Laisran warf Fidelma einen besorgten Blick zu und setzte sich dann ebenfalls.
»Warum sind wir hier?«, fragte Talorgen barsch.
Fidelma hob den Kopf und schaute ihm in die Augen.
»Ihr seid hier, um zu erfahren, wie und durch wessen Hand Wulfstan gestorben ist«, erwiderte sie in scharfem Ton.
Nach einer kurzen Pause bemerkte Eadred mit höhnischem Lächeln: »Wie mein Blutsverwandter Wulfstan gestorben ist, wissen wir bereits, Frau. Durch die Zauberei eines Barbaren. Wer dieser Barbar ist, lässt sich leicht folgern. Es war einer von den Wilden, den welisc, nämlich Talorgen.«
Talorgen sprang auf und ballte die Fäuste.
»Wiederhole diese Anschuldigung außerhalb der Klostermauern, und dann pariere ich dein Schwert mit dem meinen, du angelsächsische Memme!«
Dagobert erhob sich und fuhr dazwischen, als Eadred von seinem Stuhl aufspringen und sich auf Talorgen stürzen wollte.
»Schluss jetzt!« Die sonst so freundlichen Züge Laisrans verzerrten sich vor Wut. Seine Stimme schnitt wie ein Peitschenhieb durch die Luft.
Die Studenten der kirchlichen Schule von Durrow schienen zu erstarren. Dann fiel Eadred mit einem Lächeln auf seinen Stuhl zurück, das eher Hohn als Belustigung ausdrückte. Dagobert zupfte Talorgen am Ärmel, und der Prinz von Rheged seufzte und setzte sich wieder hin. Der fränkische Prinz tat es ihm gleich.
Abt Laisran grollte wie ein wütender Bär.
»Schwester Fidelma ist Anwältin am Gerichtshof der Brehons in Éireann. Was auch immer die Bräuche in eurem Land sein mögen, in unserem Land besitzt sie jedenfalls die höchste Rechtsgewalt, und die berechtigt sie, diese Untersuchung durchzuführen. Sie hat die volle Unterstützung durch die Gesetze dieses Königreiches. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?«
Es herrschte Schweigen.
»Ich fahre fort«, sagte Fidelma ruhig. »Und doch ist das, was Eadred gesagt hat, zum Teil wahr.«
Eadred starrte sie an, und Verwirrung umschattete seine Augen.
»O ja«, meinte Fidelma lächelnd. »Zumindest einer von euch weiß, wie Wulfstan gestorben ist und wer dafür verantwortlich ist.«
Sie legte eine kleine Pause ein und ließ die Worte ihre Wirkung tun.
»Lasst mich zunächst erklären, wie er gestorben ist.«
»Er wurde in seinem Bett erstochen«, sagte Finan, der Rechtsprofessor.
»Das ist richtig«, stimmte ihm Fidelma zu, »aber es geschah ohne die Hilfe von Zauberei.«
»Wie sonst konnte ein Mörder in einen verriegelten Raum gelangen und ihn wieder verlassen, obwohl er noch immer von innen verriegelt war?«, wollte Eadred wissen. »Wie, außer durch Zauberei?«
»Der Mörder wollte, dass wir es für Zauberei hielten. Er hat sich einen sehr komplizierten Plan ausgedacht, um uns zu verwirren und die Schuld jemand anderem zuzuschieben. Der Plan war so komplex, dass er verschiedene Ebenen hatte. Eine der Ebenen war schlicht und einfach, dass er uns verwirren und verängstigen wollte, weil wir dachten, der Mord sei von einer übernatürlichen Kraft begangen worden. Die andere war, einen Hinweis auf einen offensichtlichen Verdächtigen zu hinterlassen, und die dritte war, eine andere Person zu bezichtigen.«
»Nun«, meinte Laisran, »im Augenblick durchschaue ich nicht einmal die erste Absicht.«
Schwester Fidelma warf dem rundlichen Abt ein flüchtiges Lächeln zu.
»Die hebe ich mir für später auf. Wir wollen zunächst die Todesart betrachten.«
Nun hatte sie die ungeteilte Aufmerksamkeit aller.
»Der Mörder betrat den Raum durch die Tür. Wulfstan hat seinen Mörder selbst in die Schlafkammer eingelassen.«
Der ungewöhnlich schweigsame Dagobert holte laut und vernehmlich Luft.
Ungerührt sprach Fidelma weiter.
»Wulfstan kannte seinen Mörder. Ja, er hegte keinerlei Verdacht, fürchtete diesen Mann nicht.«
Abt Laisran betrachtete sie mit vor Erstaunen offenem Mund.
»Wulfstan ließ den Mörder in die Kammer«, fuhr sie fort. »Der Mörder schlug zu. Er tötete Wulfstan und ließ den Leichnam auf dem Bett zurück. Es ging alles blitzschnell. Um Zweifel und Verdacht zu verbreiten, wischte der Übeltäter sein Messer an einem Leinentuch ab, von dem er irrtümlich annahm, dass es Talorgen, dem Prinzen von Rheged, gehörte. Wie ich schon sagte, falls es uns gelingen würde, die Scharade der Zauberei zu durchblicken, wollte der Täter den Mord Talorgen anlasten. Er bemerkte nur nicht, dass auf diesem Tuch deutlich sichtbar Dagoberts Wahlspruch zu lesen stand. Es war ein lateinischer Spruch: ›Hüte deine Zunge!‹«
Sie legte eine Pause ein, in der die Zuhörer diese Neuigkeit verdauen konnten.
»Wie hat nun aber der Täter die Bettkammer wieder verlassen und es geschafft, die Tür von innen zu verriegeln?«, fragte Dagobert.
»Die Tür wird mit Hilfe von zwei Holzbalken verriegelt. Normalerweise werden die in eiserne Halterungen eingehängt, die am Türrahmen befestigt sind. Als ich mir den ersten Balken ansah, bemerkte ich, dass an beiden Enden Seil darum gewickelt war, um das Holz zu schützen, wenn es in die Halterungen geschoben wird. Das Seltsame war, dass am anderen Balken an beiden Seiten vier Fuß Seil lose hingen. An den Enden war das Seil ausgefranst und verkohlt.«
Sie wiederholte diesen Satz noch einmal.
»Seltsam. Dann fiel mir auf, dass über der Tür eine Stange befestigt ist, an der gegen die Zugluft ein schwerer Wollvorhang hängt. Ich konnte natürlich nicht feststellen, ob der Vorhang zur Tatzeit zugezogen war oder nicht. Denn sobald wir gewaltsam in den Raum eingedrungen waren, hatte die Bewegung der Tür nach innen den Vorhang möglicherweise zur Seite geschoben.«
Eadred machte eine ungeduldige Handbewegung.
»Wohin soll diese Erklärung führen?«
»Geduld, ich sage es euch gleich. Des Weiteren entdeckte ich zu beiden Seiten der Tür je einen kleinen Talgfleck. Als ich mich hinunterbückte, um diese Flecken genauer zu betrachten, sah ich zwei Nägel, die etwa drei Zoll über dem Boden in den Türrahmen geschlagen waren. Zwei kurze Enden Seil hingen noch an diesen Nägeln, und auch hier waren die Enden ausgefranst und verkohlt. Da begriff ich, wie der Mörder aus dem Zimmer geflohen war und trotzdem einen der Balken in die Verriegelung gebracht hatte.«
»Einen?«, fragte Abt Laisran. Er hatte sich weit vorgelehnt und schaute sie mit gespannter Miene an.
Fidelma nickte.
»Es war nur ein Balken nötig, um die Tür von innen zu verriegeln. Der erste Balken, drei Fuß von der Unterkante der Tür entfernt, war nicht eingelegt worden. Es waren keinerlei Kerben auf ihm zu sehen, und das Seil an den Enden war unversehrt. Auch waren die zugehörigen Halterungen nicht aus dem Türrahmen gerissen. Daraus musste ich schließen, dass dieser Balken nicht in den Halterungen gesteckt hatte. Nur der zweite Balken, der oben an der Tür, hatte in der Halterung gesteckt.«
»Weiter«, drängte Laisran sie, als sie wieder eine Pause einlegte.
»Der Mörder hatte alles gut vorbereitet. Nachdem er Wulfstan getötet hatte, wickelte er das Seil ein Stück von den Enden des Balkens ab und führte es über die Vorhangstange über der Tür. Dann schlug er zwei Nägel ein – oder er hatte sie schon am Tag, als die Kammer offen war, eingeschlagen. Nun zog er den Holzbalken bis zur Vorhangstange hoch. Er sicherte ihn, indem er die Enden des Seils an den unten eingeschlagenen Nägeln festband. Diese Konstruktion erlaubte es ihm, die Kammer zu verlassen.«
Laisran wedelte ungeduldig mit der Hand.
»Ja, aber wie konnte er dann das Seil so führen, dass der Balken in die Halterung herabgelassen wurde?«
»Ganz einfach. Er nahm zwei Talgkerzen und stellte je eine beim Hinausgehen unter ein Stück Seil. Dann nahm er ein Stück Papier und brachte es mit Hilfe seiner Zunderbüchse zum Brennen – die Asche des Papiers habe ich auf dem Boden der Kammer gefunden, wo er sie hatte fallen lassen. Mit dem Papier zündete er die beiden Kerzen rechts und links der Tür unter der Schnur an. Nun ging er rasch. Sobald die Schnur durchgeschmort war, gab sie den Balken frei, der ordentlich in die nach oben offene eiserne Halterung fiel. Er musste ja, wie ihr euch erinnert, nur zwei Fuß tief fallen. Die Kerzen brannten weiter herunter, bis sie nur noch Fettflecken waren, beinahe nicht zu sehen, wenn ich nicht auf einem ausgeglitten wäre. Doch das Ergebnis war, dass wir vor einem Rätsel standen. Ein von innen verriegelter Raum mit einer Leiche. Zauberei? Nein. Die Planung eines listigen Hirns.«
»Was geschah dann?«, erkundigte sich Talorgen und unterbrach so das atemlose Schweigen.
»Der Mörder verließ die Kammer, wie ich beschrieben habe. Er wollte die Illusion eines geheimnisvollen Geschehens erwecken, denn die Person, der er das Verbrechen anlasten wollte, war jemand, von dem er annahm, seine Landsleute würden ihn für einen Barbaren und Zauberer halten. Wie ich schon angedeutet habe, wollte er den Verdacht auf dich lenken, Talorgen. Er verließ die Kammer und redete draußen vor Wulfstans Zimmer noch eine Weile mit jemandem. Dann hörte er, wie der Balken in die Halterung fiel. Das war auch sein Alibi, denn es war ja klar, dass die beiden vernommen hatten, wie Wulfstan, der noch lebte, den Balken vorlegte, um die Tür zu verriegeln.«
Raedwald legte die Stirn in Falten, als machte es ihm Mühe, ihren Argumenten zu folgen.
»Du hast die Tat hervorragend rekonstruiert«, sagte er langsam. »Aber es beruht alles nur auf Annahmen. Und es bleibt nur eine Annahme, bis du den Mörder nennst und uns sein Motiv verrätst.«
Schwester Fidelma lächelte milde.
»Nun gut. Dazu wollte ich gerade kommen.«
Sie drehte sich um und ließ ihre Augen über die fragend zu ihr aufgerichteten Gesichter schweifen. Dann blieb ihr Blick an den hochmütigen Zügen des Than von Andredswald hängen.
Eadred deutete das als Anschuldigung und war mit wutverzerrtem Gesicht aufgesprungen, ehe sie noch ein Wort gesagt hatte.
Rasch kam Ultan, der Verwalter, quer durch den Raum geschritten und baute sich schützend vor Schwester Fidelma auf, für den Fall, dass Eadred sich von den Gefühlen, die sich deutlich auf seinem Gesicht abzeichneten, hinreißen lassen sollte.
»Du hast uns noch nichts zum Motiv gesagt«, meinte Dagobert, der Franke, ruhig. »Warum sollte der Than von Andredswald seinen Vetter und Prinzen ermorden?«
Schwester Fidelmas Blick war immer noch auf den arroganten Angelsachsen gerichtet.
»Ich habe doch gar nicht gesagt, dass der Than von Andredswald der Mörder ist«, stellte sie leise fest. »Was das Motiv angeht, so liegt es in den Gesetzen der angelsächsischen Gesellschaft begründet, die, Gott sei’s gedankt, nicht die unseren sind.«
Abt Laisran sah sie fragend an.
»Erkläre dich näher, Fidelma. Das verstehe ich nicht.«
»Ein angelsächsischer Prinz erbt die Königswürde durch das Recht des Primogenitur. Das heißt, der älteste Sohn erbt alles.«
Dagobert nickte ungeduldig.
»Das ist auch in unserer fränkischen Thronfolge so. Aber wieso könnte das ein Motiv für den Mord an Wulfstan sein?«
»Vor zwei Tagen traf hier ein Bote aus dem Königreich der südlichen Angelsachsen ein. Seine Botschaft war für Wulfstan bestimmt. Ich habe herausgefunden, wie diese Botschaft lautete.«
»Wie hast du das angestellt?«, wollte Raedwald wissen. »Königlichen Boten wird die Zunge herausgeschnitten, damit sie derlei Geheimnisse nicht verraten können.«
Fidelma grinste.
»Das hast du mir schon gesagt. Zum Glück hat der arme Mann schreiben gelernt, und zwar von Diciul, dem Missionar aus Éireann, der das Christentum und die Gelehrsamkeit in euer Land gebracht hatte.«
»Und wie lautete die Botschaft?«, fragte Laisran.
»Wulfstans Vater ist gestorben, der Gelben Pest zum Opfer gefallen. Wulfstan war nun König der südlichen Angelsachsen und wurde dringend nach Hause gerufen.«
Sie schaute Raedwald an.
Der nickte stumm.
»So viel hast du mir bereits verraten, als ich dich verhörte, Raedwald«, fuhr Fidelma fort. »Als ich dich fragte, ob du Wulfstan liebtest, sagtest du mir, es stehe dir nicht an, deinen neuen König zu mögen oder nicht zu mögen. Ein Versprecher, aber er machte mich auf ein mögliches Motiv aufmerksam.«
Raedwald schwieg.
»In einem derart barbarischen System der Thronfolge, wo die Reihenfolge der Geburt das einzige Kriterium für den Anspruch auf ein Erbe oder ein Königreich ist, gibt es keinen Schutz. In Éireann wie bei unseren Vettern, den Britanniern, muss ein Stammesfürst oder König nicht nur königlichen Geblüts sein, er muss auch von der derbhfine seiner Familie erwählt werden. Ohne einen solchen Schutz ist völlig klar, dass nur der Tod des Vorgängers alle Hindernisse für einen Thronanwärter aus dem Weg räumt.«
Raedwald spitzte die Lippen und sagte leise: »Das stimmt.«
»Und nun, da Wulfstan tot ist, wird Eadred ihm auf dem Thron nachfolgen?«
»Ja.«
Eadreds Gesicht war puterrot.
»Ich habe Wulfstan nicht umgebracht!«
Schwester Fidelma sah ihm tief in die Augen.
»Ich glaube dir, denn der Mörder ist Raedwald«, sagte sie ruhig.
Von Panik ergriffen, wollte Raedwald flüchten, doch Finan packte ihn fest am Arm. Dagobert und Ultan, der Verwalter, sprangen vor und halfen ihm, Raedwald festzuhalten, der sich heftig wehrte. Sobald man den Than von Staeningum überwältigt hatte, sprach Schwester Fidelma weiter: »Ich habe gesagt, dass der Mörder klug und listenreich ist. Und doch hat sich Raedwald bei seinem Versuch, uns auf die falsche Fährte zu leiten, übernommen und so den Verdacht auf sich gelenkt. Er wollte, dass wir Talorgen das Verbrechen zur Last legten, doch es unterlief ihm ein Fehler, weil er dachte, das Taschentuch gehöre Talorgen. Es trug aber Dagoberts lateinischen Wahlspruch. Raedwald kann kein Latein, deshalb bemerkte er das nicht. Aus diesem Grund ist Eadred nun von jedem Verdacht frei, denn er versteht zumindest so viel Latein, dass er Dagoberts Wahlspruch erkennen konnte.«
Sie sah Eadred an.
»Wenn du auch ermordet worden wärst, dann wäre Raedwald der nächste Thronanwärter gewesen, nicht wahr?«
Eadred nickte.
»Aber …«
»Raedwald hatte vor, dich als Täter zu bezichtigen und dann zu zeigen, dass du Talorgen die Schuld zuschieben wolltest. Entweder wärst du nach unserem Gesetz wegen Mord vor Gericht gekommen oder, wenn das alles nichts genutzt hätte … Nun, ich wage zu bezweifeln, dass du das Land der südlichen Angelsachsen sicher wieder erreicht hättest. Vielleicht wärst du bei der Überfahrt über Bord gegangen. Wie auch immer, Wulfstan und du, ihr wärt beide aus der Thronfolge ausgeschieden, und dann wäre der Weg frei gewesen für Raedwald.«
Eadred schüttelte verwundert den Kopf. In seiner Stimme schwang zögerliche Bewunderung mit, als er sagte: »Niemals hätte ich vermutet, dass eine Frau einen solch scharfen Verstand besitzen könnte, um die List dieses Verrats so aufzudecken, wie du es gemacht hast. Ich werde nun dein Amt mit neuen Augen sehen.«
An Abt Laisran gerichtet, sagte er: »Ich und meine Männer, wir werden jetzt abreisen, denn wir müssen in mein Land zurückkehren. Mit deiner Erlaubnis, Abt, nehme ich Raedwald als meinen Gefangenen mit. Er wird nach unseren Gesetzen vor Gericht gestellt werden, und seine Strafe wird nach unserem Recht festgelegt.«
Abt Laisran nickte nur.
Eadred ging auf die Tür zu. Dabei fiel sein Blick auf Talorgen von Rheged.
»Nun, welisc, es scheint, als schuldete ich dir Abbitte dafür, dass ich dich zu Unrecht des Mordes an Wulfstan bezichtigt habe. Hiermit entschuldige ich mich.«
Talorgen erhob sich langsam und versuchte, die Überraschung auf seinem Gesicht zu verbergen.
»Deine Entschuldigung ist angenommen, Angelsachse.«
Eadred zögerte einen Augenblick und sagte: »Ungeachtet der Entschuldigung kann doch zwischen uns niemals Friede herrschen, welisc!«
Talorgen rümpfte verächtlich die Nase.
»Ein solcher Friede kommt an dem Tag, an dem du und deine angelsächsischen Horden von den Ufern Britanniens in See stechen, um für immer in das Land zurückzukehren, aus dem ihr gekommen seid!«
Eadred erstarrte, fuhr mit der Hand zum Gürtel, hielt dann inne und lächelte beinahe.
»Gut gesprochen, welisc. Es wird also niemals Frieden geben!«
Mit großen Schritten verließ er den Raum, gefolgt von Ultan und Dagobert, die Raedwald hinter ihm her abführten.
Talorgen lächelte Schwester Fidelma kurz zu und sagte: »Wahrhaftig, unter den Brehons von Irland sind weise Richterinnen.«
Dann war auch er fort. Finan, der Rechtsprofessor, zögerte einen Augenblick.
»Wahrlich, jetzt weiß ich, warum dein Ruf so großartig ist, Fidelma von Kildare.«
Schwester Fidelma seufzte leise, als er gegangen war.
»Nun, Fidelma«, sagte Abt Laisran mit zufriedenem Lächeln, während er nach dem Weinkrug griff. »Es scheint, dass ich dir auf deiner Pilgerfahrt zum Schrein des heiligen Patrick von Ard Macha einige Abwechslung geboten habe.«
Schwester Fidelma ging auf den ironischen Ton des rundlichen Abtes ein.
»Abwechslung, das schon. Aber ich wäre wahrhaftig lieber einem angenehmeren Zeitvertreib nachgegangen.«