Die schwarze Lumme mit den leuchtend orangefarbenen Beinen und den klagenden Warnrufen stieß herab und schoss über das Fischerboot. Sie war ein einsamer Wanderer inmitten eines Schwarms kleiner, wendiger Sturmschwalben mit schwärzlichem Gefieder und weißem Bürzel und großer dunkel gefärbter Kormorane; sie alle kreisten, tauchten, flatterten und hoben sich gegen den sanftblauen Maihimmel ab.
Schwester Fidelma saß entspannt im Heck des Boots und ließ den Tanggeruch des hoch sprühenden Salzwassers sacht ihre Sinne streicheln. Ihr gegenüber saßen die beiden Ruderer, die sich rhythmisch vor- und zurückbeugten. Dank ihrer gleichmäßigen Schläge glitt das leichte, mit Tierhäuten bespannte Flechtwerkboot sanft über die Wellen der weiten Bucht, die sich verräterisch ruhig gab. Selten verhielten sich die raubgierigen Wogen des hungrigen Atlantik so friedlich wie jetzt, denn oftmals waren die Inseln, zwischen denen das Boot sich seinen Weg bahnte, für Wochen, ja Monate vom Festland abgeschnitten.
Sie hatten von der felsigen, kärglich begrünten Küste abgelegt, um den breiten Meeresarm an der Südwestküste Irlands, der Roaringwater Bay hieß, zu überqueren. Es war das Gebiet mit den sagenumwobenen »Hundert Inseln«, die wie von der Hand eines Riesen ins Meer geschleuderte Erdklumpen und Felsbrocken das Bild prägten. Der Tag war mild, das Wasser träge, die Sonne wärmte bereits und beschien eine Szenerie friedvoller Schönheit. Während die Ruderer das Gefährt durch die zahlreichen Inselchen lenkten, tauchten neugierige Seehunde auf, schauten kurz auf die Eindringlinge in ihre Wasserwelt und schossen davon.
Schwester Fidelma war nicht allein unterwegs. Eine Novizin begleitete sie. Das junge, verängstigte Mädchen kauerte neben ihr auf dem Heckbrett des Fischerboots. Fidelma hatte sich verpflichtet gefühlt, die Novizin auf der Fahrt zur Abtei Sankt Ciaran von Saigher unter ihre Fittiche zu nehmen. Die Abtei war auf der Insel Chléire, dem weit draußen gelegenen Vorposten der Inselgruppe, errichtet worden. Es hatte sich rein zufällig ergeben, denn Fidelmas eigentliches Vorhaben bestand darin, Briefe von Ultan, dem Erzbischof von Armagh, an den Abt von Chléire und auch an den Prior von Inis Chloichreán zu überbringen. Auf dem letztgenannten, von den anderen Inseln abgesonderten Felseneiland war eine winzige Klostersiedlung entstanden.
Der Schlagmann, den sein Leben an der rauen Küste hatte vor der Zeit altern lassen, machte eine Pause und verzog die Lippen zu einem freundlichen Grinsen, bei dem sein lückenhaftes Gebiss sichtbar wurde. Bewundernd schaute er mit seinen tiefliegenden, meergrünen Augen in dem braunen, wie Leder gegerbten Gesicht auf die schlanke und ranke junge Frau mit dem roten Haar. Selten hatte er eine Klosterschwester gesehen, die sich mit so fraulicher Sicherheit hielt wie diese, und schon gar keine, die so selbstverständlich die Führung übernahm.
»Dort drüben zu unserer Rechten liegt Inis Chloichreán, Schwester.« Er wies mit seiner knotigen Hand in die Richtung, merkte aber sofort, dass die Insel zu ihrer Linken lag, weil er ihr gegenüber saß. »Bis dorthin brauchen wir eine Viertelstunde. Möchtest du, dass wir da an Land gehen, oder willst du, dass wir zuerst Chléire anlaufen?«
»Auf Chloichreán halte ich mich nicht lange auf«, erwiderte Fidelma. »Legen wir zuerst dort an, wenn es ohnehin auf unserem Weg liegt.«
Der Ruderer brummte sein Einverständnis und nickte seinem Partner zu. Wie auf ein geheimes Kommando tauchten sie gleichzeitig ihre Ruder ein, und das Boot flog über die Wellen auf die Insel zu. Deren felsige Oberfläche war bergig. Von See aus gewann man den Eindruck, die Ufer bestünden nur aus unzugänglichen Klippen. Lichtnelken und Geißblatt, die sich auf Vorsprüngen hielten, verliehen dem grauen Granit Farbtupfer.
Lorcán, der Schlagmann, manövrierte das Boot geschickt durch die vor der Küste aufragenden Felsnadeln. Gischt zischte und gurgelte um die Granitzacken, an denen sich kleine, aber gefährliche Strudel bildeten. Bedenklich tanzte das leichte Gefährt hin und her. Doch dem erfahrenen Ruderer gelang es, sich auf einem Zickzackkurs zu einer winzigen geschützten Bucht durchzuschlagen, die einen Naturhafen bildete.
Fidelma bewunderte sein Geschick. »Nur jemand, der sich hier auskennt, kann so eine Stelle ansteuern.«
Lorcán quittierte ihr Lob mit zufriedenem Lachen. »Ich bin einer von den wenigen, die genau wissen, wo man bei dieser Insel anlanden kann.«
»Unter den frommen Brüdern der Abtei muss es echte Seeleute geben, sonst könnten sie hier schwerlich bestehen.«
»Abtei ist ein zu großartiger Name für Selbachs Ansiedlung«, ließ sich der zweite Ruderer vernehmen, der bislang geschwiegen hatte.
»Da muss ich Maenach recht geben«, bestätigte Lorcán. »Abt Selbach ist vor zwei Jahren mit zwölf Brüdern hierhergekommen; seine Apostel hat er sie genannt. Ganz junge Burschen sind das, der jüngste ist vierzehn und der älteste kaum neunzehn. Sie haben diese Insel gewählt, weil sie so unzugänglich ist und es nur wenige zuwege bringen, da zu landen. So ein Flechtwerkboot haben sie zwar, aber das benutzen sie nie. Es ist nur für den dringendsten Notfall da. Vier- oder fünfmal im Jahr rudere ich hierher und bringe ihnen vom Festland, was sie brauchen.«
»Dann haben wir also eine Einsiedelei vor uns«, meinte Fidelma. In Irland gab es viele Glaubensbrüder, die es vorzogen, als Eremiten zu leben oder mit einigen Gleichgesinnten an einem abgelegenen Ort ein Gemeinwesen zu gründen, in dem sie zusammen lebten und sich in weltferner Einsamkeit in die Geheimnisse des Glaubens versenkten. Fidelma hatte kein rechtes Zutrauen zu den Eremiten und ihren in sich gekehrten Gemeinden. Ihr behagte es nicht, Gott dienen zu wollen, indem man sich von Seiner größten Schöpfung abwandte – der Gemeinschaft von Männern und Frauen.
»Eine Einsiedelei ist das wirklich«, stimmte ihr Maenach düster zu. »Die Insel ist ja nicht groß. An sich müsste einer der Brüder unsere Ankunft gesehen haben, doch keiner ist da, uns zu begrüßen.«
Lorcán hatte das Boot mit einem Seil an einem Felsen befestigt und half nun Fidelma beim Aussteigen, während Maenach mit seinem Gewicht das Schwanken ausglich.
»Wir steigen lieber alle aus«, sagte Fidelma und meinte mehr ihre verängstigte Novizin, Schwester Sárnat. Das Mädchen, es konnte keine sechzehn sein, krabbelte ihr brav hinterher und hielt sich dicht bei ihr wie ein Küken bei der Glucke.
Maenach verließ als Letzter das Boot und streckte und reckte sich wohlig, sobald er festen Boden unter den Füßen hatte.
Vor ihnen waren Stufen in den granitenen Abhang geschlagen, die zu einem engen Durchlass oben auf der Klippe führten. »Du musst nur da hinaufsteigen, Schwester, und schon stehst du in Selbachs Ansiedlung«, bedeutete ihr Lorcán. »Wir warten hier auf dich.«
Fidelma nickte und fragte Schwester Sárnat: »Willst du hier unten bleiben oder kommst du mit?«
Die Kleine zitterte, als stünde sie im kalten Wind, und jammerte kläglich. »Ich komme mit.«
Eigentlich war sie kein Kind mehr, wirkte aber wie eine Zehnjährige, die sich vor allem fürchtete und sich an den erstbesten Erwachsenen klammerte, damit er sie vor möglichen Schreckgespensten schützte. Irgendetwas an dem Mädchen fesselte Fidelma. Sie wunderte sich, was sie bewogen haben mochte, sich in ein Kloster zu begeben, so jung und unerfahren, wie sie war.
»Also gut, dann klettern wir hoch.« Vom Ufer rief Lorcán ihnen nach: »Bleib nicht so lange, Schwester. Der Wind nimmt zu, und ehe es dunkel wird, haben wir Sturm. Je früher wir Chléire erreichen, desto eher sind wir im schützenden Hafen.«
»Wir sind gleich wieder da«, versicherte ihm Fidelma und begann mit dem Aufstieg. Sárnat blieb ihr auf den Fersen.
»Woher will der wissen, dass ein Sturm aufzieht?«, fragte sie keuchend, während sie Fidelma hinterherkraxelte. »Wir haben doch herrliches Wetter.«
»Ein Seemann weiß das eben. Vom Himmel lassen sich manche Anzeichen ablesen. Hast du gestern Abend den Mond betrachtet?«
»Der war strahlend hell«, sagte Sárnat verwundert.
»Hättest du genau hingeschaut, dann hättest du bemerkt, er hatte einen rötlichen Schimmer. Die Luft stand still und war ziemlich trocken. Da kann man fast sicher sein, dass stürmische Winde aus West heranziehen.«
Fidelma blieb stehen und zeigte auf verschiedene Pflanzen. »Hier hast du noch weitere Anzeichen. Siehst du den Klee? Schau mal, wie die Stängel angeschwollen sind, und daneben der Löwenzahn, die Blüten ziehen sich zusammen und schließen sich. Daraus lässt sich folgern, es wird bald regnen.«
»Woher weißt du so was alles?«
»Man muss nur mit offnen Augen durch die Welt gehen und auf die Alten hören, die haben Erfahrung gesammelt und kennen sich aus im Wissen unserer Vorfahren.«
Mittlerweile hatten sie die Klippe erklommen und blickten von oben auf eine Senke in der Inselmitte. Dort wuchsen ein paar verkrüppelte Bäume, und zwischen riesigen Felsbrocken hatte man etliche Steinhütten aufgeschichtet, die wie Bienenkörbe aussahen, auch ein kleines Bethaus.
»Das also ist Abt Selbachs Gemeinde«, wunderte sich Fidelma, runzelte die Stirn und schaute sich um. Nichts regte sich, von Leben keine Spur. »Hallo, ist da wer?«, rief sie laut.
Die einzige Antwort, die sie erhielt, war der verärgerte Chor aufgestörter Seevögel. Alke erhoben sich von ihren Nistplätzen, ihr Gefieder schwarz und weiß oder dunkelbraun, die Schnäbel leuchtend gefärbt und zwischen den Zehen Schwimmhäute. Schwarze Lummen, Möwen und Sturmschwalben folgten ihnen und flatterten als schimpfender Schwarm umher.
Fidelma war verunsichert. Irgendwer musste sie doch gehört haben, aber keine menschliche Stimme erwiderte ihren Ruf. Langsam ging sie den mit Gras überwachsenen Pfad zur Senke hinunter, in der die Steinhütten standen. Sárnat trottete neben ihr her.
Vor den Bauten blieb Fidelma stehen und rief noch einmal, und wieder erhielt sie keine Antwort.
Sie gingen um eines der Häuser und befanden sich auf einem viereckigen Platz. Schwester Sárnat schrie auf.
In der Mitte des Vierecks stand ein verkümmerter Baum, etwa zwölf Fuß hoch, gebeugt und verkrüppelt von den kalten Atlantikwinden. An den dünnen Stamm war ein Mensch gefesselt, um die Handgelenke geschlungene und um einen Ast gebundene Lederriemen ließen ihn nicht zu Boden sinken. Obwohl der Mann mit dem Gesicht zum Baumstamm hing, war sofort zu erkennen, er war tot.
Vor Angst und Schrecken zitternd, stand Schwester Sárnat neben Fidelma. Die aber kümmerte sich jetzt nicht um das Mädchen, sie machte ein paar Schritte auf den Leichnam zu und betrachtete ihn eingehend. Die blutbefleckten Gewänder waren eindeutig das Habit eines Geistlichen. Der Kopf war vorn kahlgeschoren bis zu einer Linie von einem Ohr zum anderen, das Haar am Hinterkopf lang. Das war die Tonsur der irischen Kirche, die airbacc giunnae, ein Brauch, der von den Druiden stammte. Der Tote war etwa sechzig Jahre alt, ein schmächtiger Mann mit kantigen Zügen, fahler Haut und zusammengepressten Lippen. Um den Hals hing an einem Lederband ein Kruzifix von einigem Wert, ein sorgsam gearbeitetes Silberkreuz. Die streifenartig zerschlissene Rückseite des Habits war voller Blut, darunter zerfetztes Fleisch. Der Rücken wies mehrere kleine Stichwunden auf, und an den vielen aufgeplatzten Striemen war zu erkennen, dass man den Mann mit einer Geißel ausgepeitscht hatte, bevor er starb.
An den Baum war ein Stück Holz genagelt. Darauf war auf Griechisch geschrieben: »Der Gottlose ist wie ein Wetter, das vorübergehet, und nicht mehr ist …« Die Worte kamen Fidelma vertraut vor, und ihr fiel ein, sie waren aus den »Sprüchen Salomos«. Ganz offensichtlich hatte man das Opfer geschlagen und getötet, während es an den Baum gebunden war.
Das Wehklagen ihrer Begleiterin lenkte sie ab. Sie fuhr herum, mühte sich aber, ihren Unmut zu zügeln. »Sárnat, geh zurück zum Rand der Klippe und hole Lorcán her.« Das Mädchen zögerte, doch sie befahl: »Nun geh schon, beeil dich!« Sárnat drehte sich um und huschte davon.
Fidelma trat näher an den hängenden Leichnam heran im Bestreben, weitere Aufschlüsse zu entdecken. Aber mehr als die Tatsache, dass der Mann schon älter und, so viel sich von dem kunstvollen Kruzifix herleiten ließ, ein Geistlicher von Rang war, konnte sie nicht ergründen. Sie ging hinüber zu dem kleinen aus Trockenmauern errichteten Bethaus, das höchstens einem halben Dutzend Andächtiger Platz bot. Es bildete den Mittelpunkt der sechs steinernen Zellen, die wohl die Unterkünfte der Gemeinde waren.
Bei einem ersten Hineinschauen in den düsteren Bau glaubte sie ein Bündel Lumpen auf dem kleinen Altar zu erkennen. Doch sobald sich ihre Augen an das schwache Licht gewöhnt hatten, begriff sie, dass dort der Leichnam eines jungen Mönchs lag. Es war ein Junge, der noch nicht zum Mann herangewachsen war. Seine Kutte war nass, das glatte braune Haar an den Schläfen angetrocknet. Die Gesichtszüge hatten nichts von der Gelöstheit im Tode an sich, sondern waren verkrampft, als ob der Junge unter großen Schmerzen gestorben war. Als sie ihn sich näher ansehen wollte, stolperte sie über etwas anderes Weiches.
Ein weiterer Geistlicher lag mit dem Gesicht nach unten und mit ausgebreiteten Armen wie ein um Gnade Flehender, der sich vor dem Altar niedergeworfen hatte. Sein Haar war dunkel. Er trug das Habit eines Klosterbruders und war deutlich älter als der Jüngling.
Fidelma kniete sich hin, suchte mit zwei Fingern den Puls an seinem Hals. Der war zwar schwach, aber spürbar, nur fühlte sich der Körper unnatürlich kalt an. Sie beugte sich tiefer, drehte vorsichtig den Kopf zur Seite. Der Mann war etwa vierzig. Seine Züge wirkten friedvoll und sogar schön, wie Fidelma fand. An der breiten Stirn hatte er eine Wunde, das Blut war bereits geronnen.
Sie rüttelte den Mann an der Schulter, doch konnte sie ihn nicht aus der Bewusstlosigkeit holen. Sie erhob sich, zwang sich, ruhig zu bleiben, und eilte von Zelle zu Zelle. Überall bot sich ihr das gleiche Bild, eine jede war menschenleer.
Lorcán kam den Pfad vom Durchlass am Klippenrand entlanggehastet. »Ich habe das Mädchen unten bei Maenach gelassen«, keuchte er. »Die ist völlig durcheinander. Ein Toter ist hier, hat sie gesagt.« Erregt blickte er sich um, doch von seiner Stelle konnte er den Baum mit dem verschandelten Leichnam nicht sehen.
»Wo sind die alle?«
»Einer zumindest lebt noch«, sagte Fidelma, ohne auf seine Frage einzugehen. »Um den müssen wir uns sofort kümmern.«
Sie führte Lorcán zum Bethaus. Dem verschlug es den Atem, als er den Jungen sah, und er beugte das Knie. »Den kenne ich. Das ist Sacán von Inis Beag. Ich selber habe ihn in die Bruderschaft hier gebracht, das ist noch keine sechs Monate her.«
Fidelma wies auf den Mann, der auf dem Boden lag. »Kennst du auch ihn?«
»Oh, ihr Heiligen, steht uns bei!«, rief der Seemann, als er genauer hingesehen hatte. »Das ist Bruder Spelán.«
Fidelma schürzte die Lippen. »Bruder Spelán?«, wiederholte sie unnützerweise.
Lorcán nickte. »Er ist der dominus von Abt Selbach, der Haushälter der Bruderschaft. Wer hat so etwas getan? Wo mögen die anderen alle sein?«
»Die Fragen versuchen wir später zu beantworten. Jetzt müssen wir ihn erst einmal an eine günstigere Stelle schaffen und ihn wieder zum Bewusstsein bringen. Dem Jungen – Sacán sagst du, heißt er – können wir wohl nicht mehr helfen.«
»Maenach versteht einiges von der Heilkunde der Ärzte. Lass mich ihn rufen, Schwester, der kann uns helfen, Spelán zu versorgen.«
»Das dauert viel zu lange.«
»Im Gegenteil, nur einen Augenblick«, versicherte ihr Lorcán und zog eine Schneckenmuschel aus dem Lederbeutel an seiner Seite. Er ging zur Türöffnung und blies lange und kräftig hinein. Aufgeschreckte Vogelschwärme waren eine erste Antwort darauf. Lorcán wartete kurz und wandte sich dann lächelnd Fidelma zu. »Maenach und die junge Schwester sind schon oben auf der Klippe, gleich sind sie hier.«
»Dann hilf mir, diesen Bruder in eine Zelle nebenan zu schaffen, damit wir ihn besser betten können als hier auf dem nackten Boden«, forderte Fidelma ihn auf.
Beim Niederknien, um den Mann anzuheben, bemerkte sie einen kleinen Holzbecher, der neben dem Bewusstlosen lag. Sie ergriff ihn und steckte ihn in ihr marsupium, die geräumige Tasche, die sie am Gürtel trug. Man würde ihn später untersuchen können.
Beide trugen sie Bruder Spelán, der reichlich schwer war, in die nächste Zelle und legten ihn auf ein hölzernes Bettgestell.
Maenach kam mit Schwester Sárnat herbeigestürzt, die sich an seinen Ärmel klammerte. Lorcán wies auf den bewusstlosen Geistlichen. »Kannst du den wiederbeleben?«, fragte er.
Maenach beugte sich über den Mann, prüfte die Augenlider und fühlte den Puls. »Der liegt im Koma, wie im tiefen Schlaf.« Dann sah er sich die Wunde an. »Merkwürdig, dass er derart bewusstlos ist von dem Schlag, mit dem ihm diese Wunde beigebracht wurde. Die Wunde ist nur oberflächlich. Er atmet regelmäßig, ich bin sicher, der kommt nach einer Weile zu sich.«
»Dann tu, was du kannst, Maenach«, sagte Fidelma. »Schwester Sárnat, geh ihm zur Hand«, trug sie der blassen, zitternden Novizin auf, die noch immer unschlüssig draußen stand.
Sie nahm den Seemann Lorcán am Arm, führte ihn auf den Viereckplatz und wies auf die an den Baum gebundene Gestalt. Er ging einen Schritt darauf zu, und schieres Entsetzen malte sich auf seinem Gesicht. »Gütiger Gott, schau auf uns herab!«, sagte er langsam und beugte das Knie. »Nun gibt es schon zwei Tote in Selbachs Bruderschaft.«
»Kennst du den Mann?«, fragte Fidelma.
»Ob ich ihn kenne?« Lorcán klang ungehalten. »Natürlich. Das ist Abt Selbach!«
»Abt Selbach?«
Fidelma blieb der Mund offen stehen. Noch einmal betrachtete sie den Leichnam des Abts. Dann schaute sie sich in der menschenleeren Landschaft um. »Hast du nicht gesagt, Selbach hatte zwölf Brüder in seiner Gemeinde?«
Lorcán war sich nicht ganz sicher, was sie suchte. »Ja, das schon. Aber die Insel scheint verlassen«, murmelte er mehr zu sich selbst. »Hier waltet ein schreckliches Geheimnis.«
»Dem müssen wir auf den Grund gehen«, erwiderte Fidelma zuversichtlich.
»Eher müssen wir zurück aufs Festland«, begehrte Lorcán auf. »Zurück nach Dún na Séad und den Ó hEidersceoil von den Geschehnissen in Kenntnis setzen.« Der Stammesfürst des Gebiets musste seiner Meinung nach sofort unterrichtet werden.
Fidelma hob die Hand und gebot ihm Einhalt, denn er wollte schon zur Steinhütte, in der sie Bruder Spelán gelassen hatten.
»Warte, Lorcán. Ich bin eine dálaigh, Anwältin nach den Gesetzen des Fenechus, und habe den Grad eines anruth. Es ist meine Aufgabe, hier zu bleiben und herauszufinden, wie Abt Selbach und Sacán zu Tode gekommen sind und warum Bruder Spelán verletzt wurde. Außerdem müssen wir erkunden, wohin der Rest der Bruderschaft verschwunden ist.«
Lorcán starrte die entschlossene Klosterschwester bestürzt an. »Leicht könnte uns dasselbe Unheil treffen«, wehrte er sich. »Was für ein unheimliches Mysterium ist hier am Wirken? Eine Bruderschaft verschwindet, ihr Abt wird wie ein gewöhnlicher Verbrecher an einen Baum gefesselt und umgebracht, ein junger Bursche getötet, der dominus überfallen und bewusstlos geschlagen!«
»Ein Mysterium von Menschenhand, wenn du schon von einem Mysterium reden willst«, erwiderte Fidelma gereizt. »Als Anwältin an den Gerichten der fünf Königreiche Irlands fordere ich dich auf, mir Beistand zu leisten. Mir geben die Gesetze des Fenechus das Recht dazu und die Vollmacht, die mir der Oberste Richter erteilt hat. Ich denke, du wirst mir das Recht nicht streitig machen wollen?«
Sprachlos schaute Lorcán die Nonne an und schüttelte dann langsam den Kopf. »Zweifelsohne ist es dein Recht, Schwester. Doch bedenke, Abt Selbach ist noch nicht lange tot. Was, wenn seine Mörder hier irgendwo in einem Versteck uns auflauern?«
Fidelma überhörte die Frage, nicht aber seine Feststellung bezüglich des Leichnams. »Wie kommst du darauf, dass er noch nicht lange tot ist?«
Ungeduldig zuckte der Seemann mit den Achseln. »Der Körper ist erkaltet, aber nicht steif. Auch haben sich die Leichenfledderer noch nicht über ihn hergemacht.« Er wedelte mit den Händen und wies auf die über ihnen kreisenden Vögel.
Im Schwarm der Seevögel machte Fidelma Mantelmöwen mit schwarzen Rücken und riesigen Schwingen aus, die gierigsten Aasfresser weit und breit. Auch Aaskrähen mit metallisch glänzendem schwarzem Gefieder hatten sich eingefunden. Es war die Jahreszeit, in der diese rau krächzenden Räuber ihre Gelege auf den Klippenspitzen ausbrüteten und in der die Jungvögel von ihren Eltern gefüttert wurden. Sie nährten sich von den Eiern anderer Vögel, von kleinen Säugetieren, aber auch von verwesenden Kadavern. Fidelma konnte sich gut vorstellen, wie die ruhelos kreisenden Möwen und Krähen sich über kurz oder lang auf die Leiche stürzen würden. Noch deutete nichts darauf hin, dass sie ihr Werk begonnen hatten.
»Du bist ein scharfsinniger Beobachter, Lorcán. Vermutlich wird auch Bruder Spelán noch nicht lange bewusstlos sein. Fallen dir weitere Besonderheiten an der Leiche des Abts auf?«
Der Bootsmann zog die Brauen zusammen, schaute genau hin und schüttelte den Kopf. »Man hat Selbach ausgepeitscht und dreimal in den Rücken gestochen. Wahrscheinlich mit einem Messer. Der Stoß ging zwischen den Rippen schräg nach oben. Der Abt muss sofort tot gewesen sein. Ein seltsames Ritual, erst straft man den Mann derart ab, und dann ermordet man ihn. Ich verstehe das nicht.«
»Präg dir alle Einzelheiten genau ein«, forderte ihn Fidelma auf. »Ich benötige dich vielleicht später als Zeugen. Wir sollten den Leichnam abnehmen und ins Bethaus schaffen, damit die Vögel nicht herankönnen.«
Lorcán ergriff sein scharfes Seemannsmesser, durchtrennte die Riemen und zerrte die Leiche ins Bethaus, wie Fidelma vorgeschlagen hatte.
Dann nahm sie sich die Zeit, den Leichnam des Jungen genauer zu untersuchen.
»Er muss eine ganze Weile im Meer getrieben haben. Sehr lange freilich nicht, ein paar Stunden vielleicht«, stellte sie fest. »Ich sehe keine Verletzungen, die zum Tod geführt haben könnten, keine Stichwunden, auch keine Einwirkung stumpfer Gewalt.« Sie drehte den Jungen herum und hätte fast aufgeschrien.
»Aber gegeißelt hat man ihn. Sieh dir das an, Lorcán!«
Die Kutte war aufgerissen, der Rücken darunter voller alter Narben und neuer Schwielen, die von Peitschenhieben herrührten.
»Die Familie des Jungen auf Inis Beag kenne ich gut«, flüsterte er. »Der Junge war so fröhlich, folgsam und fleißig. Sein Körper war makellos, als ich ihn herbrachte.«
Fidelma tastete die feuchte Kleidung ab, das Salzwasser trocknete bereits und hinterließ weiße Ränder und Flecken. Als sie mit den Fingern über die Gebetsschnur fuhr, die das Habit zusammenhielt, stutzte sie. Ein kleiner Metallhaken war an dem Gürtel befestigt, an dem eine Lederscheide mit einem kurzen Messer hing, wie es alle Brüder in ländlichen Klostergemeinden bei sich trugen. Sie gebrauchten es beim Essen und als Werkzeug bei ihren täglichen Verrichtungen. An dem Haken war ein Fetzen Wollstoff hängengeblieben. Vorsichtig nahm sie ihn ab und hielt ihn hoch.
»Was ist das, Schwester?«, fragte Lorcán.
»Weiß ich nicht. Der Fetzen hat sich am Haken verfangen.«
Sie verglich ihn mit dem Stoff, aus dem die Kutte des Jungen gemacht war. »Von hier stammt er nicht«, und damit steckte sie ihn in ihr marsupium. Traurig und voller Mitleid schaute sie noch einmal auf den jungen Toten und bedeckte ihn. »Komm, sehen wir, was es sonst noch zu entdecken gibt.«
»Was soll es hier noch geben? Wir können ohnehin nichts weiter tun. Ein Sturm naht, und wenn der uns erwischt, müssen wir hierbleiben, bis alles vorüber ist.«
»Dass ein Sturm aufzieht, weiß ich«, erwiderte sie ungerührt. »Aber in einer Sache müssen wir noch Klarheit gewinnen. Von den zwölf Brüdern, die du außer Selbach erwähnt hast, haben wir bisher nur zwei gesehen, Spelán und Sacán. Wir müssen die Insel absuchen und herausbekommen, ob sie sich irgendwo vor uns verbergen.«
Lorcán kaute nervös an den Lippen. »Und wenn es Piraten waren, die das hier angerichtet haben? Es gehen Geschichten um über angelsächsische Räuber, die mit ihren Langbooten herüberkommen und Dörfer an der Küste überfallen und ausplündern.«
»Möglich wäre das schon«, stimmte ihm Fidelma zu. »Aber sehr wahrscheinlich ist es nicht.«
»Wieso nicht?«, fragte Lorcán aufgebracht. »Seit Jahren unternehmen die Angelsachsen Raubzüge entlang der Küsten von Gallien, Britannien und Irland, plündern und morden …«
»Du siehst das ganz richtig«, erwiderte Fidelma und wies auf die verlassenen, aber unversehrten Steinhütten. »Sie plündern und brandschatzen, treiben das Vieh weg und verschleppen die Bewohner in die Sklaverei.«
Lorcán begriff schnell, worauf sie hinauswollte. Nirgendwo war etwas zerstört, so weit das Auge reichte, keinerlei Anzeichen mutwilliger Verwüstung. Auf dem Hang hinter dem Bethaus rupften drei oder vier Ziegen am Heidekraut, und eine fette Sau grunzte wohlig inmitten ihrer Ferkel. Auch fiel ihm das Silberkruzifix am Hals des toten Abts ein. Geraubt worden war nichts. Es war offensichtlich, Piraten hatten hier nicht gewütet und eine wehrlose Gemeinschaft überfallen. Und das gab ihm weitere Rätsel auf.
»Komm mit, Lorcán, wir schauen mal in die Zellen der Brüder«, schlug ihm Fidelma vor.
In den Türsturz der nächsten Hütte waren Worte geschnitzt.
Ora et labora. Bete und arbeite. Eine lobenswerte Ermahnung, dachte Fidelma und blieb darunter stehen. Die Zelle war bis auf wenige schlichte Gegenstände fast kahl. Den Fußboden aus gestampftem Lehm bedeckte Schilfrohr, es gab zwei hölzerne Bettgestelle, einen Wandschrank und an Haken hingen tiag leabhair, Büchertaschen aus Leder, in denen kleine Evangelienhandschriften steckten. Die Wand schmückte ein kunstvoll geschnitztes Holzkreuz, und an einer anderen lasen sie:
Animi indices sunt oculi.
Den Geist offenbaren die Augen.
Fidelma hielt das für einen merkwürdigen Wahlspruch, um eine christliche Gemeinschaft zum Glauben zu ermahnen. Dann fiel ihr neben einer Bettstatt ein Stück Pergament auf. Darauf stand ein Vers aus den Psalmen. »Zerbrich den Arm des Gottlosen und suche das Böse, so wird man sein gottlos Wesen nimmer finden …« Es überlief sie kalt, die Verkündigung eines liebevollen Gottes war das nicht. Als sie sich weiter umsah, bemerkte sie eine Truhe am Bettende mit einer griechischen Inschrift auf dem Deckel.
Pathémata mathémata. Leiden sind Lebenslehren.
Sie bückte sich und öffnete den Kasten. Der Inhalt setzte sie in Erstaunen: Geißeln, Peitschen und Rohrstöcke. In die Innenseite des Deckels waren Wörter eingeritzt, die einen Vers in reinstem Irisch ergaben:
»Gott, gib mir eine Wand aus Tränen, dahinter meine Sünden zu verstecken, wenn keine Tränen fallen, muss ich unerlöst verrecken.«
Immer noch sehr betroffen, fragte sie Lorcán: »Weißt du, wer diese Zelle bewohnt hat?«
»Gewiß«, hieß es sofort. »Selbach hat sie mit seinem dominus Spelán geteilt.«
»Was für ein Mensch war Selbach? War er jemand, der auf Zucht und Ordnung drang, einer, dem es gefiel, harte Strafen auszuteilen? Herrschte ein strenges Regiment in dieser Bruderschaft?«
Lorcán zuckte die Achseln. »Dazu kann ich nichts sagen. Ich kenne die Bruderschaft zu wenig.«
»Allenthalben finden sich Hinweise auf Schmerzen und Strafen.« Wieder lief es ihr kalt den Rücken herunter. »Ich begreife das einfach nicht.«
Sie ging zu einem Regal, auf dem verschiedene Steingutbehälter und Flaschen standen, roch daran, stippte mit angefeuchteter Fingerspitze in die Töpfe und kostete vorsichtig von den Mixturen. Als Nächstes holte sie aus ihrem marsupium den hölzernen Becher hervor, den sie im Bethaus aufgelesen hatte. Er musste erst vor kurzem benutzt worden sein, denn er war innen noch feucht. Sie roch daran. Eine merkwürdige Mischung stechender Gerüche stieg ihr in die Nase. Ein weiteres Mal ging sie die Töpfe und Gefäße mit den Kräutern durch und erkannte getrocknete Blüten des Rotklees, zerstoßene Blätter der Rosskastanie und der Königskerze.
Derweil trat Lorcán ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. »Spelán hat hier seine Apotheke. Bei einer meiner Fahrten hierher hatte ich mir die Hand verletzt. Er hat mir einen Umschlag aus Kräutern gemacht, und das hat geholfen.«
Fidelma schnaufte unzufrieden und begab sich zu den anderen Zellen, um sie gründlicher in Augenschein zu nehmen. In einer oder zweien sah es aus, als hätte man persönliche Sachen und Kleidungsstücke in aller Hast zusammengerafft, doch nichts deutete darauf hin, dass Fremde die Bruderschaft überfallen und ausgeraubt hätten.
Ziemlich ratlos verließ Fidelma die Hütten, dicht hinter ihr Lorcán, der mit sorgenvoller Miene immer wieder zum Himmel blickte. Fidelma spürte, dass er sich wegen des heraufziehenden Unwetters Sorgen machte, doch die Klärung der mysteriösen Vorgänge erlaubte keinen Aufschub. Man hatte den Abt der Bruderschaft getötet und einen jungen Klosterbruder, hatte den dominus bewusstlos geschlagen und hatte zehn weitere Angehörige der Gemeinde verschwinden lassen.
»Hast du nicht erwähnt, dass die Brüder ein eigenes Boot haben?«, fragte sie unvermittelt. »Ich habe es nicht gesehen, als wir an Land gegangen sind.«
»Konntest du auch nicht. Sie haben ihr Boot hinter der Landspitze an eine geschützte Stelle gebracht. Da ist ein kurzes, steiniges Strandstück, von dem aus man das Boot ins Wasser lassen kann.«
»Zeig mir, wo das ist«, beharrte Fidelma. »Wir müssen sowieso warten, bis Spelán wieder bei sich ist und wir von ihm erfahren, was sich hier abgespielt hat.«
Widerstrebend und immer wieder besorgt zum Himmel schauend, ging Lorcán den schmalen Weg zum Durchlass an den Klippen hinauf. Unterhalb des höchsten Punkts führte er Fidelma auf einem Trampelpfad über den großen Felsbuckel abwärts, der sich vor die Landebucht schob.
Oben auf der Kuppe, von der sich der Pfad zwischen den Granitblöcken hinunterschlängelte, beschlich Fidelma ein ungutes Gefühl. Über den ans Ufer brandenden Wogen zogen schwarze Vögel ihre Kreise, als lockte sie etwas unten am Strand.
Es waren Mantelmöwen. Vor denen musste man sich in Acht nehmen, denn sie waren furchtlose Räuber, die sich selbst auf größere Beutetiere stürzten, wenngleich sie auch mit Aas vorliebnahmen. Offensichtlich hatten sie unten am Wassersaum etwas gefunden. Selbst die Krähen hielten gebührenden Abstand von ihren Artgenossen. Einige Paare kreisten über dem Schwarm und warteten auf ihre Chance.
Fidelma presste die Lippen zusammen und folgte Lorcán zwischen den Felsbrocken nach unten. Überall saßen brütende Vögel auf ihren Nestern. Mai war der Monat, in dem die Möwen mit den schwarzen Rücken wie viele andere Vögel ihre Eier legten. Auf so felsigen Inseln wie Inis Chloichreán fanden sie ideale Nistplätze. Lorcán ließ sich von dem wütenden Zischen und Kreischen der Altvögel nicht abschrecken, während sie durch die Brutkolonie kletterten, doch Fidelma war reichlich mulmig zumute.
»Hier haben die Brüder ihr Boot aufgebockt«, erklärte ihr der Seemann, als sie eine große Felsplatte erreichten, die sich etwa zwölf Fuß oberhalb der Kieselbucht befand. Sie blieben stehen und blickten suchend umher. Da waren nur die Holzböcke, auf denen das Boot sonst lagerte, doch der Nachen war verschwunden.
»Das Boot hat immer hier gelegen, Kiel oben, um es vor der Witterung zu schützen«, meinte Lorcán verblüfft.
Nur hörte ihn Fidelma kaum in dem Gezänk der Vögel, die sich unten auf dem Uferstreifen stritten, der an die zehn Fuß breit und keine dreißig Fuß lang war. Als sie begriff, was sich dort abspielte, entfuhr ihr ein Schrei. Ein Dutzend großer Möwen hackten nach einander und suchten sich zu verdrängen. Im Umkreis saßen andere Vögel wie interessierte Zuschauer, darunter auch einige Aaskrähen, die ihre Gelegenheit abwarteten. Alle scharten sich um einen dunklen Fleck auf den Kieselsteinen. Fidelma ahnte, was es war. »Los, komm!«, rief sie und kletterte hinunter, so rasch sie konnte. Sie nahm große Kieselsteine auf und warf sie in das Getümmel. Die Vögel flogen auf, kreischten wütend und flatterten drohend mit den großen Schwingen. Lorcán kam ihr zu Hilfe und schleuderte gleichfalls große Brocken. Bald hatten sie die Vögel von ihrer Beute vertrieben, auch wenn sie in der Nähe blieben. Sie schwärmten hoch über ihnen oder ließen sich auf Felsvorsprüngen nieder und schauten mit ihren Knopfaugen nach unten. Entschlossen lief Fidelma über Kies und Schotter und erreichte den Unglücksort. Der Tote, der auf dem Rücken lag, war ein junger Mönch mit blondem Haar. Von seinem Habit waren nur noch zerschlissene, blutgetränkte Wollfetzen übrig geblieben.
Fidelma musste heftig schlucken. Die Möwen waren wohl bereits eine gute Stunde zugange gewesen. Die Wangen waren aufgehackt und blutig, ein Auge fehlte. Ein Teil des Schädels war zerschmettert, bildete nur noch einen Brei von Blut und Knochen. Das konnte nicht das Werk der Vögel sein, so viel war sicher.
»Kennst du ihn, Lorcán?« flüsterte Fidelma.
Der Ruderer kam näher, nicht ohne die Möwen aus dem Auge zu lassen. Die waren zurückgewichen, äugten aber bösartig nach den Zweibeinern, die es gewagt hatten, sie von ihrem unheiligen Mahl zu verscheuchen. Lorcán beugte sich hinab und verzog bei dem Anblick, der sich ihm bot, das Gesicht.
»Ich habe ihn hier in der Bruderschaft gesehen. Seinen Namen weiß ich leider nicht. Langsam bekomme ich es mit der Angst zu tun, Schwester. Das ist nun der dritte Tote in dieser Brudergemeinde.«
Fidelma antwortete nicht. Sie nahm allen Mut zusammen und kniete sich neben den Leichnam. Am Gürtel hing noch die crumena, die Lederbörse. Sie zwang sich, nicht auf das entstellte Gesicht und das eine verbliebene, anklagende Auge zu blicken. Sie steckte die Hand in die Börse, die war leer. Unschlüssig schüttelte sie den Kopf. »Hilf mir, den Toten umzudrehen«, forderte sie Lorcán auf. Der fragte nicht lange und griff zu.
Die Kutte hatten die Vögel schon zerfetzt. Fidelma musste den Stoff nicht weiter auseinanderziehen. Man sah viele vernarbte Stellen, doch etliche Wunden waren noch ganz frisch und blutig. Kreuz und quer liefen die Striemen über den ganzen Rücken.
»Was hältst du davon, Lorcán?«
Der Seemann schob die Unterlippe vor und hob traurig die Schultern. »Der Junge ist ausgepeitscht worden, was sonst. Nicht nur einmal, sondern regelmäßig, immer wieder.«
Den Eindruck hatte Fidelma auch. »Merke es dir gut, Lorcán. Du musst es vor Gericht bezeugen.« Sie stand auf und trieb mit ein paar Steinwürfen die großen Möwen zurück, die sich wieder näherten. Mit wütendem Gekrächze verflüchtigten sie sich.
»Wie groß war das Boot, das die Gemeinschaft hatte?«, fragte sie unvermittelt.
Lorcán verstand, worauf ihre Frage zielte. »Es war groß genug, um alle verbliebenen Brüder aufzunehmen. Die werden längst weg sein. Treiben vermutlich zwischen den Inseln oder haben vielleicht sogar schon das Festland erreicht.« Er sah sie an. »Ob sie freiwillig gegangen sind, oder hat man sie gezwungen? Wer hat das hier verbrochen?«
Mit einer Handbewegung gab ihm Fidelma zu verstehen, die Leiche wieder so zu drehen, wie sie sie vorgefunden hatten, und starrte auf den zertrümmerten Schädel. »Das ist gezielt geschehen, mit einem gewaltigen Hieb. Den jungen Mönch hat man ermordet und dann einfach liegenlassen.«
Verstört schüttelte Lorcán den Kopf. »Unendlich viel Böses hat sich hier getan, Schwester.«
»Da stimme ich dir voll und ganz zu«, erwiderte Fidelma. »Komm, lass uns Steine zu einem Hügelgrab über seinen Leichnam schichten, damit die Möwen ihn nicht weiter zerfleischen können – wer immer er auch war. In die Siedlung zurückschaffen können wir ihn nicht.«
Nachdem sie den Toten so bestattet hatten, kehrten sie zum Viereckplatz der Ansiedlung zurück. Maenach war froh, dass sie zurück waren. »Bruder Spelán kommt zu sich. Die junge Schwester kümmert sich um ihn.«
»Vielleicht bringt er uns der Klärung der grässlichen Vorgänge hier etwas näher«, meinte Fidelma hoffnungsvoll.
In der Steinhütte lehnte der Bruder halb aufgerichtet gegen ein Kissen. Er sah noch benommen aus, blinzelte immer wieder und suchte Fidelmas Gestalt mit seinen dunklen Augen zu erfassen. Sie winkte Schwester Sárnat zur Seite und setzte sich auf die Kante der anderen Bettstatt.
»Ich hab ihm nur Wasser gegeben«, sagte das Mädchen eilfertig, als erwartete sie ein Lob. »Der Seemann da«, sie zeigte auf Maenach, der mit Lorcán im Türrahmen stand, »hat die Wunde gesäubert und verbunden.«
Fidelma lächelte den Verwundeten aufmunternd an. »Du bist Bruder Spelán, nicht wahr?«
Der Mann schloss kurz die Augen. »Ich bin Spelán. Wer bist du, und was machst du hier?« Seine Stimme klang schwach.
»Ich bin Fidelma von Kildare. Ich bin gekommen, um Abt Selbach ein Schreiben von Bischof Ultan von Armagh zu überbringen.«
Verständnislos starrte er sie an. »Ein Schreiben von Ultan?«
»Ja. Deshalb haben wir hier festgemacht. Was ist passiert? Wer hat dich auf den Kopf geschlagen?«
Stöhnend griff sich Spelán mit der Hand an die Stirn. »Allmählich kommt alles wieder.« Seine Stimme wurde fester und energischer. »Der Abt ist tot, Schwester. Fahre zurück nach Dún na Sád und bestehe darauf, dass man einen Brehon hierher entsendet, denn auf der Insel ist ein scheußliches Verbrechen begangen worden.«
»Ich werde mich der Sache selbst annehmen, Spelán«, bedeutete ihm Fidelma entschieden.
»Du?« Der Verletzte starrte sie verwirrt an. »Du hast mich nicht verstanden. Was wir brauchen, ist ein Brehon.«
»Ich bin eine dálaigh beim hohen Gericht und habe den Grad eines anruth erworben.«
Spelán riss die Augen auf, denn er wusste, dass der Titel eines anruth die junge Nonne berechtigte, mit Königen zu Gericht zu sitzen, ja selbst mit dem Hochkönig.
»Erzähl uns, was hier vor sich gegangen ist«, redete ihm Fidelma zu.
Spelán blickte sich nach Schwester Sárnat um und winkte ihr, ihm den Becher mit Wasser zu reichen. Er nahm einige kräftige Schlucke daraus. »Böses hatte sich hier eingeschlichen, Schwester. Unheil war heimlich am Werke. Von mir unbemerkt, griff es um sich, bis es ausbrach und uns alle verschlang.«
Fidelma wartete geduldig.
Spelán schien seine Gedanken ordnen zu wollen und holte Luft. »Ich beginne am besten damit, wie alles anfing.«
»Das ist immer ein guter Auftakt für eine Geschichte«, bestätigte Fidelma ernst.
»Vor zwei Jahren begegnete ich Selbach, der mich dafür gewann, mit ihm eine Gemeinschaft zu gründen, die sich in Weltabgeschiedenheit der meditativen Betrachtung der Werke des Schöpfers widmete. Ich war Apotheker in einer Abtei auf dem Festland, fürwahr einem Ort der Sünde – Hochmut, Völlerei und andere Laster gediehen dort schamlos. In Selbach glaubte ich einen Seelenverwandten gefunden zu haben, der meine Ansichten teilte. Eine Weile zogen wir umher, bis wir schließlich elf junge Buschen beisammen hatten, die bereit waren, mit uns nach unseren Vorstellungen zu leben.«
»Warum nur so junge Leute?«, fragte Fidelma.
Spelán blinzelte. »Wir brauchten die Jungen, damit unsere Gemeinschaft aufblühen konnte, denn in der Jugend liegt die Kraft, mit allen Widrigkeiten fertig zu werden, die einen hier erwarteten.«
»Sprich weiter«, drängte ihn Fidelma, als der Mann eine Pause machte.
»Mit dem Segen Ultans von Armagh und der Erlaubnis des Stammesfürsten, des Ó hEidersceoil, ließen wir uns auf dieser abgeschiedenen Insel nieder.«
Wieder unterbrach er sich und trank Wasser.
»Und wie war das mit dem Bösen, das unter euch um sich griff?«
»Dazu komme ich gleich. Manche Asketen des Glaubens sind der Meinung, dass körperlicher Schmerz, wie ihn selbst der Sohn des Lebendigen Gottes erleiden musste, dass Schmerz, wie ihn die Kasteiung des Fleisches verursacht, der Weg zur Erlösung des Menschen ist, ein Weg zu seiner Errettung. Abtötung des Fleisches und Pein werden als Pfade betrachtet, die zum Seelenheil führen.«
»Derart irregeleitete Narren soll es auch unter uns geben«, äußerte sich Fidelma abfällig.
»Keine Narren, Schwester, Narren sind das nicht«, begehrte er auf. »Viele unserer Heiligen waren zutiefst von der Wirksamkeit der Kasteiung überzeugt. Sie glaubten allen Ernstes, dass sie die Leiden Christi nachempfinden müssten, wollten sie ins ewige Paradies gelangen. Noch heute gibt es viele, die sich Dornenkronen aufs Haupt drücken, die sich geißeln, Nägel durch die Hände treiben oder ihre Körperseiten aufschlitzen, auf dass sie der Leiden Christi teilhaftig werden. Nein, du urteilst da zu streng, Schwester. Das sind keine Narren, eher Visionäre, vielleicht fehlgeleitet in der Wahl ihrer Mittel.«
»Also gut. Wir wollen der Sache jetzt nicht weiter nachgehen, Spelán. Was hat das aber mit dem zu tun, das sich hier zugetragen hat?«
»Versteh mich nicht falsch, Schwester«, erwiderte er zerknirscht. »Ich bin kein Anwalt der gortaigid, derjenigen, die sich selber Schmerz zufügen. Ich verurteile sie genauso wie du. Aber ich verstehe ihr Verlangen, Schmerz zu ertragen, als ein aufrichtiges Verlangen, die Leiden des Messias nachzuempfinden, mit denen er die Menschheit erlöst hat. Narren möchte ich sie deshalb nicht nennen. Lass mich jedoch fortfahren. Anfangs waren wir eine glückliche Gemeinschaft. Es wäre mir nie in den Sinn gekommen, dass einer unter uns meinte, Schmerz sei der rechte Weg zum Seelenheil.«
»Es gab also einen gortaigid unter euch?«
Der dominus bestätigte das nickend. »Ich lasse mal die Einzelheiten beiseite, sondern sage geradeheraus, dass es niemand anderer war als der ehrwürdige Abt Selbach. Nur war er nicht einer von denen, die einfach sich selber peinigen und demütigen. Er überzeugte die jugendlichen Brüder, die wir um uns versammelt hatten, sich der Geißel und der Peitsche zu unterwerfen, um seine Begierde zu befriedigen, anderen Schmerz und Qual zuzufügen, damit diejenigen, wie er ihnen einredete, der großen Leiden Christi teilhaftig werden könnten. In aller Heimlichkeit vollzog er diese Scheußlichkeiten und beschwor seine Opfer, darüber strengstes Stillschweigen zu bewahren, sonst sei ihre unsterbliche Seele unrettbar verloren.«
Fidelma hörte ihm mit leichtem Grauen zu und fragte: »Und wann ist das ans Tageslicht gekommen?«
Er biss sich einen Moment auf die Unterlippe. »Wann genau? Erst heute Morgen. Ich habe nichts davon gewusst. Das schwöre ich. Heute in der Frühe wurde der Leichnam unseres jüngsten Novizen, Sacán, entdeckt. Er war erst vierzehn Jahre alt. Die Brüder hatten ihn gefunden, und es stellte sich heraus, Selbach hatte ihn an eine abgelegene Stelle am äußersten Ende der Insel geführt und gestern Nacht die rituelle Auspeitschung an dem Jungen vorgenommen. Dabei hatte er mit der Geißel so heftig zugeschlagen, dass der Junge vor Schmerz und Schock auf der Stelle starb.«
Fidelmas Miene wurde eisig. »Wie ist es möglich, dass du als der dominus dieser Gemeinde erst heute früh gewahr wurdest, was der Abt hier trieb?«
»Selbach war sehr verschlagen«, erwiderte Spelán ohne Zögern. »Jedes Mal mussten die jungen Brüder schwören, niemandem etwas von den rituellen Kasteiungen zu verraten. Jedes Mal ging er dazu mit einem der Brüder ans andere Ende der Insel. Ein Leichentuch des Schweigens lag über der Gemeinschaft. Nur ich lebte in völliger Ahnungslosigkeit.«
»Weiter, bitte!«
»Selbach hatte versucht, seine Schandtat zu vertuschen, indem er den Leichnam des armen Jungen vergangene Nacht über die Klippen warf, doch die Flut hat ihn ans Land geschwemmt. Und das gerade an einer Stelle, an der zwei der Brüder auf Fischfang gehen wollten für unser täglich Brot.«
Er schwieg und verlangte wieder nach Wasser.
Hinter ihr bestätigte Lorcán sachlich: »Stimmt, die Flut, die vom Festland anrollt, konnte die Leiche vor sich her und dann auf den Kieselstrand schieben.«
»Ich schlief und wurde durch den Lärm wach. Als ich aus meiner Zelle trat, hatte sich die Wut der Brüder bereits entladen. Sie hatten Selbach gepackt und an den Baum gebunden. Einer der Brüder peitschte ihn mit seiner eigenen Geißel, so dass sie tief ins Fleisch schnitt …«
Der dominus hielt inne, wie um Atem zu schöpfen.
»Hast du versucht, ihnen Einhalt zu gebieten?«, fragte Fidelma.
»Natürlich habe ich das versucht«, entgegnete Spelán aufgebracht. »Ich habe gebrüllt und ihnen Vorhaltungen gemacht, wie auch Snagaide, ein anderer junger Bruder, sie könnten nicht das Gesetz in die eigene Hand nehmen, um Selbach zu bestrafen. Sie müssten mit ihren Anschuldigungen nach Dún na Séad gehen und den Fall vor den Richter der Ó hEidersceoil bringen. Doch die jungen Burschen waren so wütend, dass sie nicht auf uns hörten. Sie packten Snagaide und mich und hielten uns fest. Was wir sagten, war ihnen egal, sie prügelten weiter auf Selbach ein und waren wie von allen guten Geistern verlassen. Ehe ich mich versah, hatte schon jemand sein Messer Selbach in den Rücken gejagt. Wer es war, konnte ich nicht sehen.
Ich schrie ihnen zu, ihr habt nicht nur ein Verbrechen begangen, sondern obendrein einen Kirchenfrevel. Ich beschwor sie, sich mir und Bruder Snagaide zu ergeben, und versprach, sie nach Dún na Séad zu begleiten, wo sie sich vor Gericht verantworten müssten, doch ich würde sie verteidigen.«
Spelán befühlte die Wunde an seiner Schläfe und verzog das Gesicht vor Schmerz.
»Sie stritten untereinander, doch dann schwang sich Bruder Forgach zum Wortführer auf. Er sagte, sie dürften nicht dafür bestraft werden, was in den Augen Gottes richtig und gerecht sei. Auge um Auge, Zahn um Zahn. Es sei Selbach recht geschehen, dass er gestorben sei als Vergeltung für den Tod von Bruder Sacán. Er verlangte von mir, ich solle einen Eid schwören, niemandem etwas von den Vorgängen auf der Insel zu verraten und die Todesfälle als reine Unfälle zu erklären. Wenn ich das nicht täte, würden sie das Boot nehmen und sich einen Ort suchen, an dem sie in Frieden und Freiheit leben könnten. Mich und Snagaide würden sie auf der Insel zurücklassen, bis Lorcán oder ein anderer Bootführer vom Festland herüberkäme.«
»Und was ist dann geschehen?«, drängte Fidelma den dominus zum Weiterreden.
»Dann? Wie du dir denken kannst, so einen Eid konnte ich nicht leisten. Ich versuchte, sie zur Vernunft zu bringen, doch ihre Wut kochte wieder hoch, vielleicht mehr aus Furcht vor den Folgen ihres Tuns als aus Empörung. Dann hat mir einer von ihnen einen Schlag auf den Kopf versetzt. Ich kam erst wieder zu mir, als die junge Schwester und der Seemann sich über mich beugten.«
Fidelma schwieg eine Weile.
»Sag mir noch, was ist aus deinem Mitstreiter, dem Bruder Snagaide, geworden?«
Spelán runzelte die Stirn und schaute von einem zum anderen, als hoffte er, den Bruder irgendwo in der Zelle zu finden.
»Snagaide? Ich weiß es nicht. Da war so viel Lärm und Geschrei. Dann wurde mir schwarz vor Augen, und ich spürte nichts mehr.«
»War Bruder Snagaide auch einer von den jungen?«
»Außer mir und Selbach waren alle anderen Brüder noch Jünglinge.«
»War er blond?«
Zu ihrer Verwunderung schüttelte Spelán den Kopf. Demnach war der Tote am Strand ein anderer Mönch, nicht Snagaide.
»Nein«, bekräftigte der Verwalter der Bruderschaft, »er hatte schwarzes Haar.«
»Eins beschäftigt mich immer noch, Spelán. Diese Insel ist klein, und eure Gemeinschaft war klein. Zwei Jahre lang habt ihr dicht nebeneinander gelebt. Und doch sagst du, du hättest nie etwas von den sadistischen Neigungen des Abts gemerkt. Jede Nacht hat er einen Jungen aus eurer Gemeinde ans andere Ende der Insel gebracht und ihn dort gequält und ausgepeitscht. Und du hast wirklich nichts davon erfahren? Das finde ich sehr seltsam.«
Spelán hob die Schultern. »Seltsam ist das schon, Schwester, und doch ist es die Wahrheit. Unsere Gemeinschaft bestand aus ganz jungen Leuten. Selbach hatte sie alle in der Hand. Sie glaubten ihm, dass Schmerz erleiden sie dem ewigen Heil näher bringt. Da sie auf das heilige Kreuz schworen, nie über die Kasteiungen zu sprechen, die der Abt an ihnen vollzog, schwiegen sie darüber. Wahrscheinlich haben sie sogar gedacht, ich billige die Züchtigung. Ach, diese armen Jungen, sie haben schweigend gelitten, bis zum Tod des sanftmütigen kleinen Sacán … Ach, der arme, arme Junge.«
Dem dominus traten Tränen in die Augen.
Schwester Sárnat beugte sich vor und reichte ihm den Becher mit Wasser.
Ohne ein Wort stand Fidelma auf und verließ die Steinhütte.
Lorcán folgte ihr auf den Viereckplatz, auf dem sie nachdenklich stehen blieb.
»Eine schreckliche Geschichte, das muss ich schon sagen«, meinte er und blickte wieder zum Himmel. »Dem Bruder geht’s jetzt besser, und sobald du es für richtig hältst, können wir ablegen.«
Fidelma überhörte das. Sie hatte die Hände vor sich gefaltet und schaute zu Boden, wohl ohne etwas zu sehen.
»Schwester?«, mahnte sie Lorcán.
Sie hob den Kopf und merkte, dass sie nicht allein war. »Entschuldige, hast du eben etwas gesagt?«
Der Bootsführer zuckte die Achseln. »Nur, das wir uns bald auf den Weg machen sollten. Wir müssen den armen Bruder möglichst rasch nach Chléire schaffen.«
Fidelma atmete hörbar aus. »Ich glaube, der arme Bruder …«, aber sie redete nicht weiter. »Ich glaube, hier waltet ein Geheimnis, hinter das wir noch kommen müssen.«
Lorcán schaute sie ungläubig an. »Und die Erklärung, die uns Bruder Spelán gegeben hat …?«
Vollkommen ruhig erwiderte Fidelma seinen Blick. »Ich muss noch eine Weile umhergehen und die Sache überdenken.«
Der Bootsmann rang verzweifelt die Hände. »Aber, Schwester, begreif doch. Da zieht ein Wetter herauf.«
»Wenn der Sturm losbricht, bleiben wir eben hier, bis er vorüber ist.« Und als Lorcán dagegen aufbegehren wollte, schnitt sie ihm das Wort ab: »Ich sage das als dálaigh mit Gerichtsvollmacht, und du wirst dich meiner Anordnung fügen.«
Lorcán biss sich auf die Lippen, hob widerspruchslos die Schultern und wandte sich um.
Fidelma ging den Pfad hinter der Ansiedlung zwischen den Felsblöcken entlang zu dem entlegeneren Teil der Insel. Abt Selbach hatte seine Opfer auf diesen Pfad geführt, so wie Spelán es schilderte. Was ihr der Verwalter der Gemeinschaft enthüllt hatte, widerte sie an, wenngleich sie eine solche Erklärung fast erwartet hatte, nachdem sie die zerfleischten Rücken der beiden jungen Brüder gesehen hatte. Sie empfand Abscheu gegenüber den Asketen, die sich selbst als gortaigid bezeichneten, als Gläubige, die ihr Seelenheil suchten, indem sie sich und anderen Schmerz zufügten. Äbte und Bischöfe verdammten sie, und meist wurden sie in weitab gelegene Gemeinschaften ähnlicher Fanatiker vertrieben.
Hier hatte es den Anschein, dass ein schlechter Mensch seinen Willen einer Gruppe Jugendlicher aufgezwungen hatte, die kaum dem Kindesalter entwachsen waren und sich in ein Klosterleben einfügen wollten. Sie hatten es nicht besser gekannt, als sich seinem Willen zu unterwerfen, bis einer von ihnen starb. Jetzt waren diese Jünglinge von der Insel geflohen, waren verstört, hatten vermutlich den Glauben an die Botschaft Jesu verloren, die Liebe und Frieden verheißt.
Zwar wurden die religiösen Eiferer vielerorts abgelehnt, doch wusste sie, dass in manchen Abteien und Klöstern Äbte und Äbtissinen ein strenges Regiment führten und auf unzählige Gebetsübungen, Kasteiungen und Fastentage drangen. Ihr war bekannt, dass Erc, der Bischof von Slane, sommers wie winters seine frommen Anhänger an kalte Bergbäche führte und sie zwang, viermal am Tag in die eisigen Wasser zu tauchen und zu beten und Psalmen zu sprechen. Und das war der Schirmherr des heiligen Brendan von Clonfert. Der Asket Mac Tulchan ließ Flöhe sich auf seinem Leib nähren und kratzte sich nie, um so seine Qualen zu vergrößern. Und hatte nicht Finnian von Clonard sich vorsätzlich von einem sterbenden Kind mit einer grassierenden Seuche angesteckt, nur um Erlösung durch selbstauferlegte Qualen zu erlangen?
Abtötung des Fleisches und Schmerz ertragen. Ultan von Armagh gehörte zur Gruppe derer, die denen, die sich masochistischen Quälereien hingaben, Mäßigung predigten, den Asketen, die fanatisch ihren Körper quälten, die ihr Seelenheil erzwingen wollten durch unnatürliche Bedürfnislosigkeit, Überanstrengung oder körperliche Leiden.
Sie unterbrach ihre Wanderung, setzte sich auf einen Felsblock, faltete die Hände im Schoß und grübelte, welche Anhaltspunkte sich ihr boten. Es schien eindeutig – alles, was Spelán vorbrachte, passte zueinander. Nur warum spürte sie, da war etwas falsch? Sie öffnete ihr marsupium und zog den Fetzen Stoff heraus, der an dem Gürtelhaken des jungen Sacán hängengeblieben war. Dass er aus irgendeinem Kleidungsstück herausgerissen war, lag auf der Hand, nur stammte er nicht von der Kutte des kleinen Mönchs. Und dann war da der hölzerne Becher, den sie im Bethaus aufgelesen hatte. Mittlerweile war er ausgetrocknet, doch zuvor musste jemand daraus ein Kräutergebräu getrunken haben.
Aus dem Augenwinkel nahm sie eine Bewegung zwischen den Felsen wahr. Sie drehte sich flugs um und blickte einen Moment in die dunklen Augen eines verschreckten Jungen, der die Kapuze seines Habits über den Kopf gezogen hatte. Im Nu war er zwischen den Felssäulen verschwunden.
»Halt!«, rief Fidelma, sprang auf und stopfte hastig Becher und Tuchfetzen in ihr marsupium. »Bleib stehen, Bruder, ich tue dir nichts!«
Doch der junge Mönch rannte davon, und seine Spur verlor sich auf dem felsigen Grund. Verärgert entfuhr ihr ein Fluch. Sie wollte ihm hinterherjagen, aber da hörte sie ihren Namen. Schwester Sárnat kam angekeucht. »Bruder Spelán und Lorcán schicken mich. Lorcán bittet dich inständig, zurückzukommen, ein Sturm zieht herauf.«
Fidelma hatte eine sarkastische Bemerkung über Lorcáns Befürchtungen auf der Zunge, doch Sárnat sprach bereits weiter. »Bruder Spelán ist auch dafür, dass wir die Insel sofort verlassen und die Geschehnisse dem Abt von Chléire melden. Der Bruder ist wiederhergestellt und nimmt die Dinge in die Hand. Ihm fiel ein, dass du ja hergekommen bist, um Abt Selbach ein Schreiben von Ultan zu überbringen. Da Selbach aber tot und er der dominus ist, erwartet er, dass du ihm das Schreiben gibst. Es könnte darin etwas stehen, das noch zu bedenken oder zu erledigen ist, bevor wir die Insel verlassen.«
Fidelma vergaß, dass sie dem Jüngling hinterher wollte, und starrte Sárnat an. Die Novizin wartete schüchtern und wusste nicht, weshalb Fidelma sie so durchdringend anschaute. »Schwester …«, begann sie zaghaft.
Unvermittelt ließ sich Fidelma auf den nächsten Stein fallen. »War ich ein Narr«, murmelte sie, griff in ihr marsupium und zog die Briefe heraus. Den an den Abt von Chléire schob sie zurück, aber Ultans Schreiben an Selbach riss sie vor den erstaunten Augen von Schwester Sárnat auf. Sie überflog den Brief, und grimmiges Lächeln umspielte ihre Lippen.
»Geh schon vor, Schwester«, sagte sie, stand auf und stopfte den Brief in ihre Tasche. »Geh zurück zu Bruder Spelán. Sag ihm und Lorcán, ich komme gleich nach. Ich nehme an, wir können ablegen, noch ehe der Sturm losbricht.«
Sárnat war nun vollends verunsichert. »Mach ich, Schwester. Aber warum kommst du nicht gleich mit?«
Fidelma lächelte. »Ich muss vorher noch mit jemandem reden.«
Wenig später trat Fidelma in die Steinhütte, in der Spelán auf dem Bett saß. Lorcán und Maenach standen lässig neben ihm. Schwester Sárnat saß an der Wand auf einer Bank. Lorcán atmete erleichtert auf, als er Fidelma sah.
»Bist du jetzt so weit, Schwester? Viel Zeit bleibt uns nicht mehr.«
»Ein paar Augenblicke noch, Lorcán«, sagte sie und lächelte gelöst.
Spelán erhob sich von der Bettstatt. »Wir sollten unverzüglich ablegen, Schwester. Ich habe dem Abt von Chléire viel zu berichten. Außerdem …«
»Du hast dir ein Loch in dein Habit gerissen. Wie ist das passiert, Spelán?«
Fidelma stellte die Frage mit unschuldigem Augenaufschlag. Doch innerlich zitterte sie, ob ihr ins Dunkel abgeschossener Pfeil wirklich traf. Spelán schaute sie verblüfft an und blickte dann auf seine Kleidung. Es war deutlich, den Riss hatte er bislang nicht bemerkt. Jetzt erst sah er das ausgefranste Loch in seinem rechten Ärmel. Gleichgültig zuckte er mit den Schultern. »War mir noch gar nicht aufgefallen.«
Fidelma nahm den Tuchfetzen aus ihrem marsupium und legte ihn auf den Tisch.
»Was meinst du, Lorcán, passt der Flicken hier in den Riss?«
Der Seemann zog die Brauen zusammen, nahm den Stoff und hielt ihn gegen Speláns Ärmel. »Passt genau, Schwester«, bestätigte er ungerührt.
»Erinnerst du dich, wo ich ihn gefunden habe?«
»Doch. Er war am Gürtel vom kleinen Sacán festgehakt.«
Aus Speláns Gesicht wich alle Farbe. »Der Ärmel muss sich da verfangen haben, als ich den Leichnam vom Strand trug …«
»Du hast den Leichnam vom Strand getragen?«, fragte Fidelma mit Nachdruck. »Hast du uns nicht erzählt, junge Brüder hätten ihn beim Angeln gefunden und hergebracht? Und das wäre schon geschehen, bevor du aufgewacht bist. Auch hätten sie Selbach bereits an den Baum gefesselt.«
Speláns Lippen arbeiteten, ohne dass sich Worte formten.
»Ich werde dir sagen, was sich auf dieser Insel abgespielt hat«, erklärte Fidelma. »Ja, es stimmt, hier hat es einen gortaigid gegeben. Jemand, der Freude bei der Abtötung des Fleisches und bei auferlegten Qualen empfand, aber nicht wegen der frommen Vorstellung, damit Gewinn für das Seelenheil zu erwerben …, sondern lediglich wegen persönlicher Gelüste. Wo hätte er seinen abscheulichen Sadismus besser befriedigen können als in einer Einsiedelei von jungen Gläubigen? Nur dort konnte er sie knechten und sie kasteien, indem er ihnen einredete, dass sie allein durch das Ertragen von Schmerzen zu seelischer Läuterung und geistlicher Vollkommenheit gelangen könnten.«
Spelán bedachte sie mit bitterbösen Blicken.
»In einigen wesentlichen Dingen ist die Schilderung zutreffend, die du uns gegeben hast, Spelán. Die Jünglinge hatten sich verschworen, Stillschweigen zu bewahren. Ihr Folterknecht nahm jeweils einen von ihnen, von den jüngsten und verletzlichsten, ans entlegene Ende der Insel und vollzog an ihnen die Züchtigung, dabei ihnen immer versichernd, das sei der einzige Weg zu ewigem himmlischem Ruhm. Doch eines Tages wurde einer von den Jungen, der kleine Sacán, so heftig gegeißelt, dass er unter seinen Händen starb. In plötzlichem Erschrecken wollte der Folterer seine Schandtat ungeschehen machen und warf die Leiche über die Klippen. Dabei riss sich der Mann am Gürtelhaken des Jungen ein Stück Stoff aus seinem Habit. Am nächsten Morgen wurde der Leichnam angeschwemmt.«
»Das ist völliger Unsinn. Selbach war es, der …«
»Selbach war es, der zu ahnen begann, dass er in seiner Gemeinde einen gortaigid hatte.
»All das sind reine Vermutungen«, wehrte sich Spelán wütend, doch Furcht schimmerte in seinen dunklen Augen.
»Nicht ganz«, entgegnete Fidelma kühl. »Du bist sehr gescheit vorgegangen, Spelán. Als Sacáns Leiche entdeckt wurde, standen alle, die ihn am Strand gefunden hatten, um ihn herum. Sie konnten nicht ahnen, dass ihr Abt Selbach, ein im Grunde seines Wesens gütiger Mann, seit kurzem begriffen hatte, was in seiner Gemeinde vor sich ging, und das gewiss nicht guthieß. Du hast selbst gesagt, die Verschwiegenheit unter den jungen Brüdern war derart, dass jeder annahm, du würdest mit Selbachs Billigung handeln. Alle glaubten, dass die Abtötung des Fleisches eine schweigend zu duldende Regel ihrer Gemeinschaft wäre. Doch angesichts ihres toten Bruders entschlossen sie sich auf der Stelle, von der Insel zu fliehen. Die acht brachten das Flechtwerkboot zu Wasser und ruderten davon; das Einzige, was sie im Sinn hatten, war, von dem Ort fortzukommen, den sie für verflucht hielten.«
Lorcán, der fassungslos Fidelmas Erklärungen vernommen hatte, pfiff leise vor sich hin. »Wo mögen die jetzt sein?«
»Schwer zu sagen. Wenn sie vernünftig sind, könnten sie nach Chléire gerudert sein oder gleich nach Dún na Séad und dort geschildert haben, was hier vorgefallen ist. Aber vielleicht haben sie auch gedacht, ihr Wort hat kein Gewicht gegen das des Abts und des dominus der Gemeinschaft hier. Denn diese Unschuldigen glauben immer noch, dass Sich-Kasteien zu den Regeln des Neuen Glaubens gehört.«
»Darf ich daran erinnern, dass ich von eben diesen Unschuldigen bewusstlos geschlagen wurde?«, höhnte Spelán.
Maenach nickte heftig. »Wirklich, Schwester, so war das doch. Wie erklärst du dir das?«
»Einen Moment. Lass mich erst klarstellen, was hier noch geschah. Die acht jungen Brüder verließen die Insel, weil sie glaubten, alle anderen standen hinter der Regel, sich demütigen und quälen lassen zu müssen. Bruder Fogach aber stieß auf den Leichnam, trug ihn ins Bethaus und weckte dich, Spelán.«
»Was sollte ihn dazu bewogen haben?«
»Bruder Fogach war nicht dein Feind, genauso wenig wie Bruder Snagaide. Du hattest dir die beiden als Gehilfen erwählt, sie hatten dir sogar zur Seite gestanden bei den körperlichen Züchtigungen. Unerfahrene junge Burschen waren das eben und leichtgläubig genug, anzunehmen, dass deine Weisungen Befehle des Glaubens und das Wort Gottes waren. Doch ihre Mitbrüder zu geißeln war eine Sache, sie zu ermorden eine andere.«
»Das zu beweisen dürfte dir schwerfallen«, frohlockte Spelán.
»Schon möglich. Bis dahin waren Fogach und Snagaide bereit, dir beizustehen. Dir aber wurde klar, dass dir die Zeit davonlief. Wenn die Geflohenen Bericht erstatteten, dann würde ein Beauftragter der Kirche, ein Anwalt, auf die Insel entsandt werden. Du musstest deine Verteidigung vorbereiten. Da kam dir ein hinterhältiger Plan. Es war früh am Tage. Selbach schlief noch. Du hast Snagaide und Fogach davon überzeugt, dass Selbach der Schuldige sei, wie du auch ihren Mitbrüdern eingeredet hast, dass Selbach die Kasteiungen guthieß. Du hast ihnen vorgetäuscht, Selbach – nicht du – habe in der vergangenen Nacht Sacán ausgepeitscht, und daher müsste er jetzt ebenso gegeißelt werden. Gemeinsam habt ihr Selbach aus dem Schlaf gerissen, ihn auf den Platz geschleppt und an den Baum gebunden. Du wusstest genau, wie du vorgehen wolltest, daher hast du zunächst den alten Mann erbarmungslos bis aufs Blut geschlagen.
Der schrie in seiner Pein und hat deinen Gehilfen die Wahrheit zugerufen. Entsetzt mussten sie anhören, wie man sie irregeleitet hatte. Du hast ihre empörten Gesichter gesehen und den Abt erstochen, um ihn am Weiterreden zu hindern. Sein Leben wäre ohnehin verwirkt gewesen. Denn Teil deines Plans war ja, alle Beweise und Zeugen zu beseitigen, um dann zu behaupten, du wärst nur das willige Werkzeug Selbachs gewesen.
Snagaide und Fogach rannten davon. Du musstest sie zum Schweigen bringen. Es gelang dir, Fogach zu fassen und ihm mit einem Stein den Schädel zu zertrümmern. Doch als du dich nach Snagaide umdrehtest, sahst du, dass ein Boot sich näherte, Lorcáns Boot nämlich. Du aber hast gedacht, da käme schon jemand aufgrund des Berichts der acht Brüder.
Man weiß, dass du ein erfahrener Apotheker bist. Du bist also in deine Zelle geeilt, hast dir einen Kräutertrunk gemischt, ein starkes Schlafmittel, das dich binnen kurzem bewusstlos machen würde. Dann hast du einen Stein aufgenommen und dir damit heftig gegen die Schläfe geschlagen, sodass eine übel aussehende Wunde entstand.
Aber Maenach, der einiges von der Heilkunst versteht, hat uns gleich gesagt, dass du seiner Erfahrung nach von so einem Hieb nicht hättest bewusstlos sein können. In Wirklichkeit war es so: Nachdem du dir die Wunde beigebracht hattest, hast du dein Mittel getrunken und dich im Bethaus hingestreckt, wo ich dich fand. Du warst nicht bewusstlos vom Schlag gegen den Kopf, sondern hast nur tief geschlafen nach dem Genuss deines Tranks. Die Geschichte, die du uns auftischen wolltest, hattest du dir längst zurechtgelegt. Dein Wort würde gegen das der jämmerlichen, verängstigten Jungen stehen.«
Langsam griff Fidelma nach dem Becher und stellte ihn auf den Tisch.
»Dieser Becher lag neben dir im Bethaus. Er riecht noch nach Kräutern wie Königskerze und Rotklee, aus denen sich ein starker Schlaftrunk herstellen lässt. In deiner Zelle hast du vielerlei Kräuter dieser Art in den Töpfen.«
»Das ist noch lange kein Beweis für deine lächerliche Geschichte«, beharrte Spelán.
»Das wird sich bald zeigen. Abt Selbach hatte nicht nur Verdacht geschöpft, dass da ein gortaigid sein Unwesen in seiner Gemeinde trieb, sondern hatte auch an Ultan von Armagh geschrieben und ihm seine Verdachtsgründe dargelegt.«
Sie nahm das Schreiben Ultans von Armagh zur Hand.
Spelán kniff die Augen zusammen. Auf seiner Stirn bildeten sich zum ersten Mal, seit sie begonnen hatte, seinen Schwindel aufzudecken, winzige Schweißperlen. Sie wedelte mit dem Brief vor seinem Gesicht und spannte ihn auf die Folter.
»Als ich erfuhr, dass du begierig warst, des Briefes habhaft zu werden, begriff ich, dass das der Beweis war, den ich suchte, den ich eigentlich nur übersehen hatte. Das Schreiben ist sehr aufschlussreich, bestätigt es doch all die Befürchtungen, die Selbach deinetwegen hegte.«
Spelán war kreidebleich geworden. Entsetzt starrte er auf den Brief, als sie ihn auf den Tisch legte. »Selbach hat mich bei Ultan angeschwärzt?«
Fidelma wies auf das Pergament. »Du kannst es selber lesen.«
Mit einem wütenden Aufschrei, der alle im Raum erstarren ließ, sprang Spelán, die Arme vorgestreckt, auf Fidelma zu. Er hatte kaum den ersten Schritt getan, da verharrte er auf der Stelle, als würde ihm die Hand eines Riesen Einhalt gebieten. Überrascht stand er einen Moment da, die Augäpfel traten aus den Höhlen, und er glitt ohne ein weiteres Wort zu Boden.
Da erst sahen alle den Griff eines Messers, das in Speláns Brust steckte, und das Blut, das sein Habit färbte.
In die Tür schob sich ein Schatten. Ein junger, dunkelhaariger Bursche in der Kutte der Klosterbrüder kam zögernd herein. Lorcán, der sich als Erster wieder besonnen hatte, kniete schon neben Spelán und fühlte den Puls, schaute dann hoch und schüttelte den Kopf.
Fidelma wandte sich zu dem Jungen, der an allen Gliedern zitterte, und legte ihm besänftigend die Hand auf den Arm.
»Ich konnte nicht anders«, murmelte er, »ich musste es tun.«
»Ich verstehe dich«, tröstete sie ihn.
»Jetzt ist mir alles gleich. Ihr könnt mich bestrafen.« Der junge Bruder richtete sich auf.
»Mit den Gewissensbissen, die du ertragen hast, bist du genug gestraft, Bruder Snagaide. Diese da«, sie wies auf Lorcán, Maenach und Sárnat, »sind Zeugen von Speláns Vorhaben, mit dem er seine Schuld gestanden hat. Dein Fall wird vor dem Brehon in Chléire verhandelt werden, und ich werde deine Anwältin sein. Heißt es doch in dem uralten Gesetz, jeder, der sich über das Gesetz stellt, verliert den Schutz des Gesetzes. Du hast jemanden getötet, der das Gesetz übertreten hat, und daher ist diese Tat gerechtfertigt nach dem Gesetzeswerk des Fenechus.«
Sie zog den Jungen mit nach draußen. Er war nicht einmal so alt wie die weltunerfahrene Schwester Sárnat. Was tat man nur diesen jungen Menschen an? Sollte es ihr eines Tages vergönnt sein, dem obersten Rat der Richter Irlands ein Gesetz vorzulegen, würde es darin heißen, niemand unter fünfundzwanzig darf dazu gedrängt werden, sein Leben im Kloster zu verbringen. Die Jungen sollten erst erwachsen werden, sich des Lebens freuen und etwas von der Welt verstehen, bevor sie sich auf Inseln oder in Klöstern von ihr abwandten. Nur unter solchen von der Welt abgeschirmten und in Furcht vor den Glaubensoberen gehaltenen Unschuldslämmern konnte ein Unhold wie Spelán sein Werk betreiben. Begütigend legte sie dem jungen Mönch, der herzzerreißend zu schluchzen begann, ihren Arm um die Schultern.
»Komm, Lorcán«, rief sie, »jetzt hinunter zum Boot und auf nach Inis Chléire, ehe uns dein Sturm packt.«
Schwester Sárnat kam aus der Zelle gerannt und hielt den Brief hoch, den Fidelma auf den Tisch gelegt hatte.
»Schwester …«, japste sie und konnte kaum reden. »Dieses Schreiben hier von Ultan an Selbach … Da steht überhaupt nichts drin von Spelán. Selbach hat Spelán gar nicht verdächtigt. Er hat gedacht, der Trieb, sich zu kasteien, sei nur so unter den jungen Brüdern entstanden.«
Fidelma war nicht sonderlich überrascht. »Selbach hat es nicht übers Herz gebracht, seinen engsten Mitstreiter zu verdächtigen. Dass Spelán den genauen Inhalt des Briefes nicht kannte, war doch gut, oder?«