HEILIGES BLUT

»Schwester Fidelma! Wie kommst du denn hierher?«

Äbtissin Ballgel stand am Tor der Abtei von Nivelles und starrte ungläubig auf die staubige Gestalt der jungen Nonne.

»Ich bin auf dem Rückweg nach Kildare, Ballgel«, antwortete die große, schlanke Frau. Ein breites Begrüßungslächeln lag auf dem von der Reise gezeichneten Gesicht. »Ich war eine Weile in Rom, und wo sonst sollte ich mich hinwenden, wenn ich auf dem Weg zur Küste durch das Land der Franken komme?«

Zur Überraschung der beiden älteren Nonnen, die die Äbtissin offenbar begleiteten, fielen Ballgel und Schwester Fidelma einander mit unverhohlener Freude in die Arme.

»Es ist lange her«, meinte die Äbtissin.

»Wahrhaftig, lange her. Ich habe dich nicht gesehen, seit du aus Kildare weggegangen bist und die Küsten von Éireann hinter dir gelassen hast, um hierherzukommen. Und jetzt sagt man mir, du seist die Äbtissin.«

»Ja, die Gemeinschaft hat mir bei der Wahl diese Ehre zukommen lassen.«

Schwester Fidelma bemerkte, dass die beiden Nonnen, die bei der Äbtissin standen, ungeduldig von einem Fuß auf den anderen traten. Überrascht nahm sie ihre bitterernsten, ängstlichen Gesichter wahr. Äbtissin Ballgel sah, dass Fidelmas Blick zu ihren Begleiterinnen gehuscht war. Die drei Nonnen hatten gerade die Abtei verlassen wollen, als Fidelma ihnen begegnet war.

»Du hast leider einen sehr schlechten Augenblick für deine Ankunft gewählt, Fidelma. Wir sind unterwegs zum Wald von Seneffe, ein kleines Stück Wegs von hier. Du bist nicht dort vorbeigekommen, oder?«

Fidelma schüttelte den Kopf.

»Nein, ich bin von Namur aus über die Berge gekommen. Bis dort bin ich mit dem Schiff auf dem Fluss gereist.«

»Ah!« Die Äbtissin wirkte ernst, rang sich aber ein Lächeln ab. »Geh hinein und sei unser Gast, Fidelma. Ich hoffe, dass ich vor dem Abend wieder zurück bin. Dann können wir uns unterhalten und gegenseitig unsere Neuigkeiten erzählen.«

Fidelma hob fragend die Brauen. Die Stimme und das Gebaren der Äbtissin verrieten ihr, dass ihr etwas auf der Seele lag.

»Was ist los?«, fragte sie. »Dich quält doch etwas.«

Ballgel verzog das Gesicht.

»Du hattest schon immer ein scharfes Auge, Fidelma. Mich hat gerade die Nachricht erreicht, dass eine unserer Schwestern im Wald von Seneffe ermordet aufgefunden wurde, und ein anderes Mitglied unserer Gemeinschaft wird vermisst. Wir eilen gerade zum Fundort, um festzustellen, ob das alles stimmt. Geh also und ruhe dich von den Strapazen der Reise aus. Ich geselle mich später zu dir.«

Fidelma schüttelte den Kopf.

»Mutter Äbtissin«, sagte sie leise, »es ist wirklich lange her, und vielleicht hast du es vergessen. Ich habe acht Jahre lang bei Brehon Morann Recht studiert. Ich verfüge über eine gewisse Begabung, Rätsel zu lösen und Geheimnisse aufzuklären. Lass mich mitkommen. Ich will dir alles Talent, was ich besitzen mag, zur Verfügung stellen, um dieser Sache auf den Grund zu gehen.«

Fidelma und Ballgel waren zusammen Novizinnen im Kloster von Kildare gewesen.

»Ich erinnere mich sehr wohl an deine Begabung, Fidelma. Ich habe deinen Namen in der Zwischenzeit häufig gehört, denn oft beherbergen wir hier Reisende aus Éireann. Du kannst gern mitkommen«, sagte Ballgel erleichtert.

»Und du kannst mir unterwegs erläutern, was vorgefallen ist«, meinte Fidelma und stellte ihre Reisetasche innerhalb der Klostermauern ab, ehe sie sich den drei Frauen anschloss.

Sie machten sich auf den Weg. Fidelma und Ballgel gingen Seite an Seite, und die beiden anderen Nonnen folgten ihnen.

»Wer ist denn ermordet worden?«, begann Fidelma.

»Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass heute Morgen Schwester Cessair und Schwester Della zur Abtei von Fosse aufgebrochen sind. Heute ist der siebzehnte März. Deswegen trugen sie die Phiole mit dem Heiligen Blut der Seligen Gertrude zu den Brüdern von Fosse, damit sie dort wie jedes Jahr gesegnet würde und …«

Fidelma legte leicht die Hand auf den Arm ihrer Freundin.

»Nicht so schnell, Ballgel. Vergiss nicht, ich bin fremd hier.«

»Dann will ich ganz am Anfang beginnen«, sagte die Äbtissin. »Vor fünfundzwanzig Jahren starb der Herrscher dieses Landes, Pippin der Ältere von Landen. Seine Witwe Itta entschied sich, ihr Leben in einem Orden zu beschließen, und kam mit ihrer Tochter Gertrude hierher nach Nivelles. Sie ließen unsere Abtei errichten. Als Itta starb, wurde die Selige Gertrude unsere Äbtissin.

Etwa zu dieser Zeit kamen zwei Brüder aus Éireann, Foillan und Ultan, hier auf ihren Wanderungen vorüber und predigten das Wort Gottes. Sie beschlossen, sich in der Nähe anzusiedeln. Gertrude schenkte ihnen einige Meilen von hier entfernt Ländereien in Fosse, jenseits des Waldes von Seneffe. Foillan und Ultan versammelten zahlreiche irische Ordensleute um sich, und manche kamen auch in unsere Abtei. Es heißt, der heilige Foillan hätte der heiligen Gertrude prophezeit, weil sie die irischen Missionare so sehr liebte und förderte, würde sie an dem Tage sterben, an dem auch der heilige Patrick verschieden ist. Und es geschah, wie er es vorhergesagt hatte, auf den Tag genau vor sieben Jahren.«

Äbtissin Ballgel schwieg eine Weile, bis Fidelma sie fragte: »Also hatte sich Foillan als Prophet erwiesen?«

»Er lebte nicht lange genug, um seine Vorhersage erfüllt zu sehen. Er starb nämlich vier Jahre vor seiner geliebten Gertrude. Er und drei Gefährten waren unterwegs von der Abtei Fosse durch den Wald, dem wir uns gerade nähern – den Wald von Seneffe –, als sie von Räubern überfallen und ermordet wurden. Ihre Leichen waren so gut im Wald versteckt, dass man sie erst nach drei Monaten zufällig entdeckte. Foillans Bruder Ultan wurde Abt.

Als dann die heilige Gertrude gestorben war, kamen die beiden Abteien überein, dass man, da sie ja die Wohltäterin beider Häuser war, eine Phiole mit ihrem Blut, das man ihr nach ihrem Tode abgenommen hatte, hinter dem Hochaltar unserer Abtei aufbewahren würde. Doch jedes Jahr sollte diese Phiole an ihrem Todestag zur Abtei von Fosse gebracht und dort in einem Gottesdienst vom Abt gesegnet werden. Dies war die Aufgabe, die Schwester Cessair und Schwester Della heute Morgen erfüllen sollten.«

»Wie hast du davon erfahren, dass eine Schwester im Wald ermordet wurde?«

»Als der Mittag gekommen war, der Zeitpunkt des Gottesdienstes in Fosse, und dort die Schwestern aus unserer Gemeinschaft mit dem Heiligen Blut noch nicht eingetroffen waren, machte sich Bruder Sinsear auf, um festzustellen, was sie aufgehalten hatte. Er fand die Leiche einer der Schwestern am Wegesrand. Er eilte sofort her, um uns davon zu benachrichtigen, und kehrte dann unverzüglich um und alarmierte die Gemeinschaft in Fosse.«

»Aber weißt du, welche der beiden Schwestern getötet wurde?«

Die Äbtissin schüttelte den Kopf.

»Bruder Sinsear war zu aufgeregt, um uns das zu sagen. Er überbrachte nur der Pförtnerin die Nachricht und machte sich sogleich wieder auf den Rückweg.«

Inzwischen waren sie in den hochaufragenden, finsteren Wald von Seneffe eingetreten. Der Weg führte meist geradeaus, schlängelte sich jedoch manchmal um Felsbrocken herum und an Bächen entlang, bis man diese über eine Furt durchqueren konnte. Die dichten Bäume sperrten die Nachmittagssonne beinahe aus, und die Luft ringsum war kühl. Fidelma dachte, dass dieser Weg einen idealen Hinterhalt für Räuber bot. Es verwunderte sie nicht, dass hier schon Menschen zu Tode gekommen waren.

Obwohl die irischen Ordensleute unbewaffnet in die Welt zogen, um ihren Glauben zu predigen, hatten doch die meisten von ihnen die Kunst des troid-sciathagid, des Verteidigungskampfes, gelernt. Dies war eine Methode der Selbstverteidigung ohne Waffen. Selten fielen derart ausgebildete Ordensleute herumstreunenden Banden von Dieben und Räubern zum Opfer. Die Namen der beiden Schwestern deuteten darauf hin, dass sie Irinnen waren und also zumindest Grundkenntnisse in dieser Kunst besitzen mussten. Es war nämlich üblich, dieses Wissen zu erwerben, ehe man das Heilige Wort von den Küsten der Insel Éireann in fremde Länder trug.

Die kleine Gruppe schritt schweigend und rasch den Pfad entlang. Die Nonnen blickten sich des Öfteren ängstlich um, ob irgendwo eine Gefahr lauerte.

»Ist dies nicht ein gefährlicher Weg für junge Schwestern?«, erkundigte sich Fidelma nach einer Weile.

»Nicht gefährlicher als andere«, erwiderte ihre Freundin. »Lass die Geschichte von Foillans Tod deine Meinung nicht beeinflussen. Das ist zehn Jahr her, und die Räuber wurden inzwischen aus diesem Landstrich vertrieben. Es hat seither keine weiteren Zwischenfälle mehr gegeben.«

»Bis heute«, bemerkte Fidelma finster.

»Bis heute«, seufzte Ballgel.

Wenig später erblickten sie eine Gruppe von vier oder fünf Mönchen. Sie hatten einen Karren mitgebracht, vor den ein Esel gespannt war. Sie standen um eine knorrige Eiche herum, deren Äste mit den welken Blättern so niedrig hingen, dass man beinahe hinaufreichen und die untersten Zweige packen konnte. Dadurch war es an dieser Stelle noch finsterer.

Ein großer Mann von kräftiger Gesichtsfarbe, der ein goldenes Kreuz um den Hals trug und sichtlich eine Respektsperson war, erblickte Äbtissin Ballgel und kam auf sie zugeeilt.

»Ich grüße dich, Mutter Äbtissin. Eine schlimme Sache, eine gotteslästerliche Sache.« Er sprach Latein, aber Fidelma konnte seinen fränkischen Zungenschlag ausmachen.

»Abt Heribert von Fosse«, flüsterte Ballgel ihr gerade noch außer Hörweite zu.

»Wo ist der Leichnam?« Ballgel kam gleich zur Sache, sprach ebenfalls Latein.

Abt Heribert schaute betreten drein.

»Ich möchte euch erst auf den Anblick vorbereiten«, hub er an.

»Ich habe schon Tote gesehen«, erwiderte Äbtissin Ballgel ruhig.

Er deutete auf die vom Weg abgewandte Seite des Eichenstammes.

Ballgel ging zu der Stelle, zu der seine Hand sie gewiesen hatte, dicht gefolgt von Fidelma.

Man hatte eine Frau an den Eichenstamm gebunden, sodass sie vom Weg aus nicht zu sehen war. Es wirkte beinahe wie die Parodie einer Kreuzigung. Überall war Blut. Fidelma verzog angewidert das Gesicht. Jemand hatte der Frau, die ein Ordensgewand trug, systematisch das Gesicht verstümmelt.

»Löst sie vom Baum!«, rief Äbtissin Ballgel mit scharfer Stimme. »Sofort! Lasst das arme Mädchen nicht noch länger da hängen!« Mit finsterer Miene traten zwei der Mönche vor.

»Wer ist es?«, fragte Fidelma. »Erkennst du sie?«

»O ja. Wir haben nur eine Schwester, deren Haar so golden leuchtet. Es ist die junge Schwester Cessair. Gott sei ihrer Seele gnädig.« Sie beugte das Knie.

Fidelma schürzte nachdenklich die Lippen. Sie sah zu, wie zwei Mönche die Tote vom Baum lösten und auf den Karren legen wollten.

»Wartet noch!«, rief sie. Sie wandte sich der Äbtissin zu und fragte: »Ich möchte mir den Leichnam genauer ansehen, und zwar allein.«

Überrascht schaute Ballgel sie an.

»Wozu das denn?«

»Dies sind überaus merkwürdige Umstände. Es könnte sein, dass sie … brutal behandelt wurde.«

Ballgel fuhr sich verwirrt mit der Hand über die Stirn, bis sie endlich begriff, was Fidelma meinte.

Sie befahl den Mönchen, die Leiche vor dem Karren auf die Erde zu legen, und bat dann Abt Heribert, sich mit seinen Männern in respektvollem Abstand zurückzuziehen.

Fidelma kniete sich neben die Tote. Dabei bemerkte sie, dass der Boden unter der Eiche recht feucht, ja morastig war. Der Karren und die vielen Füße der Menschen, die hier gegangen waren, hatten ihn aufgewühlt. Fidelmas Blick fiel auf zwei Fußabdrücke, die weitaus tiefer eingegraben waren als die anderen, sodass sich sogar Wasserlachen darin gebildet hatten. Sie ignorierte den Schlamm und beugte sich über den Leichnam. Der Äbtissin bedeutete sie, sie solle näher treten.

»Wenn du bitte meine Untersuchung beobachten und bezeugen würdest, Ballgel«, rief sie ihr über die Schulter hinweg zu. »Du siehst, dass das Gesicht der Schwester mit einem Messer übel zugerichtet wurde. Die Haut wurde absichtlich mit einer scharfen Klinge gezeichnet, entstellt, als hätte man es darauf abgesehen, das Gesicht des Mädchens zu zerstören.«

Ballgel zwang sich hinzuschauen und nickte, konnte aber ein qualvolles Stöhnen nicht unterdrücken.

Fidelma beugte sich tiefer herab. Dann hielt sie einen Augenblick inne, denn sie hatte gesehen, was sie sehen wollte. Nun wandte sie ihre Aufmerksamkeit dem kleinen ledernen marsupium zu, das am Gürtel der toten Schwester hing. Es war nicht mit einem dünnen Lederriemen zugeschnürt, wie das solche Beutel sonst waren, und es war leer.

Fidelma erhob sich. Als Nächstes ging sie zu dem Baum, von dem man den Leichnam abgenommen hatte, und begann sich umzusehen. Mit einem triumphierenden Aufschrei beugte sie sich zur Erde und hob ein zerrissenes Stück Papier auf. Anstelle von Buchstaben waren darauf einige seltsame kurze Linien. Fidelma runzelte die Stirn und verstaute das Papier in ihrem eigenen marsupium.

Ihr scharfes Auge erspähte einen runden Stein auf dem Boden. Er war blutverschmiert, und Hautfetzen und Haare klebten daran.

»Was ist das?«, wollte Äbtissin Ballgel wissen.

»Das ist die Waffe, mit der Cessair getötet wurde«, erklärte Fidelma. »Ihr Tod wurde dadurch verursacht, dass ihr der Schädel eingeschlagen wurde, nicht durch die Klinge des Messers, das ihr Gesicht zerstörte. Zumindest war dies kein Überfall von Räubern.«

»Wie kannst du so sicher sein?«

»Wir haben festgestellt, dass das Mädchen nicht missbraucht wurde. Und doch war dieser Überfall auf die Schwester durch Hass motiviert.«

Ballgel starrte ihre Freundin verwundert an.

»Wieso sagst du das?«

»Halten wir erst einmal fest, dass es kein Raubüberfall war. Ein Dieb will etwas stehlen. Es stimmt, dass einige Diebe sich so weit vergessen haben, dass sie Ordensschwestern missbraucht haben. Hier wurde jedoch nichts gestohlen. Das Kruzifix der Schwester hängt noch um ihren Hals. Es war kein sexueller Übergriff. Was bleibt als Motiv übrig, das jemanden dazu treiben könnte, einer Frau den Schädel einzuschlagen, sie an einen Baum zu binden und ihr das Gesicht zu zerschneiden? Da bleibt doch gewiss nur Hass?«

»Das Heilige Blut der Seligen Gertrude ist nicht mehr in ihrem marsupium«, erwähnte Ballgel. »Ich habe überall nach der Phiole gesucht. Die ist wertvoll. Aber vor allem: wo ist Schwester Della?«

Fidelma holte tief Luft.

»Für euch ist vielleicht das Heilige Blut wertvoll, ja. Aber für einen Dieb nicht. Es hätte keinen Zweck, es zu stehlen, denn wie sollte man es zu Geld machen?«

»Brauchen Diebe und Räuber denn einen Zweck?«

»Alle Menschen brauchen einen Zweck. Selbst die, die wir für verrückt halten, folgen einer Logik, die vielleicht nicht die unsere ist, sondern eine, die ihren eigenen, selbst erdachten Regeln folgt. Sobald man einmal die Logik begriffen hat, ist es ganz leicht, sie nachzuvollziehen.«

»Und was ist mit Schwester Della?«

Fidelma nickte. »Das ist das eigentliche Geheimnis. Wenn wir sie finden, entdecken wir vielleicht auch die fehlende Phiole. Hat man schon nach ihr gesucht?« Diese Frage stellte sie dem Abt.

Abt Heribert schaute Fidelma mit säuerlicher Miene an.

»Noch nicht. Und wer bist du?«

»Schwester Fidelma ist Anwältin an unseren Gerichtshöfen«, erklärte Äbtissin Ballgel eilig, nachdem sie den spöttischen Ausdruck auf dem Gesicht des Abts wahrgenommen hatte.

»Haben Frauen in eurem Land wirklich einen solch hohen Stand?«, erkundigte er sich erstaunt.

»Ist das so seltsam?«, fragte Fidelma ärgerlich zurück. »Jedenfalls verschwenden wir kostbare Zeit. Wir müssen Schwester Della finden, denn sie ist vielleicht in Gefahr. Wenn Schwester Cessair nicht beraubt und nicht vergewaltigt wurde, dann besteht immer noch die Möglichkeit, dass sie aus einem privaten Motiv getötet wurde. Ihr zerschnittenes Gesicht lässt auf eine Boshaftigkeit schließen, die mir kalte Schauer über den Rücken jagt. Wer hätte so wütend auf sie sein können, dass er versuchen würde, ihre Schönheit zu zerstören? Es ist, als hätte sie ein eifersüchtiger Liebhaber überfallen. Denn es ist ja bekannt, dass Hass und Liebe nur zwei Seiten der gleichen Medaille sind.«

Fidelma bemerkte, wie sich die Augen des Abtes plötzlich ein wenig weiteten. Sie sah, wie er Ballgel einen raschen Blick zuwarf und dann die Augen senkte.

»Warum hat die Erwähnung eines Liebhabers eine besondere Bedeutung für dich?«, fragte sie ihn.

Äbtissin Ballgel antwortete an seiner Stelle.

»Schwester Cessair hatte eine … eine Beziehung«, sagte sie leise.

»Widerwärtig war das!«, grunzte Abt Heribert.

»Eine seltsame Wortwahl.« Fidelmas Augen verengten sich. »Widerwärtig in welcher Weise?«

»Abt Heribert ist fest vom Zölibat überzeugt«, erklärte Ballgel.

»Aber das Prinzip des Zölibats ist doch in der Kirche keineswegs allgemein anerkannt«, warf Fidelma ein. »Es gibt viele gemischte Häuser, in denen Mönche und Nonnen zusammenleben und ihre Kinder zum Dienst im Weinberg Gottes heranziehen. Was ist daran widerwärtig?«

»Paulus von Tarsus hat sich unmissverständlich für das Zölibat ausgesprochen, und viele andere Kirchenväter haben es ihm gleichgetan. Auch unter uns sind heute einige, die darauf beharren, dass wir nur durch das Zölibat die Kraft besitzen, den Glauben zu verkündigen.«

»Ich bin nicht hier, um theologische Debatten zu führen, Heribert. Willst du mir sagen, dass Cessair in einen Ordensbruder aus deiner Abtei verliebt war?«

»Gott möge ihm vergeben.« Heribert senkte fromm das Haupt.

»Nur ihm?« Schwang da Sarkasmus in Fidelmas Stimme mit? »Sicherlich ist doch Gottes Vergebung allgemein? Wer war dieser Mönch?«

»Bruder Cano«, antwortete Ballgel. »Er ist ein junger Mönch, der erst vor einigen Wochen aus Éireann angekommen ist. Es hat den Anschein, dass er und Schwester Cessair einander kennenlernten und sich sofort zueinander hingezogen fühlten.«

»Und diese Beziehung wurde nicht gern gesehen?«

»Mir war die Sache gleichgültig«, erwiderte Ballgel hastig. »Unsere Kultur verbietet derlei Beziehungen nicht, wie du ja schon erwähnt hast. Auch Kildare, wo wir studiert haben, war ein gemischtes Haus.«

»Abt Heribert dagegen stand der Sache nicht gleichgültig gegenüber.« Fidelma blickte den hochaufgeschossenen fränkischen Prälaten an.

»Natürlich war mir das nicht gleichgültig. Meine Abtei in Fosse ist nur für Mönche vorgesehen. Ich befolge mit aller Strenge die Regeln des Zölibats, und ich erwarte das Gleiche auch von den Männern in meiner Gemeinschaft. Ich habe Bruder Cano mehrmals ermahnt, er möge diese widerwärtige Beziehung beenden. Äbtissin Ballgel kannte meine Ansichten. Es überrascht mich nicht, dass diese junge Frau mit ihren losen Sitten einen bitteren Preis zahlen musste.«

Fidelma zog erstaunt eine Augenbraue hoch.

»Das ist eine sehr interessante Aussage. Siehst du diese Angelegenheit nicht ein wenig zu ernst, Vater Abt?«

Heribert schaute sie misstrauisch an.

»Was meinst du damit?«

»Ich habe lediglich eine Beobachtung gemacht. Stört es dich, dass ich dich auf deine leidenschaftlichen Tiraden hinweise, mit denen du die unglückselige Schwester verunglimpfst?«

»Ich glaube an die Lehren des Paulus von Tarsus.«

»Und doch sind sie keineswegs Kirchengesetz. Auch der Heilige Vater spricht sich nicht gegen diejenigen aus, die das Zölibat ablehnen. Wir haben es hier nicht einmal mit einer Glaubensregel zu tun.«

»Noch nicht. Doch die Zahl derer, die wie wir an die Trennung von Männern und Frauen und an die Regeln des Zölibats glauben, wächst ständig. Eines Tages muss auch der Heilige Vater dieser Entwicklung Rechnung tragen. Er hat bereits angedeutet, dass das Zölibat sehr wohl der beste Weg in die Zukunft sein …«

»Bis das geschieht, ist es kein Gesetz. Nun gut, ich kenne jetzt deinen Standpunkt. Doch wir haben hier einen Mord aufzuklären. Wo ist Bruder Cano?«

Abt Heribert zuckte mit den Achseln.

»Bruder Sinsear hat mir gesagt, dass Bruder Cano das Kloster heute Morgen verlassen hat und dass man ihn gesehen hat, wie er diesen Pfad einschlug. Vielleicht wollte er sich mit Schwester Cessair treffen?«

Äbtissin Ballgel stöhnte leise auf.

»Wenn Cano sich mit Schwester Cessair treffen wollte … wenn er ihr so etwas antun konnte … dann müssen wir sofort Schwester Della finden.«

Fidelma lächelte ihr aufmunternd zu.

»Niemand hat bisher gesagt, dass Cano der Täter ist«, bemerkte sie ruhig. »Es scheint jedoch, dass wir außer einer vermissten Schwester auch noch einen vermissten Bruder suchen müssen. Vielleicht finden wir den einen mit der anderen. Wo ist Bruder Sinsear?«

Ein Mönch, der in der Nähe stand, hüstelte nervös und trat zögerlich einen Schritt auf Fidelma zu. Es war ein blasser junger Mann, kaum dem Jünglingsalter entwachsen. Sein Gesicht war angespannt, und starke Empfindungen schienen ihn zu überwältigen.

»Ich bin Sinsear.«

Fidelma blickte in sein gerötetes, ängstliches Gesicht.

»Du scheinst erregt zu sein, Bruder.«

»Ich arbeite mit Bruder Cano in den Gärten unseres Klosters, Schwester. Ich bin sein Freund. Ich wusste, dass er ein …« Er schaute nervös zu seinem Abt hin. »… eine Leidenschaft für Schwester Cessair hegte.«

»Eine Leidenschaft? Du musst nicht um die Sache herumreden, Bruder. War er in sie verliebt?«

»Ich wusste nur, dass sie sich regelmäßig hier im Wald trafen, weil der Vater Abt ihre Beziehung missbilligte.«

Abt Heribert warf ihm einen aufgebrachten Blick zu, aber Fidelma hinderte ihn mit einer Handbewegung am Sprechen.

»Rede weiter, Bruder Sinsear. Was sagtest du?«

»Sie hatten einen besonderen Treffpunkt auf einer Lichtung nicht weit von hier. Eine Holzfällerhütte. Unter den gegebenen Umständen, denke ich, sollte man sich diese Hütte ansehen.«

»Du hättest früher den Mund aufmachen sollen, Bruder«, bellte Abt Heribert. »Cano kann inzwischen bereits geflohen sein. Ich halte es für sinnlos, ihn in dieser Hütte zu suchen.«

»Du gehst bereits davon aus, dass er der Täter ist, Heribert«, wies ihn Fidelma zurecht. »Ich glaube, wir sollten uns zu dieser Hütte begeben. Kennst du den Weg dorthin, Bruder Sinsear?«

»Ich denke schon. Ein kleiner Pfad biegt etwa hundert Schritte von hier vom Weg ab.« Er deutete in Richtung Fosse, weg von der Eiche, wo man Cessair gefunden hatte.

»Wie tief in den Wald hinein?«

»Nicht mal eine viertel Meile.«

»Dann geh du voran. Vater Abt, du kannst die anderen Brüder deiner Gemeinschaft bitten, die Schwestern und Cessairs Leichnam zurück zur Abtei von Nivelles zu geleiten.«

Erst wollte Heribert Einwände machen, dann tat er aber, wie sie ihm geheißen hatte.

Bruder Sinsear schaute mit seinen hellen Augen zu Fidelma.

»Kann Cano wirklich so eine schreckliche Tat begangen haben? O Gott, solche Anmut und Schönheit derart zu misshandeln! Warum hat sie ihre Liebe nicht einem geschenkt, der diese wunderbaren Gaben zu schätzen …«

Abt Heribert unterbrach ihn.

»Wir wollen uns beeilen, Bruder Sinsear. Ich denke jedoch, es wird reine Zeitverschwendung sein. Falls Cano sie ermordet hat, versteckt er sich nicht in einer Hütte im Wald, sondern hat diese Gegend längst verlassen.«

»Du hast vergessen, dass auch Schwester Della vermisst wird«, erwiderte Fidelma ihm scharf. »Und wir sollten nicht den Fehler machen, von Canos Schuld auszugehen.«

»Ja, ja«, bellte Heribert. »Wie du willst.«

Bruder Sinsear ging voraus. Sie folgten ihm auf einem ausgetretenen Pfad durch den großen Wald.

Bald erreichten sie eine Lichtung, eine hübsche Wiese, durch die sich ein kleiner Bach schlängelte. Dort stand eine primitive Holzhütte. Die Tür war verschlossen. Keinerlei Lebenszeichen war auszumachen.

Fidelma hob die Hand und gebot ihnen allen, einen Augenblick am Rand der Lichtung stehen zu bleiben. Dann näherten sie sich der Hütte. Das Erste, was Fidelma bemerkte, war ein Blutfleck am Türrahmen. Es waren auch einige Handabdrücke auf der Tür, als hätte sie jemand mit blutigen Händen geöffnet. Auf einem Stück Holz neben der Tür war ebenfalls Blut zu sehen.

Von drinnen hörten sie Schluchzen.

»Bruder Cano!«, rief Sinsear plötzlich. »Der Abt und ich sind hier.«

Schweigen. Unvermittelt brach das Schluchzen ab.

»Sinsear?«, antwortete eine zögerliche Männerstimme. »Gott sei Dank! Ich brauche Hilfe.«

Nun war ein anderes Geräusch zu vernehmen. Der Schrei einer Frau, der klang, als würde er beinahe sofort erstickt.

Fidelma schaute ihre Gefährten an.

»Wartet! Ich gehe als Erste hinein.« Sie rief laut: »Bruder Cano? Ich bin Fidelma von Cashel. Ich bin hier, um dir zu helfen. Ich komme jetzt herein.«

Keine Antwort.

Langsam lehnte sich Fidelma vor, legte ihre Hand neben den blutigen Abdruck und drückte gegen die Tür. Sie ging leicht auf.

In der hinteren Ecke der Hütte sah sie einen jungen Mann im Ordensgewand auf dem Boden knien. Sein Haar war zerzaust, seine Augen waren rot unterlaufen, die Wangen feucht, als hätte er geweint. Er hielt ein blutbeflecktes Tuch in den Händen. Vor ihm lag ein Mädchen auf dem Boden. Ihre Augen waren geöffnet, und sie schien bei Bewusstsein zu sein. Ihre Kleider waren blutüberströmt.

Fidelma hörte hinter sich ein Geräusch und fuhr herum. Abt Heribert und die anderen versuchten, sich hinter ihr in die Hütte zu drängeln.

»Bleibt draußen!«, befahl sie schroff. Ihre Stimme hatte eine solche Kraft, dass die anderen wie angewurzelt stehen blieben. »Ich spreche erst mit Cano und Schwester Della.«

Fidelma trat einen Schritt weiter in die Hütte hinein.

»Ich bin Schwester Fidelma«, wiederholte sie. »Darf ich mich um Schwester Della kümmern?«

»Natürlich.« Der junge Mann schien verwirrt.

Fidelma kniete sich neben ihn. Er hatte versucht, Dellas Wunde am Hinterkopf zu säubern.

»Bleib still liegen«, sagte sie, während sie sich die Wunde der jungen Nonne ansah. Genau wie Schwester Cessair hatte man auch Schwester Della auf den Kopf geschlagen. Doch war bei ihr der Knochen nicht zertrümmert, sondern es war nur eine starke Schwellung zu sehen.

»Muss ich sterben, Schwester?« Die Stimme des Mädchens klang schwach.

»Nein. Wir bringen dich bald zur Abtei zurück, wo man sich um dich kümmern wird. Was kannst du mir über den Überfall auf Schwester Cessair und dich erzählen?«

»Ziemlich wenig.«

»Wenig kann unter diesen Umständen schon sehr viel sein«, ermutigte sie Fidelma.

»Leider ist das Wenige geradezu nichts. Schwester Cessair und ich waren mit der Phiole mit dem Heiligen Blut der heiligen Gertrude auf dem Weg zur Abtei von Fosse. Wir gingen durch den Wald. Ich weiß noch …« Sie stöhnte auf. »Ich habe aber niemanden hinter uns gehört, denn wir haben uns unterhalten und …« Sie fuhr sich mit der Hand an die Stirn und stöhnte auf. »Dann schlug mir jemand auf den Kopf, und danach kann ich mich an nichts mehr erinnern, bis ich wieder zu mir kam. Ich lag mit einem furchtbaren Schmerz im Schädel auf dem Weg. Ich dachte, ich wäre allein. Ich schaute mich um, und dann, dann sah ich Cessair …«

Sie schluchzte herzzerreißend.

»Und weiter?«, fragte Fidelma leise.

»Ich konnte nichts mehr für sie tun, nur Hilfe holen. Ich lief hierher und …«

»Du liefst hierher?«, unterbrach Fidelma sie rasch. »Warum zu dieser Holzfällerhütte? Warum nicht zur Abtei von Fosse oder zurück nach Nivelles?«

»Ich wusste, dass Cano hier sein würde.« Wieder stöhnte das Mädchen.

»Sie wusste, dass ich mich mit Cessair verabredet hatte. Wir wollten uns hier auf ihrem Weg von Nivelles nach Fosse treffen«, unterbrach Cano sie trotzig. »Ich schäme mich deswegen nicht.«

Fidelma ignorierte seinen Einwurf und sagte zu dem Mädchen: »Ruh dich ein wenig aus. Es dauert nicht mehr lange, und dann bringen wir dich in Sicherheit und kümmern uns um deine Wunde.«

Nun erst wandte sie sich Cano zu.

»Du hast also hier auf Cessair gewartet?«

»Cessair und ich, wir haben uns geliebt. Wir haben uns oft hier getroffen, weil Abt Heribert so sehr gegen unsere Verbindung war.«

»Erzähl mir davon.«

»Da gibt es nicht viel zu erzählen. Ich bin vor etwa einem Monat nach Fosse gekommen, um mich der Gemeinschaft anzuschließen. Es sind zwar einige irische Ordensleute hier und in Nivelles, aber es ist ein seltsames Land. Sie legen hier viel mehr Wert auf das Zölibat als wir in Éireann. Sie haben nicht so viele gemischte Häuser wie wir. Abt Heribert ist ein fanatischer Anhänger des Zölibats – obwohl es in der Kirche keine solche Vorschrift gibt. Ich glaube, ich wäre schon längst wieder von hier weg, wenn ich Cessair nicht kennengelernt hätte.«

»Wann war das?«

»Gleich in der Woche nach meiner Ankunft. Bruder Sinsear hat mich mit ihr bekannt gemacht, als wir Gemüse von Fosse nach Nivelles brachten.«

»Bruder Sinsear hat euch einander vorgestellt?«

»Ja. Als Gärtner brachte er regelmäßig Gemüse von einer Abtei zur anderen. Er kennt viele von den Nonnen in Nivelles.«

»Hatte Cessair irgendwelche Feinde, von denen du weißt?«

»Nur Abt Heribert, nachdem er unsere Beziehung entdeckt hatte.« Canos Stimme klang bitter. Von der Tür her hörte Fidelma Heriberts wütendes Knurren.

»Warum seid ihr nicht von hier weggegangen und habt euch einem gemischten Haus angeschlossen?«

»Das hatten wir vor, aber Äbtissin Ballgel hat Cessair davon abgeraten.«

Fidelma sah ihn fragend an.

»Warum sollte sie etwas dagegen haben?«

Cano zuckte die Achseln.

»Sie hat Cessair sehr … fürsorglich behandelt. Sie hielt sie noch für zu jung.«

»Fürsorglicher als ihre anderen Schützlinge?«

»Das weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass wir verzweifelt waren und deshalb wegwollten.«

Fidelma wartete eine Weile. Dann sagte sie unvermittelt: »Hast du Cessair umgebracht?«

Der junge Mönch hob sein tränennasses Gesicht zu Fidelma und schaute sie gequält an.

»Wie kannst du eine solche Frage stellen?«

»Weil ich eine dálaigh bin, eine Anwältin«, erwiderte Fidelma. »Es ist meine Pflicht, diese Frage zu stellen.«

»Ich habe es nicht getan.«

»Dann sage mir, was heute Morgen geschehen ist.«

»Ich wusste, dass Cessair und Della die Phiole zur alljährlichen Segnung nach Fosse bringen würden. Also haben wir uns hier verabredet.«

»Das hätte doch aber sicher die Ankunft der Phiole in Fosse verzögert? Der Gottesdienst war am Mittag.«

»Cessair wollte Della überreden, die Phiole allein nach Fosse zu tragen, während sie hier bei mir blieb. Wir wollten uns nur kurz sehen, um ein paar Abmachungen zu treffen. Dann wäre Cessair Della gefolgt und hätte vorgegeben, ihr sei unterwegs ein Riemen an der Sandale gerissen oder so was.«

»Was für Abmachungen wolltet ihr denn treffen?«

»Wie wir von hier verschwinden würden. Vielleicht nach Irland zurück.«

»Ich verstehe. Du bist also in der Hütte angekommen …«

»Und ich habe gewartet. Ich dachte, Cessair hätte sich verspätet. Ich wollte gerade zum Hauptweg hinuntergehen, um nach ihr Ausschau zu halten, als Della in die Hütte getaumelt kam. Sie war geradezu hysterisch. Sie vermochte mir noch zu erzählen, was geschehen war, ehe sie in Ohnmacht fiel. Ich konnte sie doch nicht allein lassen. Ich habe ununterbrochen versucht, sie wieder zum Bewusstsein zu bringen. Sie ist erst vor wenigen Augenblicken wieder zu sich gekommen.«

»Würdest du das so bestätigen?«, fragte Fidelma Della.

Das Mädchen hatte sich auf einen Ellbogen gestützt. Sie sah immer noch bleich und verstört aus.

»Soweit ich kann. Ich erinnere mich nicht mehr an viel.«

»Nun gut. Wir sollten dich jetzt in eine der Abteien schaffen.« Sie schaute zu Cano, der nervös die Hände rang. Dann erkundigte sie sich plötzlich: »Hast du die Phiole mit dem Blut, Schwester Della? Mit dem Heiligen Blut der heiligen Gertrude?«

Della schüttelte den Kopf.

»Cessair hatte sie in ihrem marsupium

»Ich verstehe«, erwiderte Fidelma nachdenklich und winkte die anderen zu sich.

»Wir tragen Schwester Della nach Fosse«, sagte sie zu ihnen. »Ich möchte ihr noch einige Fragen stellen, aber erst sollten wir dafür sorgen, dass ihre Wunde ordentlich verbunden wird.«

Die Kirche und das Kloster von Fosse waren nicht so grandios wie einige andere Abteien, die Fidelma auf ihren Reisen gesehen hatten. Diese Abtei war ja auch erst zwanzig Jahre alt. Sie war kaum mehr als eine Ansammlung von Holzhäusern um eine große, rechteckige Holzkirche.

Schwester Della wurde unverzüglich ins Infirmarium gebracht, während der Abt die Äbtissin und Fidelma ins Refektorium führte, damit sie sich stärken konnten. Bruder Sinsear und Bruder Cano wurden in ihre Zellen beordert, wo sie die Befehle des Abtes erwarten sollten.

Äbtissin Ballgel war die Erste, die das peinliche Schweigen brach. Sie hatte Fidelma schon früher bei der Arbeit beobachtet, als sie noch beide in der Abtei von Kildare lebten.

»Nun, Fidelma, hast du bereits eine Vorstellung, wie diese schreckliche Geschichte geschehen ist? Und wo ist das Heilige Blut von Gertrude?«

»Wir wollen einmal zusammenfassen, was wir wissen. Bestimmte Dinge können wir ausschließen. Erstens, dass die Tat von Räubern begangen wurde. Ich habe bereits den wichtigsten Grund dafür genannt: die Schnitte in Cessairs Gesicht. Die zeugen allein von Hass. Zweitens haben wir Dellas Aussage, dass sie mit Cessair durch den Wald ging und dass sie nichts gehört hat, ehe ihr von hinten auf den Kopf geschlagen wurde.«

»Du meinst, wenn sich Räuber an sie herangeschlichen hätten, hätte sie das mitbekommen?«

»Genau. Ich halte es für sehr unwahrscheinlich, dass man so vollkommen unbemerkt hinter jemandem herlaufen kann, der durch einen Wald geht.«

Äbtissin Ballgel runzelte die Stirn.

»Du behauptest, dass Schwester Della lügt?«

»Nicht unbedingt. Aber sieh es einmal so: Stell dir einen Pfad im Wald vor, mit welken Blättern, Zweigen und so weiter. Ein Tier kann sich vielleicht leise über einen solchen Teppich bewegen, aber ein Mensch? Konnte ein Mann oder eine Frau unhörbar hinter den beiden herschleichen und sie dann überfallen, ehe sie sich’s versahen?«

»Dann müssen wir das Mädchen weiter befragen«, bellte Heribert, »und sie zu einem Geständnis zwingen.«

Fidelma blickte ihn missbilligend an.

»Was sollte sie denn gestehen?«

»Nun, dass sie das andere Mädchen getötet hat«, erwiderte Heribert.

Fidelma seufzte tief.

»Es gibt eine andere, sehr viel plausiblere Erklärung, warum Schwester Della nicht gehört hat, wie sich ihr Angreifer anschlich.«

Der Abt war rot angelaufen vor Ärger.

»Was für ein Spiel spielst du hier? Erst behauptest du dies, dann etwas anderes. Ich kann dir nicht folgen.«

Äbtissin Ballgel mischte sich ein, denn sie sah, wie Fidelmas Gesichtsmuskeln sich anspannten und ihre Augen die Farbe wechselten.

»Fidelma ist Anwältin, sie versteht etwas von solchen Dingen. Ich schlage vor, wir geben ihr die Gelegenheit, ihren Gedankengang weiter vorzutragen.«

Der Abt ließ sich, höhnisch grinsend, auf seinem Stuhl zurückfallen.

»Dann sprich weiter.«

»Ehe ich wieder zu meinen beiden ersten Argumenten zurückkehre, wollen wir noch eine andere Sache bedenken. Die Brutalität des Angriffs auf Schwester Cessair, dass der Täter ihr das Gesicht zerschnitt und Schwester Della nicht. Dass Della nur den Schlag auf den Kopf abbekam, der sie bewusstlos werden ließ. All das bedeutet, dass Cessair das Ziel dieses Überfalls war. Jemand muss einen tiefen Groll gegen sie gehegt haben.«

»Das klingt logisch, Fidelma«, stimmte ihr die Äbtissin zu.

»Dann müssen wir überlegen, wer Cessair so gehasst hat.«

Fidelma hielt inne und gab der Äbtissin und dem Abt Gelegenheit, ihren Vorschlag zu überdenken.

»Nun, da können wir beinahe alle ausschließen.« Die Äbtissin lächelte leise.

»Wieso?«

»Bruder Cano war ihr Liebhaber. Schwester Della war ihre beste Freundin im Kloster. Cessair hatte keine Feinde … außer …«

Plötzlich zögerte sie.

»Außer?«, ermunterte Fidelma sie vorsichtig.

Die Äbtissin schlug die Augen nieder.

Nun brauste Abt Heribert wütend auf.

»Außer mir, meinst du?« Er sprang auf. »Was willst du damit sagen? Denkst du, ich hätte Cessair gehasst, nur weil ich die Lehre des Zölibats vertrete? Weil ich den Männern in meiner Gemeinschaft jegliche Beziehung zu Frauen verbiete? Weil ich die Äbtissin dringend gebeten habe, Schwester Cessair zu untersagen, sich mit Bruder Cano zu treffen, wie ich ihm verboten hatte, sich mit ihr zu treffen? Soll das dazu dienen, mir einen Mord in die Schuhe zu schieben?«

»Hast du sie getötet?«

Fidelma sprach diese Frage so leise aus, dass es lange schien, als hätte der Abt sie nicht gehört.

»Wie kannst du es wagen!«

»Ich wage es, weil ich muss«, antwortete Fidelma ruhig. »Behalte dein Geschrei für dich, Abt. Wir sind hier, um die Wahrheit herauszufinden, nicht um deine Eitelkeit zu pflegen.«

Heribert lief zornesrot an. Er war sprachlos vor Wut.

Äbtissin Ballgel lehnte sich zu ihm hinüber.

»Abt Heribert, wir sind intelligente Menschen, die versuchen, ein Problem zu lösen. Weder Stolz noch Selbstachtung sollten diesen Vorgang behindern, denn wir suchen die Wahrheit und nichts als die Wahrheit.«

Abt Heribert blinzelte.

»Ich verbitte mir, hier angeklagt zu werden …«

»Ich habe dich nicht angeklagt, Heribert«, erwiderte Fidelma. »Du hast es in deinem Stolz nur so empfunden. Aber da du nun einmal selbst das Thema angesprochen hast, sage ich dir frei heraus, dass du Cessair sicherlich nicht mochtest.«

Er starrte sie an und zuckte mit den Achseln.

»Das habe ich ja deutlich genug gezeigt. Nein. Ich empfand eine große Abneigung gegen sie, weil sie Bruder Cano vom rechten Weg abgebracht hat. Mehr noch, sie hat alle jungen Männer in meiner Gemeinschaft vom Pfad der Tugend gelockt. Ich habe sogar gesehen, dass sich Mönche wie Bruder Sinsear in ihrer Gegenwart wie verliebte Tölpel benahmen.«

»Mein Mentor, der Brehon Morann von Tara, pflegte zu sagen: Im Alter fällt es einem immer leichter, ein Mönch zu sein.« Fidelma seufzte.

Äbtissin Ballgel verkniff sich ein Lächeln.

»Jedenfalls«, fuhr Fidelma fort, »hast du erwartet, dass die Schwestern Cessair und Della um die Mittagszeit in Fosse ankommen würden, habe ich mir sagen lassen?«

»Das stimmt nicht ganz. Ich erwartete zwei Schwestern aus der Gemeinschaft von Äbtissin Ballgel, wusste aber nicht, wer das sein würde. Hätte ich geahnt, dass eine von ihnen Schwester Cessair ist …«

»Was hättest du dann gemacht?«

»Ich hätte sie daran gehindert, hierherzukommen und Bruder Cano weiter den Kopf zu verdrehen und ihn zu verführen.«

»Ach, Cano ist verführt worden?«, fragte Fidelma. »Ich dachte, er wäre in Cessair verliebt?«

Der Abt wand sich verlegen.

»Frauen sind die Versuchung, die Heilige vom Pfad der Gnade abbringt.«

Er senkte die Augen, denn er sah, wie in Fidelma Zorn aufstieg. Doch die hatte inzwischen eingesehen, dass es unmöglich sein würde, seine frauenfeindlichen Vorurteile zu überwinden, und beschlossen, die Bemerkung zu ignorieren.

»Ballgel, warum hast du Cessair und Della ausgewählt, die Phiole mit dem Blut heute Morgen zum Gottesdienst zu bringen?«

»Wieso?«

»Jemand wusste, dass Cessair auf diesem Pfad durch den Wald kommen würde.«

Die Augen den Äbtissin weiteten sich.

»Gestern Abend kam Schwester Della zu mir und bat mich, sie die Phiole zum Segnungsgottesdienst bringen zu lassen. Sie fragte mich auch, ob sie ihre Begleitperson selbst aussuchen dürfte.«

»Und du wusstest nicht, dass sie Cessair auswählen würde?«

»Nun«, erwiderte die Äbtissin lächelnd, »ich nahm an, dass sie das tun würde. Die beiden waren unzertrennlich.«

»Dir war klar, dass sie Cessair als Begleitung durch den Wald von Seneffe wählen würde, obwohl der Abt Cessair entschieden missbilligte? Ist das nicht ein wenig seltsam?«

»Überhaupt nicht. Da bin ich wie du, Fidelma. Ich weigere mich, mir vorschreiben zu lassen, wen ich hierhin oder dorthin schicken darf.«

Abt Heribert kniff seine Lippen zu einer dünnen Linie zusammen. Er war offensichtlich höchst verärgert, sagte aber kein Wort.

»Also war Schwester Della die einzige Person, die wusste, dass Cessair sie begleiten würde, außer dir, Ballgel?«

Äbtissin Ballgel schaute ihre Freundin vorsichtig an.

»Du wirst dich erinnern, Fidelma«, sagte sie leise, »dass du in Nivelles ankamst, als uns Bruder Sinsear gerade die Schreckensnachricht überbracht hatte.«

Fidelma lächelte mitfühlend.

»Daran erinnere ich mich. Und du musst mir durchaus nicht beweisen, dass du keine Zeit gehabt hättest, die Tat zu begehen. Außerdem würde es einer Äbtissin schwerfallen, sich lange genug vom Kloster zu entfernen. Ich nehme auch an, dass du kein Motiv hattest?«

Ehe Ballgel antworten konnte, fuhr Abt Heribert dazwischen.

»Genauso würde es einem Abt schwerfallen, sich lange genug von seinem Kloster zu entfernen«, bemerkte er knapp.

»Das hatte ich nicht vergessen, Heribert«, erwiderte Fidelma ernst. »Aber sag uns, nur der Form halber, wo du um die Mittagszeit warst?«

Abt Heribert zuckte die Achseln.

»Nun gut, ich spiele dieses Spiel bis zum bitteren Ende mit«, erwiderte er und seufzte. »Heute, am Jahrestag des Todes der heiligen Gertrude, läuten wir am Mittag das Angelus, und danach halten wir einen Gedenkgottesdienst, nicht nur für Gertrude, sondern auch in Erinnerung an den heiligen Foillan, dem sie gestattet hat, unsere Abtei zu errichten. Die Phiole mit dem Heiligen Blut wird kurz vor dem Läuten des Angelus gebracht.

Zehn Minuten vor Mittag stand ich mit einigen Brüdern da und erwartete die Ankunft der beiden Schwestern, die gewöhnlich die Phiole von Nivelles zu uns bringen. Ich wusste nicht, welche Schwestern das sein würden. Als die Mittagsstunde kam und die Glocke geläutet wurde, überlegte ich, dass uns nichts anderes übrigbleiben würde, als den Gottesdienst auch ohne die Phiole zu halten.«

»Hast du niemanden ausgeschickt, der nach den Schwestern ausschauen sollte?«

»Man sagte mir, dass Bruder Sinsear bereits aufgebrochen war, um die Schwestern durch den Wald zu geleiten. Also war das nicht notwendig.«

»Ich verstehe. Sprich weiter.«

»Nun, wir haben den Gottesdienst gefeiert, und als er vorüber war, waren weder die Schwestern noch Bruder Sinsear aufgetaucht.«

»Bruder Sinsear war geradewegs nach Nivelles gekommen, um uns zu benachrichtigen«, erklärte Ballgel.

»Es dauerte eine ganze Weile, ehe er zu uns zurückkehrte«, stimmte ihr Heribert zu, »und auch uns die Schreckenskunde überbrachte. Wir machten uns unverzüglich auf den Weg in den Wald. Wir waren kaum dort angelangt, als ihr kamt.«

»Aha. Lässt du bitte Bruder Sinsear holen?«

Wenige Augenblicke später gesellte sich der junge Mönch zu ihnen. Er versuchte, seine rastlosen Hände unter Kontrolle zu bekommen, indem er sie auf dem Rücken hielt.

»Das ist eine schreckliche Angelegenheit«, hub er an und brach das Schweigen.

»Ich verstehe, dass du sehr verstört bist«, sagte Fidelma lächelnd. »Schließlich ist dein guter Freund in Gefahr. Der Finger des Verdachts ist auf ihn gerichtet.«

»Bruder Cano mag jähzornig sein, aber er würde nie … niemals …«

»Er ist jährzornig?«, unterbrach in Fidelma.

Bruder Sinsear ließ den Kopf hängen.

»Das hätte ich nicht sagen sollen. Ich meinte …«

»Es stimmt«, meldete sich Abt Heribert zu Wort. »Ich habe ihn bereits des Öfteren wegen seines stürmischen Temperaments zurechtweisen müssen.«

»Nun, von dir, Bruder Sinsear, möchte ich nur, dass du uns ganz genau berichtest, was heute Mittag vorgefallen ist. So wie ich es sehe, bist du aufgebrochen, um dich auf die Suche nach den beiden Schwestern zu machen, die die Phiole mit dem Heiligen Blut bringen sollten? Wann war das?«

»Einige Zeit vor Mittag, glaube ich. Ja, es war eine halbe Stunde vor dem Angelusläuten. Das war nämlich die Zeit, zu der die Phiole in der Abtei sein sollte.«

»Hat man dir aufgetragen, dies zu tun?«

Bruder Sinsear schüttelte den Kopf.

»Nein. Aber wie ich Cessair kannte … Nun, ich wusste, dass sie sich nicht gerade beeilen würde.«

Es herrschte kurz Schweigen.

»Du wusstest, dass eine der beiden Schwestern Cessair sein würde?«, drängte ihn Fidelma. »Wie konntest du das wissen?«

»Bruder Cano hat es mir gesagt. Wir hatten kaum Geheimnisse voreinander. Er brach zu der Holzfällerhütte auf, wo er und Schwester Cessair sich gewöhnlich trafen. Mir war klar, dass dies die Ankunft der Phiole in der Abtei verzögern würde. Deswegen machte ich mich rechtzeitig auf, um ihnen entgegenzugehen und sie zur Eile anzutreiben. Leider kam ich zu spät.«

»Du fandest Cessair tot vor?«

»Ja. Sie war an den Baum gebunden, so wie du sie gefunden hast.«

»Und Schwester Della?«

»Es war nirgends etwas von ihr zu sehen. Also rannte ich schnurstracks nach Nivelles, um Äbtissin Ballgel zu alarmieren.«

»Warum hast du das gemacht?«, fragte Fidelma.

»Wieso?«

»Es gab doch noch andere Möglichkeiten. Warum bist du nicht nach Fosse zurückgelaufen, zu Abt Heribert?«

»Weil es von dort näher nach Nivelles als nach Fosse ist«, antwortete Sinsear. »Ich hielt es für angebracht, die Nachricht erst nach Nivelles zu bringen und dann nach Fosse zurückzukehren und dort Alarm zu schlagen.«

»Bist du mit Cano seit seiner Ankunft in Fosse befreundet?«

»Er wurde mir als Helfer im Garten zugeordnet, und wir wurden Freunde.«

»Cessair kanntest du jedoch bereits, ehe Cano kam?«

»Ich habe Cessair und Della und viele andere Schwestern aus Nivelles kennengelernt. Es gibt viele Verbindungen zwischen den Abteien. Du musst wissen, dass es meine Aufgabe ist, einmal in der Woche Obst und Gemüse nach Nivelles zu bringen.«

»Bruder Sinsear hat völlig recht«, unterbrach ihn Heribert. »Mitglieder unserer Gemeinschaft gehen oft nach Nivelles, um dort beim Bau, bei der harten Arbeit auf den Feldern und bei der Ernte zu helfen. Bruder Sinsear hat erst gestern Nachmittag Lebensmittel nach Nivelles gebracht. Ah, und hat dich nicht Bruder Cano begleitet?«

Bruder Sinsear errötete und nickte zögernd.

Fidelma schürzte nachdenklich die Lippen.

»Ich muss Schwester Della noch etwas fragen. Bitte wartet hier auf mich.«

Schwester Della im Infirmarium war zwar immer noch blass und schwach, aber es ging ihr sichtlich besser.

»Schwester Della«, begann Fidelma ohne Umschweife, »ich muss dir noch eine weitere Frage stellen. Warum hast du gebeten, man möge dich heute die Phiole mit dem Heiligen Blut nach Fosse tragen lassen?«

»Schwester Cessair wollte das gern.«

»Cessair also? Dann war es nicht deine Idee?«

»Nein. Und, ehrlich gesagt, es war auch nicht ihre. Sie wusste, dass es Ärger mit dem Abt geben würde, der sie nicht mochte, und war gar nicht erpicht auf diesen Gang. Aber Bruder Cano hatte sie gebeten zu kommen …«

»Wie hatte er das gemacht? Hatte er sie nicht erst gestern gesehen?«

»Nein. Er hat ihr eine Botschaft geschickt. Es gehen immer Leute zwischen den Abteien hin und her. Also hat er Cessair einen Brief geschickt und sie gebeten, vor der Mittagsstunde zu der Hütte zu kommen, damit sie kurz miteinander über ihre Zukunft sprechen könnten.«

»Warst du einverstanden mit diesen Treffen mit Cano?«

»Ich war doch Cessairs Freundin. Und ich weiß, dass einen die Liebe zu unendlich vielen Dummheiten verleiten kann. Ich dachte, du wolltest nur eine Frage stellen?«

»Das stimmt. Ist das der Brief?« Fidelma zog das Stück zerrissenes Papier aus ihrem marsupium.

Schwester Della schaute es an und zuckte die Achseln.

»Ich kann die Ogham-Schrift nicht lesen«, sagte sie. »Aber ich glaube, das ist ein Stück von dem Brief. Cano und Cessair haben die uralte irische Schrift benutzt, um sich geheime Nachrichten zu schreiben.«

Fidelma ging ins Refektorium zurück. »Ich glaube, ich habe die Lösung des Rätsels gefunden«, verkündete sie, sobald sie es betrat. Äbtissin Ballgel und Abt Heribert wandten ihr erstaunte Blicke zu.

»Wer ist also der Schuldige?«, wollte Heribert wissen.

»Lasst bitte Bruder Cano kommen. Du bleibst, Bruder Sinsear.«

»Bruder Cano«, begann Fidelma, nachdem der junge Mann eingetreten war, »deine Zukunft sieht düster aus.«

»Meine Zukunft ist leer«, berichtigte er sie. »Ohne Cessair ist mein Leben nichts als abgrundtiefer Schmerz.«

»Warum hast du Cessair gebeten, sich heute mit dir zu treffen?«

»Das habe ich dir doch bereits gesagt. Um zu besprechen, wie wir zusammen weggehen und ein gemischtes Haus finden könnten, wo wir leben und arbeiten und, so Gott will, unsere Kinder in Seinem Dienst erziehen könnten.«

»Wessen Idee war dieses Treffen?«

»Meine.«

»Ich dachte, vielleicht hätte dir das jemand anderer als Lösung für eure Probleme vorgeschlagen«, meinte Fidelma leise.

»Es ist doch völlig bedeutungslos, wer den Vorschlag gemacht hat«, entgegnete Cano. »Das war jedenfalls der Anlass unserer Verabredung.«

»Nein, es ist sehr wohl von Bedeutung. War es nicht Bruder Sinsear, der meinte, ihr solltet besser von hier weggehen?«

»Vielleicht. Sinsear ist mein Freund. Er sah, dass wir hier keine Zukunft hatten.«

»Du bist gestern Abend mit Bruder Sinsear nach Nivelles gegangen, um Gemüse dorthin zu bringen. Warum hast du da nicht mit Cessair gesprochen?«

»Wir kamen während des Abendgottesdienstes an, und da wir keinen Vorwand hatten, länger in Nivelles zu bleiben, schrieb ich Cessair ein Briefchen in Ogham, in dem ich das Treffen vorschlug. Ich wusste, dass sie die alte irische Schrift lesen kann, also habe ich ihr den Zettel geschrieben und ihn bei der Pförtnerin hinterlassen.«

»Ja, jetzt passt alles zusammen.« Fidelma seufzte. Sie wandte sich nun an den anderen jungen Klosterbruder. »Sinsear, würdest du bitte Äbtissin Ballgel die Phiole mit dem Heiligen Blut aus deinem marsupium reichen? Die Äbtissin ist außerordentlich besorgt darum, seit sie erfahren hat, dass es nicht mehr in Cessairs marsupium war.«

Bruder Sinsear fuhr zusammen und wurde bleich. Wie im Traum fasste er in den Beutel, der an seinem Gürtel hing, und übergab die Phiole.

»Ich fand sie am Boden … Ich wollte sie dir schon früher geben …«

Fidelma schüttelte traurig den Kopf.

»Eine der schrecklichsten Leidenschaften ist Liebe, die in Hass umgeschlagen ist, weil sie zurückgewiesen wurde. Ein Liebender, der das Objekt seiner Zuneigung mit einem Rivalen sieht, kann sich manchmal in den Teufel in Menschengestalt verwandeln.«

Bruder Cano schaute sie verwundert an.

»Cessair hat mich nicht zurückgewiesen«, rief er. »Ich sage es dir noch einmal, ich habe sie nicht umgebracht. Wir haben geplant, zusammen von hier fortzugehen.«

»Ich habe Sinsear gemeint«, erwiderte Fidelma. »Sinsears Liebe ist in Hass umgeschlagen, in eine Wut, die das Mädchen verletzen und verstümmeln wollte.«

Sinsear starrte sie mit offenem Mund an.

»Sinsear war schon lange in Cessair verliebt. Da er noch sehr jung war und seine Gefühle nicht ausdrücken konnte, verehrte er sie aus der Ferne, träumte von dem Tag, an dem er den Mut aufbringen würde, ihr seine Liebe zu gestehen. Dann kam Cano. Zuerst waren die beiden gute Freunde. Eines Tages stellte Sinsear Cano seiner Angebeteten vor. O Schreck! Cano und Cessair verliebten sich ineinander. Tag für Tag musste Sinsear ihre Leidenschaft mit ansehen. Seine Eifersucht steigerte sich so sehr, er war so erzürnt darüber, dass ihn, wie er die Dinge sah, Cessair verschmäht hatte, dass er darüber den Verstand verlor. Er wollte sich mit einer Gewalt an Cessair rächen, wie sie nicht einmal die Hölle kennt.«

Sinsears Gesicht war völlig ausdruckslos geworden.

»Er schlug Cano vor, er sollte sich mit Cessair in der Hütte treffen, um die gemeinsame Flucht aus ihren Klöstern vorzubereiten. Dann verließ er Fosse so rechtzeitig, dass er in die alte Eiche klettern und sich in ihren niedrigen Zweigen verbergen konnte, um dort auf Cessair und ihre Begleiterin zu warten. Deswegen hat Schwester Della nicht gehört, wie sich jemand von hinten anschlich. Sinsear sprang herunter. Ich habe die Fußabdrücke an der Stelle gesehen, wo er gelandet ist. Er betäubte Della mit einem Schlag auf den Hinterkopf, ehe sie es sich versah. Habe ich recht?«

Sinsear antwortete nicht.

»Vielleicht hat er dann Cessair seine Liebe gestanden? Vielleicht hat er sie angefleht, mit ihm wegzulaufen. Hat sie mit Angst und Schrecken darauf reagiert? Hat sie ihn ausgelacht? Wie hat sie diesen verstörten Möchtegern-Liebhaber behandelt? Wir wissen nur, was das Endergebnis war. Er schlug sie mehrmals auf den Kopf. Dann beschloss er, sie in einem grausamen Ritual, das uns seine Unreife beweist, für die Schönheit zu bestrafen, mit der sie ihn betört hatte, indem er ihr das Gesicht zerschnitt. Ob er sie davor an den Baum gebunden hat, werden wir erst erfahren, wenn er es uns sagt. Aber ich hege keinerlei Zweifel, dass sie zu diesem Zeitpunkt bereits tot war.

Irgendetwas muss ihn dazu bewogen haben, die Phiole mit dem Heiligen Blut mitzunehmen. Da gewann offenbar seine religiöse Erziehung die Oberhand. Denn anstatt die Phiole in Cessairs Beutel zu lassen, steckte er sie zur Sicherheit in seinen eigenen. Obwohl mir klar war, dass das Fehlen der Phiole für die Tat keinerlei Bedeutung hatte, konnte ich mir bisher keinen Reim darauf machen, warum sie verschwunden war.

Vielleicht bemerkte Sinsear dann, dass Schwester Della wieder zu sich kam. Er machte kehrt und rannte nach Nivelles, um Alarm zu schlagen. Er glaubte, Schwester Della würde vielleicht nach Fosse gehen, um dort Hilfe zu holen, und deswegen entschied er sich für Nivelles.«

Abt Heribert blickte Sinsear mit erschrockenen Augen an und sah auf den unbeweglichen Gesichtszügen des jungen Mönchs bestätigt, dass Fidelma die Wahrheit sprach.

»Wie ist dein Verdacht überhaupt auf Sinsear gefallen?«, fragte er.

»Ich kann dir viele Gründe dafür nennen. Man muss nur die Ereignisse noch einmal der Reihe nach überdenken. Seinem eigenen Wort nach ging Sinsear in den Wald, um Cessair und Della zu suchen. Er fand Cessair tot und an einen Baum gebunden. Er behauptet, er hätte diese Stelle erst erreicht, nachdem Della bereits verschwunden war. Aber wie konnte er die an den Baum gebundene Cessair sehen, die sich doch, von seiner Laufrichtung aus betrachtet, auf der dem Weg abgewandten Seite befand? Selbst wenn man annimmt, dass er vielleicht etwas gesehen haben mag, das ihm verdächtig erschien, dass er zu verstört war, um auf die Idee zu kommen, sie vom Baum herunterzuschneiden und herauszufinden, ob er sie wieder zum Leben erwecken könnte, warum ist er dann nach Nivelles gerannt?«

»Um Hilfe zu holen. Wie er dir bereits sagte, liegt Nivelles näher an dieser Stelle als Fosse. Es war nur logisch.«

»Aber es gab doch noch einen viel näher gelegenen Ort, wo er hätte um Hilfe rufen können«, erklärte Fidelma. »Warum ist er nicht dahin gerannt? Er wusste, dass Bruder Cano nur wenige hundert Schritte entfernt in der Hütte wartete. Wäre er unschuldig, dann wäre er zu Cano geeilt und hätte den zu Hilfe gerufen.«

Ein Aufschrei ließ sie alle erstarren.

Sinsear hatte ein Messer gezückt und stürzte sich, zusammenhanglose Wortfetzen murmelnd, auf Bruder Cano.

Cano verteidigte sich mit einem Schlag auf das Kinn des jungen Mönchs, der diesen zu Boden streckte.

»Nun kannst du ihn nach den Gesetzen bestrafen, die hier herrschen«, erklärte Fidelma Abt Heribert. Sie wandte sich der Äbtissin zu. »Und wir, Ballgel, werden die arme Schwester Della zurück nach Nivelles geleiten. Wir haben vieles zu besprechen …« Sie hielt inne und schaute traurig zu Bruder Cano, der ruhig dasaß, den Kopf in den Händen vergraben.

»Schon in der Antike war man sich dieses Gefühls bewusst, das dem Wahnsinn gleichen kann. Die Aegra amans – die Krankheit der Liebenden – kann die Menschen vollkommen um den Verstand bringen, kann die reifsten von ihnen völlig verwirren. Bei jungen und unreifen Menschen vermag die Liebe Seele und Verstand zu zerstören.«

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