DAS SCHWERT DES HOCHKÖNIGS

»Gottes Fluch liegt auf diesem Land«, stöhnte Abt Colmán, der geistliche Berater des Großen Rats der Stammesfürsten der fünf Königreiche Irlands.

Seine Worte waren an eine schlanke Frau neben ihm gerichtet. Gemeinsam schritten sie über den Vorhof der prächtigen Burg von Tara, dem Sitz der Hochkönige Irlands. Sie trug das Gewand einer Klosterschwester und hielt die Hände sittsam vor sich gefaltet. Selbst aus der Entfernung erkannte man, dass ihre schlichte Tracht wenig zu ihrer jugendlichen, wohlgestalten Figur passte. Widerspenstige Strähnen roten Haars lugten unter der Kapuze ihres Habits hervor und verstärkten den Reiz, der von ihrem hellen frischen Gesicht mit den blitzenden grünen Augen ausging. Die Grübchen in ihren Wangen verliehen ihr eine Schalkhaftigkeit, die im Widerspruch zu dem zur Schau getragenen Ernst stand.

»Wenn Menschen Gott bezichtigen, er würde sie verdammen, dann suchen sie meist Ausflüchte, weil sie nicht eingestehen wollen, dass sie ihre Lage selbst verschuldet haben«, gab Schwester Fidelma zu bedenken.

Der Abt, ein rundlicher Mann in den Mittfünzigern mit gerötetem Gesicht, runzelte die Stirn und schaute die junge Frau an. Wollte sie ihn etwa rügen?

»Für die schreckliche Gelbe Pest, die das Land heimgesucht hat, können die Menschen doch wohl wirklich nichts«, erwiderte er verstimmt. »Ein Drittel unserer Bevölkerung hat die Seuche dahingerafft. Sie kannte kein Erbarmen, verschonte weder Abt, Bischof noch einfachen Priester.«

»Selbst Hochkönige nicht«, bemerkte Schwester Fidelma spitz.

Vor einer Woche erst war die Landestrauer um die Brüder Blathmac und Diarmuid, die gemeinsam als Hochkönige geherrscht hatten, zu Ende gegangen. Innerhalb weniger Tage waren auch sie Opfer der grimmigen Pest geworden.

»Und das soll nicht Gottes Fluch gewesen sein?«, beharrte der Abt mit finsterer Miene und war darauf gefasst, Widerspruch zu ernten.

Doch sie schwieg wohlweislich, denn der Abt schien nicht in der Stimmung, theologische Grundsätze zu erörtern.

»Es sind die Geschehnisse hier, die mich veranlasst haben, dich nach Tara zu bitten«, redete der Abt weiter und betrat die Kapelle des heiligen Patrick, die man vor Zeiten neben dem Palas der Hochkönige errichtet hatte. Schwester Fidelma folgte ihm in das düstere, weihrauchgeschwängerte Innere, beugte das Knie vor dem Altar und ging gleich ihm in die Sakristei. Er ließ sich auf einem mit Leder bezogenen Lehnstuhl nieder und bedeutete Fidelma, es ihm gleichzutun.

Sie setzte sich und sah ihn erwartungsvoll an.

»Ich habe dich herkommen lassen, Schwester Fidelma, weil du Anwältin bist, eine dálaigh an den Gerichten der Brehons, und daher im Rechtswesen bewandert.«

Sie zuckte bescheiden mit den Schultern und blieb entspannt. »Ich habe an die acht Jahre bei Brehon Morann studiert, möge seine Seele in Frieden ruhen, und habe den Grad eines anruth erworben.«

Der Abt schürzte die Lippen. Er hatte noch nicht seine Verunsicherung überwunden, es mit einer jungen Frau zu tun zu haben, die so hochgebildet in Rechtsfragen war und einen Gelehrtengrad besaß, der selbst den Höchsten im Lande Achtung abnötigte. Ihr Rang stand nur eine Stufe unter der des ollamh, des Obersten Richters, der selbst in Gegenwart des Hochkönigs sitzen durfte. Der Abt fühlte sich befangen gegenüber der Glaubensschwester aus Kildare. In religiösen Fragen war er zwar ihr Vorgesetzter, doch ihrer gesellschaftlichen Stellung und ihrer Autorität im Gesetzeswesen hatte auch er den Respekt zu zollen, der ihr als einer dálaigh bei den hohen Gerichten Irlands zukam. »Man hat mir berichtet, welche Qualifikation du besitzt und welches Ansehen du genießt. Abgesehen von deinem Wissen und deiner Weisungsbefugnis soll dir aber ein ungewöhnliches Talent zu eigen sein, verworrene Sachverhalte aufzuklären.«

»Wer immer dir das berichtet hat, übertreibt gewiss. Ich habe dazu beitragen können, etliche Streitfragen zu schlichten. Und die bescheidene Fähigkeit, die ich in dieser Hinsicht habe, steht dir zu Diensten.«

Schwester Fidelma schaute den Abt an, während der sich nachdenklich das Kinn rieb.

»Viele Jahre haben wir unter der gemeinsamen Herrschaft der Hochkönige Blathmac und Diarmuid in Ruhe und Frieden gelebt. Es nimmt nicht Wunder, wenn ihr so rasch aufeinander erfolgter Tod als besonders schwerer Schicksalsschlag empfunden wird.«

Schwester Fidelma hob eine Augenbraue. »Willst du damit sagen, bei ihrem Tod sei etwas nicht mit rechten Dingen zugegangen? Hast du mich deshalb hergebeten?«

»Nein.« Er schüttelte entschieden den Kopf. »Sie erlagen der schrecklichen Gelben Pest, die alle fürchten und die niemand überlebt. Es ist Gottes unerforschlicher Ratschluss.« Der Abt hielt inne und schien eine Erwiderung Fidelmas zu erwarten, doch sie schwieg, und so fuhr er fort. »Nein, Schwester, beim Tod von Blathmac und Diarmuid hat sich nichts Verdacht Erregendes zugetragen. Das Problem ergibt sich bei der Nachfolge ins Königsamt.«

Das wunderte sie. »Soviel ich weiß, hat der Große Rat beschlossen, dass Sechnussach, der Sohn Blathmacs, Hochkönig werden soll.«

»Ja, so haben die Kleinkönige und Stammesältesten aller Provinzen Irlands entschieden. Doch bislang ist Sechnussach nicht auf dem heiligen Stein des Schicksals in sein Amt eingeführt worden.« Der Abt zögerte. »Kennst du das Königsgesetz?«

»In welcher Hinsicht?«, forschte Schwester Fidelma und durchdachte im Stillen, worauf er hinauswollte.

»Ich meine den Teil, in dem die sieben Bedingungen abgehandelt werden, die ein rechtmäßiger König erfüllen muss.«

»In der Rechtsprechung der Brehons ist festgelegt, dass ein rechtmäßiger König sieben Bedingungen zu erfüllen hat«, führte Fidelma pflichtgemäß aus. »Seine Wahl muss vom Großen Rat bestätigt werden. Er muss an den Einen Wahren Gott glauben. Er soll die Insignien seines Amtes heilig halten und ihnen die Treue bewahren. Er soll nach dem Gesetz der Brehons regieren, und seine Entscheidungen sollen wohlüberlegt, gerecht und makellos sein. Er soll das Wohlergehen des Volkes fördern, und er soll seine Krieger niemals in einen ungerechten Krieg führen. Ferner …«

Der Abt hob die Hände und unterbrach sie. »Ja, ja. Ich sehe schon, du kennst deine Gesetze. Doch nun liegen die Dinge so, dass Sechnussach nicht in sein hohes Amt eingesetzt werden kann, weil das große Schwert, der ›Caladchalog‹, gestohlen wurde, den der Schmiedegott Gobhainn in grauer Vorzeit geschaffen hat.«

Erschreckt schaute Fidelma auf.

Das uralte Schwert des Stammes der Uí Néill war eines der wichtigsten Symbole der Würde des Hochkönigs. Der Legende nach hatte der Schmiedegott es dem Helden Fergus Mac Roth zu Zeiten der Vorväter übergeben, dann war es an Niall von den Neun Geiseln gegangen, dessen Nachkommen die Uí-Néill-Könige Irlands wurden. Seit vielen Jahrhunderten waren die Hochkönige entweder aus dem Clan der nördlichen Uí Néill gewählt worden oder aus dem der südlichen Uí Néill. Der »Caladchalog«, der Schartenschläger, galt als magisches, mystisches Schwert, und sein Besitzer wurde vom Volk als dessen rechtmäßiger Herrscher anerkannt. Alle Hochkönige hatten darauf den Amtseid zu leisten und es bei sämtlichen bedeutenden Anlässen als sichtbares Zeichen ihrer Königswürde zu tragen.

Der Abt schob die Unterlippe vor. »Gerade dieser Tage, da noch die Angst vor den verheerenden Folgen der Pest umgeht, braucht unser Volk Trost und Ablenkung. Wenn es im Lande ruchbar wird, dass der neue Hochkönig nicht das Amtsschwert vorweisen kann, auf das er den geheiligten Königseid zu schwören hat, werden im Volk Furcht und Schrecken um sich greifen. Man wird es als ein böses Vorzeichen für die Herrschaft von Sechnussach ansehen. Gesetzlosigkeit wird sich ausbreiten. Unsere Leute beharren auf den alten Sitten und Gebräuchen, und besonders gegenwärtig benötigen sie etwas, das ihnen Halt und Sicherheit gibt.«

Schwester Fidelma machte ein nachdenkliches Gesicht. Was der Abt da sagte, war gewiss richtig. Die Menschen glaubten felsenfest an sinnstiftende Zeichen, die aus dem Nebel uralter Zeiten herrührten.

»Wenn die Menschen sich doch endlich auf ihre eigenen Fähigkeiten besinnen wollten und nicht an Symbolen hängen würden«, äußerte sich der Abt weiter. »Die Zeit ist gekommen, Reformen einzuleiten, sowohl in weltlichen als auch in geistlichen Dingen. Wir klammern uns zu sehr an die heidnischen Vorstellungen unserer Ahnen, die aus der Zeit stammen, bevor das Licht Unseres Erlösers diese Küsten erreichte.«

»Wie ich sehe, machst du dir bereits die Reformen, die Rom anstrebt, zu eigen«, bemerkte Schwester Fidelma scharfsinnig.

Der Abt gab sich nicht sonderlich Mühe, seine Überraschung zu verbergen. »Woran willst du das erkannt haben?«

»Dazu bedarf es keiner besonderen Schläue, Abt Colmán. Man sieht es auf den ersten Blick«, erklärte sie lächelnd. »Du trägst die Tonsur des heiligen Petrus, also das Abzeichen Roms, und nicht die des heiligen Johannes, den unsere Kirche zum Vorbild hat.«

Der Abt zog ein Gesicht. »Ich bekenne, dass ich fünf Jahre lang in Rom war und dort eingesehen habe, dass Reformen unumgänglich sind. Ich betrachte es als meine Pflicht, unserem Volk nahezulegen, den Sitten und Bräuchen der Kirche Roms zu folgen und unsere veralteten Rituale, Symbole und Traditionen aufzugeben.«

»Wir haben es aber mit Menschen zu tun, wie sie sind, und nicht mit Menschen nach unseren Wunschvorstellungen.«

»Umso mehr müssen wir uns bemühen, sie zu ändern«, erwiderte der Abt salbungsvoll, »und ihre Schritte auf den wahren Pfad zu Gottes Gnade lenken.«

»Lassen wir den Streit über die Reformen Roms«, sagte Schwester Fidelma ruhig. »Ich jedenfalls werde mich weiterhin nach der Regel der heiligen Brigid von Kildare richten, in deren Abtei ich meine Gelübde abgelegt habe. Doch jetzt hätte ich gern gewusst, wozu man mich nach Tara geholt hat?«

Der Abt zögerte mit seiner Antwort, als wäre er unschlüssig, das Thema der von Rom ausgehenden Reformen zu beenden, schniefte dann aber laut und versuchte so seine Verärgerung zu überspielen. »Wir müssen das verschwundene Schwert vor der Inauguration des Hochkönigs finden, und die ist für morgen angesetzt. Sonst laufen wir Gefahr, einen Bürgerkrieg unter den fünf Königreichen Irlands zu entfesseln.«

»Von wo wurde es gestohlen?«

»Von hier, aus eben dieser Kapelle. Das heilige Schwert befand sich zusammen mit dem Lia Fáil, dem Stein des Schicksals, unter dem Altar. Es war in einer Holztruhe mit Metallbeschlägen eingeschlossen. Der einzige Schlüssel lag immer für jedermann sichtbar auf dem Altar. Niemand würde es je wagen, so dachte man, die geweihte Stätte ruchlos zu verletzen und die geheiligten Schätze zu stehlen.«

»Und nun hat es dennoch jemand gewagt?«

»So ist es. Wir haben den Schuldigen in einer Gefängniszelle festgesetzt.«

»Und der Täter ist …?«

»Ailill Flann Esa, der Sohn Donalds, der vor zwanzig Jahren Hochkönig war. Ailill hatte sich im Widerstreit mit seinem Vetter Sechnussach um das Amt des Hochkönigs beworben. Offensichtlich sucht er jetzt aus Rache seinen Vetter in Verruf zu bringen, denn der Große Rat hat seine Bewerbung abgewiesen.«

»Gibt es Zeugen für den Diebstahl?«

»Drei. Zwei Krieger der Palastwache, Congal und Erc, haben ihn nachts allein in der Kapelle angetroffen. Und ich selbst bin wenige Augenblicke später dazugekommen.«

Schwester Fidelma betrachtete den Abt einigermaßen verwirrt. »Wenn er beim Diebstahl ertappt wurde, warum hat man das Schwert nicht bei ihm gefunden?«

Der Abt hatte Mühe, Geduld zu bewahren. »Offenbar hat er es versteckt, bevor man ihn erwischte. Wahrscheinlich hat er die Wachen kommen hören und hat es irgendwo verborgen.«

»Hat man die Kapelle durchsucht?«

»Ja, aber gefunden wurde nichts.«

»Nach dem, was du bisher gesagt hast, kann niemand bezeugen, dass er gesehen hat, wie Ailill das Schwert an sich nahm.«

Der Abt bedachte sie mit einem väterlichen Lächeln. »Meine liebe Schwester, die Kapelle wird nachts sicher verwahrt. Der Diakon hat seinen letzten Rundgang gemacht und sich vergewissert, dass alles in Ordnung war. Die Palastwachen, die draußen patrouillierten, haben um Mitternacht festgestellt, dass die Tür verschlossen war. Als sie zwanzig Minuten später wieder dort vorbeikamen, stand die Tür offen. Der Riegel, mit dem üblicherweise die Tür von innen zugesperrt wird, war gewaltsam aufgebrochen worden. Sie gingen hinein und sahen Ailill beim Altar. Der Altartisch war beiseite geschoben, die Truhe war geöffnet, das Schwert war verschwunden. Genügend Fakten, die den Täter offenkundig belasten.«

»So offenkundig vielleicht doch nicht, Abt Colmán«, erwiderte Schwester Fidelma verhalten.

»Sechnussach und mir schienen sie offenkundig genug, um Ailill Flann Esa sofort festzunehmen.«

»Und das Motiv, würdest du meinen, ist reine Böswilligkeit?«

»Auch daran gibt es nichts zu deuteln. Ailill will die Amtseinführung Sechnussachs als Hochkönig verhindern. Vielleicht malt er sich sogar aus, Verwirrung und Gesetzlosigkeit nutzen und die Stämme gegeneinander aufwiegeln zu können. Könnte sein, er beabsichtigt, Sechnussach zu stürzen und sich selbst zum Hochkönig zu machen, indem er das heilige Schwert aus seinem Versteck holt und sich dem von der Gelben Pest verunsicherten Volk als Retter anbietet.«

»Wenn ihr euren Schuldigen habt und sein Motiv kennt, warum hast du mich dann holen lassen?«, fragte Schwester Fidelma mit leicht ironischem Unterton. »Außerdem gibt es am Hof von Tara bestimmt Anwälte und Richter, die mehr Erfahrung haben als ich.«

»Doch niemand steht so im Ruf, verzwickte Rätsel lösen zu können, wie du, Schwester Fidelma.«

»Aber das Schwert muss sich in der Kapelle befinden oder in der unmittelbaren Umgebung davon.«

»Wir haben gesucht und gesucht und es nicht entdecken können. Die Zeit drängt. Man hat mir versichert, dass du die Gabe besitzt, das rätselhafte Verschwinden eines so wesentlichen Gegenstandes aufzuklären. Man spricht davon, wie geschickt du Tatverdächtige befragen und ihnen die Wahrheit entlocken kannst. Gewiss hat Ailill das Schwert in nächster Nähe verborgen. Wir müssen vor der Amtseinsetzung des Hochkönigs herausbekommen, wo es steckt.«

Schwester Fidelma schürzte die Lippen und zuckte die Achseln. »Zeig mir, wo das Schwert aufbewahrt wurde, und danach werde ich Ailill befragen.«

Ailill Flann Esa war etwa Mitte dreißig, hatte braunes Haar und trug einen Vollbart. Seine Art sich zu geben, war vom Stolz geprägt, Sohn eines ehemaligen Hochkönigs zu sein. Das war Donald Mac Aed von den nördlichen Uí Néill gewesen, der zwanzig Jahre lang das Land von Tara aus regiert hatte.

»Ich habe das heilige Schwert nicht gestohlen«, brauste er auf, sobald Schwester Fidelma den Zweck ihres Kommens genannt hatte.

»Dann erkläre mir, warum du dich zu so ungewöhnlicher Zeit in der Kapelle aufgehalten hast«, forderte sie ihn auf und setzte sich auf die Holzbank an einer der grauen Steinwände seiner Zelle. Ailill zögerte zunächst, nahm dann aber auf einem Schemel vor ihr Platz. Ein hölzernes Bettgestell und ein Tisch vervollständigten die Ausstattung seiner gegenwärtigen Behausung. Der Anwältin war klar, dass man ihm nur wegen seines Ranges derartige Annehmlichkeiten zugestanden hatte, die sein feuchtkaltes Granitgefängnis etwas erträglicher machten.

»Ich bin an der Kapelle vorbeigekommen …«, begann Ailill.

»Warum?«, unterbrach sie ihn. »Es war schon nach Mitternacht, soviel ich weiß.«

Der Mann zog unwillig die Brauen zusammen; offenbar war er es nicht gewohnt, dass ihm jemand ins Wort fiel. In seinem hochmütigen Gesicht zuckte es, und Schwester Fidelma musste ein Schmunzeln unterdrücken. Aus seinem Verhalten war ersichtlich, dass er hatte unwirsch entgegnen wollen, doch besann er sich eines Besseren – sie hatte den Rang eines anruth und damit die Macht des Obersten Gerichts hinter sich. So zögerte er nur kurz.

»Ich war unterwegs zum … wollte jemand besuchen.«

»Wohin? Wen?«

»Dazu möchte ich mich nicht äußern.«

Sie sah, wie er entschlossen die Lippen zusammenpresste, und spürte, er würde ihre Fragen nicht beantworten. So ging sie darüber hinweg und meinte nur: »Sprich weiter.«

»Wie gesagt, ich bin an der Kapelle vorbeigekommen und habe die Tür offen gesehen. Zur Nachtzeit ist die Tür sonst immer zu, und der Riegel ist vorgelegt. Das fand ich merkwürdig, und so bin ich hineingegangen, um nachzusehen. Mir fiel auf, der Altartisch war verrückt, und deshalb zog es mich dorthin. Da stand die Truhe offen, in der das Amtsschwert verwahrt wird …« Er stockte und zuckte die Achseln.

»Und dann?«, ermunterte sie ihn.

»Nichts weiter. In dem Augenblick kamen die Wachtposten dazu. Der Abt tauchte auf, und ich wurde beschuldigt, das Schwert gestohlen zu haben. Was ich aber nicht getan habe.«

»Und zu all dem hast du weiter nichts zu sagen?«

»Mehr weiß ich zu dem Vorfall nicht. Man verdächtigt mich und klagt mich an, obwohl ich unschuldig bin. Mein einziges Vergehen ist, dass ich meines Vaters Sohn bin und vor dem Großen Rat den Anspruch erhoben habe, die Nachfolge von Blathmac und Diarmuid als Hochkönig anzutreten. Zwar wurde Sechnussachs Anspruch vom Großen Rat gebilligt, dennoch grollt er mir, dass ich ihm die Nachfolge streitig machen wollte. Weil er mich hasst, ist er umso eher bereit, mich für schuldig zu halten.«

»Und du verübelst es Sechnussach nicht, dass er vor dem Großen Rat Erfolg hatte?«, fragte Schwester Fidelma unnachgiebig.

Ailill bewahrte nur mühsam Fassung. »Hältst du mich für einen ehrlosen Schuft, Schwester? Ich achte das Gesetz. Dennoch will ich dir gestehen, dass meiner Meinung nach der Große Rat die falsche Wahl getroffen hat. Sechnussach hält an dem Althergebrachten fest, während doch allgemeiner Wandel im Lande nötig wäre. Wir brauchen Reformen in unseren weltlichen Gesetzen und in unserer Kirche.«

Sie sah ihn durchdringend an. »Du würdest die Reformen durchsetzen wollen, die die römische Kirche uns aufdrängt? Das Osterdatum ändern, unser Brauchtum aufgeben und unsere Regeln der Landvergabe?«

»Ja, dafür bin ich. Ich habe nie einen Hehl daraus gemacht. Und es gibt viele, die mich darin unterstützen würden. Mein Vetter Carnach zum Beispiel, der Sohn Diarmuids. Er tritt sogar entschiedener als ich für die von Rom ausgehenden Bestrebungen ein.«

»Du würdest also zugeben, durchaus ein Motiv zu haben, die Inauguration Sechnussachs verhindern zu wollen?«

»Ja. Ich gebe zu, meine Regierungsvorsätze würden andere sein als die von Sechnussach. Doch als bindend gilt für mich, wenn der Große Rat einmal einen Hochkönig gewählt hat, müssen sich alle dieser Entscheidung fügen. Solange der Hochkönig die Gesetze einhält und seine Verpflichtungen erfüllt, ist er der Hochkönig. Die Wahl des Großen Rats kann niemand anfechten.«

Schwester Fidelma blickte Ailill in die braunen Augen, in denen verhaltene Wut glomm, und fragte unverblümt: »Hast du das Schwert gestohlen?«

Ailill suchte den Zorn zu bezähmen, der bei dieser Frage in ihm aufstieg. »Bei allen Heiligen, nein! Ich habe dir alles gesagt, was ich dazu weiß.«

Der Erc geheißene Krieger schlurrte mit dem Stiefelabsatz auf dem Boden und fühlte sich unbehaglich. »Ich kann dir bestimmt nicht weiterhelfen, Schwester. Ich bin ein einfacher Wachmann und kann nur eines bestätigen: Zusammen mit meinem Waffengefährten Congal fand ich in der Kapelle Ailill Flann Esa vor der Truhe, aus der das heilige Schwert gestohlen wurde. Dem gibt es nichts hinzuzufügen.«

Schwester Fidelma biss sich auf die Lippen. Sie schaute sich in der Runde um, aus der die anderen Krieger der Leibgarde des Hochkönigs sie neugierig anblickten. In dem düsteren Schlafsaal, den sie eben betreten hatte, hielten sich an die hundert Krieger zwischen ihren Wachdiensten auf. Es roch unangenehm nach Schnaps und Körperschweiß.

»Das einzuschätzen überlass mir, Erc.« Sie wandte sich der Tür zu. »Komm, lass uns eine Weile an die frische Luft gehen. Ich möchte, dass du mir einige Fragen beantwortest.«

Widerstrebend legte der stämmige Krieger Schild und Speer beiseite und folgte der Klosterschwester. Seine Kameraden riefen ihnen allerlei anzügliche Bemerkungen und Zoten hinterher.

»Ich habe erfahren, dass du in der Nacht, als der Diebstahl geschah, die Kapelle bewacht hast«, erklärte ihm Schwester Fidelma, sobald sie den Gemeinschaftsraum verlassen hatten und ins kristallklare Morgenlicht schritten. »Stimmt das?«

»Congal und ich hatten in der Nacht Wache; unsere Aufgabe bestand aber nur darin, um die Gebäude zu patrouillieren, zu denen auch die Kapelle gehört. Üblicherweise sind die Türen der Kapelle des heiligen Patrick von Mitternacht bis zum Morgengrauen geschlossen. Die Kapelle enthält etliche Schätze, und deshalb hat der Abt angeordnet, die Türen sogar zu verriegeln.«

»Wann seid ihr auf Posten gezogen?«

»Genau um Mitternacht. Unsere Runde beginnt bei den Stallungen, die sind etwa hundert Schritt von der Kapelle entfernt, und geht um das große Refektorium herum. Dabei kommen wir regelmäßig am Portal der Kapelle vorbei.«

»Schildere mir, wie das war in jener Nacht!«

»Congal und ich nahmen den Wachdienst auf. Wir gingen an dem Portal vorbei. Es schien wie immer geschlossen. Beim Eingang zum Refektorium begaben wir uns auf die Postenstrecke, die um die großen Bauten herumführt und eigentlich ein Rundweg ist.«

»Wie lange dauert so eine Runde?«

»Nicht mehr als eine halbe Stunde.«

»Und wie lange ist die Kapellentür dann nicht in eurem Blickfeld?«

»Vielleicht zwanzig Minuten.«

»Weiter, bitte!«

»Bei unserer zweiten Runde, also eine halbe Stunde später, kamen wir wieder an dem Portal vorbei. Congal sah als Erster, dass die Tür auf war. Wir gingen näher heran, und ich stellte fest, sie war gewaltsam geöffnet worden. Das Holz um den Eisenriegel auf der Innenseite war zersplittert. Wir betraten das Hauptschiff und sahen Ailill vor dem Altar. Der Altar war von seiner eigentlichen Stelle über dem Stein des Schicksals weggeschoben, und die Truhe, in der das heilige Schwert aufbewahrt wird, stand offen.«

»Wie verhielt sich Ailill? War er aufgeregt, atmete er heftig?«

»Nein. Er war ziemlich ruhig, starrte nur in die leere Truhe.«

»War es nicht dunkel in der Kapelle? Wie konntet ihr alles so deutlich sehen?«

»Einige Kerzen waren angezündet, die gaben genug Licht.«

»Was geschah dann?«

»Er sah unsere Schatten und wandte sich zu uns um. Und dann stand schon der Abt hinter uns. Der bemerkte die Schändung des Heiligtums sofort und fragte: ›Wo ist das Schwert?‹«

»Hat er Ailill danach gefragt?«

»Hat er, natürlich. Und wissen wollte er, was der dazu zu sagen hätte.«

»Und was hat Ailill erwidert?«

»Er sei eben erst hereingekommen.«

»Und wie hast du dich dazu geäußert?«

»Das ist nicht wahr, habe ich sagt. Wir sind Streife gelaufen, und von den Stallungen haben wir mindestens zehn Minuten lang das Kapellenportal immer im Blick gehabt. Ailil muss also wenigstens schon zehn Minuten in der Kapelle gewesen sein.«

»Aber es war Nacht, da stelle ich mir vor, es war ziemlich dunkel draußen. Hätte Ailill im Schutze der Dunkelheit nicht kurz vor euch in die Kapelle gegangen sein können?«

»Nein, in der Umgebung des Königshauses brennen die ganze Nacht über Fackeln. Das ist ein unverrückbares Gesetz in Tara. Wo Licht ist, kann kein Verrat wohnen. Ich kann nur wiederholen, Ailill musste schon mindestens zehn Minuten in der Kapelle gewesen sein. Und das ist ganz schön lange.«

»Selbst zehn Minuten sind nicht lange genug, um die Truhe zu öffnen, das Schwert zu verbergen und völlig zur Ruhe zu kommen, bevor ihr auftauchtet.«

»Zeit genug, meine ich. Es blieb ihm ja gar nichts anderes übrig, als das Schwert zu verstecken.«

»Wo ist dein Waffengefährte Congal? Den möchte ich auch befragen.«

Erc schaute bekümmert drein und beugte hastig das Knie. »Gott sei zwischen mir und allem Übel, Schwester. Er liegt darnieder an der Gelben Pest, ist todkrank, vielleicht bin ich der nächste, den sich die Seuche schnappt.«

Fidelma schüttelte den Kopf und lächelte ihn ermutigend an. »Das muss nicht sein, Erc. Geh zum Apotheker, er soll dir einen Aufguss von den Blättern und Blüten des centaurium vulgare bereiten. Das Mittel weist die Gelbe Pest in die Schranken.«

»Was ist das?«, fragte der Krieger stirnrunzelnd, dem die lateinische Bezeichnung fremd war.

»Dréimire buí«, übersetzte sie ihm den Namen der Pflanze ins Irische. »Der Apotheker kennt das bestimmt. Dieser Sud gilt als gutes Stärkungsmittel. Wenn du davon jeden Tag trinkst, müsste dich die Seuche verschonen. Du kannst jetzt gehen, Erc, erst einmal habe ich keine weiteren Fragen.«

Sechnussach, Fürst von Midhe und Hochkönig Irlands, war ein Mann von schlanker Gestalt, etwa Mitte dreißig. Das schwarze Haar ließ seine brummigen Züge noch finsterer erscheinen. Leicht zusammengesunken, saß er in seinem Armsessel und gab ein Bild des Unmuts und Grolls ab.

»Von Abt Colmán höre ich, dass du noch nicht entdeckt hast, wo Ailill das Staatsschwert verborgen hat«, begrüßte er Schwester Fidelma unwirsch und lud sie mit einer Handbewegung ein, sich zu setzen. »Darf ich dich erinnern, dass die Amtseinführung morgen Mittag stattfinden soll?«

Auf ihre Forderung hin hatte sich der Hochkönig bereit erklärt, sie in der Audienzhalle des Palasts von Tara zu empfangen. Der Raum hatte eine hochgewölbte Decke und war mit Wandbehängen ausgeschmückt. In dem großen Kamin loderten knisternd und knackend Holzscheite. Davor saß der Hochkönig in einem mit Schnitzwerk verzierten Eichensessel. Auserlesene Möbelstücke, die aus fernen Ländern als Gastgeschenke an den Hof gekommen waren, standen im Saal verteilt. Sie alle waren reich mit Gold und Silber und Halbedelsteinen verziert.

»Du gehst demnach davon aus, dass Ailill das Schwert entwendet hat«, bemerkte Schwester Fidelma ruhig. Nach einer einladenden Geste seinerseits hatte sie vor ihm Platz genommen und sich damit strikt an die Hofetikette gehalten. Hätte sie zum Abschluss ihrer langen Ausbildung sogar den Grad eines ollamh erlangt, dann hätte sie selbst in Gegenwart des Hochkönigs Platz nehmen dürfen, ohne dessen Aufforderung abzuwarten. Der oberste ollamh von Irland, der dem Gericht des Hochkönigs vorstand, durfte sogar im Großen Rat als Erster das Wort ergreifen. Nie zuvor hatte Fidelma vor einem Hochkönig gesessen, und sie überlegte fieberhaft, ob sie ihm gegenüber alle Anstandsregeln beherrschte.

»Bezweifelst du das etwa?«, brummte Sechnussach verdrießlich. »Die Tatsachen, die mir Abt Colmán mitgeteilt hat, sind doch eindeutig. Wenn Ailill das Schwert nicht gestohlen hat, wer dann sonst?«

»Bevor ich mich weiter dazu äußere, möchte ich dir einige Fragen stellen, Sechnussach von Tara.«

Er hob, ihre Frage bewilligend, eine Hand.

»Wem käme es zugute, wenn man dich daran hinderte, das Amt des Hochkönigs anzutreten?«

Sechnussach grinste gequält. »Ailill natürlich. Denn er ist vom Großen Rat als tánaiste bestätigt.«

Wenn der Große Rat einen Hochkönig wählte, wurde gleichzeitig auch ein tánaiste oder Stellvertreter bestellt, ein Erbprinz, der das Amt übernahm, sollte der Hochkönig längere Zeit erkranken. Wurde der Hochkönig gar ermordet oder verstarb er plötzlich, dann bestätigte der Große Rat den tánaiste als nächsten Hochkönig. Auf diese Weise gab es in den fünf Königreichen stets einen obersten regierenden Fürsten. Nach dem altehrwürdigen Gesetz der Brehons wurde in Irland immer dem Geeignetsten die Königswürde verliehen. Ein Erbrecht wie bei den Angelsachsen oder Franken gab es nicht, demzufolge ausnahmslos der Erstgeborene eines Königs oder Fürsten die Nachfolge antrat.

»Und sonst niemand? Andere Bewerber gibt es nicht?«

»Andere Bewerber gibt es durchaus. Cernach, zum Beispiel, der Sohn meines Oheims Diarmuid. Und Ailills leibliche Brüder Conall und Colcu. Von den Streitigkeiten zwischen den südlichen und den nördlichen Uí Néill hast du gewiss gehört. Ich gehöre zu den südlichen Uí Néill. Von den nördlichen Uí Néill würden sich viele freuen, falls ich abgesetzt werde.«

»Doch niemand hätte in dem Fall so sichere Aussichten gewählt zu werden wie Ailill?«, fragte Schwester Fidelma nachdrücklich.

»Niemand.«

Sie erhob sich, ohne weiter darauf einzugehen. »Das wäre erst einmal alles, Sechnussach«, bedeutete sie ihm.

Den Hochkönig erstaunte es ziemlich, dass sie die Befragung so rasch beendete. »Verlässt du mich etwa ohne Hoffnung, dass es dir gelingt, das heilige Schwert bis morgen aufzufinden?«

Sie spürte eine ängstliche Bitte in seinen Worten. »Hoffnung muss man immer haben, Sechnussach. Wenn ich das Rätsel nicht bis morgen Mittag gelöst habe, dann dürften uns die nachfolgenden Ereignisse an die Lösung heranführen.«

»Du meinst, es besteht wenig Aussicht, größere Zwistigkeiten zu vermeiden?«

»Ich weiß es nicht«, gestand ihm Fidelma offenherzig.

Sie verließ den Audienzraum und ging einen Korridor entlang, als eine helle Stimme sie leise beim Namen rief. In einer dunklen Türöffnung nahm sie die Gestalt eines Mädchens wahr.

»Komm doch bitte einen Moment herein, Schwester.«

Fidelma folgte der Einladung. Schwere Türbehänge wurden beiseitegeschoben, und sie trat in eine strahlend erleuchtete Kemenate.

Ein junges, dunkelhaariges Mädchen in einem aufwendig geschneiderten blauen, mit Edelsteinen besetzten Gewand hatte sie in den Raum geleitet und zog die Behänge zu.

»Ich bin Ornait, die Schwester Sechnussachs«, wurde Fidelma eröffnet.

Sie neigte das Haupt vor der Schwester des Hochkönigs. »Ich stehe dir zu Diensten, Ornait.«

»Ich habe eben hinter den Wandteppichen gelauscht«, erklärte die junge Frau und wurde rot. »Ich habe gehört, was du zu meinem Bruder gesagt hast. Du glaubst nicht, dass Ailill das heilige Schwert gestohlen hat, stimmt’s?«

Fidelma schaute dem Mädchen in die flehenden Augen und lächelte sanft.

»Und du möchtest das schon gar nicht glauben?«, fragte sie mit leichtem Nachdruck.

Ornait senkte den Blick, und ihre Wangen färbten sich noch stärker. »Ich weiß, das kann er nicht getan haben, er nicht.« Sie ergriff Fidelmas Hand. »Wenn jemand beweisen kann, dass er keine Schuld trägt an dieser Entweihung des Heiligtums, dann bist nur du es.«

»Du weißt also, dass ich Anwältin bei den höchsten Gerichten bin?« Der inständige Glaube des Mädchens an ihre Fähigkeiten war Fidelma fast peinlich.

»Ich habe von einer Glaubensschwester aus deinem Orden in Kildare gehört, welchen Ruf du genießt.«

»Und in der Nacht, als Ailill in der Kapelle verhaftet wurde, da war er auf dem Wege zu dir, nicht wahr? Mir gegenüber das nicht zuzugeben war töricht von ihm.«

Aufmüpfig hob Ornait das kleine Kinn. »Wir lieben einander!«

»Aber ihr haltet es geheim, verheimlicht es sogar deinem Bruder?«

»Das soll so bleiben bis nach der Amtseinführung meines Bruders als Hochkönig. Danach dürfte er Ailill freundlicher gesonnen sein. Gegenwärtig vergibt er ihm nicht, dass er sich vor dem Großen Rat gegen ihn gestellt hat. Wir werden es ihm sagen, nachdem alles vorüber ist.«

»Und du bist sicher, dass Ailill deinem Bruder nicht grollt? Ein derartiger Groll könnte ihn doch veranlasst haben, das heilige Schwert zu verbergen und damit Sechnussach in Verruf zu bringen.«

»Ailill mag in vielem mit meinem Bruder nicht einer Meinung sein, aber er achtet die Entscheidung des Großen Rats, die sich auf die Brehon-Gesetze stützt und die deshalb geheiligt und bindend ist«, erwiderte Ornait mit Überzeugung. »Und mit dieser Auffassung steht er nicht allein. Auch mein Vetter Cernach Mac Diarmuid glaubt, dass ihm ein größeres Recht als Sechnussach zukommt, Hochkönig zu werden. Ihm missfällt außerordentlich, dass mein Bruder die Reformen ablehnt, die von Rom empfohlen werden. Doch es dauert noch einen Monat, bis Cernach das Alter der Wahl erreicht, und erst dann könnte er dem Gesetz nach meinem Bruder das Amt des Hochkönigs streitig machen. Weil Cernach also noch zu jung ist, sich selbst um die Königswürde zu bewerben, hat er Ailills Anspruch unterstützt. Bei der Bewerbung um das Königsamt zu unterliegen ist kein Verbrechen. Und wenn der Große Rat seine Entscheidung getroffen hat, ist das bindend für alle und kann nicht mehr angefochten werden. Nein, und tausendmal nein! Ailill würde so etwas niemals tun.«

»Nun, Schwester?« Der Abt betrachtete Fidelma aus zusammengekniffenen Augen.

»Zur Zeit habe ich noch nichts zu berichten, nur eine Frage möchte ich noch stellen.«

Sie hatte Abt Colmán in seinem Studierzimmer in der Abtei aufgesucht, die sich hinter dem Palas von Tara auf dem Burggelände befand. Der Abt saß an einem Tisch und hatte eine reichgeschmückte Handschrift vor sich. Er sah, dass ihr Blick als Erstes auf das Buch fiel und lächelte wohlgefällig.

»Das ist das Evangelium des Johannes, unsere Brüder in Clonmacnoise haben es geschrieben. Ein herrliches Werk, es soll unseren Brüdern auf der heiligen Insel des Colmcille überreicht werden.«

Schwester Fidelma schaute nur kurz auf die prachtvoll gestalteten Seiten der Handschrift. Die Schreiber und Buchmaler hatten wundervolle Arbeit geleistet, doch sie mochte mit ihren Gedanken nicht dabei verweilen. So fragte sie nach kurzer Pause: »Wenn im Königreich ernsthafte Kämpfe ausbrächen und man Ailill infolgedessen zum Hochkönig machte, würde er dann von den althergebrachten Grundsätzen abweichen, die Sechnussach vertritt?«

Die Frage überraschte den Abt, er ließ den Unterkiefer sinken und schaute verunsichert drein, fasste sich aber rasch und überlegte einen Moment. »Ich denke, das könnte ich mit ja beantworten.«

»Würde Ailill in einem solchen Falle auf Äbte und Bischöfe Druck ausüben, die Kirche zu reformieren?«

Colmán kratzte sich hinterm Ohr. »Es ist kein Geheimnis, dass Ailill eine Annäherung an die Kirche Roms befürwortet, denn er hält die erforderlichen Reformen für gerechtfertigt. In den Stämmen der Uí Néill gibt es nicht wenige, die ebenso denken. Cernach Mac Diarmuid zum Beispiel. Er setzt sich unter den Laien in besonderem Maße für derartige Reformen ein. Ein Heißsporn mag er ja sein, aber er hat ziemlichen Einfluss. Er ist ein Jüngling, der dem Thron von Tara nahesteht, wird jedoch erst in einem Monat volljährig und darf dann den ihm zustehenden Platz in den Ratsversammlungen der fünf Königreiche einnehmen.«

»Sechnussach aber hält nichts von diesen Wandlungen und würde an den traditionellen Riten und der Liturgie unserer Kirche festhalten?«

»Zweifelsohne.«

»Und du, als einer von der pro-römischen Gruppierung, würdest du Ailills Vorgehen gutheißen?«

Der Abt war empört und wurde rot.

»Das würde ich. Meine Haltung habe ich nie verborgen. Doch gleichzeitig betone ich unmissverständlich, dass ich die Gesetze achte. Dem Hochkönig, der nach diesen Gesetzen gewählt wurde, halte ich die Treue. Als Anwältin bei Gericht der Brehons hast du ein besonderes Vorrecht, doch darf ich dich daran erinnern, dass ich der Abt von Tara bin und damit auch Vater und Vorgesetzter deines Ordens.«

Schwester Fidelma neigte ergeben das Haupt.

»Ich versuche lediglich, Fakten zusammenzutragen, Abt Colmán. Und ich stelle meine Fragen als eine dálaigh beim Obersten Gericht, nicht als Glaubensschwester der Abtei Kildare.«

»Gut, dann biete ich dir so einen Fakt: Ich habe Ailill Flann Esa beschuldigt. Hätte ich gebilligt, was er getan hat, um Sechnussach zu stürzen, nur weil Ailill vorhatte, die Kirche in Irland mit der von Rom in Übereinstimmung zu bringen, dann wäre ich doch nicht bereit gewesen, derart rasch auf Ailill als den Schuldigen zu zeigen. Ich hätte die Wächter leicht überreden können, dass jemand anderes die Tat vollbracht hat.«

»Das hättest du tun können«, bestätigte ihm Fidelma. »Wenn Ailill sich aber an dem Heiligtum vergangen hat, hast du davon keinen Nutzen.«

»Genauso ist es«, brummte der Abt. »Und ich bleibe dabei, Ailill ist der Schuldige.«

»So scheint es zu sein.«

Fidelma war im Begriff zu gehen, blieb stehen und blickte zurück. »Übrigens, da ist noch eine Kleinigkeit, über die ich mir Klarheit verschaffen möchte. Wie hat es sich ergeben, dass du ausgerechnet zu dem besagten Zeitpunkt in der Kapelle erschienen bist?«

Der Abt runzelte die Stirn. »Ich hatte meinen Psalter in der Sakristei vergessen«, erwiderte er gereizt, »und den wollte ich mir holen.«

»Wäre der dort nicht auch bis zum Morgen sicher verwahrt gewesen? Allein deshalb hat es dich nachts in der Kälte in die Kapelle getrieben?«

»Es war mir dringlich, eine Stelle im Text nachzuschlagen; allerdings musste ich nicht durch die kalte Nacht gehen …«

»Nicht? Wie konntest du denn sonst in die Kapelle gelangen?«

Der Abt stöhnte ungehalten. »Es gibt einen unterirdischen Gang, der von der Abtei in die Sakristei führt.«

Fidelma war wie vom Donner gerührt. Siedend heiß ging ihr auf, wie sehr sie sich zum Narren gemacht hatte. Dieser Umstand hätte ihr längst ins Auge springen müssen. »Bitte zeige mir diesen Gang.«

»Ich werde einen der Brüder rufen, der kann ihn dir zeigen. Ich bin mit den Vorbereitungen für die Amtseinführung beschäftigt.«

Abt Colmán streckte die Hand nach einer Silberglocke aus, die auf dem Tisch stand, und klingelte.

Fast unmittelbar darauf kam ein Mann mit einem Mondgesicht herein. Er trug die braune Kutte des Ordens der Abtei und hielt die Arme in den weiten Ärmeln des Habits verborgen. Sein Atem roch so stark nach Knoblauch, dass Fidelma schon von weitem der scharfe Geruch in die Nase stieg.

»Das ist Bruder Rogallach«, sagte der Abt und wies mit der Hand auf ihn. »Rogallach, ich möchte, dass du Schwester Fidelma den Gang zur Kapelle zeigst.« Er blickte wieder zu Fidelma hin und hob fragend die Augenbrauen. »Es sei denn, es liegt dir noch etwas anderes am Herzen …?«

»Nein, danke, nichts weiter«, erwiderte sie ruhig. »Gegenwärtig jedenfalls nicht.«

In einem der Gänge der Abtei blieb Bruder Rogallach stehen, nahm eine Kerze und zündete sie an. Dann zog er einen Wandbehang zur Seite, der eine Öffnung verdeckt hatte. Steinstufen führten nach unten.

»Gelangt man nur von hier in den unterirdischen Gang zur Kapelle?«, fragte Schwester Fidelma.

Bruder Rogallach nickte. »Ja, nur von hier.« Diese junge Frau verunsicherte ihn, überall in der Abtei wurde über ihren Rang getuschelt und weswegen sie hier war.

»Wer alles kennt diesen Zugang?«, hakte sie nach.

»Eigentlich jeder in der Abtei. Wir nutzen ihn bei schlechtem Wetter, um trockenen Fußes zum Gottesdienst zu gelangen.« Der Mönch öffnete den Mund zu einem treuherzigen Lächeln, wobei seine schadhaften, schwärzlichen Zähne sichtbar wurden.

»Wissen auch Leute davon, die nicht in der Abtei leben?«

»Das ist überhaupt kein Geheimnis, Schwester. Jeder, der eine Weile in Tara gewesen ist, kennt ihn.«

»Demnach hat auch Ailill gewusst, dass so ein Gang existiert?«

»Selbstverständlich.« Bruder Rogallach bekräftigte das mit einer Handbewegung.

»Dann geh voran, Bruder Rogallach«, forderte ihn Fidelma auf und war froh, dass der Mönch vor ihr ging und sie seinem widerlichen Mundgeruch nicht unmittelbar ausgesetzt war.

Der Bruder mit dem Mondgesicht stieg die Stufen hinab und lief vorneweg. Es roch muffig, doch der mit Steinplatten ausgelegte Pfad war trocken. Der durch das Gestein geschlagene Stollen wand sich mehrfach und hatte an den Seiten etliche Ausbuchtungen; in manchen standen Möbelstücke. An der ersten Nische blieb Fidelma stehen und bat Rogallach, sie mit der Kerze auszuleuchten. Das Verfahren setzte sie an jeder der folgenden Grotten fort.

»Die Nischen sind tief genug als Versteck für eine Person, erst recht, um darin ein Schwert zu verbergen«, überlegte sie laut. »Ist auch hier nach dem Schwert gesucht worden?«

Der Klosterbruder nickte eifrig und trat näher an Schwester Fidelma heran, die unwillkürlich vor seinem Atem einen Schritt zurückwich. »Natürlich, ich war mit in dem Suchtrupp. Nachdem die Kapelle abgesucht worden war, bot sich ja der Gang hier als nächstes mögliches Versteck an.«

Trotzdem ließ Fidelma den Mönch an jeder Grotte anhalten, und im Schein seiner Kerze lugte sie in jeden Winkel. Bei einer Ausbuchtung stutzte sie und griff nach einem Fetzen Stoff, der an einer vorstehenden Holzkante hängengeblieben war. Der Stoff war auffallend gefärbt und stammte gewiss nicht aus dem nüchternen braunen Habit der Klosterleute, schien eher ein Stück aus einem prächtig gewebten Umhang zu sein. Tuch dieser Art konnte nur jemand tragen, der reich und mächtig war.

Es dauerte eine Weile, bis sie den Gang abgeschritten hatten und ein paar Stufen zu einer Wandverkleidung hochgestiegen waren, hinter der sich die Sakristei befand. Von dort lief Fidelma sofort durch die Kapelle zum Portal. Irgendetwas hatte ihr schon die ganze Zeit keine Ruhe gelassen. Nun, da sie wusste, es gibt einen unterirdischen Zugang zur Kapelle, ging ihr auf, was sie stutzig gemacht hatte.

»Die Kapellentür wird immer von innen verriegelt, nicht wahr?«

»Ja«, erwiderte Rogallach.

»Wenn du also trotzdem in die Kapelle hineinwolltest, was würdest du da machen?«

Wieder lächelte Rogallach und gab einen unsichtbaren Schwaden Knoblauchgeruch von sich. »Na ganz einfach, ich würde den unterirdischen Gang benutzen.«

»Ja klar, wenn du wüsstest, dass es ihn gibt«, stimmte ihm Fidelma zu.

»Nur jemand, der fremd in Tara ist wie du, hätte davon keine Ahnung gehabt.«

»Wenn also jemand versucht, von außen in die Kapelle einzudringen, dann kann das nur jemand sein, der den verborgenen Zugang nicht kennt.«

Rogallach bestätigte das mit nachdrücklichem Kopfnicken.

Fidelma stand am Portal und betrachtete eingehend den Riegel und seine Befestigung am Türflügel. Ihr fiel auf, dass das Metallband verbogen und verbeult war. Dort war das Holz gesplittert, denn man hatte mit heftigen Schlägen die Haltebügel herausgetrieben. Ein zufriedenes Lächeln glitt über ihr Gesicht, als sie sich klarmachte, wie der Einbrecher vorgegangen war. Sie wandte sich zu Rogallach um. »Schick doch bitte den Wachmann Erc zu mir.«

Sechnussach, der Hochkönig, starrte Schwester Fidelma argwöhnisch an. »Ich erfahre soeben, du hättest angeordnet, dass Abt Colmán, Ailill Flann Esa, meine Schwester Ornait und Cernach Mac Diarmuid hier erscheinen sollen. Was berechtigt dich dazu?«

Mit sittsam gefalteten Händen stand Fidelma vor Sechnussach. »Dieses Recht steht mir als Anwältin am Hohen Gericht zu, außerdem nehme ich mir das Recht, weil ich nun darlegen kann, wie der Diebstahl deines Amtsschwerts bewerkstelligt wurde.«

Erregt beugte sich Sechnussach in seinem Sessel vor. »Du hast herausbekommen, wo Ailill es verborgen hat?«

»Ich war geradezu blind, denn ich hätte die Lösung des Rätsels längst finden können«, antwortete Fidelma.

»Wo also liegt das Schwert?«

»Alles zu seiner Zeit«, erwiderte Schwester Fidelma kühl. »Zunächst benötige ich noch eine Antwort von dir. Ich habe Cernach vorgeladen, den Sohn deines Oheims Diarmuid, der gemeinsam mit deinem Vater als Hochkönig regiert hat.«

»Was hat denn Cernach mit der ganzen Sache zu tun?«

»Es heißt, dass Cernach ein höchst energischer Verfechter der Reformen ist, wie sie die Kirche von Rom wünscht.«

Sechnussach runzelte verunsichert die Stirn. »Er hat mir oft Vorhaltungen gemacht, dass ich meine Ansichten ändern und diejenigen Äbte und Bischöfe in Irland unterstützen müsste, die sich für die von Rom ausgehende Kirchenzucht einsetzen. Aber richtig erwachsen ist er noch nicht. Erst in einem Monat wird er volljährig, und erst dann steht ihm ein Sitz in der Ratsversammlung zu. Seine Stimme hat noch kein Gewicht, wenngleich er bereits einen gewissen Einfluss auf die jungen Angehörigen unseres Hofes hat.«

Schwester Fidelma nickte. »Das stimmt mit dem überein, was ich bereits erfahren habe, doch ich benötigte deine Bestätigung. Die Wachtposten könnten jetzt Ailill hereinführen und die anderen Vorgeladenen. Dann werde ich darlegen, was ich herausgefunden habe.«

Schweigend stand sie vor dem Hochkönig, während Ailill Flann Esa unter strenger Bewachung hereingebracht wurde. Ihm folgte Abt Colmán. Die verängstigt wirkende Ornait kam herein und blickte mit erkennbarer Besorgnis auf ihren Liebhaber. Schließlich erschien ein dunkelhaariger junger Mann, allem Anschein nach Cernach Mac Diarmuid, der sich wunderte, was er hier sollte.

In einem Halbkreis standen sie vor dem in seinem Sessel thronenden Hochkönig. Sechnussach schaute Schwester Fidelma an und neigte den Kopf zum Zeichen, dass sie beginnen durfte.

»Ich will zusammenfassen, worin wir uns alle einig sind«, nahm sie das Wort. »Das heilige Schwert der Könige von Tara aus dem Stamm der Uí Néill wurde aus der Kapelle des heiligen Patrick gestohlen. Auch hinsichtlich des wahrscheinlichen Motivs herrscht Einigkeit. Es wurde gestohlen, um zu verhindern, dass Sechnussach morgen zum Hochkönig erhoben wird … oder um seinen Ruf in den Augen des Volkes zu schädigen, dann würden Unruhen zwischen den fünf Königreichen ausbrechen, die dazu führen könnten, dass Sechnussach gestürzt wird und ein anderer den Thron besteigt.«

Sie bedachte Sechnussach mit einem flüchtigen Lächeln. »Stimmen dem alle zu?«

»Das steht doch außer Frage«, rief Abt Colmán verärgert dazwischen. »In diesen finsteren Zeiten bedarf es nur eines so unheilvollen Omens wie des Verlusts des heiligen Schwerts, und schon herrschen Chaos und Gesetzlosigkeit in den fünf Königreichen Irlands. Das habe ich aber von Anfang an gesagt.«

»Und wer hätte den Nutzen von Chaos und Gesetzlosigkeit, wenn infolgedessen Sechnussach gestürzt würde?«, fragte Fidelma, fuhr aber fort, ehe noch jemand antworten konnte. »Das scheint offensichtlich. Sechnussach ist eingeschworen, die Traditionen unserer Königreiche und unserer Kirche hochzuhalten. Rom beansprucht die Oberhoheit über alle Landeskirchen, doch gegen diesen Anspruch verwahren sich sowohl die Kirchen Irlands, Britanniens und Armoricas als auch die Kirchen im Osten. Rom will unsere Liturgie umgestalten und die Berechnungen, nach denen wir das Cáisc-Fest begehen zur Erinnerung an den Tod unseres Herrn in Jerusalem. Unter uns gibt es etliche, selbst Äbte und Bischöfe, die die Bestrebungen Roms befürworten, die unsere Riten und Bräuche aufgeben wollen zugunsten einer Vereinigung mit der römischen Kirche. Auch die wir hier versammelt sind sprechen wir nicht alle mit einer Stimme. Nicht wahr, Ailill Flann Esa?«

Ailills Miene verfinsterte sich, und er brummte: »Ich habe dir doch erklärt, dass ich aus meinen Ansichten keinen Hehl mache.«

»Somit stimmen wir alle darin überein, dass es ein inneres Motiv für den Diebstahl des Schwerts gibt. Nämlich Untergraben des Ansehens des Hochkönigs und Ersetzung desselben durch jemand, der die bislang üblichen Bräuche ablehnt und sich voll und ganz hinter die Reformen Roms stellt.«

Alle schwiegen und lauschten gespannt.

»So viel zu dem offensichtlichen Motiv«, fuhr Schwester Fidelma fort. »Doch wenden wir uns den Tatumständen des Diebstahls zu. Kurz nach Mitternacht gehen zwei Wachleute an der Tür der Kapelle vorbei und sehen, dass die Tür geschlossen ist. Als sie zwanzig Minuten später wieder an der Tür vorbeikommen, bemerken sie, die Tür steht offen, der Riegel wurde gewaltsam aufgebrochen. Sie gehen in die Kapelle hinein und erblicken Ailill, der in die leere Truhe starrt, in der das Schwert verwahrt wird. Zu ihnen gesellt sich der Abt. Er ist aus der Sakristei gekommen, in die er durch den unterirdischen Gang gelangt war, der zwischen Abtei und Kapelle besteht. Er beschuldigt Ailill, das Schwert gestohlen und versteckt zu haben. In der Kapelle wird das Schwert nicht gefunden. Wenn Ailill es gestohlen hatte, wie hat er es derart schnell und geschickt verbergen können? Selbst die zehn Minuten, die ihm die Wächter zubilligen, hätten dazu nicht ausgereicht. Das ist die Frage, die sich mir bald stellte.«

Fidelma unterbrach ihre Darlegungen und schaute Ornait, die Schwester des Hochkönigs, an.

»Wie Ailill Flann Esa es schildert, ging er zufällig an der Kapelle vorbei, sah das geöffnete Portal und bemerkte auch, dass es jemand aufgebrochen hatte. Aus purer Neugier trat er ein und erblickte die leere Truhe.«

»Das wissen wir längst. So und nicht anders hat Ailill uns die Geschichte erzählt«, rief Sechnussach dazwischen. »Hast du dem etwas Neues hinzuzufügen?«

Schwester Fidelma ließ sich durch den aufgeregten Hochkönig nicht aus der Fassung bringen. »Nur eine Ergänzung möchte ich anfügen. Ailill ging zu der Nachtstunde an der Kapelle vorbei, weil er auf dem Wege zu Ornait war.«

Ornait wurde rot. Sechnussach blieb vor Überraschung der Mund offen; aufgebracht drehte er sich zu seiner Schwester.

»Tut mir leid, Ornait, dass ich dein Geheimnis nun doch nicht hüten kann. Aber die Wahrheit muss heraus, es steht zu viel auf dem Spiel.«

Trotzig schob Ornait das Kinn vor und starrte ihren Bruder an.

»Was hast du dazu zu sagen, Ornait? Warum wollte dich Ailill mitten in der Nacht besuchen?«, verlangte der Hochkönig zu wissen.

Das Mädchen warf den Kopf zurück. »Ich liebe Ailill, und er liebt mich. Wir hatten vor, es dir zu gestehen, wollten aber damit bis nach deiner Amtseinführung warten, in der Hoffnung, du würdest uns hinfort gnädiger gesonnen sein.«

Fidelma hob die Hand, als Sechnussach zu einer wütenden Entgegnung ansetzte. »Sich darüber zu verständigen ist nachher Zeit genug. Bleiben wir jetzt bei der Sache. Nehmen wir an, Ailill spricht die Wahrheit, dann ist Folgendes in Betracht zu ziehen: Jemand muss von Ailills Verabredung mit Ornait gewusst und in der Kapelle gewartet haben. Ich selbst bin zum ersten Mal in Tara und hatte daher keine Ahnung, dass man in die Kapelle auch durch einen Geheimgang gelangt. Allerdings hätte ich mich sogleich fragen müssen, wenn die Kapellentür nachts von innen verriegelt wird, wie konnte der Diakon die Kapelle verlassen, nachdem er das Portal gesichert hatte? Ich hätte mir denken können, dass es noch einen weiteren Zugang gibt.«

»Selbstverständlich weiß das ein jeder in Tara«, bekräftigte Sechnussach.

»O ja«, entgegnete Fidelma und lächelte, »vermutlich hat man sich gedacht, ich würde irgendwann von selbst dahinter kommen.«

»Aber der wesentliche Punkt ist doch, dass die Türverriegelung gewaltsam aufgebrochen wurde«, mischte sich Abt Colmán gereizt ein.

»Richtig. Nur nicht von außen«, erwiderte Schwester Fidelma. »Wiederum muss ich gestehen, ich hatte meine Gedanken nicht recht beisammen, sonst hätte ich es sofort erkannt. Bricht man eine verriegelte Tür auf, dann wird die Eisenkrampe, hinter die der Riegel greift, aus dem Türpfosten gerissen. Bei der Kapellentür aber wurde der Riegel aus seinen Halterungen auf den Türbeschlägen getrieben, sodass das Holz splitterte.«

Einen Augenblick lang schaute sie in die Gesichter, die sie verständnislos anstarrten.

»Was da vor sich gegangen ist, war eigentlich ganz einfach. Der Täter hatte die Kapelle durch den unterirdischen Gang betreten, hatte sich den Schlüssel gegriffen, den Altartisch beiseitegeschoben und die Truhe geöffnet. Das Schwert wurde herausgenommen und in ein Versteck geschafft. Dann war der Schuldige zurückgekommen und hatte den Schauplatz nach seinen Vorstellungen hergerichtet. Er hatte sich vergewissert, dass die Wächter außer Hörweite waren, hatte die Tür geöffnet und dann einen Stein gepackt und damit auf den Riegel eingedroschen. Anstatt die Krampe aus dem Türpfosten zu schlagen, wurde der Riegel auf dem Türblatt lädiert. Diese Spur war derart deutlich, dass ich sie zunächst übersah. Ich hatte nur den verbogenen Riegel im Blick.«

Ornait lächelte unter Tränen. »Ich wusste doch, Ailill kann den Frevel nicht begangen haben. Der wirklich Schuldige hat alles so eingerichtet, dass Ailill die Tat angelastet wird. Deinen Ruf, schwierigste Rätsel lösen zu können, hast du dir zu Recht erworben, Schwester Fidelma.«

Die so Gelobte hatte dafür nur ein Schmunzeln übrig. »Es bedurfte keiner besonderen Begabung, um aus den Umständen zu schließen, dass Ailill Flann Esa das Schwert nicht so wie angenommen gestohlen haben konnte.«

Der bislang Beschuldigte fuhr Schwester Fidelma an: »Wer ist denn nun der Täter?«

Sie überhörte seine Frage. »Wem hätte die Tat nutzen können? Abt Colmán ist ein eifriger Verfechter Roms. Er hätte seine Absichten durchsetzen können, wenn Sechnussach beseitigt würde. Und Abt Colmán war zur rechten Zeit an der richtigen Stelle. Er hätte die Gelegenheit gehabt, die Tat zu vollbringen.«

»Das ist ja ungeheuerlich!«, brauste der Abt auf. »Mich ungerechterweise zu beschuldigen! Ich bin dein Vorgesetzter, Fidelma von Kildare. Ich bin der Abt von Tara und …«

Fidelma krauste die Lippen. »Du brauchst mich nicht an deine Stellung in der Kirche zu erinnern, Abt Colmán«, erwiderte sie ruhig. »Ich darf dich aber daran erinnern, dass ich hier als Anwalt des hohen Gerichts der Brehons spreche und dass du selbst mich gerade deswegen hierhergerufen hast.«

Der Abt wurde rot. Einen Moment später brachte er beherrscht heraus: »Dass ich die Absichten Roms billige, habe ich nie verheimlicht, jetzt aber zu vermuten, ich hätte mich zu so einer Handlungsweise hergegeben …«

Schwester Fidelma hob die Hand und gebot seinem Redefluss Einhalt.

»Immerhin wäre Ailill Colmáns natürlicher Verbündeter. Falls Colmán das Schwert entwendet hat, warum sollte er dann Ailill beschuldigen und damit vielleicht alle diskreditieren, die für die Sache Roms eintreten? Eigentlich hätte er doch alles ihm Mögliche tun müssen, Ailill beizustehen, damit der als tánaiste, als Thronfolger, sofort Anspruch auf den Herrschersitz geltend machen kann, sollten Unruhen ausbrechen, weil Sechnussach das heilige Schwert nicht vorweisen kann.«

»Was bringst du da vor?«, fragte Sechnussach, der Mühe hatte, Fidelmas Beweisführung zu folgen.

Sie blickte ihn mit ihren grünen Augen unverwandt an und erklärte ohne jede Hast: »In diesem Gespinst politischer Intrigen gibt es noch einen anderen Faktor, nämlich Cernach Mac Diarmuid. Sein Name wurde mir mehrfach genannt, und stets wurde betont, er sei ein glühender Anhänger Roms.«

Der junge Mann, der bislang unbeteiligt dagestanden und nur die Stirn gerunzelt hatte, schreckte auf. Eine Hand tastete an seine Seite, als suche er eine Waffe. Doch niemandem, ausgenommen die Leibwache des Hochkönigs, war es in Tara gestattet, Waffen zu tragen.

»Was willst du damit sagen?«

»Cernach wollte auf den Thron von Tara gelangen. Als Sohn eines der gemeinsam herrschenden Hochkönige meinte er, dass ihm das zustünde. Außerdem würde er am meisten davon profitieren, wenn sowohl Sechnussach als auch Ailill in Verruf kämen.«

»Verdammt …!« Wütend machte Cernach einen Schritt auf Fidelma zu. Einer der Krieger packte derb den Arm des jungen Burschen. Der suchte den Griff abzuschütteln, gab aber schließlich Ruhe.

Schwester Fidelma rief einem der Krieger zu: »Ist Erc, der Wachmann, draußen?«

Der Krieger ging zur Tür und brüllte etwas. Ein untersetzter Waffenträger kam herein. Er hielt einen in Tuch gewickelten Gegenstand in den Händen, warf Fidelma einen Blick zu und nickte.

Sie wandte sich wieder an den Hochkönig. »Sechnussach, ich habe deinen Krieger Erc beauftragt, Cernachs Kammer zu durchsuchen.«

Cernach wurde kreidebleich und riss entsetzt die Augen auf.

»Was hast du dort gefunden, Erc?«, fragte ihn Fidelma in aller Ruhe.

Der Krieger ging auf den Hochkönig zu, schlug das Tuch zurück und bot den bislang verborgenen Gegenstand mit ausgestreckten Armen dar. Es war ein Schwert mit üppigen Gold- und Silberbeschlägen. Sein Griff war überreich geschmückt mit Einlagen aus farbigen Edelsteinen.

»Der ›Caladchalog‹!«, keuchte Sechnussach. »Unser Amtsschwert!«

»Der reinste Schwindel ist das! Nichts als Schwindel!«, schrie Cernach. »Untergeschoben hat man mir das! Sie hat das dort hineinmanövriert.« Dabei wies er anklagend mit dem Finger auf Schwester Fidelma.

Die jedoch ignorierte ihn. »Wo hast du das edle Stück gefunden, Erc?«

Der stämmige Bursche fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. So vor dem Hochkönigs zu stehen, fühlte er sich unbehaglich. »Es lag in Tuch gewickelt unter dem Bett von Cernach, dem Sohn Diarmuids«, antwortete er knapp.

Aller Augen richteten sich auf den zitternden Jüngling.

»Hattest du Mühe, es zu finden?«, erkundigte sich Fidelma.

Der beklommene Krieger brachte ein Lächeln zustande. »Keineswegs. Das war geradezu ein Kinderspiel.«

»… war geradezu ein Kinderspiel«, wiederholte Fidelma mit Nachdruck.

»Wie konntest du so etwas tun, Cernach Mac Diarmuid?«, donnerte Sechnussach. »Wie konntest du so eine Schurkentat begehen?«

»Es war nicht Cernach«, vernahmen die Anwesenden Fidelmas ruhige, klare Stimme und wandten sich ihr erstaunt zu.

»Wer war es dann, wenn nicht Cernach?«, fragte nun vollends verwirrt der Hochkönig.

»Die Kunst, Schlüsse zu ziehen, ist eine Geheimwissenschaft, vergleichsweise so vertrackt wie die Mysterien unserer Altvorderen«, erklärte Fidelma und holte tief Atem. »Im vorliegenden Fall merkte ich, dass ich es wie nie zuvor mit jemandem zu tun hatte, der in ungewöhnlichen Windungen dachte und rücksichtslos auf sein Ziel zusteuerte. Und das bestand darin, den Thron des Hochkönigs zu erobern.«

Sie machte eine Pause, schaute sich im Audienzsaal um und sah dann Sechnussach voll an. »Von Anfang hatte mich eine Frage beschäftigt. Warum wurde gerade ich nach Tara gerufen, um diesen Fall zu klären? Meine bescheidenen Verdienste in der Rechtskunde sind kaum außerhalb der Mauern der Abtei Kildare bekannt. In Tara, am Sitz der Hochkönige, gibt es viele, die im Rechtswesen erfahrener sind, gibt es fähigere dálaigh bei den Gerichten der Brehons, ja selbst berühmte Brehons. Abt Colmán hat eingeräumt, dass ihm jemand von mir erzählt hat, denn zuvor war ich ihm unbekannt. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass ich auf unlautere Weise benutzt wurde. Aber warum? Zu welchem Zweck? Von wem? Es schien so offensichtlich, dass Ailill unschuldig war. Doch warum war es so offensichtlich?«

Ailill schreckte auf, kniff die Augen zusammen und starrte Fidelma an. Ohne auf die gespannte Stimmung im Saal zu achten, fuhr sie fort: »Abt Colmán hat mich hierher gerufen. Für ihn stand viel auf dem Spiel, wie wir bereits erörtert haben. Auch hätte er die Gelegenheit gehabt, die Tat zu vollbringen.«

»Das ist nicht wahr!«, schrie der Abt erbost.

Besänftigend blickte Schwester Fidelma den Geistlichen an, dem Zornesröte ins Gesicht stieg.

»Beruhige dich, Colmán. Ich habe bereits dargelegt, dass du es nicht warst.«

»Das Schwert wurde ja auch in Cernachs Kammer gefunden«, rief Sechnussach dazwischen. »Demnach muss er der Schuldige sein!«

»Ich wurde mehrfach darauf hingewiesen, Cernach sei ein eifriger Verfechter der römischen Reformen. Einmal wurde er mir sogar als jugendlicher Heißsporn beschrieben. Wiederholt legte man mir nahe, das Tatmotiv bestünde darin, Sechnussach, den Bewahrer des Hergebrachten, durch jemanden zu ersetzen, der für die Reformen stand. Der wahre Schuldige hat das Schwert so in Cernachs Kammer versteckt, dass es leicht zu finden war. Man gab sich alle erdenkliche Mühe, meinen Verdacht auf Cernach zu lenken. Aber weshalb auf Cernach? Er war ja nicht einmal volljährig, was hätte er dabei gewinnen können?«

Es herrschte Totenstille, während alle auf ihre Beweisführung warteten.

»Abt Colmán berichtete mir, Cernach sei ein Befürworter der römischen Bestrebungen. Das tat auch Ailill, und das tat auch Ornait. Sie sprach sogar davon, dass Cernach Ansprüche auf den Thron erhob, obwohl er sie wegen seines Alters noch nicht geltend machen konnte. Ornait erzählte mir außerdem, dass er in Monatsfrist das Alter der Wahl erreichen würde.«

Unvermutet drehte sich Fidelma zur Schwester des Hochkönigs um. »Ornait war zudem die Einzige, die von meinem Ruf bei der Aufklärung geheimnisvoller Umstände wusste. Sie sprach mit dem Abt und veranlasste ihn, nach mir zu schicken. War dem nicht so?«

Kurz wandte sie sich nach Abt Colmán um, der völlig überrumpelt nickte.

Ornait war blass geworden. »Willst du etwa behaupten, ich hätte das Schwert gestohlen?«, flüsterte sie eiskalt.

»Das ist ja lachhaft«, brach es aus Sechnussach heraus. »Ornait ist schließlich meine Schwester.«

»Dessenungeachtet sind Ailill und Ornait die Schuldigen«, erwiderte Fidelma mit fester Stimme.

»Aber du hast doch eben erst gesagt, Ailill kann das Verbrechen nicht begangen haben«, stammelte Sechnussach, der nichts begriff.

»Nein. Ich habe lediglich dargelegt, dass die Beweise derart beschaffen waren, dass ich glauben musste, Ailill sei unschuldig, weil er unmöglich so vorgegangen sein konnte, wie es alle vermuteten. Doch wenn Dinge derart offen zutage liegen, sollte man Vorsicht walten lassen.«

»Und wieso soll sich Ornait an dem Diebstahl beteiligt haben?«, verlangte der Hochkönig zu wissen.

»Ornait hat den Plan ersonnen. Die ganze abgefeimte Sache hat sie sich ausgedacht. Ailill und sie selbst haben die Tat begangen, und niemand sonst.«

»Das musst du uns erklären!«

»Ailill und Ornait sind in jener Nacht wie üblich durch den unterirdischen Gang in die Kapelle gelangt und haben sich sofort ans Werk gemacht. Ornait nahm das Schwert an sich, während Ailill den Riegel aufbrach und so den falschen Verdacht in Szene setzte. Sie bauten darauf, dass die beiden Wachtposten den Einbruch bemerken würden, und Ailill erwartete sie wie geplant. Doch wie stets bei einem sorgsam ausgetüftelten Plan kommt etwas Unerwartetes dazwischen. Ornait war auf dem Rückweg durch den Gang, da nahte sich der Abt. Er hatte seinen Psalter in der Sakristei gelassen und brauchte ihn dringend. Sie drückte sich in eine der Nischen und wartete, bis er vorbei war. Beim Verlassen der Nische blieb sie mit ihrem Gewand an einem Vorsprung hängen.«

Fidelma hielt einen Fetzen aus farbigem Tuch hoch.

»Der Rest der Geschichte ging dann wie gewollt vor sich. Ailill wurde eingesperrt. Danach wurde der zweite Teil des Vorhabens in Angriff genommen. Ornait hatte von einer Schwester aus meinem Ordenshaus in Kildare erfahren, dass ich die Gabe besitze, seltsame Rätsel zu lösen. Bei aller Bescheidenheit muss ich leider sagen, Ornait hatte ihren Plan völlig auf meine Person abgestellt. Als das Schwert nicht aufzufinden war, gelang es ihr, Abt Colmán zu überreden, nach mir zu schicken, damit ich das rätselhafte Verschwinden des Schwerts aufkläre. Colmán hatte von mir nie zuvor gehört und erfuhr von meiner Existenz erst, als ihm Ornait meinen Namen einflüsterte. Das hat er gerade erst bestätigt.«

Der Abt nickte nochmals heftig, während er sich mühte, ihrem Gedankengang zu folgen.

»Als ich hier eintraf, ließen mich die ersonnenen Beweise zunächst glauben, Ailill sei unschuldig. So war es ja auch bezweckt. Dazu wurde mein Verdacht auf Cernach Mac Diarmuid gelenkt, der als Sündenbock auserkoren war. In seiner Kammer fand sich, nur notdürftig versteckt, das heilige Schwert. Das schien mir alles zu durchsichtig und erweckte meinen Argwohn. Sowohl Ailill als auch Ornait führten immer wieder Cernachs Namen im Munde. Dann entdeckte ich den Tuchfetzen im Durchgang und wurde stutzig.«

»Aber wenn es nur darum ging, mich in Verruf zu bringen, weil ich das Schwert nicht vorweisen konnte, warum dann ein so ausgeklügeltes Komplott? Man hätte doch nur das Schwert stehlen und es irgendwo verstecken können, wo es nicht so leicht zu finden war«, bemerkte Sechnussach.

»Das hat auch mir die meisten Kopfschmerzen bereitet. Erst allmählich begriff ich, Ornait und Ailill wollten ganz sichergehen, dass du nicht gekrönt wirst. Der Verlust des Schwertes würde die Menschen beunruhigen, und es würde Streit ausbrechen zwischen den Stämmen. Aber allgemeine Gesetzlosigkeit war nicht ihr Ziel, sie wollten lediglich deinen sofortigen Sturz. Sie wollten sichergehen, dass der Große Rat seinen Beschluss widerrufen und Ailill noch während der Krönungsfeierlichkeiten sofort als neuen Hochkönig einsetzen würde.«

»Wie hätte ihnen das gelingen können?«, fragte Abt Colmán. »Der Große Rat hatte doch längst seine Entscheidung getroffen.«

»Eine Entscheidung, die vor der Amtseinsetzung jederzeit widerrufen werden kann. Wenn man Bedenken schürte hinsichtlich Sechnussachs Fähigkeit, dem Volk Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, ließe sich der Große Rat dazu bewegen, einen anderen zu wählen. Dazu brauchte man dem Großen Rat nur deutlich zu machen, dass Sechnussach jemand grundlos eines Verbrechens bezichtigte, der sein Mitbewerber um das Königsamt war. Man hätte außerdem geltend machen können, dass Sechnussach aus persönlicher Feindschaft handelte, weil er Ornaits Liebesverhältnis zu Ailill missbilligte. Ich sollte Teil dieses Plans sein, Ornaits Bruder zu verstoßen und statt seiner Ailill auf den Thron zu bringen. Aus keinem anderen Grund wurde ich nach Tara gerufen, als Ailills Unschuld und Cernachs Schuld zu beweisen. Zweifel an Sechnussachs Gerechtigkeitssinn wären ein Makel gewesen, der ihn ungeeignet erscheinen lassen würde, Hochkönig zu werden. Wie heißt es im Gesetz über die Königswahl? Sieben Bedingungen muss ein rechtmäßiger König erfüllen. Sein Urteilsvermögen muss fest gegründet und gerecht und über jeden Zweifel erhaben sein. Sobald sich erwies, dass Sechnussachs Anordnung, Ailill einzukerkern, zu Unrecht bestand, würde man Ailill, der ohnehin der tánaiste war, zum Hochkönig ausrufen und mit ihm Ornait als seine Königin.«

Sechnussach blickte finster auf seine Schwester, aus deren bitterbösen Zügen er die Wahrheit ablesen konnte. Hätten Fidelmas Darlegungen noch eines Beweises bedurft, so stand er in dem vom Hass verzerrten Gesicht des Mädchens und in der Miene Ailills, mit der er seine Niederlage eingestand.

»Und all das wurde unternommen, um sich des Throns zu bemächtigen? Aus keinem anderen Motiv als dem des Gelüsts nach Macht?«, fragte der Hochkönig ungläubig. »Sie haben das nicht getan, um die Kirche nach den Vorstellungen Roms umzugestalten?«

»Es ging ihnen nicht um Rom, es ging ihnen nur um die Macht«, pflichtete Fidelma ihm bei. »Um zu Macht zu gelangen, sind die meisten Menschen zu allem bereit.«

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