GIFT IM VERSÖHNUNGSTRUNK

Man hatte das Mahl in kühler Höflichkeit eingenommen. Unter den Speisenden herrschte eine frostige und angespannte Stimmung. Es waren sieben an der Zahl, die Nechtan, der Stammesfürst der Múscraige, zu Tisch geladen hatte. Schwester Fidelma, die als Letzte den Saal betreten hatte, war die Unglückszahl auf den ersten Blick aufgefallen. Sie hatte sich etwas verspätet, weil sie nicht auf den Genuss eines heißen Bades vor dem Essen hatte verzichten wollen. Man hatte an einem runden Tisch Platz genommen; zusammen mit Nechtan waren sie acht, auch keine gute Zahl, wie Fidelma mit Unbehagen fand. Natürlich schalt sie sich insgeheim, abergläubischen Gedanken nachzuhängen, führte es aber auf den Umstand zurück, dass über allen eine gedrückte Stimmung lag.

Alle, wie sie da saßen, hatten Grund, Nechtan zu hassen.

Schwester Fidelma gehörte nicht zu denen, die leichtfertig mit Urteilen umgingen, denn als Anwältin bei den Gerichten der fünf Königreiche und auch als Nonne wählte sie wertende Begriffe mit Bedacht und hütete sich vor Fehleinschätzungen. Trotzdem fiel ihr für die Empfindung, die einem bei Nechtans Anblick überkam, kein passenderes Wort ein als »widerwärtig«.

Gleich den anderen Gästen hatte auch Fidelma guten Grund, den Anführer des Stammes der Múscraige nicht ausstehen zu können. Weshalb aber hatte sie dann die Einladung zu dem absonderlichen Festmahl angenommen? Weshalb war auch keiner der anderen Gäste einer solchen Zusammenkunft ferngeblieben?

Sie konnte die Frage nur für die eigene Person beantworten. Wäre sie nicht zufällig in Nechtans Stammesgebiet unterwegs gewesen, um sich einer Aufgabe bei den Sliabh Luachra zu entledigen, wohin sie der dortige Stammesfürst gerufen hatte, hätte sie die Einladung abgelehnt. Sie sollte über einen Diebstahl befinden; da sie das Rechtswesen studiert und den Grad eines anruth erlangt hatte, den zweithöchsten in der Gesetzeskunde möglichen, besaß sie sogar die Befugnis, Rechtsstreitigkeiten als Richterin zu entscheiden. In diesem Falle hatte sich herausgestellt, dass Daolgar, Fürst der Sliabh Luachra, der ebenfalls seine Gründe hatte, Nechtan zu grollen, auch zu dem Essen geladen war, und so waren sie überein gekommen, gemeinsam zu Nechtans Burg zu ziehen.

Es gab aber noch etwas, das Fidelma bewogen hatte, der Einladung halbherzig Folge zu leisten, und das war die Sprache, in der sie verfasst war. In schmeichlerischen Worten bat Nechtan um Entschuldigung für die Schmach, die er ihr einst angetan hatte. Ihn reue sein Fehlverhalten, und da er erfahren hätte, dass sie ohnehin durch seine Lande reiste, würde er die Gelegenheit nutzen wollen, sie zu sich zu laden gleich anderen, denen er Unrecht zugefügt hätte. Sie alle wolle er um sich scharen, gemeinsam mit ihnen speisen und sie vor aller Ohren um Verzeihung bitten. Wortwahl und Formulierungen hatten sie betört, zudem wäre die Zurückweisung eines Feindes, der um Vergebung ersuchte, gegen die Lehren Christi gewesen. Hatte nicht der Apostel Lukas berichtet, was Christus seine Jünger lehrte: »Liebet eure Feinde; tut denen wohl, die euch hassen; segnet die, so euch verfluchen; bittet für die, so euch beleidigen. Und wer dich schlägt auf einen Backen, dem biete auch den anderen dar …«

Wie wäre es um ihren Glauben bestellt, wenn sie sich nicht an das oberste Gebot hielt, das vorschrieb, einem jeden, der ihr Leid zugefügt hatte, zu vergeben?

Wie sie nun unter den Gästen saß, musste sie feststellen, dass sie nicht die Einzige war, die Groll gegen den Gastgeber hegte. Zwar hatte sie sich als Christin gemüht, Nechtans Verlangen nach Vergebung nachzukommen, aber den Blicken der um die Festtafel Versammelten, ihrer gestelzten und gezwungenen Unterhaltung, der eisigen Kälte, die in der Luft hing, war zu entnehmen, dass keiner von ihnen von dem Wunsch beseelt war, Nechtan großmütig zu verzeihen. Im Innern der Herzen schwelten andere Gedanken.

Das Mahl näherte sich dem Ende, und Nechtan erhob sich. Er war ein Mann in mittleren Jahren. Auf den ersten Blick hätte man ihn fast für einen fröhlichen und freundlichen Menschen halten können. Von der Statur her war er klein und rundlich, die Haut war rosig wie die eines Kindes, nur die Hängebacken störten ein wenig. Das lange, silbrig glänzende Haar trug er sorgfältig zurückgekämmt. Die Lippen waren schmal und von rötlich frischer Farbe. Die insgesamt angenehmen Züge ließen nichts von dem grausamen Gemüt vermuten, mit dem er seine Untergebenen beherrschte. Nur wenn man ihm in die stechend blauen Augen sah, bekam man die unerbittliche Härte des Mannes zu spüren. Es waren fahle, tote Augen, die Augen eines gefühllosen Menschen.

Nechtan bedeutete dem einzigen Bediensteten, der im Saal stand und den Gästen Wein eingeschenkt hatte, seinen Becher aus dem Krug auf dem Beistelltisch aufzufüllen. Der junge Mann kam der Anweisung nach und erklärte: »Der Wein geht zur Neige. Soll ich den Krug wieder füllen lassen?« Nechtan verneinte mit einem Kopfschütteln, entließ den Burschen mit einer raschen Handbewegung und sah sich mit seinen Gästen allein. Für die anderen kaum wahrnehmbar seufzte Fidelma gequält. Der Verlauf des Festmahls war schon peinlich genug gewesen, eine Rede von Nechtan konnte es nur noch schlimmer machen.

»Liebe Freunde«, begann er geradezu leutselig und blickte ohne innere Anteilnahme in die Runde. »Ich denke doch, ich darf euch so nennen. Seit langem hege ich den Wunsch, mit euch zusammenzukommen und jeden Einzelnen von euch um Verzeihung zu bitten wegen des Unrechts, das ich einem jeden angetan habe.«

Erwartungsvoll schaute er sich um, stieß aber auf eisiges Schweigen. Fidelma war die Einzige, die den Kopf ein wenig hob, um seinem leeren Blick zu begegnen. Alle anderen starrten auf die vor ihnen stehenden Teller.

»Ich bin euch heute Abend gewissermaßen ausgeliefert«, fuhr er fort und gab sich, als bemerkte er nicht die Ablehnung, die ihm entgegenschlug. »Ich habe mich an euch allen vergangen.«

Er wandte sich an den älteren, schweigenden und nervös wirkenden Mann zu seiner Linken, der die ganze Zeit an seinen Fingernägeln knabberte, eine Angewohnheit, die Fidelma widerlich fand. Unter den gehobenen Schichten galten wohlgeformte Hände mit schmalen Fingern als schön. Fingernägel wurden fein säuberlich rund geschnitten, und die meisten Frauen färbten sie auch leuchtend rot. Auf einen Mann in besserer Stellung mit ungepflegten Fingernägeln schaute man geringschätzig herab. Fidelma wusste, dass er Nechtans Leibarzt war, umso mehr nahm sie Anstoß an seinen unsauberen, vernachlässigten Händen.

Nechtan versuchte es mit einem Lächeln, es war eher eine Verzerrung der Lachmuskeln als der Ausdruck irgendwelcher Gefühle.

»Ich habe dir Unrecht getan, Gerróc, mein Arzt. Ich habe dich ständig um deine Bezahlung betrogen und dennoch deine Dienste in Anspruch genommen.«

Der Alte rutschte unruhig auf seinem Platz hin und her und meinte achselzuckend: »Du bist mein Stammesfürst.«

Nechtan verzog – fast ein wenig amüsiert ob der Antwort – das Gesicht und sprach nun die etwas füllige, aber immer noch gutaussehende Frau mittleren Alters an, die neben Gerróc saß. Sie war außer Fidelma die einzige Frau in der Runde.

»Du warst meine erste Frau, Ess. Ich habe mich von dir scheiden lassen, dich der Untreue bezichtigt und dich aus dem Haus gejagt. Dabei ging es mir nur darum, in den Armen einer jüngeren und hübscheren Frau zu liegen, in die ich mich verliebt hatte. Meine Anklage lautete auf Ehebruch, und damit habe ich dich zu Unrecht um deine Mitgift und deinen Erbanspruch betrogen. Insofern habe ich dich auch vor unserem Volk in Verruf gebracht.«

Ess saß mit steinerner Miene da, nur ein gelegentliches Augenblinzeln verriet, dass sie seine Worte wahrgenommen hatte.

»Neben dir sitzt mein Sohn, unser Sohn Dathó«, fuhr Nechtan fort. »Indem ich deiner Mutter Unrecht getan habe, habe ich auch dir Schaden zugefügt, Dathó. Ich habe dir deinen rechtmäßigen Platz in unserem Stamm der Múscraige verwehrt.«

Dathó war ein schlanker junger Mann von etwa zwanzig Jahren mit ernstem Gesicht. Hasserfüllt blitzten seine Augen Nechtan an; er hatte die Augen seiner Mutter und nicht die grauen kalten Augen seines Vaters. Schon öffnete er den Mund, dem Vater harsche Worte entgegenzuschleudern, aber seine Mutter legte ihm die Hand auf den Arm und hielt ihn zurück, sodass er nur verächtlich schniefte und herausfordernd das Kinn reckte, aber schwieg. Die beiden ließen erkennen, dass Nechtan weder von seinem Sohn noch von seiner ersten Frau Vergebung erwarten durfte.

Trotzdem schien Nechtan ungerührt ob ihrer Reaktionen, fast hatte es den Anschein, als würde er sie mit einer gewissen Befriedigung hinnehmen.

Einer der Gäste – er saß gegenüber Ess, und Fidelma kannte ihn als einen jungen Künstler namens Cuill – erhob sich, ging um den Tisch herum zum Weinkrug, der hinter Nechtan stand, füllte sich seinen Becher, leerte die Karaffe und kehrte zu seinem Platz zurück. Nechtan schenkte dem keine Beachtung, und auch Fidelma nahm es nur unbewusst wahr. Beharrlich ruhte ihr Blick auf Nechtan, und ihre lebhaften grünen Augen wichen seinen kalten nicht einen Augenblick lang aus. Nur die Hand bewegte sie ab und an, wenn sie versuchte, das widerspenstige rote Haar unter den Schleier zurückzuschieben.

»Und nun zu dir, Fidelma von Cashel, Schwester unseres Königs Colgú.« Er streckte die Arme aus, wie um seine Reue zu unterstreichen. »Als du im Gefolge des großen Brehon Morann, des obersten Richters der fünf Königreiche, hierherkamst, warst du eine junge Novizin. Ich war von deiner Jugend und Schönheit berauscht; welcher Mann wäre das nicht gewesen? Jedwede Gesetze der Gastfreundschaft missachtend, suchte ich dich nachts in deiner Kammer auf und wollte dich verführen.«

Empört warf sie den Kopf hoch; Röte schoss ihr in die Wangen bei dem Gedanken an das, was geschehen war.

»Verführen?« Eiskalt durchschnitt ihre Stimme den Raum. Der Begriff, den Nechtan benutzt hatte, war der Rechtssprache entlehnt, und sleth bedeutete versuchter Geschlechtsverkehr mit Hilfe von List. »Dein vergeblicher Versuch war wohl mehr ein forcor

Nechtan zuckte zusammen, und für einen kurzen Moment verzerrte sich sein Gesicht zu einer erzürnten Maske, nahm aber sogleich wieder den blassen, friedfertigen Ausdruck an. Forcor hieß so viel wie brutale Vergewaltigung und kam einem Gewaltverbrechen gleich. Hätte Fidelma sich nicht schon damals, jung wie sie war, im troid-sciathagid, der überlieferten Kampfkunst ohne Waffen, ausgezeichnet, wäre aus Nechtans unerbetener Zudringlichkeit leicht eine Vergewaltigung geworden. Nechtan hatte bei seinem nächtlichen Besuch bei Fidelma ein paar heftige blaue Flecken und dicke Beulen davongetragen und drei Tage das Bett hüten müssen. Jetzt neigte er das Haupt und gab sich zerknirscht.

»Es war falsch, gute Schwester«, sagte er, »ich kann lediglich mein Verhalten eingestehen und dich um Verzeihung bitten.«

Der Lehren ihres Glaubens eingedenk, kämpfte Fidelma einen inneren Kampf, konnte es aber nicht über sich bringen, auch nur das geringste Zeichen einer Vergebung erkennen zu lassen. Sie schwieg und starrte Nechtan mit unverhohlener Empörung an. In ihr festigte sich der Verdacht, dass Nechtan an diesem Abend ein böses Spiel mit ihnen trieb. Aber weshalb und mit welchem Ziel?

Hinter seiner Maske schien er sich still und heimlich zu amüsieren; mehr als ein verärgertes Schweigen hatte er wohl sowieso nicht von ihr erwartet.

Er hielt einen Augenblick inne, bevor er sich dem lebenslustigen, rothaarigen Mann zuwandte, der links neben ihr saß. Fidelma wusste, dass Daolgar von ungezügeltem Temperament war, ein Mensch, der mehr zum Handeln als zum Nachdenken neigte. Er konnte rasch beleidigt sein, aber ebenso gut auch rasch vergeben. Sie kannte ihn als warmherzig und großzügig.

»Daolgar, Stammesfürst der Sliabh Luachra und mein guter Nachbar«, sprach ihn Nechtan an, aber der ironische Unterton war nicht zu überhören. »Ich habe dir Unrecht zugefügt, indem ich die jungen Männer meines Clans immer wieder angestachelt habe, in dein Gebiet einzufallen und deine Leute zu schinden, um unsere eigenen Ländereien zu erweitern und eure Viehherden zu stehlen.«

Daolgar schnaubte wie ein Tier, laut und ärgerlich. Sein muskulöser Körper lauerte sprungbereit.

»Dass du das, was mein Volk hat ertragen müssen, zugibst, ist ein Schritt in die richtige Richtung zu einer möglichen Aussöhnung, Nechtan. Persönliche Feindschaft sollte einem Waffenstillstand zwischen uns nicht im Wege stehen. Ich dringe aber darauf, dass solch ein Waffenstillstand von einem unparteiischen Brehon überwacht wird. Darüber hinaus verlange ich im Namen meiner Leute Schadenersatz für das verlorene Vieh, für die Toten im Kampfgetümmel …«

»Das soll alles geschehen«, schnitt ihm Nechtan das Wort ab, beachtete ihn nicht weiter und lenkte seine Aufmerksamkeit auf den jungen Mann, der sich Wein nachgeschenkt hatte und inzwischen wieder auf seinem Platz war.

»Und nun zu dir, Cuill. Auch dir habe ich schweres Leid zugefügt, denn dein ganzer Clan weiß, dass ich deine Frau verführt und sie hierhergebracht habe, um gemeinsam mit mir unter einem Dach zu leben, und das vor aller Augen und zur Schande deiner Familie.«

Der hübsche junge Mann saß steif auf der anderen Seite von Daolgar. Er war bemüht, Fassung zu bewahren, doch sein Gesicht war rot, teils aus Beschämung, teils weil er dem Wein reichlich zusprach. Er genoss den Ruf eines vielversprechenden Talents in der angewandten Kunst und war bei Stammesfürsten, Bischöfen und Äbten gleichermaßen gefragt, um Kunstwerke von unvergänglicher Schönheit zu schaffen.

»Sie hat sich verführen lassen«, erwiderte er mürrisch. »Verwerflich an der Sache war, dass man die Sache vor mir geheim gehalten hat. Als sie ging und auch die Kinder im Stich ließ, um bei dir zu wohnen, war für mich der Schlussstrich gezogen. Schlimm, wenn einer so vernarrt ist.«

»Vernarrtheit nennst du das, nicht Liebe?«, herrschte ihn Nechtan an. »Weshalb gestehst du dir nicht ein, dass sie mich liebt?«

»Sie hat sich von einer dummen Leidenschaft hinreißen lassen und jedes vernünftige Urteilsvermögen verloren. Nein, Liebe kann ich das nicht nennen. Für mich ist und bleibt es Vernarrtheit.«

»Du liebst sie immer noch, obwohl sie längst mit mir lebt.« Nechtan grinste spöttisch. »Keine Sorge. Heute Nacht noch, und du hast sie wieder. Ich glaube, mein … Vernarrtsein … in sie hat ein Ende.«

Dass Cuill seinen Zorn nur mühsam beherrschte, schien ihm Spaß zu machen. Krampfhaft hielt sich der junge Mann an seinem Stuhl fest, die Knöchel an den Händen waren weiß. Doch schon war Nechtan der Sache überdrüssig und nahm sich den letzten seiner Gäste vor, den schlanken, dunkelhaarigen Krieger zu seiner Rechten.

»Zu guter Letzt du, Marbán.«

Marbán war der tánaiste, sein rechtmäßiger Nachfolger als Stammesfürst.

»Du hast mir kein Unrecht zugefügt«, stieß der verdrossen, aber entschieden hervor.

Bekümmert schaute ihn Nechtan an. »O doch. Du bist mein tánaiste, mein rechtmäßiger Thronnachfolger. Wenn ich nicht mehr bin, übernimmst du die Herrschaft an meiner statt.«

»Das ist noch lange hin«, entgegnete Marbán. »Und Unrecht ist nicht geschehen.«

»Ich weiß es besser. Vor zehn Jahren, als wir beide vor die Ratsversammlung traten, damit man entscheide, wer von uns Stammesfürst und wer tánaiste sein sollte, begünstigten die Mitglieder dich. Die Wahl wäre eindeutig zu deinen Gunsten ausgefallen. Ich kam noch vor dem Zusammentreten des Rates dahinter und habe nicht unerhebliche Bestechungsgelder gezahlt, damit man mich wählte. So wurde das Amt mir zugesprochen, und fälschlicherweise rücktest du auf den zweiten Platz. Zehn Jahre lang hast du an meiner Seite gedient, obwohl in Wahrheit du hättest herrschen müssen.«

Marbán wurde blass, ließ aber keinerlei Überraschung erkennen. Offensichtlich hatte er seit langem mit dem Wissen um Nechtans Betrug gelebt. Nur schwer konnte er seinen Zorn verbergen, hatte sich aber in Gewalt.

Fidelma fand, das Maß war voll. Sie fühlte sich verpflichtet einzuschreiten und unterbrach das betretene Schweigen mit einem Räuspern. Alle Blicke wandten sich ihr zu, und sie begann in ruhigem, aber bestimmtem Ton: »Du hast uns zu dir gebeten, Nechtan, Fürst der Múscraige, damit wir dir die Kränkungen, die du einem jeden von uns zugefügt hast, verzeihen. Allerdings kannst du nur bei einigen der von dir begangenen verwerflichen Taten auf das bauen, was uns Christus gelehrt hat, und mit Vergebung rechnen. Als dálaigh, als Anwältin bei den Gerichten unseres Landes, muss ich dich darauf aufmerksam machen, dass nicht all deine Missetaten, die du hier eingestanden hast, so einfach verjährt sind. Du hast zugegeben, dass deine Wahl zum Anführer der Múscraige auf unrechtem Weg erfolgt ist. Du hast uns weiterhin eröffnet, dass du dich in dieser Rolle zu Handlungen hast hinreißen lassen, die keineswegs dem Gedeihen deines Volkes dienlich waren, wie zum Beispiel Raub von Viehherden, die auf den Weiden der Sliabh Luachra grasten. Das allein ist eine Straftat, deretwegen du vor den Stammesrat und die Räte meines Bruders Colgú, König von Cashel, gehörst, die über dein weiteres Verbleiben als Stammesfürst befinden müssten …«

Nechtan hob die Hand und gebot ihrem Redefluss Einhalt.

»Rechtsprechung hat dir immer am Herzen gelegen, Fidelma. Auch tust du gut daran, mich auf die rechtliche Seite meines Handelns zu verweisen. Ich beuge mich deinem Wissen. Aber bevor du die ganzen Verästelungen bis ins Letzte darlegst, möchte ich noch einmal betonen, dass es mir hauptsächlich darum ging, meine Missetaten zu bekennen. Komme, was da wolle, ich hatte das Bedürfnis, die Dinge einzugestehen. Und so erhebe ich meinen Becher und trinke auf euer aller Wohl, auf jeden Einzelnen von euch, denn ich stehe bei euch allen in der Schuld. Danach mögen Recht und Gesetz ihren Lauf nehmen; dem, was dann befunden wird, werde ich mich widerspruchslos fügen.« Er ergriff seinen Becher und nickte allen zu. »Auf euer Wohl. Einen Schluck in aller Reue. Viel Spaß, wenn ihr über mich richtet.«

Niemand sagte etwas. Schwester Fidelma zog nur zynisch eine Augenbraue in die Höhe. Es war ein armseliges Schauspiel, dem sie beiwohnten.

Der Stammesfürst schlürfte und schluckte laut. Im nächsten Moment fiel ihm der Becher aus der Hand, die blassen Augen wurden groß und starr, mit offenem Mund rang er keuchend nach Luft, und mit einer Hand griff er sich an die Kehle. Ein heftiges Zucken ging durch den Körper, er kippte nach hinten über, warf dabei den Stuhl um und stürzte zu Boden.

Das Festmahl endete in Totenstille.

Gerróc, der Leibarzt des Stammesfürsten, zeigte als Erster Geistesgegenwart. Er kniete bei Nechtan nieder, doch um dessen Tod festzustellen, bedurfte es nicht eines Arztes. Die verzerrten Gesichtszüge, der leblose Blick, die verrenkten Glieder sprachen für sich.

Daolgar, der neben Fidelma saß, seufzte erleichtert auf. »Gott übt eben doch Gerechtigkeit«, bemerkte er ungerührt. »Wenn es jemanden gab, bei dessen Übergang in die Anderswelt man nachhelfen musste, dann war es dieser Mann.« Er warf Fidelma einen raschen Blick zu und zuckte die Achseln, als er ihr tadelndes Gesicht sah. »Du musst schon entschuldigen, wenn ich aus meinem Herzen keine Mördergrube mache, Schwester. Mit der Lehre, Vergebung zu üben, habe ich meine Schwierigkeiten. Ich finde, es hängt von der Art der Sünden und von dem Verursacher ab.«

Er hatte mit seiner Bemerkung Fidelma kurz abgelenkt, doch jetzt sah sie, dass der junge Dathó erregt mit seiner Mutter Ess flüsterte, die den Kopf schüttelte. Ihre Hand umschloss irgendeinen kleinen Gegenstand in der Tasche.

Der Arzt hatte sich wieder erhoben und sah argwöhnisch zu Daolgar hinüber. »Was wolltest du mit dem Nachhelfen in die Anderswelt sagen, Daolgar?«, forschte er und war bemüht, seine innere Erregung zu unterdrücken.

Daolgar winkte gleichgültig ab. »Es war nur so eine Redewendung, Doktor. Gott hat Nechtan auf seine Weise gestraft. Herzversagen oder so was. Das reichte zum Nachhelfen. Ob Nechtan ein solches Los verdiente oder nicht, bleibt dahingestellt – aber keinen an diesem Tisch wird es empören. Er hat uns allen Leid zugefügt.«

Gerróc wiegte bedächtig den Kopf. »Nicht Gott hat es gefallen, ihn zu strafen«, erwiderte er langsam. »Niemand von euch sollte den Wein anrühren.«

Aller Blicke waren verständnislos auf den Arzt gerichtet.

»Der Becher war vergiftet«, antwortete er auf ihre unausgesprochene Frage. »Nechtan wurde ermordet.«

Fidelma stand auf und ging zu dem Toten. Die geöffneten Lippen hatten eine blaue Färbung angenommen, dahinter schimmerten Gaumen und Zähne weiß. Ein Blick auf die schmerzverzerrten Züge des einst pausbäckigen Gesichts genügte ihr, um zu erkennen, dass der kurze Todeskampf auf Fremdeinwirkung zurückzuführen war. Sie nahm den auf der Erde liegenden Becher zur Hand. Auf seinem Grund war noch eine Spur Wein. Sie stippte mit dem Finger hinein und schnüffelte argwöhnisch an ihm. Sie empfand einen bitter-süßlichen Geruch, konnte ihn aber nicht einordnen und sah den Arzt fragend an.

»Gift, sagst du?« Die Frage erübrigte sich. Er nickte.

Sie richtete sich auf und schaute in die bestürzte Tischrunde. Ausnahmslos wirkte die Gästeschar verstört, aber Trauer oder Empörung über den Tod des Stammesfürsten war in keinem der Gesichter zu lesen. Niemand hatte es auf dem Platz gehalten, alle standen ratlos umher.

Wieder ergriff Fidelma das Wort: »Wie es mir als Anwältin zukommt, übernehme ich es, unsere Zusammenkunft zu leiten. Ein Verbrechen ist begangen worden. Jeder in diesem Raum hätte ein Motiv gehabt, Nechtan zu töten.«

»Das betrifft auch dich«, erklärte Dathó. »Ich verwahre mich dagegen, von jemandem befragt zu werden, der selbst der Täter sein könnte. Woher wollen wir wissen, dass nicht du das Gift in den Becher getan hast?«

Überrascht und mit hochgezogenen Augenbrauen, nahm Fidelma die Anschuldigung des jungen Mannes zur Kenntnis, konnte sich aber nach kurzer Überlegung der Logik seines Arguments nicht entziehen.

»Du hast mit deiner Bemerkung recht, Dathó. Auch ich hätte ein Motiv gehabt. Und solange wir nicht herausgefunden haben, wie das Gift in den Becher kam, kann ich nicht beweisen, dass ich es nicht war. Das gilt für jeden von uns hier. Wir haben über eine Stunde gemeinsam an diesem Tisch gesessen, konnten einander gut sehen, haben den gleichen Wein getrunken. Es dürfte uns also gelingen, festzustellen, wie Nechtan vergiftet wurde.«

Marbán nickte zustimmend. »Der Meinung bin ich auch. Wir sollten auf Fidelma hören. Stammesfürst der Múscraige bin ich jetzt, und als solcher sage ich, wir sollten Fidelma beauftragen, die Sache zu klären.«

»Stammesfürst bist du nur, wenn erwiesen ist, dass nicht du es warst, der Nechtan getötet hat«, warf Daolgar lässig hin. »Schließlich hast du unmittelbar neben ihm gesessen. Du hattest nicht nur ein Motiv, sondern auch die Gelegenheit.«

»Bis der Rat es nicht anders entscheidet, bin ich Stammesfürst«, wies ihn Marbán ärgerlich zurecht. »Und ich sage weiterhin, dass Schwester Fidelma, solange der Rat es nicht anders verfügt, in meinem Auftrag handelt. Wir sollten jetzt alle unsere Plätze wieder einnehmen und Fidelma schalten und walten lassen.«

»Da mache ich nicht mit«, wehrte sich Dathó. »Angenommen, sie ist die Schuldige, dann ist es ein Leichtes für sie, einem von uns die Schuld zuzuschieben.«

»Weshalb überhaupt jemandem die Schuld zuweisen? Nechtan hat es doch verdient, zu sterben!« Der unduldsame Zwischenruf kam von Ess, der früheren Frau des toten Stammesfürsten. »Nechtan hat den Tod verdient«, wiederholte sie nachdrücklich. »Tausendmal und mehr hat er den Tod verdient. Niemand anders hier dürfte ihn fröhlicheren Herzens in die Anderswelt gesandt sehen als ich. Hätte ich die Tat begangen, würde ich es ohne weiteres eingestehen. Wer immer es war, dem Täter kann man schwerlich etwas zur Last legen. Er hat die Welt von einem Schädling befreit, von einem Untier, das vielen Leid und Qual bereitet hat. Alle, wie wir hier sitzen, sollten bezeugen, dass kein Verbrechen geschah – einfach eine gerechte Strafe. Wer die Tat begangen hat, soll sich erklären, und er erfährt unsere Unterstützung.«

Verhalten lauernde Blicke wanderten von einem zum anderen. Niemand schien Ess widersprechen zu wollen, aber ebenso schien niemand bereit, die Tat zuzugeben.

Fidelma erwog die Sachlage unter dem rechtlichen Aspekt. »Nach dem Gesetz müssten wir alle Beweise für die Schändlichkeiten, die Nechtan begangen hat, erbringen. Dann würde der Schuldige nur den Ehrenpreis für Nechtan an seine Familie zahlen müssen und ansonsten ungeschoren davonkommen. Es wäre eine Summe von vierzehn cumal …«

Sie hatte ihren Satz nicht zu Ende sprechen können, als sie Dathós bitteres Auflachen unterbrach.

»Und was, wenn einer von uns gar nicht über eine Herde von zweiundvierzig Milchkühen verfügt? Wird die Entschädigung nicht gezahlt, sieht das Gesetz andere Strafen für den Schuldigen vor.«

Marbán grinste von einem Ohr bis zum anderen und erklärte gönnerhaft: »Ich stelle gern den Ehrenpreis zur Verfügung, das ist mir die Sache wert.« Der sonst so wortkarge Krieger erwies sich plötzlich als äußerst entschlussfreudig.

Jetzt beugte sich Cuill, der junge Künstler, vor, der bisher geschwiegen hatte. »Wer also die Tat begangen hat, sollte sich jetzt bekennen, und wir alle werden ihn entlasten. Ich bin der gleichen Meinung wie Ess – Nechtan war ein Schandkerl und hat den Tod verdient.«

Erneut wanderten stumm die Blicke von einem zum anderen, und ein jeder wartete, dass einer von ihnen sich zur Tat bekannte.

»Also, wie steht’s?«, fragte Daolgar nach einer Weile ungeduldig. »Nun los, der Schuldige soll sich endlich zu erkennen geben, damit wir die Sache hier hinter uns bringen und den Unheilsort verlassen können.«

Keiner sagte etwas. Wieder war es Fidelma, die dem Schweigen ein Ende bereitete.

»Wenn niemand die Tat zugeben will …«

»Es wäre für uns alle besser, wenn es schnell geschähe«, fiel ihr Marbán ins Wort. »Egal, wer es war, mein Angebot steht. Ich bin bereit, die Entschädigung in voller Höhe zu tragen.«

Fidelma beobachtete Ess, die mit zusammengekniffenen Lippen dasaß und mit der Hand nach einer Ausbuchtung an ihrem Oberschenkel tastete. Die schlanken Finger umspannten einen merkwürdig geformten Gegenstand in ihrer Tasche. Ess war im Begriff, etwas zu sagen, aber Dathó, ihr Sohn, kam ihr zuvor.

»Also gut«, begann er schroff, »ich will die Tat gestehen. Ich habe Nechtan, meinen Vater getötet. Ich hatte mehr Grund als ihr alle, ihn zu hassen.«

Laut aufstöhnend hielt Ess den Atem an und blickte völlig überrascht zu ihrem Sohn. Die anderen am Tisch lehnten sich entspannt zurück und schienen erleichtert ob des Bekenntnisses. Fidelma hingegen schaute dem jungen Mann ernst ins Gesicht.

»Wie hast du ihm das Gift in den Becher getan?«, fragte sie.

Er runzelte verwirrt die Stirn.

»Das spielt doch keine Rolle. Ich gestehe die Tat, das reicht.«

»Ein Geständnis bedarf des Beweises«, beharrte Fidelma. »Schildere uns, wie du es gemacht hast.«

Gleichgültig zuckte er mit den Schultern.

»Ich habe das Gift eben in seinen Weinbecher getan.«

»Welche Art von Gift?«

Er blinzelte, zögerte einen Augenblick.

»Nun sprich schon«, forderte ihn Fidelma ärgerlich auf.

»Was tut das zur Sache? Schierling war’s.«

Fidelmas Augen richteten sich auf Ess. Die hatte während seines Geständnisses bleich und verkrampft ihren Sohn angestarrt.

»Ist in dem Fläschchen da Schierling, das du in deiner Hüfttasche trägst, Ess?«

Die Frage kam unerwartet. Impulsiv griff Ess zur Tasche und ergab sich in ihr Schicksal.

»Warum sollte ich es leugnen? Woher hast du gewusst, dass ich ein Gefäß mit Schierling bei mir trage?«

»Halte ein!«, rief Dathó. »Das verhält sich anders. Nachdem ich die Tat begangen hatte, habe ich sie gebeten, das Fläschchen zu verstecken. Es hat nichts mit ihr zu tun …«

Mit einer Handbewegung brachte Fidelma ihn zum Schweigen.

»Lass es mich sehen.«

Ess zog ein kleines Glasfläschchen aus ihrer Tasche und legte es auf den Tisch. Fidelma nahm es, entfernte den Stöpsel und schnupperte vorsichtig daran.

»Es ist Schierling, ja. Aber dem Fläschchen wurde nichts entnommen.«

»Meine Mutter hat es nicht getan!«, ereiferte sich Dathó. »Ich war es! Ich gebe es zu! Die Schuld trifft mich!«

Betrübt sah ihn Fidelma an und schüttelte den Kopf.

»Setz dich, Dathó. Weil deine Mutter ein Fläschchen Schierling bei sich hatte und du glaubst, sie hat deinen Vater getötet, möchtest du die Schuld auf dich nehmen. Stimmt’s?«

Aus Dathós Gesicht war die Farbe gewichen; kraftlos sank er auf seinen Stuhl.

»Deine Treue zu ihr ehrt dich. Aber ich glaube nicht, dass deine Mutter die Mörderin war. Zudem ist das Gläschen ja auch noch ganz voll.«

Hilflos starrte Ess sie an, und Fidelma versuchte, sie mit einem verschmitzten Lächeln aufzurichten.

»Ich kann mir gut vorstellen, dass du heute Abend mit dem Vorsatz hier erschienen bist, deinen früheren Mann aus Rache zu vergiften. Dathó hatte mitbekommen, dass du das Fläschchen bei dir hattest, welches du, nachdem Nechtan tot war, zu verbergen suchtest. Ich habe gesehen, wie ihr beide deswegen tuscheltet. Dabei hattest du gar keine Gelegenheit gehabt, Schierling in Nechtans Becher zu tun. Außerdem wurde Nechtan nicht mit Schierling vergiftet.« Überraschend für alle drehte sie sich zum Arzt. »Ich habe doch recht, Gerróc, oder?«

Der Alte schreckte auf, schaute sie an und bestätigte: »Schierling, auch bei einer starken Dosis, wirkt nicht sofort. Das Gift hier war weit stärker als Schierling.« Er wies auf den Becher. »Du hast gewiss die kleinen Kristalle auf dem Boden bemerkt, Schwester. Es ist Realgar, das sogenannte Höhlenpulver. Künstler benutzen es für ihre Arbeiten als Farbstoff, aber wenn man es einnimmt, reagiert es wie ein schnell wirkendes Gift.«

Fidelma nickte befriedigt, man mochte meinen, er bestätigte lediglich, was sie schon wusste. Sie blickte in die gespannten Gesichter, ihr Hauptaugenmerk aber galt Cuill, dem jungen Künstler. Der war kreidebleich geworden und in sich zusammengesunken.

»Ich habe ihn gehasst«, stammelte er, »aber ich würde nie jemand umbringen. Ich halte es mit den Ehrbegriffen unserer Vorfahren, das Leben ist heilig, egal wie böse es sich darstellt.«

»Aber dieses Gift benutzen Künstler, wie du einer bist, für ihre Arbeit«, unterstrich Marbán. »Wer außer dir und Gerróc wusste das? Weshalb gibst du es nicht zu, wenn du ihn getötet hast? Haben wir nicht beteuert, dass wir für die begangene Tat gegenseitig einstehen? Ich habe doch deutlich gesagt, dass ich für den Täter die Zahlung des Ehrenpreises übernehme.«

»Bei welcher Gelegenheit hätte ich das Gift in Nechtans Becher tun können?«, setzte sich Cuill zur Wehr. »So gesehen, hättest auch du es getan haben können.«

Fidelma schritt ein; fortgesetzte gegenseitige Schuldzuweisungen brachten sie nicht weiter.

»Cuill hat die entscheidende Frage berührt«, sagte sie ruhig, aber doch mit Autorität, dass wieder Ruhe herrschte. »Am besten, ihr setzt euch.«

Langsam, wenn auch widerwillig, folgten sie ihrem Geheiß. Fidelma blieb da stehen, wo Nechtan gesessen hatte.

»Lasst uns noch einmal die Tatsachen durchgehen«, begann sie. »Das Gift war im Weinbecher. Daraus könnte man schlussfolgern, dass es im Wein war. Der Wein war in dem Krug dort.« Sie zeigte auf den Beistelltisch, auf dem der Bedienstete den Weinkrug abgestellt hatte. »Marbán, ruf doch bitte den Diener herein, denn schließlich hatte er Nechtans Becher gefüllt.«

Marbán rief ihn. Es war ein junger, dunkelhaariger, verunsichert wirkender Mann namens Ciar. Als er begriff, was geschehen war, war er vollends verwirrt und kaum mehr ansprechbar.

»Du hast heute Abend den Wein ausgeschenkt, stimmt’s?«, fragte Fidelma.

Ciar nickte. »Ihr habt es doch alle gesehen.«

»Woher stammte der Wein? War es ein besonderer Wein?«

»Nein. Er wurde vor einer Woche von einem Kaufmann aus Gallien erworben.«

»Hat Nechtan von dem gleichen Wein getrunken, der seinen Gästen serviert wurde?«

»Ja. Alle haben den gleichen Wein getrunken.«

»Auch aus dem gleichen Krug?«

»Ja. Allen wurde Wein aus ein und demselben Krug eingeschenkt. Als Letztem schenkte ich Nechtan aus dem Krug nach, und als ich seinen Becher gefüllt hatte, merkte ich, dass der Krug fast leer war. Ich fragte Nechtan, ob ich ihn auffüllen sollte, aber er schickte mich weg.«

»Das stimmt, Fidelma«, ließ sich Marbán vernehmen, »wir alle haben zugeschaut.«

»Nechtan war aber nicht der Letzte, der Wein aus dem Krug getrunken hat«, erwiderte Fidelma, »das war Cuill.«

Daolgar entfuhr ein kurzer Aufschrei, mit einem Redeschwall fiel er über Cuill her.

»Fidelma hat recht. Ciar hat Nechtans Becher nachgefüllt und den Raum verlassen. Und während Nechtan mit Dathó sprach, bist du aufgestanden, um Nechtan herumgegangen und hast dir aus dem Krug nachgeschenkt. Unser aller Aufmerksamkeit war bei dem, was Nechtan zu sagen hatte. Niemand wäre es aufgefallen, wenn du die Giftkristalle in Nechtans Becher hättest gleiten lassen. Du hattest nicht nur ein Tatmotiv, sondern auch Mittel und Möglichkeit.«

»Das ist eine Lüge!«, rief Cuill erregt.

Doch Marbán ergänzte eifrig Daolgars Worte.

»Wir haben gehört, dass das Gift von Künstlern auch als Farbstoff benutzt wird. Ist Cuill ein Künstler oder nicht? Außerdem hasste er Nechtan, weil der ihm seine Frau abspenstig gemacht hatte. Das erklärt doch alles.«

»Die Beweisführung ist nicht ganz stichhaltig«, griff Fidelma ein.

»Nämlich?«, wollte Dathó wissen.

»Als Nechtan seine merkwürdige Rede hielt, in der er um Entschuldigung bat, habe ich ihn sehr genau beobachtet. Dabei habe ich durchaus mitbekommen, dass Cuill hinter ihm vorbeiging, ohne sich im Geringsten an Nechtans Becher zu schaffen zu machen. Er hat sich lediglich den restlichen Wein aus dem Krug eingegossen, den er dann auch trank, und hat damit ganz nebenbei den Beweis erbracht, dass sich das Gift in Nechtans Becher und nicht im Wein befand.«

Misstrauisch sah Marbán sie an; er schien nicht überzeugt.

»Reich mir den Krug und einen neuen Becher«, verlangte sie.

Es geschah. Sie goss sich den Bodensatz aus dem Krug in den Becher, betrachtete ihn prüfend, stippte den Finger hinein und leckte ihn vorsichtig ab. Selbstgefällig lächelte sie in die Runde.

»Ich habe es ja gesagt, der Wein ist nicht vergiftet«, wiederholte sie. »Das Gift war in dem Becher.«

»Wie aber ist es da hineingekommen?«, rätselte Gerróc.

Fidelma wandte sich dem Bediensteten zu. »Ich glaube, wir brauchen dich nicht weiter, Ciar. Du kannst gehen, aber warte bitte draußen. Es könnte sein, dass wir dich später noch einmal rufen. Von dem, was du hier gesehen und gehört hast, bitte zu keinem ein Wort. Verstanden?«

»Ja, Schwester.« Er zögerte. »Aber wie soll ich mich gegenüber Brehon Olcán verhalten? Er ist vorhin gerade angekommen. Soll ich auch ihm nichts sagen?«

»Wer ist dieser Richter?«, fragte Fidelma stirnrunzelnd.

»Olcán ist ein Freund von Nechtan, ein hoher Richter in unserem Stamm«, erklärte ihr Marbán. »Sollten wir ihn nicht hinzuziehen? Schließlich hat er das Recht, die Angelegenheit hier mit zu beurteilen.«

»War er für heute Abend eingeladen?« Sie stellte die Frage mit zusammengekniffenen Augen.

»Erst, als das Mahl schon begonnen hatte«, lautete die Auskunft, und sie kam von Ciar. »Nechtan beauftragte mich, einen Boten zu Olcán zu schicken. Der sollte den Richter bitten, herzukommen.«

Fidelma überlegte rasch. »Er soll draußen warten. Über das, was hier geschehen ist, darf er nicht eher etwas erfahren, als bis ich es sage.«

Ciar ging, und sie widmete sich wieder den ausharrenden Gästen.

»Wir sind uns jetzt also darüber im Klaren, dass das Gift nicht im Wein, sondern im Becher war. Damit engt sich der Kreis der Täter ein.«

»Was willst du damit sagen?«, drängte Daolgar von Sliabh Luachra.

»Nicht mehr und nicht weniger, als dass das Gift in den Becher geraten sein muss, nachdem Nechtan den ersten Becher geleert und Ciar ihm nachgeschenkt hatte. Das Gift ist erst in den wieder aufgefüllten Becher gelangt.«

Daolgar lachte höhnisch los. »Dann habe ich die Lösung. Es gibt nur zwei aus dieser Runde, die das Gift in Nechtans Becher hätten tun können.«

»Dann nenne sie«, forderte Fidelma ihn auf.

»Entweder Marbán oder Gerróc. Sie haben links und rechts von Nechtan gesessen. Leichte Sache, Gift in einen Becher zu tun, der dicht vor einem steht, während wir anderen gebannt auf Nechtan blickten und lauschten, was er sagte.«

Marbán war rot vor Empörung geworden, aber der alte Arzt schien am meisten betroffen. »Ich kann beweisen, dass ich es nicht war«, erklärte er mit erstickter Stimme.

»Du kannst es beweisen?«, fragte Fidelma verwundert.

»Ja, ja. Du hast gesagt, wir alle hätten Gründe gehabt, ihn zu hassen, und das heißt, dass wir ihn alle lieber tot als lebendig gesehen hätten. Damit hätte auch jeder von uns ein Tatmotiv gehabt.«

»Richtig.«

»Ich als Einziger von euch allen habe gewusst, dass es sich erübrigte, Nechtan umzubringen.«

Fidelma brauchte eine Weile, ehe sie die nächste Frage stellte. »Inwiefern erübrigte es sich, Gerróc?«

»Weshalb sollte man einen Menschen töten, der so gut wie im Sterben lag?«

Lautstarkes Erstaunen ging durch den Raum. Erst, als es abebbte, konnte Fidelma nachhaken: »Der so gut wie im Sterben lag?«

»Ich war Nechtans Arzt. Es ist wahr, ich habe ihn gehasst. Er hat mich um meinen Lohn gebracht, aber als Arzt habe ich hier trotzdem mein Auskommen gehabt. Ich habe mich nicht beklagt. Meine Jahre sind gezählt. Ich war nicht gewillt, meine Sicherheit aufs Spiel zu setzen, indem ich meinen Stammesfürsten sträflicher Handlungen bezichtigte. Es ist einen Monat her, da packten Nechtan grässliche Kopfschmerzen. Ein- oder zweimal waren sie so arg, dass ich ihn ans Bett fesseln musste. Ich untersuchte ihn und entdeckte eine Schwellung am Hinterkopf. Es war ein bösartiges Gewächs, schon innerhalb einer Woche war es viel größer geworden. Wenn ihr mir nicht glaubt, könnt ihr euch selbst davon überzeugen. Die Geschwulst ist hinter dem linken Ohr, leicht zu erkennen.«

Fidelma beugte sich über den Stammesfürsten und besah sich widerwillig die Schwellung hinter dem Ohr.

»Die Schwellung ist unverkennbar«, bestätigte sie.

Marbán versuchte, den alten Arzt zu einer logischen Schlussfolgerung zu bewegen. »Worauf willst du hinaus, Gerróc?«

»Vor wenigen Tagen musste ich Nechtan eröffnen, dass er vermutlich den nächsten Neumond nicht mehr erleben würde. Sein Tod war unvermeidlich. Das Gewächs vergrößerte sich und verursachte ihm zunehmende Pein. Ich wusste, seine Tage waren gezählt. Warum also hätte ich ihn ermorden sollen? Gott hatte bereits befunden, wann und wie ihn der Tod ereilen würde.«

Nahezu bösartig frohlockte Daolgar: »Dann bleibst nur noch du, tánaiste der Múscraige. Dass dein Stammesfürst dem Tod nahe war, konntest du nicht wissen, und du hattest sowohl ein Tatmotiv als auch die Gelegenheit.«

Marbán war aufgesprungen; die Hand griff an den Gürtel, wo sonst sein Schwert hing. Aber er befand sich in einer Festhalle, und das Gesetz verlangte, bei einem Festmahl durften keine Waffen getragen werden.

»Für diese Anschuldigung wirst du dich rechtfertigen müssen, Stammesfürst der Sliabh Luachra!«, donnerte er.

Cuill hingegen unterstützte Daolgars Gedankengang.

»Du warst mit deinem neuen Reichtum als Stammesfürst etwas zu schnell zur Hand, den Ehrenpreis zu zahlen, wenn sich einer von uns als Täter stellt. Damit hättest du dir ein Problem vom Halse geschafft. Ohne Fehl und Tadel wärst du aus der Sache hervorgegangen. Man hätte dich als Stammesfürst bestätigt. Sollte man dich jedoch für schuldig befinden, Nechtan getötet zu haben, wirst du sofort jedweden Amtes enthoben. Kein Wunder, dass du so eilfertig mir die Schuld zuschieben wolltest.«

Mit finsterer Miene stand Marbán vor ihnen. In ihren Augen war er der zu Verurteilende. Erregtes Gemurmel breitete sich aus. Fidelma hatte ihre liebe Not, wieder Ruhe zu schaffen.

»Lassen wir den unnützen Streit. Marbán hat Nechtan nicht getötet.«

Überraschtes Schweigen.

»Wer war es dann?«, fragte Dathó verärgert. »Du treibst mit uns ein Katz-und-Maus-Spiel, Schwester. Wenn dir schon alles klar ist, dann nenne uns den Täter.«

»Jeder an diesem Tisch weiß, dass Nechtan ein bösartiger, eigenwilliger Mensch war, der dem Leben nichts Gutes abgewinnen konnte. Ebenso wie wir unseren Grund hatten, ihn zu hassen, hasste auch er jeden, mit dem er es zu tun hatte.«

»Trotzdem, wer hat ihn umgebracht?«, wiederholte nun Daolgar die alle bedrängende Frage.

»Er hat selbst Hand an sich gelegt«, eröffnete sie ihnen.

Betroffen und ungläubig blickten sie alle an.

»Ich hatte schon etwas länger den Verdacht«, fuhr Fidelma fort, »aber ich konnte ihn nicht erhärten. Gerróc eben hat mir das Rätsel entschlüsselt.«

»Das musst du uns erklären, Schwester, ich kann dir nicht folgen«, verlangte Marbán mürrisch.

»Ich habe ja schon darauf verwiesen, dass so, wie wir Nechtan hassten, er auch uns hasste. Als er erfuhr, dass sein Tod nahte, entschloss er sich zu einem weiteren großen Racheakt an all denen, die er am wenigsten ausstehen konnte. Ein rasches Hinübergleiten in die Anderswelt war ihm lieber als das qualvolle Ende, das ihm Gerróc ausgemalt hatte. Wenn es eines tapferen Mannes bedarf, seinem Leben selbst ein Ende zu setzen, dann muss man ihm zugestehen, dass er diese Tapferkeit besaß. Er entschied sich für ein rasch wirkendes Gift, Realgar, und genoss die Schadenfreude, dass es eine Substanz war, die Cuill, der Mann seiner gegenwärtigen Geliebten, bei seiner Arbeit benutzte.

Dann verfiel er auf die Idee, uns alle zu einem letzten Gastmahl einzuladen. Er setzte auf unsere Neugierde und Eigenliebe und erklärte, er wolle sich vor allen dafür entschuldigen, dass er uns so übel mitgespielt habe. Er hatte alles sorgfältig durchdacht. Ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen, breitete er seine Schandtaten in allen Einzelheiten aus. Dabei ging es ihm weniger darum, um Verzeihung zu bitten, vielmehr wollte er absichern, dass jeder von jedem wusste, dass alle, wie wir da saßen, guten Grund hatten, ihn zu verabscheuen und lieber tot als lebendig zu sehen. Er bereitete den Nährboden für gegenseitiges Misstrauen. Er rühmte sich eher seiner Missetaten, als dass er sich bei uns dafür entschuldigte. Er rühmte sich und warnte zugleich.«

Ess stimmte ihr zu. »Ich empfand seine letzten Worte als merkwürdig, aber im Nachhinein ergeben sie einen Sinn.«

»Das sehe ich auch so«, meinte Fidelma.

»Wie waren die Worte noch mal?«, fragte Daolgar.

»Er sagte: ›Und so erhebe ich meinen Becher und trinke auf euer aller Wohl, auf jeden Einzelnen von euch, denn ich stehe bei euch allen in der Schuld. Danach mögen Recht und Gesetz ihren Lauf nehmen; dem, was dann befunden wird, werde ich mich widerspruchslos fügen. … Auf euer Wohl … Viel Spaß, wenn ihr über mich richtet.‹« Wortwörtlich hatte Fidelma Nechtans Worte wiedergegeben.

»Wie eine Entschuldigung klingt das nicht«, gab Marbán zu. »Aber was bezweckte er?«

»Jetzt ist es mir klar«, antwortete ihm Ess. »Siehst du immer noch nicht, wie bösartig dieser Mann war? Er wollte, dass jeder von uns in Verdacht geriet, ihn ermordet zu haben. Er spielte seine Niedertracht bis zuletzt gegen uns aus.«

»Aber wie er das zu erreichen gedachte, sehe ich immer noch nicht«, bekannte Gerróc, völlig verwirrt.

»Im Wissen um seinen Tod, der ihn in wenigen Tagen oder Wochen ereilen würde, bestimmte er selbst seine Lebensfrist«, erläuterte Fidelma geduldig. »Ess hat recht, er war ein bösartiger, niederträchtiger Mensch. Er lud uns zum Mahl und war entschlossen, sich an dessen Ende zu vergiften. Zu Beginn des Essens befahl er seinem Bediensteten Ciar, Brehon Olcán, seinen Richter, holen zu lassen. Er rechnete damit, dass Olcán uns im Aufruhr der Gemüter vorfinden würde, dass er Zeuge werden würde, wie wir uns gegenseitig die Schuld zuwiesen. Er hoffte weiterhin, Olcán würde daraus die falsche Schlussfolgerung ziehen und glauben, dass einer von uns, wenn nicht gar alle, in seine Ermordung verstrickt waren. Er beging Selbstmord, in der Hoffnung, wir würden des Mordes an ihm bezichtigt werden. Noch während er zu uns sprach, tat er unauffällig das Gift in seinen Becher.«

Fidelma hatte verbitterte Gesichter vor sich. Sie selbst lächelte mühsam. »Ich denke, wir können jetzt Brehon Olcán hereinbitten und ihm alles darlegen.«

Sie schritt zur Tür, blieb aber noch einmal stehen, wandte sich um und sagte abschließend: »Ich habe viele Verbrechen erlebt. Manche geschahen aus Bosheit, andere aus Verzweiflung. Aber solch eine Durchtriebenheit und Niedertracht, wie sie in Nechtan, dem einstigen Stammesfürsten der Múscraige, lauerten, sind mir bislang nicht vorgekommen.«

Am folgenden Morgen brach Fidelma nach Cashel auf. Wie immer war sie zu Pferde. Unterhalb des Burggeländes von Nechtan stieß sie an einer Kreuzung auf Gerróc, den alten Arzt.

»Wohin des Wegs, Gerróc?«, grüßte sie ihn freundlich.

»Zum Kloster von Imleach«, erwiderte der Alte ernst. »Ich will beichten und für den Rest meiner Tage dort Zuflucht suchen.«

Sie sann kurz nach und gab dann die etwas rätselhafte Antwort: »Ich würde bei der Beichte nicht alles preisgeben.«

Der Alte runzelte die Stirn. »Du weißt?«

»Ich kann ein Geschwür von einem Gewächs unterscheiden.«

Er seufzte leicht.

»Anfangs wollte ich Nechtan nur einen Schrecken einjagen. Er sollte sich ruhig ein paar Wochen quälen, ehe ich den Furunkel aufschnitt oder ehe er von allein aufbrach. Geschwüre hinter dem Ohr können äußerst schmerzhaft sein. Er glaubte mir, als ich vorgab, es wäre ein Gewächs und er hätte nicht mehr lange zu leben. Wozu er in seiner Boshaftigkeit fähig wäre, habe ich nicht geahnt, und schon gar nicht, dass er Selbstmord begehen würde, um uns alle ins Verderben zu stürzen.«

Sie schaute ihm in das verhärmte Gesicht. »Nun hat er selbst Blut an den Händen.«

»Aber gegen das Gesetz kann ich nicht an. Ich muss Beichte ablegen.«

»Es gibt Fälle, da der Gerechtigkeit der Vorrang gebührt«, meinte sie heiter. »Nechtan hat Gerechtigkeit erfahren. Vergiss das Gesetz, Gerróc. Gott sei mit dir, möge Er deinen Lebensabend in Frieden begleiten.«

Sie hob die Hand, als wollte sie ihm den Segen erteilen, wendete das Pferd und setzte ihren Weg fort.

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