X

Als Hans wieder auf seinem Bett im Dunkeln lag und Ina atmen hörte, die seine Abwesenheit wohl nicht bemerkt hatte, dachte er im Einschlafen noch an diese Runde dort unten im Hof, und sie wollte ihm als ein wahres Hexenkonzil vorkommen. Was brachte diese Leute, die sich doch gar nicht besonders grün waren, nur dazu, immerfort zusammenzusitzen und ohne Unterlaß miteinander beschäftigt zu sein? Ein bißchen Phantasielosigkeit schwang in dieser Frage schon mit. Er hätte sich ebenso fragen können, was Frau von Klein bewegte, Woche für Woche mit Leuten Bridge zu spielen, von denen sie eine Person ganz offen verachtete und zwei so langweilig fand, daß es bereits zum Ärgerlichwerden reichte. Im Hinterhof wurde die Zusammengewürfeltheit des Publikums vielleicht besonders schroff sichtbar, aber war nicht ein großer Teil aller geselligen Zusammenkünfte ganz ähnlich organisiert? Was sich da in Clubs traf, was in den Ausländerkolonien der großen Städte aufeinanderhockte, was in den Theaterkantinen und Kaffeehäusern und an würdigen Kleinstadtstammtischen zusammensaß, das fand sich doch gleichfalls nur mühsam miteinander ab — nur in toto wollte man sich ertragen, einen Einzelnen aus diesem Kreis hätte man ungern bei sich gesehen. Wie der Wald mehr ist als die Summe der Bäume, so ist die Gesellschaft auch mehr als die Menschen, die an ihr teilnehmen. Ist sie groß genug, wird sie sogar zum lebenden Wesen mit Seele, die von jener der einzelnen Teilnehmer unabhängig ist; besonders schön erlebt man das bei Konzertpublikum, das im Augenblick des begeisterten Applauses unversehens zusammenschmilzt, während schon kurz danach beim Auseinandergehen der Einzelne gar nicht mehr wahrhaben mag, daß er da eben noch so begeistert gewesen sein soll. Zur Bildung einer solchen Kollektivseele war das Hinterhofkonzil freilich zu klein. Hans erlebte es als feste unerschütterliche Institution, aber das war es nicht. Es war durch die Hitze entstanden und durch das Bedürfnis, nachts noch etwas kühlere Luft zu atmen, und in dieser Gegend gab es keine Gartenlokale, und was da dennoch Stühle herausstellte, schloß um Mitternacht, wenn die Sommernacht noch lange nicht zu Ende war. So plauderte ihn denn das Häuflein dort unten, indem seine einzelnen Mitglieder ihm noch wie groteske Maskenköpfe vor Augen standen, immer weiter hinein in den tiefen Schlaf.

Und je fester er schlief, desto lauter wurde geschwatzt und geschnattert, der Traum gab den Sprechern etwas Entenhaftes. Zunächst war von den Wittekinds die Rede, die sonst auffällig ausgespart wurden. Zwischen den Wittekinds und Souad bestand eine Respektzone. Die Wittekinds taten, als nähmen sie ihn gar nicht richtig wahr — so wie Frau von Klein es unfehlbar gehalten hätte —, aber das rächte sich jetzt. Souad sprach von den Wittekinds mit höhnischem Vergnügen.

«Sie haben auf der Reise ihr Gepäck verloren und saßen tagelang ohne ihre Koffer da«, das rieb er allen Anwesenden regelrecht ein, als liege darin ein Charakterfehler, der sich durch diesen Verlust des Gepäcks nur nach außen hin bestätigte.

«Zufällig ist das nicht passiert«, sagte Frau Mahmouni in jener brennenden Kälte, die sie ihren Einwürfen mitzugeben verstand.

«Nein, das mußte passieren«, sagte Barbara, deren spitze Nase selbst bei diesen Temperaturen etwas grau Verfrorenes hatte.

Hans sah jetzt die Wittekinds durch südliche Straßen gehen, durch staubige Neubauviertel mit zerstörtem Asphalt. Sie waren so frisch und ästhetisch gewandet wie bisher stets, das Frischgewaschene, Frischgebügelte, Frischgestärkte ging von ihnen aus, der heiße Wind blies in Brittas lockiges, schimmerndes Haar, aber während sie voranschritten, in trauriger Langsamkeit, als sei der Verlust des Gepäcks mit einer Ausstoßung aus der menschlichen Gesellschaft verbunden, begannen sie dahinzuwelken. Es war ein Prozeß des Unfrisch-und-schmierig-Werdens, der sonst wohl Tage gedauert hätte, sich jetzt aber während dieser Promenade mit jedem Schritt beschleunigte. Brittas Haar sank zusammen. Beide schwitzten. Brittas Schminke floß davon, ihre Augen waren von zerlaufenen schwarzen Flecken umgeben. Zugleich bildeten sich unter den Armen des Sommerkleides Schweißränder. Wittekinds Anzug war ganz durchweicht, beider Schuhe trugen eine dicke, sandfarbene Staubdecke. Sie wurden älter, während sie da voranzogen, sie hatten klebrige Hände und schwarze Fingernägel. Britta war kaum wiederzuerkennen, oder glich vielmehr ihrem Aussehen auf einem Photo, das sie Hans gezeigt hatte und auf dem der Maskenbildner sie als syphilitische Hure zurechtgeschminkt hatte, für Beckett oder Gorki oder Genet.

War denn die ganze Schönheit der Menschen in ihren Koffern? Was machten denn die Völker Asiens und Afrikas, die über all diese Flaschen und Crèmes und über frischgestärkte Wäsche nicht verfügten und dennoch wunderschön aussahen? Das war das Geheimnis der Zivilisation. Der Mensch hatte offenbar allein die Wahl, sich entweder niemals zu waschen oder, wenn er diese Regel auch nur einmal durchbrach, sich von da ab immer und täglich zu waschen.

Es wurde nun deutlich, wie sehr Wittekinds unter ihrem Zustand litten, wie sehr Wittekind sich schämte, unrasiert und mit schmutzigem Hemdkragen und fleckigem Schlips herumzulaufen. Und zugleich begannen sie, einander voll Abscheu zu mustern. Hans war sich in seiner nächtlichen Vision darüber klar, daß bei Träumen der Geruchssinn unbeteiligt blieb. Da kam in der Realität eben noch etwas hinzu. Er sah, daß die beiden in ihrer Not den andern von sich wegwünschten, als sei der Eindruck eines einzigen heruntergekommenen Menschen leichter erträglich als der eines Paares, und so verhält es sich ohne Zweifel auch, die Traumgestalten waren vernünftig. War es vorstellbar, daß sie nach Wiedererlangung der Koffer, nach kühlen Bädern in einem modernen Flughafenhotel, nach Rasur und Besuch beim Friseur dieses Erlebnis, sich gegenseitig abstoßend geworden zu sein, vollständig wieder vergaßen? Oder blieb da etwas zurück, weil dieser Eindruck so schlimm gewesen war, daß er eigentlich niemals hätte entstehen dürfen? Hans dachte an das Paar, wie es sich bisher präsentiert hatte. Waren da schon Anzeichen einer Bruchstelle sichtbar geworden?

«Natürlich«, sagte Ina laut und hart, verschwand aber sofort wieder aus dem Bild.»Es ist die Frage«, sagte Wittekind, jetzt wieder in vertrauter Weise gepflegt und nicht mehr rot- und hohläugig, damit auch verjüngt, der zu der Hinterhofgesellschaft hinzugetreten war, als habe ihn das intensive Sprechen über ihn schließlich herbeirufen müssen,»ist der Mensch einer luftdicht verschlossenen Flasche vergleichbar, bis zum Rand mit seiner Eigensubstanz ausgefüllt, alles immer nur aus sich selbst entwickelnd, jedes Gefühl, jede Emotion, Liebe, Haß und Furcht immer ausschließlich aus der eigenen Substanz bestreitend — oder ist er vielmehr eine leere Flasche, und zwar eine offene, die nichts enthält, was nicht von außen hineingegossen wird: als Erfüllung, als Anfüllung, als Eingebung, als Erleuchtung gar, wenn der Blitz in die Flasche fährt — was glauben Sie? Es gibt diese beiden Schulen: der Mensch ist nichts als er selbst, das ist die eine, die andere: der Mensch ist nur Sammelbecken für alles, was in ihn hineinfließt.«

«Er ist nur Sammelbecken und leere Flasche«, sagte Frau Mahmouni mit Bestimmtheit,»ich kann das beurteilen, denn ich muß nur mich selbst betrachten. Ich habe und hatte niemals an Sex ein Interesse — ich war und bin in dieser Hinsicht ein leeres Gefäß, aber ich bin kein abnormer Mensch, ich bin normal, bin vollkommen gesund und bei Verstand, und das zeigt, daß die Neigung zur physischen Liebe von außen nicht in mich hineingeflossen ist. Die Flasche war leer und blieb leer, hätte aber jederzeit angefüllt werden können. Das fand eben einfach nicht statt; da gibt es nichts zu bedauern, denn die leere Form ist auch in sich schön — man kann in Becken und Flaschen und dergleichen die widerwärtigste Brühe hineinfüllen. Das ist bei mir unterblieben.«

Alle stimmten ihr zu. Sie habe recht. Sei es nicht sogar so, daß beim Küssen die Seele des Küssenden von einem Mund zum andern springe — und das sei schließlich nur möglich, wenn im Innern des Menschen Platz sei, sonst trete durch eine weitere Seele unweigerlich eine innerliche Überfüllung ein.

Hans war, als sei es Souad, der da spreche, ohne daß er ihn sah. Er mußte ihm zustimmen: So war es tatsächlich zwischen Ina und ihm gewesen, da sprangen die Seelen beim Küssen zwischen ihnen hin und her und ließen sich auf den speichelnassen Lippen und der Zunge des anderen einen Augenblick nieder — deswegen, so fiel Hans jetzt ein, hatte diesen wilden Küssereien das Element der Lüsternheit gefehlt, es war kein wollüstiges Genießen dabei gewesen, sondern ein andächtiges, geradezu frommes Den-Anderen-Auffressen.

Das war freilich vorbei. Wann hatte er Ina zum letzten Mal geküßt? Im Schlaf jetzt stellte sich kein Bild davon her.»Der Mensch ist vollkommen hohl und besteht nur aus Hohlräumen«, sagte Barbara lehrhaft, nicht nur die Adern und der Darm und der Bauch und die Lungen seien hohl, sondern letztlich jede Zelle, auch die vermeintlich guten Fleischstücke bestünden nur aus Aneinanderreihungen winziger Hohlräume. Sie sagte das genauso piepsend-triumphierend, wie sie sonst irgendeinen Fund aus der Illustrierten vorlas. Hans erinnerte sich, daß sie diesen Artikel über die menschliche Hohlheit und die vielen Hohlräume tatsächlich einmal vorgelesen hatte, in amüsierter Empörung darüber, daß so gar nichts an ihrem Körper dran sein sollte — als sei es ihr Mann, der diesen Artikel eigens geschrieben habe, um sie zu ärgern.

Und jetzt trat noch ein anderes Bild vor die inneren Augen des Schläfers. Die Gesellschaft verpflanzte sich mit der Mühelosigkeit, wie sie in Träumen üblich ist, in die dunklen Uferanlagen des Mains und befand sich alsbald zwischen dem blinkenden nächtlichen Strom und einem Restaurantpavillon, der mit vielen roten chinesischen Laternen festlich beleuchtet war. Dies Restaurant, so verheißungsvoll und vielversprechend es dalag, war immer leer, so hatte Hans festgestellt, als er die Gegend erkundete, ein leerer, aufwendig beleuchteter kleiner Palast, zumindest in der Nacht sah das so aus, tags war das Gebäude recht hinfällig, da wurde klar, warum niemand dort sitzen wollte. Voller Laternen wurde der ganze Pavillon nachts selbst zur großen Laterne, die von der Gesellschaft ernsthaft betrachtet wurde.

«Das ist der Mensch«, sagte Frau Mahmouni und zeigte auf den menschenleeren Restaurantpavillon,»ein Haus, mit Besen gereinigt und mit Lampen erleuchtet und leer und in Erwartung. «Der Hall dieses Wortes verwandelte sich in eine bequeme Rutschbahn, auf der Hans endlich in tiefere Regionen des Schlafes glitt.

*

Für den nächsten Abend waren sie eingeladen. Der sportliche Kollege im Büro hatte eine Deutsche kennengelernt, die eine über Bett und Badewanne hinausgehende Wohnung ihr Eigen nannte, genau genommen ein großes Haus, und nun hatte sich sogar herausgestellt, daß von dieser Frau Linien zu Frau von Klein führten, über irgendwelche Bekanntschaften hinweg. Frau von Klein erklärte am Telephon diese Einladung für» sehr wichtig «und konferierte mit Ina, was da anzuziehen sei. Man erinnert sich, daß Hans und Ina einig gewesen waren, in Frankfurt kein solches Gesellschaftsleben beginnen zu wollen wie in Hamburg und daß sie sich gegenseitig versichert hatten, wie froh sie doch sein müßten, in Frankfurt niemanden zu kennen. Aber nun zeigte Ina in einem Ernst, der nicht von ihr weichen wollte, daß sie sich auf diese Einladung freute und daß die Kombination der Gastgeber ihr besonders bedeutsam vorkam. Der Sportsmann war mit Hans verbunden, seine Freundin hingegen mit Frau von Klein! Das ließ etwas zusammenfinden, was sonst auseinanderstrebte.

Das Fest sollte am Sonntagabend stattfinden. Hans konnte nach den nächtlichen Aventüren ausschlafen, und das gelang ihm auch. Er schlief in die wachsende Hitze hinein, die dem Schlaf am Tag auf einmal gar nicht hinderlich war. Als er erwachte, war Ina längst aufgestanden und saß angezogen und telephonierend an einem Frühstückstisch, den sie schon wieder abräumte, als ihre Mutter anrief.

Schade, dachte Hans, wußte aber noch nicht, worauf dies Bedauern sich bezog. Im Badezimmer wurde es ihm klar. Er hatte mit Ina im Bett liegen und in der morgendlichen Trödelei allmählich in Zärtlichkeiten hineingeraten wollen, um schließlich spielerisch, geradezu beiläufig, wie sich das bei ihnen entwickelt hatte, mit ihr zu schlafen. Das war eine Stimmung, eine Laune, eine Geneigtheit gewesen, aber jetzt, wo der Augenblick verpaßt war, wurde etwas anderes daraus. Die hinter der Nonchalance versteckte handfeste Lust regte sich, man möchte sagen, mürrisch. Ihr war der Kopf abgeschlagen, nun hockte ihr Rest stumpf und drängend in seinem Körper und schuf dort eine ungute Spannung. Die war sogar in den Händen spürbar, als wäre in die Blutgefäße etwas hineingegossen worden, das sie dick werden ließ. Schlechte Laune, die eigentlich die notwendige Folge dieser körperlichen Verstimmung gewesen wäre, wollte er sich nicht gestatten. Statt dessen faßte er beim Rasieren den ruhigen Entschluß, Ina auf jeden Fall noch vor dem Ausgehen ins Bett zu bekommen. Das war jetzt ein Programmpunkt geworden, so wie er gleichfalls vor dem Ausgehen noch seine Mails beantworten und einen Kleiderhaken im Badezimmer anbringen wollte, worum Ina ihn nun schon tagelang bat.

Nachdem er gefrühstückt hatte, wünschte Ina spazieren zu gehen, ein selten geäußerter Wunsch. Es war Hans einen Augenblick lang, als spüre sie, was sie in der Wohnung über kurz oder lang erwarte. Er hatte recht einsilbig bei seinem Kaffee gesessen. Gut, gingen sie also spazieren.

Auf der Straße empfing sie die nun schon vertraute Ofenhitze. Man werde noch bedauern, wenn es dann irgendwann doch einmal kühler würde, sagte Hans, und Ina stimmte ihm zu, in diesem Punkt war man sich also einmal einig. Sie waren nicht die einzigen, die bei diesem Wetter am Fluß promenieren wollten. Eine leichtbekleidete Menge schob sich die Kais entlang, auf den Rasenflächen lag man ausgezogen. Es war, als habe der von Wittekind geforderte innerstädtische Flußbadebetrieb schon begonnen. Vom Wasser kam keine Erfrischung. Über die Gasse, die der Fluß zwischen die Stadtteile legte, blies es warm. Der Fluß roch nicht schlecht, aber auch nicht gut, wie ein stehender Tümpel voller Mücken, man konnte sich den Geschmack eines Fisches aus diesem Wasser vorstellen. Auf dem Deck eines Hausbootes tranken sie Eiskaffee. Das war wieder ein Ritardando, wie Hans empfand. Es war schon halb fünf, wie die goldenen Zeiger der Dreikönigs-Kirchturmuhr gewissenhaft anzeigten. Hans und Ina betrugen sich wie Leute in einer fremden Stadt, die bis zu einer bestimmten Verabredung die Zeit totschlagen müssen. Die Spannung machte Hans stumm, so sehr er sich auch bemühte, nicht unfreundlich zu sein. Vielleicht wäre es seinem geheimen Wunsch angemessen gewesen, daß er sich um Ina besonders bemüht hätte, daß er versucht hätte, mit ihr zu lachen — was bisher eigentlich immer gelang — oder sie mit verlockenden Reiseplänen zu unterhalten oder ihr zu sagen, daß er sie schön finde, aber dies alles kam überhaupt nicht in Frage. Er fand, daß er nach dieser längeren Entbehrung als langjähriger Freund und neuer Ehemann Ina nun nicht eigens anzuwärmen und in Stimmung zu bringen habe. Er fand, daß sie angesichts ihrer bisherigen Gewohnheiten selber wissen müsse, wie ihm zumute war. Ein Ausdruck wie» eheliche Pflichten «wäre ihm nicht über die Lippen gekommen, aber das Paket von heimlichen Wünschen und Gedanken, das ihm auf der Brust lag und ihm das Sprechen unmöglich machte, hätte sich in dieser juristischen Formel durchaus wiedergefunden.

Zu Hause waren sie um kurz vor sechs, um sieben mußten sie aufbrechen. Zu einem Fest der Liebe war das nicht viel Zeit. Kaum waren sie in der Wohnung, begann Hans Ina stürmisch zu umarmen. Sie ließ das geschehen, ohne weiter darauf einzugehen. Sie verstand, was es geschlagen hatte, aber sie verwies, nicht unfreundlich, darauf, wie spät es sei und daß sie sich ungern in Eile fertigmache. Könnten sie nicht lieber ein bißchen früher aufbrechen dort? Es sei morgen Montag, da brauche man nicht lange bei den Leuten auszuharren. Aber er ließ sich von seinem Vorhaben nicht abbringen. Er fühlte, daß er nicht die Kraft besaß, die Liebe jetzt aufzuschieben, im unveränderten Zustand von heute Nachmittag auf dieses Fest zu gehen, dann doch spät zurückzukommen und müde zu sein. Nein, jetzt. Er drängte sie ins Schlafzimmer. Sie legte sich ohne weiteres Widerstreben aufs Bett und ließ sich von ihm ausziehen. Er stellte fest, daß seine Hände flogen. Er suchte das zu verbergen. Er lag neben ihr, streichelte sie, sie ließ es geschehen, aber rührte sich selber nicht. Sie wartete. Er küßte sie, sie ließ sich küssen, wich ihm nicht aus, aber sah ihn dabei kühl an.

«Viel Zeit haben wir nicht mehr. «Sie sah auf den Wecker, während er ihren nackten Körper streichelte.

«Ich habe ja gesagt, es muß nicht jetzt sein«, sagte sie, nun doch um einen liebevolleren Ton bemüht. Er war ihr sogar dankbar für die kleine Brücke, die sie ihm baute. Obwohl nichts von dem geschehen war, was er sich ersehnt hatte, waren sie zerrauft, ihre Gesichter gerötet, ihre Körper naß von Schweiß. Im Badezimmer vermieden sie sich anzusehen. Auf Ina wartete ein regelrechtes Arbeitsprogramm, das Haarewaschen, Trocknen mit dem laut sausenden Föhn, das Schminken, das Anziehen — sie war schnell und geübt, aber seine Zeit brauchte das doch. Er war sogar für das verhaßte Föhnsausen dankbar, denn es vertrieb die Stille, die der Ausdruck einer Peinlichkeit war, die alles erfüllte.

Obwohl sie einen Stadtplan besaßen, war es schwer, das Haus ihrer Gastgeber zu finden. Es lag in einem besonders häßlichen neueren Villenviertel am südlichen Rand der Stadt. Hier oben waren die Straßen ausgestorben. Wer hier wohnte, war jetzt in Sommerferien. Frau von Klein hätte in diesen Straßen eine sie beruhigende Fülle von Walmdachbungalows gefunden. Dichte Wäldchen aus Douglasfichten begrenzten die Grundstücke, durch niedrige schmiedeeiserne Gartentörchen, vorbei an mit glänzenden Messingposthörnchen geschmückten Briefkästen ging es auf asymmetrisch verlegten Steinplatten zu den Haustüren, an denen enorme Messingtürklopfer prangten. Schließlich hatten sie das Haus gefunden, Nummer zwölf lag in einer Sackgasse am Ende, für die hiesigen Verhältnisse ein begehrtes Grundstück.

Sie fanden sofort einen Parkplatz. Seltsam, dachte Hans, waren nicht Scharen von Leuten eingeladen? Es war still. Waren sie zu früh? Tatsächlich, etwas zu früh. Sie warteten schweigend fünf Minuten im Auto. Sie stiegen aus und klingelten. Nichts rührte sich. Die Rolläden waren heruntergelassen. Sie öffneten das Gartentörchen und gingen um das Haus herum in den Garten. Dort lag eine kahle Wiese, die großen Fenster waren mit Scherengittern verrammelt. Ina lauschte.

«Ich höre Stimmen. «Auch Hans legte sein Ohr auf die Scheibe. Tatsächlich, das waren Stimmen, dazu gedämpfte Musik.

«Das ist ein Fernseher«, sagte er nach einer Weile. Wasser plätscherte im Nachbargarten. Hans sah durch die Zweige der Douglasfichte einen älteren Mann im Unterhemd mit einem Wasserschlauch. Das Fest habe gestern abend stattgefunden, sagte der Mann, es sei schrecklich laut gewesen, am liebsten hätte er die Polizei geholt. Er war immer noch zornig.

«Wenn Ihnen niemand öffnet, ist das wohl ein Zeichen, daß niemand zu Hause ist«, sagte er mit zänkischer Logik.

Solche Dinge kommen vor und sind eigentlich der Rede nicht wert, aber an diesem Abend hätte dieser Fehlschlag dann doch nicht passieren dürfen. Ina hatte sich Mühe gegeben und sah so elegant aus, wie es zu ihrer Mädchenhaftigkeit eigentlich gar nicht paßte, sie wirkte älter. Die beiden hatten in ihrem Feststaat wirklich etwas von Kindern, die Besuchen spielen und sich verkleidet haben. Verrammelt und zugeschlossen stand das Haus vor dem allmählich grau werdenden Himmel. Als Ina verstanden hatte, daß das Fest seit vierundzwanzig Stunden vorbei und nichts daran zu ändern war, verlor sie die Fassung. Sie drehte Hans schroff den Rücken zu und ging langsam allein die Straße hinunter, um ihre Entgeisterung zu überwinden. Sie fühlte, daß sie ihn jetzt am liebsten angeschrien hätte. Was war das? Welch ein Zorn brach sich hier die Bahn? Ein Zorn, der stärker war als sie, das fühlte sie genau. Es gelang ihr sogar, sich in diesem Zustand zu beobachten.

«Das ist unangemessen«, hörte sie Frau von Klein sagen,»du übertreibst. «In ihrer Kindheit war das der strengstmögliche Tadel gewesen. Er fuhr ihr noch heute in die Glieder. Das Auto rollte an sie heran, Hans öffnete von innen ihre Tür, sie stieg ein. Schweigend fuhren sie zum Baseler Platz. Und nun mußte es auch noch geschehen, daß man den Wittekinds auf der Treppe begegnete. Ina hatte sich jedoch wieder in der Gewalt und garnierte Hans’ launigen Bericht vom Fest am falschen Tag mit einem verbindlichen Lächeln. Britta Lilien lud das Paar ein, auf diesen Schreck noch ein Glas zusammen zu trinken, aber Ina erklärte, im Grunde glücklich zu sein, daß der Abend ausfalle, sie habe sich ohnehin nicht gutgefühlt. Daß Hans die Einladung hingegen ohne weiteres annahm, war ihm nicht zu verdenken, denn an einer Fortsetzung der Zweisamkeit war ihm jetzt nicht gelegen.

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