XI

Hätte Hans die Einladung zu den Wittekinds auf ein letztes Glas angenommen, wenn klar gewesen wäre, wie dieser Abend sich entwickeln würde? Oder nahm er sie an, weil er längst ahnte, was hier in der Büchse der Zukunft für ihn verborgen war, und weil er darauf wartete, daß es herauskomme? Oder bewegte er sich auf einer Schiene und mußte einfach in die Richtung gleiten, die sie nahm, nachdem er sich einmal daraufgesetzt hatte?

Seidig glänzte Inas Haar in der funzeligen Treppenhausbeleuchtung, als sie die Stufen hinaufstieg, ohne sich umzudrehen. Sie war auch von hinten schön, vor allem waren dann die Kniekehlen sichtbar, die einen so frischen und zarten Einschnitt im kindlichen Fleisch bildeten, daß man bei ihrem bloßen Anblick glaubte, man könne ihren milchigen Duft riechen. Dann hörte Hans die Wohnungstür ins Schloß fallen.

Britta wollte keinen Wein, sie wollte sich etwas Stärkeres mit Eiswürfeln mischen und brachte eine große Flasche Gin aus dem Eisschrank herbei.

«Das ist ein Wundereisschrank«, sagte Wittekind,»wann immer man ihn öffnet, liegt dort eine große Flasche Gin. «Sie habe gegenwärtig ihre Gin-Phase, erklärte Britta, sie übertreibe das eine Weile, und dann sage Elmar, wenn es zu toll komme,»Schluß«, und bis jetzt habe sie sich daran auch gehalten. War es der quälende Tag? War es, daß die Last, die Ina während der letzten Stunden auf ihn gehäuft hatte, jetzt von Hans abfiel und die Erleichterung ihm die Stimmung in diesem Bücherzimmer mit den vielen Kerzen und diesen gelassenen, freundlich-spöttischen Menschen derart dankbar einatmen und genießen ließ? Es fiel ihm schwer zu entscheiden, wer von den beiden der amüsantere Mensch war. Elmar Wittekind ließ sich jedenfalls, wie es schien, zu seinem eigenen Vergnügen, vom Sockel seiner fünfzehnjährigen Überlegenheit auf das Niveau von Hans und Britta herab und brachte für seine Zuhörer unablässig» verrückte Bemerkungen «hervor — so nannte Hans sie bei sich, indem er unwillkürlich in die Sprache seiner Eltern verfiel, die alles, was sie nicht zu beurteilen wagten, als» verrückt «bezeichneten. Ihm fiel jetzt ein, daß Ina es unterlassen hatte, ihm die Schuld an dem verpatzten Abend zuzuweisen, obwohl sie das mit einem gewissen Recht hätte tun können: Er war es schließlich, der mit seinem ökonomischen Sportsfreund zuletzt gesprochen hatte, während Frau von Klein, die, wie man weiß, über das Fest in ihrer nordischen Ferne unterrichtet war, am Telephon mehrfach ausdrücklich auf den Samstagabend zurückkam, ohne daß Ina aufgehorcht hätte. Sie vertraute ihm eben. War es ein Zeichen ihres guten Charakters, bei solchen Unfällen nicht gleich einen Schuldigen auszurufen, der natürlich niemals man selber war, oder war dieser Verzicht auf eine Anklage womöglich Zeichen für Schlimmeres? Sollte das Schweigen gar heißen, daß sie dieses Versagen als Beweis dafür nahm, ihnen werde zusammen womöglich gar nichts mehr gelingen? Unheilvoll genug war dies Schweigen, und gerecht wurde es dem ärgerlichen Anlaß nicht. Hans sagte sich mit Blick auf Elmar Wittekind, daß sein sportlicher Kamerad aus dem Büro hier wohl keine gute Figur abgeben würde, wenn er auch mehr Muskeln als der Hausherr haben mochte. Es sprach plötzlich auch gegen ihn, daß er sich mit einer Frau aus der Sphäre der Frau von Klein verbandelt hatte. Bei ihm selbst war das etwas anderes. Als Schwiegersohn mochte man ihn gleichfalls Frau von Klein zurechnen, aber er hatte Ina aus dem Haus ihrer Mutter heraus geraubt und gerettet. Hatte er sie denn wirklich gerettet?

«Wir müssen in unseren überregulierten Biographien für jeden Einbruch in die geplanten Abläufe dankbar sein«, sagte Wittekind, der den Gin Britta und Hans überließ und Wein trank.»Erwartungsvoll zu einem Fest gehen und das Haus dann verlassen vorfinden — das gehört zu den letzten poetischen Geschenken, die das Leben uns macht. Das nenne ich ein Erlebnis. «Zu Britta habe er gesagt, als das Gepäck in Rom verlorengegangen war:»Es gibt keine Abenteuer mehr; es gibt nur noch den Fahrplan — aber der Fahrplan ist das Abenteuer. «Das Abenteuer habe dann vor allem darin bestanden, ihm einen Anzug zu kaufen, der ihm nicht paßte, der in der kurzen Zeit aber auch nicht passend gemacht werden konnte, sagte Britta, Elmar habe plötzlich viel kleiner und langarmiger ausgesehen.

«Das Groteske gehört zum Schaden immer dazu«, antwortete Wittekind ungerührt. So sah ein Lebenskünstler aus, dachte Hans, diesem Mann konnte auf Erden wohl nichts zustoßen. Sie hörten Musik. Wittekind und Britta hatten beide ihre Plattensammlungen mit italienischen Opern, von Berühmtheiten aus den dreißiger Jahren gesungen, Tangos aus Argentinien, deren Verse Wittekind ihm übersetzte, arabischer Musik und dem wilden Gefiedel rumänischer und irischer Zigeuner, und sie befragten ihn nach jedem Stück, als sei er ein Fachmann, und nahmen seine zaghaften, dann vom Gin befeuerten dreisten Kommentare überaus ernst und spannen sie weiter, so daß er bald gar nicht mehr verstand, was er soeben selber ausgesprochen hatte.

«Sie finden mich vermutlich ziemlich dumm und ungebildet«, glaubte er einmal sagen zu müssen, obwohl er eigentlich wußte, daß man sich solche Bemerkungen besser sparte: Entweder ist die wahrheitsgemäße Antwort darauf: Ja, oder es handelt sich um Koketterie auf der Ebene einer Barbara. Die durfte solche Formeln natürlich gebrauchen und tat es auch reichlich. Aber Elmar Wittekind kam ihm zuvor. Zum Glück sei er kein Intellektueller! Das hätten sie sich beide schon wiederholt gesagt, keiner dieser leblosen Schlauköpfe, sondern unblasiert, neugierig —»deshalb lieben wir Sie ja so«.

Ein wenig später verschwand auch das Sie. Mit Wein und Gin wurde auf das gemeinschaftliche Du getrunken. Wie erfrischend und befreiend war dieser Abend. Daß es hier im eigenen Haus nur einen Stock unter der eigenen Wohnung soviel anregender war, als es auf dem Fest des Sportsmannes hätte sein können, war ein unverhofftes Geschenk. Die Wolken, die sich über Hans zusammengezogen hatten, lösten sich auf. Er mußte sich bekennen, daß er mit Ina zu einer Art Zwillingswesen verwachsen war, anderes wäre ihm auch nicht wünschenswert erschienen, ganz selbstverständlich sagte er immer» wir «und nie» ich«. Aber jetzt war er wieder ein Einzelwesen geworden.

Britta war heute wieder die Schweigende, Zuhörende, Lauschende — hatte der Redestrom, der Ina so mißfiel, am Ende wirklich nur der anderen Frau gegolten? Eine Lilien besaß jedenfalls auch andere Möglichkeiten sich auszudrücken als die Sprache.

«Könnte es sein, daß ich ihr gefalle?«dachte Hans, als sie trotz vielem Gin leichtfüßig aufstand, um etwas zu essen zu holen, und beim Hinausgehen sanft mit den kühlen Fingerspitzen seinen Nacken streifte.

Wenn Hans früher einmal solch eine Flasche Schnaps mit einem Freund oder soldatischen Kameraden geleert hatte, blieben die Folgen nicht aus. Man lallte und schwankte und kam auf ungewöhnliche Gedanken, um das Mindeste zu sagen. Auch das war heute anders. Alkohol mit solchen Leuten zusammen genossen, befeuerte das Gespräch und wurde in der Angeregtheit absorbiert. Die große Ginflasche war wirklich beinahe leer, aber keiner von ihnen war betrunken. Aufgebrochen werden mußte dennoch. Die leere Flasche stand da wie eine besondere Art von Uhr, die anzeigte, der Abend sei nun beendet. Aller Augen leuchteten animiert, als er sich verabschiedete. Jetzt wurde Britta auf die Wange geküßt, die Wange war fest, zart und kühl wie ein neues Stück Seife.

Der Szenenwechsel im Treppenhaus hätte harscher nicht ausfallen können. Innen weiches Kerzenlicht, blitzende Augen, Lachen und Freundschaftlichkeit, und hier draußen war es kahl und unbequem. Und das Hocken auf einer harten Treppenstufe, das würde er nun ein paar Stunden auskosten dürfen, denn er hatte den Wohnungsschlüssel Ina gegeben und kam nicht in die Wohnung. Er klingelte Sturm und nichts rührte sich. Hans wußte warum. Ina tat sich neuerdings rosa Wachsstopfen in ihre kleinen Ohren, ein Hochzeitsgeschenk ihrer Mutter, die ihr erklärt hatte, neben einem Ehemann könne man es auf Dauer nur mit solchem Wachs in den Gehörgängen aushalten. Hans sah in diesen Wachsstopfen einen Rückzug von ihm, Ina zog die Zugbrücke hinauf und isolierte sich, war unansprechbar und tauchte, wenn er sie schließlich an der Schulter berührte, aus ozeanischen Tiefen auf, wo sie sich glücklich und allein aufgehalten hatte. Das Telephon hörte sie, derart sicher verschanzt, ebenfalls nicht. Sie hatte es aber darüberhinaus auch abgeschaltet, damit nur ja nichts eindringe in ihren Schlaf. So war der Erfolg ungewiß, wenn er an die Wohnungstür mit der hohen Milchglasscheibe trommelte. Es konnte gut sein, daß jeder im Haus von dem Höllenlärm erwachte, nur Ina nicht. Was macht der Weltmann in solcher Lage? Er holt den Schlüsseldienst oder nimmt ein Hotelzimmer. Der Äthiopier würde ihm in seiner Amtsgewalt als Nachtportier im» Habsburger Hof «gewiß ein Bett geben.

Der Minutenbrenner trug seinen Namen zu Recht, nach zwei Minuten ging das Licht im Treppenhaus immer wieder aus, dann drückte er auf den Knopf und es ward hell. Britta war unten noch räumend auf und ab gegangen, sie bemerkte durch die Glasscheibe ihrer Wohnungstür, daß es im Treppenhaus nicht dunkel wurde. Einen Spalt öffnete sie die Tür und sagte mit halblauter Stimme, fragend:»Hans?«

Er kam die Treppe heruntergeschlichen. Britta sprach weiter gedämpft, denn Elmar sei schon eingeschlafen. Sie war gelassen und sicher, ihre Anordnungen duldeten keinen Widerspruch. Ihr Bett sei breit, er strecke sich da jetzt neben ihnen aus, das sei das Einfachste. Sie trug schon ein Nachthemd, etwas grünlich Seidenbesticktes aus Arabien, ihr Haar war offen. Sie löschte überall das Licht und ging ihm ins Schlafzimmer voran. Viel Mond war nicht mehr da, aber die Sichel stand stechend weiß am Himmel und schien in das dämmernde Zimmer, in dem Wittekinds ruhige Atemzüge zu hören waren. Das Bett war wirklich sehr breit. Britta kniete sich ans Fußende und ließ sich auf die Mitte nieder, Hans zog Jacke, Hemd, Hose und Schuhe aus und legte sich neben sie, in großer Behutsamkeit und dem Bestreben, sie nicht zu berühren. Den linken Arm ließ er auf den Boden hängen, so weit war er an den Bettrand gerückt. Er sah ins Dunkle, lag still wie die Statue auf einem Katafalk und roch den reinen Zahnpasta-Atem Brittas. Er war nicht sicher, ob es ihm gelingen würde einzuschlafen. Der Arm, der aus dem Bett heraushing, schmerzte schon.

Dann fühlte er, wie Brittas Körper sich ihm näherte und sich an ihn schmiegte, und es war ihm, als sei jedes Fleckchen seiner Haut, das mit ihrem Körper in Berührung kam, mit festen, zarten Fäden darangebunden. Die Körper wuchsen aneinander. Er antwortete auf ihre Bewegung und tastete nach ihr, und alles, was seine Hand berührte, hob sich ihm entgegen. Dennoch wagte er nicht, sich ganz zu ihr herumzudrehen und sie ganz und gar zu umarmen, bis Britta ihm ins Ohr flüsterte — alle Nackenhaare stellten sich ihm auf bei diesem Hauch:»Es stört ihn nicht, er möchte, daß ich glücklich bin. Er hat nichts dagegen. Bei dir schon gar nicht, wir haben darüber gesprochen. «Hielt sie den Atem an, als sie ihn küßte? Weiterschlafen sollte Wittekind offenbar dann doch. So verborgen, mit so wenig äußerer Bewegung und Aktion, so schnell und erfahren wurde die Liebe vielleicht nicht einmal in einem von der ganzen Sippe bewohnten Mongolenzelt gemacht. Doch als Hans später noch einmal erwachte und den Kopf wandte — einen langen Augenblick wußte er nicht, wo er war, schon zuckte seine Hand nach einem Lichtschalter —, da sah er Wittekinds Silhouette im Bett auf den Ellenbogen aufgestützt, ganz schwarz war das Gesicht, aber ein Lichtstrahl von draußen streifte seine großen vorstehenden Augen und setzte ein kaltes schwefliges Glimmen hinein, bevor alles wieder im Dunkel versank. Hans schloß die Augen sofort. Die alte Kinderüberzeugung kam zu ihrem Recht: Was ich nicht sehe, das sieht auch mich nicht.

Wie werden solche Affären abgewickelt? Entweder es kommt zu großen Katastrophen, oder der Weg zurück in den Alltag ist verdächtig bequem gebahnt. Man erinnert sich, daß Hans manchmal genau dann aufzuwachen vermochte, wann es erforderlich war, und hatte er noch so kurz davor geschlafen. Ohne groß nachzudenken, raffte er seine Kleider zusammen und schlich sich aus der Wohnung. Vor der eigenen zog er sich an. Alsbald saß er im Morgengrauen wieder im Smoking da, als hätte er die ganze Nacht getanzt. Und nach einer Weile — eine halbe Stunde mochte er da schon gehockt haben, lange genug, um glaubwürdig zu hocken auf jeden Fall — versuchte er noch einmal, ohne größere Hoffnung, eine Klingelattacke. Diesmal wurde ihm aufgetan.

Ina war, nachdem sie sich so früh ins Bett gelegt hatte, auch früh erwacht und hatte zu ihrer Beunruhigung soeben festgestellt, daß sie allein im Bett sei. Im Wohnzimmer auf dem Sopha war auch kein Hans. Da klingelte es. Der Arme hatte auf der Treppe übernachtet. Hans tat nichts, um ihren Irrtum zu berichtigen, solange der mit Bedauern und Schuldgefühlen verbunden war. Er sah so verwüstet aus, wie es der Nacht, die er hinter sich hatte, entsprach. Am schlimmsten hatte wahrscheinlich doch der Gin gewirkt. Ina sah ihren zerstörten Mann, und eine Rührung wie in früheren Tagen kam in ihr auf. Sie ging in die Küche und kochte Kaffee. Derweil verschwand er im Badezimmer. Unter der Dusche fühlte er sich gerettet. Er hatte geglaubt, Brittas Geruch, diesen sehr zarten, aber für sie bezeichnenden Geruch nach etwas mild Meersalzigem, vermischt mit Banane, noch an sich zu tragen, und das tat er wahrscheinlich auch. Unter dem kalten Wasser wurde das Kleid der Nacht nun abgewaschen. Es war wie eine Taufe, die alle Klebrigkeit der Vergangenheit auflöste und wegspülte. Der gewaschene Mensch war der gute Mensch. So mußte einem betrunkenen Landstreicher zumute sein, wenn er ohnmächtig aus dem Rinnstein gesammelt und ins Krankenhaus gebracht wurde und dort in einem sauberen Bett und gewaschen erwachte.

In das Hochgefühl der moralischen Wiederherstellung fuhr aber ein gewaltiger Schreck, als die Wasserstrahlen über seine schaumigen Hände rannen und die Haut unter den Schaumpolstern wieder hervorkam. Wohlgeformte Hände hatte Hans. Bei ihrem Anblick hätte er nicht zu erschrecken brauchen. Alle Finger waren da, die Hände waren heil und schön. Und sie waren so nackt wie der Mann, zu dem sie gehörten.

Der Ehering war weg. Hans trug den Ehering immer noch ungern. So schmal der rotgoldene klassische Reif war, er belästigte ihn. Ihm war, als sitze eine dicke Fliege auf der Hand, und er spielte mit dem nicht sehr festsitzenden Ring gern herum, um den kleinen störenden Druck an immer derselben Stelle vergessen zu machen. Aber ablegen tat er ihn nicht mehr. Vor der Hochzeit hatten sie eine kleine Debatte über Ringe. Er wollte Ina einen schönen, wertvollen alten Ring schenken, und das sollte es dann sein. Sie sollte diesen Ring tragen — der mit seinem großen Stein natürlich keine Ähnlichkeit mit einem Ehering haben würde —, und seine eigenen Hände blieben frei. Den bewußten Ring wollte Ina gern annehmen, in der Frage der Eheringe ließ sie aber nicht mit sich handeln. Er komme sich mit dem Ring wie eine auf der Vogelkoje in Sylt beringte Wildgans vor, sagte Hans, aber Ina entgegnete, genau das sei er ja auch, das sei eben auch der Zweck der gesamten Hochzeitszeremonie: Beringung, und das heiße eben wie bei den Wildgänsen auch Überwachung. Sie ging nicht soweit, von einer — auf andere Frauen jedenfalls — enterotisierenden Wirkung von Eheringen zu sprechen, aber es war klar, daß sie etwas Ähnliches meinte.

«Du trägst einen Ehering«, sagte Ina, und also tat er das, bis heute morgen jedenfalls.

Wo war der Ring? Das war die eine drängende Frage. Wann würde Ina sein Fehlen bemerken? Das war die andere, noch drängendere. Er konnte es mit einer harmlosen Lüge versuchen, was die Franzosen mit ihrer Neigung, eine Fachterminologie für heikle Lebenssituationen zu entwickeln,»un mensonge blanc «nannten. Der Ring konnte ihm unversehens vom Finger geglitten sein, so verloren doch die Frauen beständig ihre Ringe. Frau von Klein vermißte regelmäßig irgendwelches Geschmeide und verbrachte viel Zeit mit Versicherungskorrespondenz, dabei durchaus nicht nur zu» mensonges blancs «ihre Zuflucht nehmend. Aber Eheringe verlor man auf diese Weise keinesfalls. Und er mußte für möglich, ja für hoch wahrscheinlich halten, den Ring in einer Situation verloren zu haben, in der dieser Verlust ein böses Zeichen war.

Ina trug das Tablett mit Kaffee und kleinem Frühstück ins Wohnzimmer. Sie wollte es ihm offenbar schönmachen und ihn nicht vor dem Eisschrank ein Brot herunterschlingen lassen. Sie öffnete die Fenster, das feine Quietschen drang bis zu ihm. Wie an einer Schnur gezogen, ging er aus dem Bad in die Küche. Dort stand das Glas mit Siegers schmutzigen Reisepfennigen. Er rührte mit den Fingern darin herum, es blitzte rotgolden. Der Ring paßte ganz gut, er war vielleicht etwas weniger weit als der verlorene. Obwohl er noch nackt war, hatte Hans das Gefühl, nun vollständig und geradezu korrekt angezogen zu sein, er wäre in diesem Augenblick so wie er war sogar vor die Tür gegangen.

Das Naheliegende wäre gewesen, sowie er sich im Büro ungestört wußte, Britta anzurufen und nach dem Ring zu fragen. Kam ihm eine der vielen Devisen Wittekinds in den Sinn, mit denen der Ältere den jungen Mann gestern abend so glänzend unterhalten hatte?» Man muß sich daran gewöhnen, in allen Lebenslagen niemals erwartungsgemäß zu handeln. Man frage sich stets: Was wäre jetzt das Naheliegende? Und tue dann das Gegenteil. «Aber nach solchen Späßen, die er eben noch so vorbehaltlos bewundert hatte, war ihm jetzt nicht zumute. Er fühlte eine Scheu, mit Britta zu sprechen, und schon gar über seinen Ehering. Der Ehering ging sie nichts an. Er wußte überhaupt nicht, wie an das gestrige oder vielmehr frühmorgendliche Ereignis anzuknüpfen wäre. Er wußte nicht, wie man sich in solchen Fällen verhielt, als gebe es auch hierfür Regeln im Sinne der bewußten französischen Terminologie. Er gab sich zu, die Umarmung mit Britta seit Tagen schon mit jeder Faser ersehnt zu haben. Er sah sich nun gar nicht mehr durch Verkettung wunderlicher Zufälle in diese Arme hineingeraten, sondern auf so geradem Wege, als habe er das bewußt angesteuert und sei wohl gar der eigentlich Handelnde gewesen. Hans liebte es, Verantwortung zu übernehmen — wer diesen Zug an ihm erkannte, konnte sich das vielfältig zunutze machen. Es handelte sich um eine Art Größenwahn aus gutem Charakter. Was aber sollte jetzt geschehen? Wie sollte es weitergehen? Wie würde man sich begegnen? Wie würde er Wittekind in die Augen sehen? Dabei fiel ihm ein, daß er ihm in dieser Nacht bereits in die Augen gesehen hatte, und ihn schauderte. Gab es denn keine Möglichkeit auf Erden, das Geschehene ungeschehen zu machen, es nur für einen Traum in schwerer Betrunkenheit gelten zu lassen? Mußte denn alles, was sich einem in Hirn und Adern bewegte, ans Licht, und sei es nur an das Kerzenlicht einer stimmungsvoll erleuchteten Wohnung, und dort zu einem unumstößlichen, vom Willen nicht mehr zu beeinflussenden Faktum werden? Mußte man sein ganzes Leben mit der Last einer solchen Entgleisung herumlaufen, die sich schon jetzt in der Erinnerung etwas undeutlicher darstellte — manche Nebenumstände davon jedenfalls, denn während die meisten Menschen sich ihrer gehabten Lust gegenüber höchst treulos verhalten, steckte sie Hans tief in den Knochen. Die Hohlräume, aus denen der Mensch bestand — wer hatte das doch gleich vorgetragen und behauptet? — waren bei ihm bis zu angstvollem Platzen gefüllt.

*

Sich bei dem festefeiernden Sportsmann für das unentschuldigte Ausbleiben zu entschuldigen, war noch die kleinste Unannehmlichkeit dieses Tages, obwohl der enttäuschte Gastgeber nicht-sportliche Ereignisse auch nicht sportlich nahm und Hans die Entschuldigung einigermaßen schwer machte. Aber was war das verglichen mit dem, was ihn abends zu Hause erwartete! Ina saß brütend im Wohnzimmer, wo noch das Kaffeegeschirr vom Vormittag stand, und rührte sich nicht, als er sie begrüßte. Eine böse, ja die böseste Ahnung befiel ihn. Sie hatte mit jemandem gesprochen. Sie hatte Wittekind auf der Treppe getroffen. Sie hatte es erfahren.

Nein, nichts von alledem. Etwas ungreifbar Schlimmeres war geschehen. Als er ihren Kopf zu sich hob, um sie zu zwingen, ihn anzusehen, drehte sie ihn zunächst weg, brach dann aber in ein heftiges Weinen aus. Da öffneten sich die sprichwörtlichen Schleusen. Das Weinen ergriff, wie bei kleinen Kindern, den ganzen Körper. Sie ließ sich von gutem, sanftem Zureden nicht trösten. Als sie sich etwas beruhigt hatte, sagte sie, und in ihrer Stimme kündigte sich ein erneuerter Erregungsschub an:»Ich werde in dieser Wohnung verrückt. Es hat schon so schlimm mit der Taube angefangen, die sich hier zu Tode geflattert hat, und nun geht es immer weiter. «Was gehe weiter?

Es komme eben gar nichts mehr ins Lot, es stimme einfach überhaupt nichts mehr. Hans war darauf gefaßt, daß sie eine grimmige Anklage gegen ihn vorbereitete, aber wieder blieb er verschont — wenn er sich denn in dieser Aufregung als verschont betrachten wollte. Sie könne ihren Augen nicht mehr trauen, sagte Ina. Sie habe, nachdem er gegangen sei, auf die Straße geblickt, zur Seite von Souads Autowaschanlage, und da sei die Autowaschanlage plötzlich einfach nicht mehr da gewesen — weg —, als habe es sie nie gegeben. Lange habe sie da hinuntergestarrt. Die Lücke, die die Autowaschanlage hinterlassen haben mußte — sie hatte allein schon ein riesiges Garagentor —, sei restlos ausgefüllt gewesen, kein Mensch habe ahnen können, daß hier einmal diese elende Waschanlage gewesen sei. Und nachdem sie sich die Augen gerieben habe und vom Fenster zurückgetreten sei und sich beruhigt und gesammelt habe, sei sie schließlich wieder ans Fenster gegangen und habe hinausgesehen — und da sei die Waschanlage wieder da gewesen — geräuschlos wieder aufgetaucht, habe Steine und Türen und Fenster beiseite geschoben und befinde sich nun wieder an der alten Stelle. Er könne dazu sagen, was er wolle, alles — nur eines nicht: daß sie nicht gesehen hätte, was sie gesehen habe. Diese Worte sagte sie mit vorauseilender Härte, als müsse sie sich schon bei dem bloß Zuhörenden gegen die Zumutung des Unglaubens wehren.

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