XIV

Souad brachte Hans und die Blondgefärbte nach Hause; sie war es, die den Aufbruch dringend begehrte, ihre physisch so wohlverankerte Lustigkeit und Souveränität war wie weggeblasen.

«Sie wird wiederkommen«, sagte Souad gleichmütig, nachdem er sie abgesetzt hatte. Alle kämen wieder. Dies sei etwas für Frauen. Souad bekannte sich jetzt auf der Fahrt als den Frauen mit Haut und Haar ergeben — seit er denken könne. Als Dreijähriger habe er mit Bewußtsein das erste weibliche Geschlechtsteil gesehen, die schwarze Sklavin im Haus seines Großvaters habe ihm das ihre gezeigt — dieser Tag sei sein eigentlicher Geburtstag gewesen. Er sprach ganz ohne Lüsternheit, er klang beinahe unglücklich. Er wisse, wie» die Frau «sei, bis in seine tiefste Faser hinein habe er» die Frau «erkannt, und zugleich sei da eine Unersättlichkeit, dies Wissen immer neu bestätigt zu finden. Er sei auf dem besten Weg gewesen, sich zu ruinieren, seine Ehe sei zerbrochen — eine lange Geschichte, sehr aufregend und lehrreich, aber ein andermal! — , bis er auf das Telephon gekommen sei. Er halte nicht für ausgeschlossen, daß er vielleicht heute noch verheiratet wäre, hätte man das Mobiltelephon etwas früher erfunden, aber er beklage sich nicht, die Scheidung habe ihm eine zweite Jugend geschenkt.

Der Geruch der Frauen, sagte Souad. Streng fuhr er fort, er müsse sich nun wirklich konzentrieren. Wenn er an den Geruch der Frauen denke, baue er einen Unfall. Überhaupt sei die Beschäftigung mit den Frauen nicht ungefährlich. Um ganz und gar in sie hineinzufahren, um ihnen keinen Fluchtwinkel zu lassen, müsse der Mann sich verweiblichen. Bei ihm, nun wandte er sich an Hans, laufe aber doch alles gut?

Was sollte die Frage in diesem Zusammenhang bedeuten? Wollte er wissen, wann Hans mit Ina zum letzten Mal geschlafen hatte? Ging das, selbst wenn man die durch Souad vermittelte Erfahrung dieses Abends bedachte, nicht etwas zu weit? Und das Unbehaglichste war, daß Hans es für möglich hielt, Souad kenne den wahren Stand der Dinge oder könne ihn jedenfalls erahnen.

Die Beklommenheit, die durch die Gegenwart dieses Detektivs für erotische Spezialfälle erzeugt wurde, durfte sich noch steigern. Im Hof, wo Souad ein letztes Bier trinken wollte, obwohl die übrige Gesellschaft schon verschwunden war und der Äthiopier in blasser Wachspuppenschönheit und höflicher Verschlossenheit gerade die Klappstühle ins Haus räumte, harrte nur noch der einsame Trinker aus, der seine Geduld bestätigt sah, als er zugleich mit Souad nun doch noch jenes letzte Bier bekam, das ihm der unnahbare Wirt eben abgeschlagen hatte.

«Als Gott die Stadt verließ, da war es nicht sein Ernst …«, sang der Trinker und hätte selbst nicht mehr sagen können, ob er da ein Lied zitierte oder ob er sich diese kuriose Zeile selbst ausgedacht hatte. Und genau da betraten Elmar Wittekind und Britta den Hof, von offenbar vergnügtem Abend zurückkehrend. Hans stand auf, aber die beiden kamen nicht näher. Sie hielten sich an den Händen und nickten freundlich in seine Richtung, Händeschütteln war nicht vorgesehen. Wittekind wandte sich Souad zu, Hans mußte Brittas spöttischen Blick ertragen. Er wünschte, weit weg zu sein und nichts sagen zu müssen.

«Was schaust du so bedripst, du armes welsches Teufli?«sagte Britta mit ihrer tragenden Bühnenstimme, ohne besonders laut werden zu müssen,»Kennst du nicht das Lied vom welschen Teufli? Ich hab verlorn mein Pfeifli, aus meinem Mantelsahahahahack, aus meinem Mantelsack«, sang sie, ohne daß Wittekind sich stören ließ. Er war solche Bizarrerien bei ihr gewohnt.»Ich glaub, ich hab’s gefunden, was du verloren hahahahahast, was du verloren hast. «Sie fand ihren Scherz köstlich und summte die Melodie, die Hans noch aus Kindergartenzeiten kannte, versonnen ein zweites Mal.

Da aber hatte der stets verdutzte Hans auch einmal einen Einfall. Er hob die rechte Hand und bewegte sie drehend hin und her, als schraube er in einer Deckenlampe die Glühbirne ein. Siegers Ehering blitzte, allseits von der Bogenlampe beschienen. Britta sah so verblüfft aus, daß sie das Weitersummen vergaß. Auf ihrer Stirn zeigte sich eine nachdenkliche Falte, geradezu ein bißchen ärgerlich sah sie aus. Sie ging ohne Gruß ins Haus. Wittekind folgte mit einer bei ihm grundsätzlich spöttisch wirkenden Verneigung — was gab es beim Begrüßen und Verabschieden nur immer so Komisches? Er muß jeden Augenblick in Anführungszeichen setzen, dachte Hans. Über seinen Triumph bei Britta freute er sich nur kurz. Zu schnell kam die Sorge, was sie daraufhin unternehmen werde. Warum bloß hatte er sie nicht im unklaren gelassen?

Jetzt durfte er sein Gehirn zermartern in dem vergeblichen Versuch, ihre Gedanken zu denken. Dafür hätte es erst recht eines Souad bedurft. Hatte der etwas von dem musikalischen Dialog mitbekommen?» Erkenne die Lage«, das hatte ein berühmter Staatsrechtslehrer sich zur Devise gemacht, soviel war bei Hans aus dem Studium hängengeblieben. Britta hatte ihm also tatsächlich den Ring abgezogen, daran gab es keinen Zweifel mehr — um sich einen Spaß zu machen? Um ihn in Verlegenheit zu bringen? Weil sie eine Sammlung solcher Andenken besaß oder weil sie ein Pfand von ihm besitzen wollte? Deutete das Singen, dieses freche kleine Lied, nicht auf das Pfand? Hieß das nicht, er möge doch einmal bei ihr nachsuchen kommen? Daß er sich nicht sofort am nächsten Tag bei ihr gemeldet hatte, mochte sie schon verstimmt haben.

Und nun sah sie, herausfordernd und ausgestellt, daß die Lücke, die sie geschaffen hatte, bemerkt und sofort geschlossen worden war. Ihre kleine Teufelei lief ins Leere. Es gab jetzt nicht mehr einen Ring zu wenig, sondern einen zu viel. Und sollte dieser überzählige Ring nun nicht in ein Kästchen mit schönen Andenken kommen, sondern tätig sein und ein wenig Verwirrung stiften — bei wem allein könnte er solche Wirkung wohl tun? Bei Hans nicht. Was aber würde Ina sagen, wenn sie den Ring in die Hände bekäme und über das Wunder nachzudenken begänne, daß ihr Mann seinen Ring zugleich tragen und ablegen konnte?

Ob Hans je erfahren würde, mit welcher Variante seiner Spekulation er richtig lag? Die Post kam spät am Baseler Platz, gegen Mittag erst. Wer wußte, daß Hans um acht Uhr morgens aus dem Haus ging und erst abends zurückkehrte, durfte mit der hohen Wahrscheinlichkeit rechnen, daß Ina den Briefkasten leerte.

Britta hatte sich solche Gedanken jedoch gar nicht gemacht. Nachdem sie gesehen hatte, wie seine Hand ihr mit der unsichtbaren Glühbirne ein Licht aufgehen ließ, wollte sie den Ring vor allem loswerden. In geheimer Erwartung vielleicht mochte sie seine Geste als Bekundung der Unabhängigkeit und der Weigerung, in Rückgabeverhandlungen mit ihr einzutreten, deuten. Der Spaß war zu Ende. Er hätte gar nicht anfangen dürfen.

Sie wollte den Ring von der Brücke in den Fluß werfen. Das war die richtige, die klassische Weise, einen Ring loszuwerden. Ringe mußten im Meer von Fischen verschluckt oder von Flutwellen an ein fernes Ufer getragen werden — dann begann eine neue Geschichte mit ihnen, aber selbst wenn sie tief in den Schlamm sanken und dort schliefen, waren sie am passenden Ort. In Flüssen müssen Schätze schlafen. Draußen war es allerdings so heiß und die Sonne knallte so gnadenlos auf die Steinkästen, daß jeder Schritt überlegt werden wollte. Bei der Brücke angelangt, wäre sie in Schweiß gebadet. Dagegen lockte der dämmrige Treppenvorplatz mit der aus dem dunkelroten Terrazzo aufsteigenden Kühle.

Und da warf sie den Ring kurzerhand in Hans’ und Inas Briefkasten. Mochte nun werden, was wollte. Sie fühlte sich, wo sie das fremde Ding los war, wieder vollkommen im Recht. Aber auch, als sie ihm den Ring abzog, war sie im Recht gewesen. Im Morgengrauen war sie erwacht, beide Männer schliefen, Hans hatte seine Hand auf ihre rechte Brust gelegt, er hielt sie im Schlaf wie einen Apfel. In diesem Bild war der Ring ein blitzender kleiner Schandfleck, den mußte sie sich nicht bieten lassen.

*

Welche Wirkung sie mit diesem Wurf des Rings in den Briefkasten bei Ina hervorrief, hätte sie sich in ihrer kühnsten Phantasie nicht ausmalen können. Wer sich aber erinnert, daß Ina gerade eben noch Anlaß hatte, ihren Augen nicht trauen zu dürfen, mag schon eher ahnen, wie ihr zumute war, als sie zwischen allerlei Briefen den goldenen Ring im Briefkasten fand. Was war geschehen, als sie davon überzeugt war, Souads Waschanlage urplötzlich nicht mehr an der gewohnten Stelle zu erblicken und sie kurz darauf ihre Rückkehr erlebte? Inzwischen fragte sie sich selbst, ob ihr Eindruck nicht die Folge starker Zerstreutheit gewesen sei, einer kleinen Absence, eines Verwirrtheitszustands, der sie die Fenster, aus denen sie geblickt hatte, verwechseln ließ. Ohne es sich einzugestehen, näherte sie sich den Erklärungen, die Hans so behutsam vorgeschlagen hatte. Aber das änderte nichts an der Nachhaltigkeit jenes Eindrucks, der ihr immer noch vor Augen stand. Etwas in ihr war seitdem in der Erwartung, weitere Botschaften entgegenzunehmen, die ihre Sicherheit erschütterten. Sie fühlte, daß sie in den Zweifeln, die sie unversehens befallen hatten, schon sehr bald bestätigt werden würde. Obwohl sie vermutete, daß Hans ihr das Verschwinden und Wiederzurückkehren der ganzen Waschanlage vielleicht aus guten Gründen nicht abnahm, hatte sie sich in dieser Vorstellung richtig verwurzelt. Sie sprach sogar ausführlich zu Frau von Klein darüber, die sie zu beruhigen trachtete, aber auch von Damen ihrer Bekanntschaft hin und wieder Metaphysisch-Parapsychologisches zu hören gewohnt war und dem niemals mehr Bedeutung zumaß, als wenn man ihr gegenüber klagte, man habe schlecht geschlafen.

Schlecht geschlafen hatte Ina ohnehin, nicht in dem Sinn, daß sie kurz schlief, sondern daß der Schlaf ihr keine Erholung schenkte. Sie erwachte nach acht oder neun Stunden so zerschlagen wie nach schwerer Trunkenheit. Der Besuch Siegers ging ihr nicht aus dem Kopf. Die Vergeblichkeit hatte sich ihr eingeprägt, mit der er wieder und wieder die alten Münzen auseinander schob, ob sich nicht doch noch unter einer von ihnen der verlorene Ring verberge. Dinge verschwanden und kehrten wieder; das war das unheimliche Gesetz dieses Hauses. Es zog sich etwas um sie herum zusammen.

Und nun lag da vor ihr der Ring, den Sieger gestern in der Wohnung oben bei ihr gesucht hatte. Denn daß es dieser Ring und kein anderer war, daran bestand nach allem Vorgefallenen nicht der geringste Zweifel. Wie der Ring in den Briefkasten geraten war, brauchte da nicht mehr erforscht zu werden: Es war so geschehen, wie die Dinge hier nun einmal geschahen.

Das Bedeutsamste an dem, was sie jetzt tat, war, daß sie es Hans nicht mitteilte. Von Geheimhaltung mag man hier nicht sprechen, denn es war kein Verbergen damit verbunden, nicht einmal eine erklärte Absicht. Es gab neuerdings Bereiche in ihrem Leben, die mit Hans nichts zu tun hatten, die an ihm vorbeiliefen, so wie einst ein berühmtes altes Wirtshaus plötzlich ohne Gäste blieb, weil weit davon entfernt eine Straße gebaut worden war, die dies Wirtshaus links liegen ließ. Sieger war auf Inas Anruf so schnell da, als habe er darauf gewartet. Wo er wohnte, blieb ihr die ganze Zeit unklar, jedenfalls nicht im» Habsburger Hof«, obwohl sie ihn einmal von fern das Hotel hatte verlassen sehen. Mit Sieger hatte Ina einen Bruder im Geist gefunden. Die Frage, wie denn der Ring in den Briefkasten gekommen sei, stellte sich auch ihm nicht. Sieger begann zu weinen. Er betrachtete den zwischen den weißen Fleischkissen seiner Hand liegenden Ring, beugte sich nicht ohne Mühe vor und küßte ihn. Der Ring war wieder da. Er war noch da, nach allem, was Trennendes geschehen war, auch nachdem er ihn achtlos in fremder Obhut gelassen und damit jedes Recht an ihm aufgegeben hatte.

«Ich hatte ja kein Recht mehr auf diesen Ring. «Dies sagte er mit großem bedeutungsvollem Nachdruck, als wolle er Ina versichern, daß er keinem, der diesen Ring zurückbehalten hätte, daraus einen Vorwurf hätte machen dürfen. Wer den Ring behielt, war im Recht. Wer ihn dann schließlich doch herausrückte, machte Herrn Sieger ein Geschenk und erwies ihm eine Gnade.

«Es ist eine Gnade«, sagte er wörtlich. Seine Tränen waren spurlos getrocknet. Er setzte wieder Fuß vor Fuß, das Gehen bedeutete bei ihm, eine mächtige träge Maschinerie ganz bewußt in Bewegung zu setzen. Die Böden schwangen unter seinem Schritt. Die Treppen mußte er behutsam gehen, denn sein Leibesumfang verdeckte ihm den Blick auf die Stufen. Ina sah ihm in dankbarer Erregung nach. Dies wenigstens, so war ihr Gefühl, hatte sie zu einem guten Abschluß gebracht. Lange verharrte sie still im Wohnzimmer auf dem Sopha. Sie wollte sich, so lange es ging, nicht von ihrem Erlebnis lösen, sich gleichsam im Haus dieses Erlebnisses aufhalten, seine Luft atmen, solange sie nicht verflogen war. Sie wurde traurig, als sie nach Stunden fühlte, wie diese Luft dünner wurde und sich verflüchtigte.

Sie stand auf und ging ratlos durch die Räume. Es war ungemütlich bei ihnen geworden, sie wandte keine Sorgfalt mehr auf ihre Umgebung. Überall lag etwas herum. Stühle und Sessel standen durcheinander, wie man sie beim Aufstehen verschoben hatte. Die Decke auf dem Sopha schleifte halb auf dem Boden. In den Vasen vertrockneten die Sommerrosen, die schon im Blumengeschäft nicht ganz frisch gewesen waren. Sie hatte diese Wohnung eingerichtet und manches dafür zusammengetragen, aber nun begannen die Sachen, ihr Eigenleben zu führen und sich dort aufzuhalten, wo sie sein wollten in ihrem blinden Sinn, dem der Aufstand gegen die Ordnung tief eingewurzelt war. Die Wohnung beugte sich ihr nicht einmal zum Schein. Sie empfand unversehens die Häßlichkeit dieser beginnenden Verwahrlosung wie die Äußerung einer fremden, feindlich gesinnten Macht, die ihre Kraft erst zeigte, nachdem die eigene verbraucht war.

*

Ina ging aus dem Haus. Sie trug am Leib nur ihr dünnes hemdartiges Kleid, ein weißes Baumwollgespinst, keine Tasche und kein Geld nahm sie mit. So begann sie ihre Wanderung durch die Stadt.

Die lange Hitze begann ihre Wirkung zu zeigen. Am Baseler Platz gab es keine Bäume, aber als Ina nach einer Weile die älteren, halbwegs erhaltenen Wohnviertel erreichte, sah sie die Verheerungen, die die vergangenen Wochen unter den Kastanien angerichtet hatten. Es gab hier schöne Alleen, die die Straßen in ein lichtgepunktetes Dunkel tauchten. Um sommerliche Kastanien ist oft ein staubiger Hauch, trotz der weichen grünlappigen Blätter, die sich zu wolkigen Großarchitekturen auftürmen können. Diese Bäume entschädigten für vieles, was man in den Straßen verdorben hatte, es war geradezu, als könne man hier bauen, was man wollte, solange die Kastanien in wogender Riesenpracht die Schäbigkeit an den Rand verwiesen. Aber jetzt waren diese Blätter schon braun und ausgetrocknet, obwohl es noch nicht August war. Den schönsten und edelsten Tieren, den Walfischen und den Tigern, den Störchen und den Laubfröschen, machte die industrielle Zivilisation den Garaus, aber der Motte, die in den letzten Jahren aus Asien herangeflogen das Kastanienlaub verdorren ließ, war kein Gift gewachsen, als habe dieses winzige Lebewesen mit den chemischen Mitteln der Lebenszerstörung einen Pakt schließen dürfen, weil es auf seine Weise deren Werk vollendete.

Mitten im Hochsommer ging Ina durch diese welkenden Alleen. Manche Bäume, die schon verstanden hatten, daß die Zeit für eine ruhige und angemessene Reifung ihrer Früchte nicht ausreichen würde, trieben mit der Kraft der Verzweiflung schon jetzt die Stachelkugeln hervor, die sonst erst im Oktober von den Zweigen auf die Straße fielen. Kümmerlich waren diese Stachelkugeln. Sie erreichten nicht die alte verheißungsvolle Prallheit, deren Aufplatzen dann die wie Mahagoni-Kommoden polierten Kastanien herausrollen ließen. Es lag sogar schon welkes Laub auf dem Pflaster, in den stilleren Straßen raschelte es schon unter Inas Schritten in den leichten Sandalen. Ina mochte den Buntsandstein nicht, aus dem hier viele Häuser gebaut waren. Er erschien ihr blutig-düster und gleichzeitig zu weich, schwammig, porig, wie Bimsstein. Noch war genügend Laub an den Bäumen, um den Straßen weiter Schatten zu spenden. Sie ging langsam und sah in die Wohnungen im Parterre hinein, soweit nicht die Rolläden herabgelassen waren. Hier schienen wohlhabende Leute zu wohnen. Man sah es an den Vorhängen und auch an kleinen blitzenden Reflexen aus dem Dunkel der Räume, die von einem Spiegel oder einem Deckenleuchter mit Glasprismen ausgingen.

Wäre ihr Leben ein anderes, wenn sie in dieser Straße gewohnt hätten? Aber das war nur ein flüchtiger Gedanke. Zwischen zwei Sandsteintorpfosten stand das schwere eiserne Gartentor offen. Sie ging hinein, den Gang mit wackligen Fliesen bis zum Hof, in dem eine mächtige Kastanie stand, von den Häusern ringsum geschützt und zugleich dazu getrieben, durch ein äußerstes Wachstum doch noch ans Licht zu gelangen. Dieser bevorzugte Baum mußte dafür aber auch früher sein Laub verlieren als die Bäume auf der Straße, die der Zugluft ausgesetzt waren und etwas mehr Widerstandskraft entwickelten. Ina stand vor einer haushohen Kaskade aus braun-verkrümmtem Laub. Der Sandkasten, der zwischen die hohen Wurzeln des Baumes gesetzt war, hatte sich schon ganz mit welken Blättern gefüllt. Sie verließ den Hof und wanderte die Straße entlang. In den Gartenlokalen, die hier und da ihre Schirme aufgespannt hatten, saß niemand. Die Leute hatten die Lust am Sommer und am Draußensitzen verloren und verkrochen sich, wenn sie überhaupt in der Stadt geblieben waren, in ihren kühleren Wohnungen.

Ina lief weiter, ohne Plan und längst nicht mehr wissend, wo sie sich befand. Sie gewann eine Anhöhe und blickte auf die ferne Innenstadt hinab, die Hochhäuser der Banken schienen von hier aus gesehen in einem Sumpf zu stecken. In einem dieser Häuser saß Hans hinter Glas, von gekühlter Luft umweht, mit Gedanken befaßt, die nicht die ihren waren. Drehte man sich um, offenbarte die scheinbar endlose Stadt endlich ihre Grenze. Die sanften Taunushügel lagerten sich hellgrau in einem Hitzedunst, der sie zur bloßen Silhouette, zum Pinselstrich einer japanischen Tuschezeichnung werden ließ. Wer weiter in die Richtung dieser Berge lief, würde sie freilich zunächst wieder verlieren, denn bevor man sie erreichte, war noch ein breiter Gürtel Siedlungsdickicht, Vorstadtwüstenei zu überwinden.

Eine junge Frau kam ihr entgegen, sehr weißhäutig an den nackten Armen und Beinen, in häßlichen Shorts, schlaffem Hemdchen und mit einem strohgestrickten Hut auf dem Kopf. Sie trug ein kleines Kind auf dem Arm, ein anderes lief an ihrer Seite, in der freien Hand hielt sie einen langen, dünnen Stab, mit dem sie die Straße vorsichtig auf Hindernisse abtastete. Sie war blind, bewegte sich aber vollständig sicher und bedurfte noch nicht einmal der Hilfe der Kinder. Am Bordstein blieb sie stehen, hoch aufgerichtet, ganz aufs Hören eingestellt, das ihr das Sehen zu ersetzen hatte. Dann ließ sie den Stab wieder über den Asphalt scharren und folgte diesem Geräusch, das sie selbst hervorbrachte. Ina bestaunte die Geschicklichkeit dieser Frau, aber dann siegte der Zustand, in dem sie sich befand und der nichts Gelungenes und Geglücktes mehr gelten lassen wollte. Wie trist war die Blinde angezogen — nun, das waren viele, die sie auf ihrem Weg gesehen hatte, und aus dem Gleichgewicht mußte man deswegen nicht geraten. Aber das hier war etwas anderes, denn die Frau wußte nicht, welch entstellenden Hut sie trug, sie hatte die Farben ihrer Shorts nicht gesehen, und sie kannte auch nicht das Bild, das sie darin abgab, mit jener ausgestellten Kurzbeinigkeit und Breithüftigkeit, die sich mit anderen Kleidern hätte kaschieren lassen. Irgendwelche wohlmeinenden Menschen steckten die Frau in diese Sachen, von denen sie nur wahrnahm, daß sie etwas Wärmendes auf der Haut hatte. Wie eine Geschändete laufe die Blinde mit ihrem dummen Sommerhütchen durch die Stadt, so wollte Ina das jetzt sehen, wie eine Kuh, die man zum Almabtrieb geschmückt hat und die nicht versteht, was ihr mit diesem Schmuck geschieht. Und ging es ihr, Ina, denn so sehr viel anders als dieser Frau? Was sie auf dem Leibe trug, gewiß, das hatte sie selber ausgesucht, und das erschien jetzt als die allergleichgültigste Nebensache. Aber was alles andere anging, wußte und sah sie denn, wo sie ging und stand und welche Figur sie, von außen betrachtet, abgab? Das Leben in dieser Stadt mit Hans, was war das eigentlich? Hatte sie das etwa so gewollt wie die Blinde, die den Strickhut aufsetzte, den man für sie ausgesucht hatte?

«Das Leben«, dieses Wort hätte ihr nicht in den Sinn kommen dürfen. Eine Flut von Verwirrung und Selbstmitleid stieg in ihr auf, als sie» das Leben «dachte, und sie mußte sich auf ein Mäuerchen setzen und schluchzen. Tränen blieben freilich aus, es war ein knochentrockener Weinkrampf, der deshalb auch nichts löste, sondern wie ein allergischer Hustenanfall allmählich verebbte.

Загрузка...