VII

Der Taxifahrer war Türke, ein würdig aussehender Mann; sein grau-schwarzes Haar war knapp geschnitten, der Schnurrbart fein mit der Nagelschere gestutzt. Es sah aus, als werde Frau Mahmouni von ihrem Rechtsanwalt begleitet. Der Mann gesellte sich aber bald zu dem Äthiopier, der noch überwiegend in seinem Ausschank nach vorn hinaus beschäftigt war. Er war ein gastronomisches Naturtalent, ahnte selbst im angespannten Thekengeschäft, wann es im Hinterhof an etwas mangelte, und bekam zugleich eine gelassene Unterhaltung mit dem Taxifahrer hin. Er war eben ganz grundsätzlich in nichts involviert, in keines der Verhältnisse, die ihn umgaben, er war frei und profitierte von dieser Freiheit durch seine selbstverständliche Ruhe. Selbst zu Frau Mahmouni wahrte er Abstand, was aber leicht war, denn sie unterhielt eine geradezu romantische Beziehung zu Unabhängigkeit und Diskretion.

«Ich weiß nichts über ihn, und ich will auch nichts wissen«, sagte sie hoheitsvoll, in einem Ton freilich, als gebe es da allerhand zu wissen, wenn man seine Nase in die Geschäfte dieses Stehimbiß steckte.

«Männer sind unbegreiflich«, fuhr sie fort. War diese Einsicht das Ergebnis ihrer beiden Ehen oder hatte sie darüber schon vorher verfügt? Mit Frauen wolle sie sich allerdings noch viel weniger abgeben. Sie habe ihr Leben lang mit Männern gearbeitet, und ihr Vater habe ihr seinerzeit beim Abschied für immer, als er von allen Mitteln entblößt war — er erholte sich später etwas, aber gelangte nie mehr zu seinem alten Wohlstand —, eindringlich geraten:»Halte dich immer an Männer. Denk daran: Laß die Frauen ihrer Wege gehen, du bist eine Frau für Männer. «Und so sei es auch gekommen. Ihr Vater — schließlich auch ein Mann —, mit einem solchen Pech in allen seinen Unternehmungen, sei ihr geschäftlicher Lehrmeister gewesen. Nie wieder habe sie einen anderen gehabt. Vieles habe sie erlebt, sehr gutes und sehr schlimmes — aber immer mit Männern.

«Am Sex dabei keinerlei Interesse«, sagte sie in einem Ton, als habe sie sich eines heftigen Antrags von Hans zu erwehren. Er hätte aber gar nicht zurückweichen können, denn sein Unterarm war in ihrem festen Knochengriff. Souad, der inzwischen holländisch parlierende Vetter und Barbara, die sich mit langen Fingernägeln gründlich den Kopf kratzte — sie mußte sich dabei durch die Haarfluten selbst in deren zusammengesunkenem Zustand hindurchkämpfen — und jetzt englisch sprach, vermieden es, sich anzusehen und musterten statt dessen mit ihren durch die Gespräche nicht beanspruchten Augen Hans und Frau Mahmouni. Wie diese Gruppe, jeder davon in sein jeweiliges Gespräch vertieft, in zwangloser Haltung zusammensaß, aufeinander bezogen, aber nicht miteinander beschäftigt, erhielt der kunsthistorische Terminus der» Sacra conversazione«, so flog es Hans durch den Sinn, eine neue Aktualität. Aber fiel diese Beobachtung nicht eigentlich in den Themenkreis von Inas notorischer Magisterarbeit?

«Warum haben Sie denn dann geheiratet?«fragte Hans, der sich auch an ein vorzeitig gezeugtes Kind erinnerte. Niemals hätte er diese Frage gestellt, wenn die levantinische Matrone — dies Muster- und Staatsexemplar einer levantinischen Matrone! — nicht das in ihrem Munde erschreckende Wort Sex ausgesprochen hätte. Man traute ihr zu, alle Abgründe kairinischer Kinderbordelle zu kennen, aber niemals etwas aus dieser Welt kraß beim Namen zu nennen, sondern sich stets routinierter, dem Wissenden genug sagender Andeutungen zu bedienen. Es war tatsächlich etwas Grelles in ihr ausdrucksvolles Gesicht getreten, als sie vom Sex sprach, das X im Sex zog sich über ihr ganzes Gesicht und zerrte es nach den vier Enden. Auf Hans’ Frage hatte sie offenbar gewartet. Sie war auf sie vorbereitet, beinahe ein bißchen zu gut, die Antwort kam ein wenig zu flink, und die Miene änderte sich allzu beflissen in sorglose Lässigkeit.

«Was wollen Sie — ich wollte Gesellschaft haben. Es genügt nicht, nur auf den geschäftlichen Erfolg zu achten, der war bei mir durch die Vorbereitung meines Vaters ohnehin eine Selbstverständlichkeit. Aber man will auch manchmal abends ins Kino gehen, an Sommerabenden draußen etwas trinken. Ich bin bereit, dafür zu zahlen, zahlen ist selbstverständlich, und ich habe auch immer dafür gezahlt.«

Hans war dabei, eine Schachtel Zigaretten aufzurauchen. Eine einzige Zigarette hatte er sich von dem Äthiopier erbeten; der Mann hatte ihm aber die ganze Schachtel mit einer Geste dagelassen, als reiche er ihm ein Stück Brot. Jetzt war er schon bei der zehnten, wenngleich er sie nicht bis zum Ende glimmen ließ. Das Rauchen tat ihm unerhört gut. In ihm war eine kleine beunruhigende Leere gewesen, die er kaum wahrnahm und auch nicht mit seiner Zigarettenaskese in Verbindung brachte, doch schon der erste Zug bewies, daß es genau der Tabakrauch war, der als einziges diesen Hohlraum zu füllen und die Beunruhigung zu dämpfen vermochte. Es war ihm jetzt gleichgültig, was er sich vorgenommen hatte. Der Mangel, den er empfand, war zu offensichtlich, um unausgefüllt zu bleiben.

«Rauchen Sie«, sagte Frau Mahmouni, die ihn aufmerksam betrachtete,»alle Männer, mit denen ich zu tun hatte, haben stark geraucht — nur einer nicht, Tesfagiorgis. «Sie zeigte auf den Äthiopier, der wahrscheinlich überhaupt keine Bedürfnisse hatte, jedenfalls solange er an diesem fernen Erdenwinkel diesen Stehimbiß betrieb.

An diesem Abend fand noch ein Wechsel in der Hauptkonstellation statt. Frau Mahmouni nahm Barbara zur Seite, im Widerspruch zu ihrem nachdrücklich geäußerten geschäftlichen Desinteresse an der Weiblichkeit. Es sah geradezu aus, als habe sie ihr einen Vorschlag zu machen. Souad nutzte die Zeit, sich statt dessen den Vetter vorzuknöpfen. Ihm ging Barbaras Wort im Kopf herum, sie werde zwischen dem Vetter und ihm, Souad, wie von Mühlsteinen zermahlen. Besser war es vielleicht, so mochte er denken, sie nicht zu zermahlen, sondern zu zerquetschen, indem er sich mit dem Vetter zusammentat.

«Das ist nicht meine Stadt«, sagte der Vetter in quengelndem Ton, und Souad entgegnete mit wehmütiger Treuherzigkeit, während die braunen Tieraugen — man sah fast nichts Weißes bei ihnen — den mageren Vetter festnagelten:»Seien wir doch mal ganz ehrlich. Meinst du, das ist meine Stadt? Das ist auch nicht meine Stadt.«

Als Hans ins Haus ging, sah Souad von dem Vetter auf, in dessen Ohr er geradezu hineingekrochen war, und sagte in muffigem Beschwerdeton:»Warum habt ihr mir nicht gesagt, daß der Hauswirt heute zu euch kommt?«Hans wußte von nichts. Souad wurde richtig ein bißchen ungezogen.

«Nein, nicht so tun, als wüßtest du nichts. Er war stundenlang bei euch oben. Was hat er gesagt? Sagen Sie mal: Was hat er gesagt?«Das Schwanken zwischen Du und Sie nahm Hans nicht krumm, aber als er anfing zu erklären, wo er die letzten Stunden zugebracht habe, wurde ihm plötzlich klar, wie unangemessen diese Fragerei und dieser beschwerende Ton waren. Er brach ab und sagte:»Geht Sie das etwas an?«

«Richtig, Souad«, rief Barbara herüber,»was du immer alles wissen willst. Nicht alle Leute haben so viel Geduld wie ich.«

Es entbrannte da draußen jetzt allseitiges Gackern, von dem Hans aber nichts mehr mitbekam. An der Tür der Wittekinds vorbei, die, wie ihm vorkam, auf nichtssagende Weise geschlossen war, stieg er in seinen vierten Stock.

*

Ina lag im Wohnzimmer auf dem Sopha, möglicherweise genau über dem Wittekind-Sopha — haben die Zimmer nicht wirklich ihre eigene Art, den Bewohnern die Einrichtung vorzuschreiben? — und schlief nicht und las nichts und hatte den Fernseher nicht angestellt und hörte auch keine Musik. Wartete sie? Sie war in abweisender Stimmung, gedankenvoll. Es war hell im Zimmer, viele gelbe Lampenschirme schufen eine weiche Helligkeit, lauter milde Sonnen strahlten in dem Raum. Man hatte kein Gegenüber, vor den Fenstern dehnten sich weite Regionen wie beim Blick von einem Turm.

Sie habe mit Mama gesprochen, sagte sie, ohne zu ihm hinzublicken. Sie habe versucht, Mama seine Theorie mit den Huren zu erzählen. Welche Theorie? fragte Hans ungehalten, die bloße Vorstellung, ein Gedanke von ihm werde Frau von Klein präsentiert — und dann vermutlich nur halbrichtig wiedergegeben —, mißfiel ihm. Nun, die von den Huren, die heute wie Studentinnen aussähen — was sie selber übrigens nicht bestätigen könne, sie finde, die Huren auf der anderen Straßenseite sähen haargenau so aus, wie sie sich eine Hure immer vorgestellt habe; Beweis sei, daß sie die entsprechenden Damen auch sofort erkenne. Frau von Klein habe daraufhin wissen wollen, wo er sich denn solche Erkenntnisse erworben habe. Sie selbst wünsche das eigentlich nicht zu wissen, gebe die Frage aber weiter.

In kurzer Zeit sah er sich nun schon zum zweiten Mal zur Rede gestellt. Woher weiß man, was man weiß? Wenn sich das doch immer so genau feststellen ließe. Hurenerfahrungen hatte er beinahe nicht eine einzige, wenn er vom Militär absah, wo es zum Kameradenritual gehört hatte, die einzige Hure des ländlichen Standorts gemeinsam aufzusuchen; so betrunken war er dabei gewesen, daß er nicht einmal mehr hätte sagen können, was das für eine Frau gewesen sei. Aber darüber hinaus — was man so spricht und darstellt und behauptet — woher bezieht man das alles? Die Fälle, in denen man sagen kann: Aus dem und dem Buch in Kapitel drei oder aus dem und dem Film, sind selten. Irgendwoher fliegt einen an, was man weiß oder zu wissen glaubt, wie auf klebrigem Fliegenpapier bleiben im Hirn die durch die Luft sausenden Realitätssplitterchen hängen. Es gehörte aber zu Frau von Kleins Instinkt, solche Schwächen sicher herauszuspüren. Sie selbst wußte sich in Sicherheit. Sie gedachte das Damenrecht auf Schonung in Anspruch zu nehmen, wenn sie unbedacht daherplapperte.

Statt weiter auf die Frage der Schwiegermutter einzugehen, sagte Hans:»Souad behauptet, der Hauswirt habe uns besucht.«

«Das hat er allerdings«, antwortete Ina. Schade, daß er nicht dabeigewesen sei. Sie sprach träumerisch, wie unter einem Eindruck, der zu bedeutend war, als daß sie nicht noch ein wenig bei ihm hätte verweilen wollen, bevor sie darüber berichtete. Es hatte geklingelt, als sie sich gerade die Haare trocknete. Hans sagte sich im stillen, daß es schwer für einen unangemeldeten Klingler sei, den Augenblick zu erwischen, in dem Ina sich nicht die Haare trocknete. Sie öffnete mit dem Frotteeturban auf dem Kopf, im Vertrauen, Hans sei von seinen Leuten dort unten zurückgekehrt. Vor der Tür stand aber ein fremder Mann, eine außergewöhnliche Erscheinung. Noch nie hatte sie einen so dicken Menschen aus der Nähe gesehen. Der Körper schwappte förmlich bei jeder Bewegung um den Kopf herum, der klein und schweißüberströmt aus dem Faß seines Leibes herauswuchs. Keinen Augenblick sei sie besorgt gewesen, denn die kleinen Augen dieses Mannes hatten einen flehenden, schüchternen Ausdruck. Obwohl sein Haar grau war, kam er ihr sehr jung vor, die Haut seiner Hand war weich und zart wie die eines Säuglings. Er stellte sich vor. Er heiße Sieger, Urban Sieger, und sei der Hausbesitzer.

«Ich wäre froh, wenn ich eintreten dürfte, denn häufig werde ich den Weg zu Ihnen hinauf nicht schaffen. Es geht mir nicht gut. «Als er sich auf das Sopha setzte, war es als nehme er auf einem Sessel Platz. Das Sopha stand in der richtigen Proportion zu ihm, schon wirkte er nicht mehr so monströs.

«Wie gut, daß wieder ein glückliches junges Paar hier wohnt«, sagte Sieger,»Sie sind doch verheiratet?«Es liege nun schon Jahre zurück, daß er hier oben gewohnt habe, damals sei er besser zu Fuß gewesen.»Auch ich war damals verheiratet und bin es noch, aber nicht mehr glücklich, alles ist zerbrochen. «Er habe damals die Wohnung, wie sie war, verlassen, mit allem, was darin stand, er habe nichts davon mehr ansehen können. Seine Frau habe mitgenommen, was sie gebrauchen konnte —»das war ihr gutes Recht. Alles was ich besaß, gehörte auch ihr — was in dieser Wohnung war, habe ich zur Disposition gestellt. «Es war, während er das Wort Disposition aussprach, als wollten seine kleinen Augen wegkippen und im Kopf versinken —»Ich hatte eine Puppe«, sagte Ina,»deren Glasaugen sich mitunter wegdrehten, es sah aus, als würde sie plötzlich blind, dann habe ich sie geschüttelt, und dann waren die Pupillen mit Iris wieder da, aber Herrn Sieger kann man nicht schütteln — er würde es nicht einmal merken, wenn man ihn schubste.«

Seitdem sei die Wohnung schon öfter vermietet worden, und jeder Mieter habe mitgenommen, was ihm gefiel — er komme eigentlich nur, um nachzusehen, was inzwischen noch übrig sei. Sieh da, der Schreibtisch seines Vaters — er zeigte auf das schwarze Pseudo-Barock-Ungetüm mit den gedrehten Säulenbeinen. An diesem Schreibtisch habe sein Vater immer gesessen, er sei mit diesem Schreibtisch verwachsen gewesen, eine Schreibtisch-Sphinx gleichsam. So schwer sei dieser Schreibtisch, daß er wohl bis zuletzt noch in dieser Wohnung zurückbleibe. Ina war bereit, alles vorzuzeigen, und das war auch notwendig, denn in dem neuen Zeug, das die Räume füllte, ging der Siegersche Hausrat unter.

«Und das ist auch noch da«, sagte er scheu und geradezu dankbar, als sie ihm die Radierung von Burg Eltz brachte, die sie im Badezimmer aufgehängt hatte. Sie stamme von seiner Tante, die Malerin gewesen sei, sich das allerdings auch habe leisten können, denn sie habe einen reichen Mann geheiratet. Mit der Malerei habe sie keinen rechten Erfolg gehabt —»sie war im Grunde keine Künstlerin«, sagte Herr Sieger. Wußte er, was zu einer veritablen Künstlerin gehörte, oder gab er das Urteil des Familienrates wieder?» Solche kleinen Sachen, das Illustrative, das lag ihr.«

«Wollen Sie das Bild nicht mitnehmen?«fragte Ina. Er wehrte heftig und ernsthaft ab. Nein, keinesfalls, er habe gegenwärtig — er seufzte — keine Verwendung dafür.

«Was wollen Sie schon für eine Verwendung haben für das kleine Bild?«fragte Ina,»man hängt es halt auf. Wenn es hier hängen kann, kann es doch auch bei Ihnen hängen — ich meine, aufhängen ist doch nicht dasselbe wie Verwendung haben?«Es war aber sehr freundlich, nicht belehrend gesagt, wie Hans sofort verstand, er kannte Inas Art, über ihr ungewohnte Redensarten zu stolpern und die Sache aufgeklärt wissen zu wollen.

«Vor dem Krieg war das eine gutbürgerliche Wohngegend, nicht elegant, das nicht, aber man konnte hier wohnen, meine Eltern waren respektable Leute«, sagte Sieger statt einer Antwort. Ihm ging es nicht darum, mit seiner Herkunft zu prunken, sondern sich erneut das rätselhafte Phänomen vor Augen zu führen, daß man in eiserner stabilitas loci verharren konnte, und doch um sich herum alles anders werden sah. Er bedauerte den Wandel nicht. Es beschäftigte ihn nur, wie dieses Haus die Bomben des Krieges, die um den Bahnhof herum besonders dicht gefallen waren, überstehen konnte, nur um dann, den Siebenschläfern vergleichbar, die das Wüten des Tyrannen verschlafen hatten, in einer anderen Welt zu erwachen.

Ob sie gestatte, daß er den kleinen Raum neben der Küche noch einmal betrachte? Damit seien besondere Erinnerungen verbunden. Als er aufstand war es, als rolle er vom Sopha herunter. Die alte Beobachtung über die Behendigkeit der Dicken, hier bestätigte sie sich. Er ging Ina voran, bei jedem Schritt ließ er den Boden leise erzittern. Sie betrachtete seine Hose.»Wir beide hätten in dieser Hose wie in einem großen Schlafsack wohnen können, jeder in einem Hosenbein. «Sieger schob sich beim Gehen wie ein Automat voran, der Schritt des linken Beines wurde von dem Schwung der linken Schulter, der des rechten Beines mit dem Schwung der rechten Schulter vorangetrieben, so sah das aus. Das weiße Hemd, ein Zelt, klebte an seinem Rücken und ließ den Abdruck des Unterhemdes sehen. Er nahm nicht zur Kenntnis, was da alles neu angeschafft und renoviert worden war. Ihn bewegte nur, was er schon kannte. Die Kammer neben der Küche gehörte zu den Vorteilen der Wohnung. Sie war geräumig mit umlaufenden weißen Regalen, die jetzt frisch gestrichen waren. Solche Nebengelasse gibt es in neuen Wohnungen nicht mehr, sie machen solch eine Etage aber erst bewohnbar. Vieles kann in einer solchen Kammer verschwinden. Viel war daraus verschwunden.

«Meine Frau hatte und hat wohl immer noch eine Leidenschaft für Schuhe«, sagte Herr Sieger. Es sei kaum ein Tag ohne den Kauf neuer Schuhe vergangen. Überwiegend seien die Schuhe nicht teuer gewesen. Das klang geradezu beschwörend, er wollte keinen Vorwurf anklingen lassen, er gönnte ihr diese Sammelwut. Sie habe schmale und sehr schöne, aber vergleichsweise lange Füße, das Wort groß vermeide er bewußt, es vermittle einen falschen Eindruck. Für diese Füße sei es nicht leicht gewesen, Schuhe zu finden. Das Sammeln habe mit der Gewohnheit begonnen, jedes Paar Schuhe, das ihr paßte, zu kaufen. Denn sie habe stets befürchten müssen, nicht so schnell wieder passende Schuhe zu finden. So rar seien Schuhe dieser Größe dann aber auch wieder nicht gewesen. Viele habe sie nur wegen der Größe gekauft und dann gar nicht getragen, weil sie ihr nicht gefielen. Waren die Schuhe im Haus, verfuhr sie rücksichtslos mit ihnen und warf sie einfach in diese Kammer. Schließlich habe sie nur mit Mühe noch zwei passende Schuhe zusammenstellen können, vom Betreten der Kammer war schon gar keine Rede mehr. Und da habe er sich einen Tag lang darangemacht, die Kammer aufzuräumen und die Schuhe zu sortieren.

«Ich habe hier auf den Knien gelegen«, sagte er und wagte Ina nicht anzusehen, so stark ergriff ihn die Erinnerung. Es war auch damals heiß, und die Luft war vom Geruch des Leders, des getragenen Leders erfüllt.»Ich weiß«, sagte Herr Sieger,»für Fremde hat die Vorstellung solchen warmen Ledergeruchs von getragenen Schuhen etwas Abstoßendes, und auch für mich war er teilweise abstoßend, aber auch anziehend. Es war ein sehr starkes und tiefes Erlebnis. Zum Schluß standen dreihundert Paar Schuhe hier aufgereiht wie die Soldaten — und doch muß damals etwas zerbrochen sein — bei ihr, als ich ihr die Kammer vorführte. Wir hatten uns gestritten, sie war ausgegangen, kehrte zurück, und ich zeigte ihr die Schuhkammer. Das war wohl ein Fehler.«

Dann entdeckte er auf dem Fensterbrett ein Glas voll von kleinen Geldstücken aus allen möglichen Ländern, wie man sie auf Reisen in den Hosentaschen sammelt und dann zu Hause irgendwo aufhebt in der Hoffnung, sie noch einmal brauchen zu können.

«Das ist immer noch da, keiner hat das bisher weggeworfen, wie seltsam«, sagte Sieger.»Sehen Sie? Penny, Franc, Lira— bei jeder Münze könnte ich Ihnen die dazugehörende Reise sagen. Welche Achtung die Leute doch vor kleinen Beträgen haben. Möbel hat man hier weggetragen, auch Bücher, aber diese Münzen stehen immer noch da und sind inzwischen überhaupt nichts mehr wert.«

«Wir haben schon welche dazugetan«, sagte Ina und zeigte ihm einen amerikanischen Cent. Herr Sieger begrüßte das. Aber dann wurde er verlegen und bat, eine ungewöhnliche Frage stellen zu dürfen.

«Haben Sie zufällig schon die Miete für diesen Monat bezahlt?«

Ina sagte:»Ja, natürlich, ich selbst habe die Überweisung geschrieben.«

«An wen, wenn ich fragen darf?«

«Wie es vereinbart ist: an Herrn Souad.«

Herr Sieger versank in Nachdenken und murmelte vor sich hin. Natürlich, so sei es schließlich vereinbart, es sei dann wohl in Ordnung so. Sei das Geld etwa nicht angekommen? Sicher sei das nie, sagte Herr Sieger, aber normalerweise komme es schon an, Herr Souad habe sich doch nicht beschwert.

«Sprechen Sie mit Herrn Souad«, das hatte Ina als Aufforderung gemeint, aber unversehens klang es unbestimmt, beinahe wie eine Frage. Nein, mit Souad werde er nicht sprechen, sagte Sieger bestimmt, keinesfalls. Und das, obwohl er gegenwärtig keinen Pfennig, nicht einen einzigen Pfennig besitze.

Ob sie ihm mit fünfzig Euro aushelfen dürfe, fragte Ina. Die Verblüffung hatte ihr diesen Vorschlag eingegeben. Herr Sieger drehte einen Augenblick die Augen weg, bekam sie aber wieder in die Gewalt, faßte Ina würdevoll wie noch an keinem Augenblick des Abends, ja geradezu streng ins Auge und sagte:»Ich würde dies Angebot gerne annehmen.«

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