V

Es war bequem, und es war darüber hinaus sogar geboten, die neue Wohnung für diese Nacht noch einmal zu verlassen, denn Hans hatte an vieles gedacht, aber nicht an Handtücher. Man hätte sich nach dem Baden einfach von der Luft trocknen lassen müssen, was in der Hitze auch gar nicht so unangenehm gewesen wäre wie im Winter. Es kam hinzu, daß Ina ohnehin die Matratze des Bettes nicht hätte sehen dürfen. Weder den Taubendreck, noch, was sich da sonst von gelblichen Rändern umgeben verfärbt hatte, hätte ein später darüber gelegtes Laken vergessen lassen. Ina empfand da wie die meisten Leute, sie war nur noch ein bißchen empfindlicher. Wenn die Gäste wüßten, wie es in der Küche des teuren Restaurants, in dem sie sich niedergelassen haben, zugeht, würden sie keinen Löffel Suppe essen, aber ohne dies Wissen schmausen sie vergnügt.

Hans beruhigte sich mit diesen Überlegungen gern, aber voreilig. War nicht doch etwas Nachhaltigeres in Ina ausgelöst worden, als sie die tote Taube erblickte? Ihre Freude und ihre verliebte Neugier — war sie nicht in heiterster Stimmung gewesen? — hatten sie empfangsbereit gemacht für alles Neue, was er ihr bot. Selbst das Treppenhaus hatte sie noch außergewöhnlich gefunden, diesen steilen Turm, in dem jeder Schritt einen Lärm machte, als habe man beim Kegeln alle Neune getroffen. Sie hatte ihr Herz weit geöffnet, leider eben auch für Bilder oder vielmehr ein Bild, das sie keinesfalls hätte sehen dürfen. Es war schließlich das Schlafzimmer, in das sie, in schönster verliebter Erwartung, so sagte sich Hans, der sich berechtigt fühlte, seine und ihre Empfindungen gleichzusetzen, eingetreten war und das sie, schon in der Vorstellung, was sich gleich dort ereignen würde, gleichsam besetzt vorfand: von der Taube, die es nach allen Höhen und Breiten um sich spritzend in Besitz genommen und sich dann in dieser unheimlichen Entspanntheit, in der Haltung weiblicher Hingegebenheit als Gattin und brütende Mutter, tot darin niedergelassen hatte. Daß Hans versprach, die Ukrainer würden morgen schon das Schlafzimmer aufs neue weißeln, schon morgen würde der Ghanese das beschmutzte Bett wieder in den Keller tragen, schuf nur vordergründige Ruhe. Es blieb die Besorgnis, daß da irgendwo ein Loch sein müsse, durch das die Taube sich hindurchgezwängt habe und das weiteren Tauben Zugang zu diesem Schlafzimmer gewähre —»Stell dir vor, ich komme nackt aus dem Bad, und im Schlafzimmer flattert eine Taube.«

In dieser Vermutung lag bereits ein schriller Ton, mit kalten Sinnen war sie nicht gesprochen. Und nüchterne Überlegungen — Hans kreiste wie ein zweiter Dr. Watson die Möglichkeiten der Taube ein, in dieses Schlafzimmer vorzustoßen — konnten denn auch kaum Gehör finden. Die Fenster der ganzen Wohnung hatten weit offen gestanden, um den Farbgeruch abziehen zu lassen. Da sei die Taube hineingeflogen und habe unter dem Bett gesessen, wie sie auf der Straße häufig unter den geparkten Autos herumgepickt hatte —, als Souad wegen der schlagenden Fensterflügel während des Gewitters die Wohnung betrat und ihren Fluchtweg verschloß. Als die Taube erkannte, daß sie gefangen war, habe sie die Nerven verloren. Das brauchte er Ina gar nicht erst auszumalen, das sah sie selber so eindringlich vor sich, daß sie die Hände vor die Augen hob. Aus der ekelerregenden wurde die bemitleidenswerte Taube. Ihr verrücktes Flattern und ihr Knallen gegen Decken und Wände, ihre wilden Darmentleerungen, um überhaupt noch irgend etwas zu tun, und ihr Niederhocken und Sterben durchlitt sie wie eine Schwester.

«Es lebt etwas von dieser Taube in unserem Schlafzimmer. Sie hat in diesem Zimmer Todesangst gehabt, und das ist ein derart starkes Gefühl, daß etwas davon zurückbleibt«, sagte Ina ins dunkle Pensionszimmer hinein, nachdem Hans sie mit allen einem Ehemann zu Gebote stehenden Mitteln zu beruhigen gesucht hatte. Die Wiedersehensnacht, die er sich erhofft und erträumt hatte, wurde es freilich nicht.

Es stellte sich jetzt auch heraus, daß die drei Wochen mit Frau von Klein an den Nerven dieser gehorsamen und hingegebenen Tochter gezerrt haben mußten. Es war ungemütlich in der Gegenwart von Frau von Klein. Sie hatte eine Eigenschaft, die selbst ihre Tochter nicht verstand: mit allen Bedingungen, die sie umgaben, höchst unzufrieden zu sein, alles einer harschen Kritik zu unterziehen, an nichts Gebotenem ein gutes Haar zu lassen und gleichzeitig in großer Gelassenheit und unantastbarem Seelenfrieden zu leben. Nicht einmal Ina hörte auf, darüber zu staunen, daß ihre Mutter nicht aus dem seelischen Gleichgewicht zu bringen war, was ihr an Tadelnswertem auch zustoßen mochte. Sie wußte sich immer auf der sicheren Seite und wählte ihren Platz im Leben grundsätzlich gleichsam neben dem Notausgang.

Hans sah, daß es das Beste sei, Ina die eigentliche Einrichtung der Wohnung zu überlassen. Geschlafen werden konnte eigentlich nur in dem Tauben-Zimmer. Es lag zum Hof und war ruhig, es lag neben dem Bad, und es war größer als» Mamas Zimmer«, wie der Raum daneben tatsächlich schon hieß, und zwei weitere Räumchen, die wohl am besten in begehbare Kleiderschränke zu verwandeln waren. Aber hätten sie nicht auch in dem großen Zimmer schlafen können, das nach Süden und auf den betriebsamen Platz blickte? Warum sollten sie nicht Wärme, Weite und Leben von dort unten auch im Bett auskosten? An größere Einladungen mit Abendessensgästen war ohnehin noch nicht zu denken. Sie kannten hier keinen Menschen.

Ina tat ihre Arbeit sehr geschickt und mit leichter Hand. Bald schon bauschten sich prachtvolle Vorhänge aus irgendeinem künstlichen Futterstoff vor den Fenstern, und ein Großeinkauf in dem planend bereits genannten Möbellager füllte die Räume mit Korbsesseln, Kissen, Tischchen und Lampenschirmen, daß es schon beinahe wie in den Katalogen dieses Möbellagers bei ihnen aussah. Es war, als solle eine Bühne ausgestattet werden, wozu der große Raum auch verführte durch seine tatsächlich theaterartig anmutende Leere. Nachdem der Möbelwagen ausgeladen war, konnte man wirklich glauben, Ina habe in die Hände geklatscht und wie im indischen Märchen einen Palast, nun, ein Palästchen, ein geschmackvolles, jugendlich farbenfrohes Heim von Geisterhand herbeigetragen bekommen.

Und wo war das Schlafzimmer? Es war, Hans rührte aber mit keinem Wort daran, dort, wo es vernünftigerweise auch hingehörte. Die Wohnung wußte bei ihrer Einrichtung auch ein Wort mitzureden. Ob da am Ende doch ein geheimer Kampf hatte ausgefochten werden müssen, ahnte Hans freilich nicht. Ina ging so ernsthaft in ihrem Einrichtungswesen auf, daß die seelische Befangenheit, die sie ausstrahlte, auch schöpferische Zerstreutheit sein mochte, eine Unfähigkeit, sich mit etwas anderem zu beschäftigen als der Verwirklichung ihrer Pläne. Und Zeit hatte sie sich nicht gelassen. Sie hatte die Wohnung mit einer Geschwindigkeit in Schuß gebracht, als werde sie in einem Büro erwartet und müsse so schnell wie möglich damit zu Rande kommen.

In ihrer blitzenden Frische mußte die Wohnung jeden überraschen, der durch die öde Verbrauchtheit der Umgebung zu ihr vordrang. Man konnte hier oben wirklich vergessen, in welchem Viertel man sich aufhielt. Hans machte Ina große Komplimente für ihre Leistung. Er bewunderte die wolkige Pracht des falschen roten Tafts, der als Abbreviatur eine lustige Salon-Illusion erzeugte, und dankte ihr von Herzen. Im Grunde entspreche eine derartige Wohnung in einem solchen Viertel der Umwandlung, in der die gesamte Laster- und Vergnügungswelt begriffen sei. Die Erleichterung darüber, daß dies Wohnungswagnis doch noch gelungen sei, verleitete ihn dazu, sich als Soziologe zu versuchen. Der altgewohnte Huren- und Spielerbetrieb, die Netzstrumpfträgerinnen, die das Handtäschchen schwenkten, die dicke Schminke, der Schmutz der Hinterzimmer, das Unbürgerliche, die alte Vorstellung eines unberührbaren, aber vielfach nützlichen fahrenden Volkes stünden an ihrem Ende. Eine Hure sehe heute nicht mehr aus wie eine Hure, sondern wie die Verkäuferin in einer Boutique oder eine Studentin der Zahnmedizin; man benötige auch keine anrüchigen Quartiere mehr, denn man telephoniere sich schnell zusammen — ihm fielen wohl Abdallah Souads Geständnisse ein —, bald gehörten die Prostituierten ohnehin zu den Lebenshilfeberufen, wie therapeutische Masseure oder Psychotherapeuten. Die ganze Vorstellung von schlechten Vierteln und gefährlichem Publikum, von rotem Licht und Verstohlenheit sei gestrig, in der Realität kaum mehr aufzufinden. Was es in dieser Hinsicht noch gebe, müsse geradezu unter Denkmalschutz gestellt werden wie andere aussterbende Berufe. Dachte er da an die Schweden-Reise mit Ina, als sie in einem Museumspark der wettergegerbten Samländerin beim Besticken eines Robbenfells zugesehen hatten?

«Meinst du, du könntest das der Mama erklären?«fragte Ina. Keine Ironie schwang in dieser Frage mit. Sie versuchte sich wirklich vorzustellen, wie solche Argumente auf ihre Mutter wirken müßten.

Jetzt hätte die Einweihung der Wohnung gefeiert werden können.»House-Warming-Party «wurden solche Feste in Hans’ amerikanischer Bank genannt, aber die Vorstellung, den heimischen Herd mit Fest und Opfer zu installieren, ist uralt. Den kleinen Geistern, die mit einem bestimmten Ort verbunden waren, mußte auf eine ihnen verständliche Weise mitgeteilt werden, wer jetzt hier wohnen werde und wer dabei nicht gestört, sondern geschützt und gefördert werden solle. Das Fest als die stilisierte Hochform des Lebens bereitete den Ort für den zukünftigen Alltag vor. Hans und Ina hätten sich, wenn sie um Gäste verlegen gewesen wären, jede beliebige Zahl davon aus anderen deutschen Regionen kommen lassen können, und auch der ratgebende, vorbildlich unabhängige Sportsmann aus dem Büro wäre gewiß ein guter Konvive gewesen — auf die Versammlung im Hinterhof hätte gar nicht zurückgegriffen werden müssen —, aber es war ihnen beiden nicht nach Feiern zumute. Der richtige Augenblick dazu war verpaßt. Die Rückkehr von Ina, von ihnen beiden so heiß erwartet, hatte zwar stattgefunden, aber nicht richtig geklappt; so hätte es ein Filmregisseur, der zugleich Lebensregie betrieb, vielleicht ausgedrückt und Ina vielleicht einfach noch einmal abreisen und noch einmal ankommen lassen.

Dazu kam, daß Hans vom Büro ungeachtet der sommerlichen Ferienzeit hart herangenommen wurde, was ihn eigentlich nicht belastet hätte, jung und gesund und hoffnungsfroh, wie er war. Wäre ihm von Ina sofort ein schneller Rhythmus abverlangt worden, er hätte sich ihm mit Freuden unterworfen, aber nun war sie nachdenklich, wollte nicht ausgehen, litt unter der Hitze, hatte auch immer noch mit der Wohnung zu tun, und so ließen sie denn diese Zeit still angehen, und es kam ihnen sogar vor, als sei das jetzt ganz angemessen und anderes gar nicht wünschenswert. Wenn das Pulver naß geworden ist, ärgert sich nur der darüber, der gerade damit schießen wollte. Wer nicht schießen will, bekommt es gar nicht mit.

Die Morgende enthielten während dieser nicht abreißenden Hitzeperiode jedesmal die Verheißung, der Tag könne die Schönheit und Milde der frühen Stunden noch ein wenig länger bewahren. Hans schlief beträchtlich kürzer als im Winter. Wenn die Sonne aufgegangen war, schlug auch er die Augen auf, obwohl Ina im Schlafzimmer schwarze Rouleaus angebracht hatte, die das Licht ausschlossen. Sein Körper wußte dennoch, wann es draußen hell war. Er stand leise auf, ließ Ina in tiefem Schlaf zurück und legte sich im von bläulich-rosigem Morgenlicht wie ein Wasserbehälter schimmernden Wohnzimmer auf das neue Sopha. Wenn er das Fenster öffnete, kam ein leichter Wind herein, der am Tag ganz verschwinden würde, wie sich auch das aprikosenhafte Glühen des Sonnenlichtes bald in hartes, farbschluckendes Weiß verwandelte. Hans nahm ein Bad in diesem Licht, als könne er sich für den ganzen Tag darin erfrischen.

Dann begann er sich fertigzumachen. Das geschah sorgfältig und ohne Eile. Die Männer in seinem Büro pflegten eine gewisse Eitelkeit. Zu den dunklen Anzügen, die jetzt bei der Hitze allerdings hauchdünn sein durften — so dünn, daß der Stoff nicht mehr richtig fiel und den Körper hemdartig umflatterte —, wurden stark gestreifte Hemden getragen, Krawatten durften bunt wie Ostereier aus dem Westenausschnitt herausblitzen, die Hosenträger mußten breit und aus bunter Seide sein. Er war, möglicherweise aus einer gewissen Schüchternheit heraus, einer Bereitschaft, sich einer vorgefundenen Ordnung ohne weiteres unterzuordnen, was seine Kleidung anging, in eine Art Übererfüllung des geltenden Komments geraten. Dieses Sich-für-den-Beruf-Einkleiden war ihm aber auch Hilfe und Vorbereitung, geradezu wie beim Militär: wenn die Ausrüstung schon einmal stimmte, konnte danach nicht mehr viel Übles passieren. Er war, mit naßgebürstetem Haar und gut rasiertem Kinn, das Bild eines jungen Bankangestellten, als er die Wohnungstür behutsam hinter sich schloß. Manchmal machte Ina ihm einen Kaffee, bevor er ging, aber sie hielten es so, daß sie es darauf ankommen ließen, ob sie aufwachte. Sie komme nachts lange nicht zur Ruhe, sagte sie, und finde erst gegen Morgen Schlaf. Um so besser, fand Hans, dann schlief sie eben morgens.

Als er die Treppe hinabstieg, öffnete sich die Tür der eine Etage tiefer gelegenen Wohnung. Bisher hatte Hans dort kein Leben wahrgenommen. Souad sagte, die Leute seien verreist, merkwürdige Leute seien das, mißtrauische, beschränkte Menschen. Er habe ihnen angeboten, ihren Briefkasten zu leeren, aber nein, sie hatten da irgendeine andere Lösung, jemand kam und holte die Post aus dem Kasten, und das finde er nicht gut, fremde Leute im Haus. Für ihn, Souad, sei Post Vertrauenssache. Er sprach mit einem Nachdruck, als habe Deutschland ihm persönlich die Erfindung des Briefgeheimnisses zu verdanken. Hans hatte schon mitbekommen, daß es zu Souads Schicksal gehörte, als hilfreicher Freund unablässig Zurückweisungen einstecken zu müssen. Auch die Rückgabe des Bettes erforderte diplomatische Kunst, und Hans war dennoch überzeugt, daß Souad sich in abendlicher Runde über die Undankbarkeit der neuen Mieter bereits ausgelassen hatte.

Eine junge Frau stand vor ihm, mit halblangem rötlichem Haar, der milchfarbenen Haut der Rothaarigen, mit schönen grauen Augen und vollen blassen Lippen. Sie sah ihn lächelnd und auffordernd an; sie wollte nicht nur knapp wie eine Fremde im Treppenhaus begrüßt werden. Er sei der neue Mieter? Ja, der sei er. Das sei ja nett, sagte die Frau. Immer wenn sie verreist seien, wechsle der Mieter über ihnen, als müsse das in ihrer Abwesenheit geschehen.

Sie betrachteten einander mit Wohlgefallen. Die junge Frau trug ein einfaches olivfarbenes Sommerkleid. Es sah aus, als wolle sie sich in der Wüste bewegen, und paßte vorzüglich zu ihrer Haarfarbe, wie immer bei den Rothaarigen. Ob Männer oder Frauen, sie vergessen nie, an ihr Haar zu denken. Die beiden sprachen noch ein Weilchen, eine unverbindliche, nicht sonderlich geistreiche Treppenunterhaltung, aber Hans entging nicht das Lächeln, das eine bloß gutgelaunte Höflichkeit etwas übertraf. Es lag etwas Amüsiertes darin, und er war sich nicht bewußt, etwas Komisches gesagt zu haben.

«Wollen Sie wirklich so ins Büro gehen?«fragte die Frau schließlich. Hans meinte, seinen dunklen Anzug erklären zu müssen. So sei das in einer Bank, sagte er mit soviel Beiläufigkeit wie möglich, um nicht belehrend zu erscheinen. Nein, das sei ihr schon klar, antwortete sie, er gehe dort im Geschirr, aber ob er denn regelrecht angeschirrt werde dort? Ob man dort ein Zaumzeug anlegen müsse? Sie lachte, ihre Augen blitzten.

«Sehen Sie sich doch einmal an!«

Er folgte ihrem Blick, sah an sich hinunter und stellte fest, daß er die Hosenträger nicht über die Schultern gezogen hatte. Sie hingen tatsächlich zaumzeugartig unter der Jacke hervor. Es sah geradezu aus, als müsse das so sein; die Männer, die auf Laternen und Bäume kletterten, um dort etwas zu reparieren oder zu beschneiden, hatten gleichfalls solche Gurte am Leib. Er errötete, aber war zugleich dankbar. Es machte ihm niemals etwas aus, wenn man über ihn lachte. Er lachte auch jetzt von Herzen mit der jungen Frau, aber er hätte sich ihr beim ersten Mal gern anders präsentiert. Sie schaute ihm zu, wie er Jacke und Weste auszog und die prächtigen Hosenträger über die Schultern streifte. In einem Leben wie dem seinen sei so etwas einfach nur komisch, aber wenn ihr so etwas passiere, dann könne das schon schlimmer werden. Sie sei Schauspielerin und habe neulich in einem engen Kleid auf der Bühne gestanden, dessen Spaghettiträger während des Auftritts abgerissen seien. Anstatt mit ihren Händen zu agieren, habe sie sich beinahe zwanzig Minuten lang das Kleid festhalten müssen. Es sei bei einer Schülervorstellung gewesen, ohnehin eine unruhige Sache.

Sie verabschiedeten sich bei den Mülltonnen. Hans dankte ihr. Es war eine Art Vertraulichkeit zwischen ihnen entstanden, weil sie zusammen gelacht hatten. Diese Begegnung paßte zu dem jungen Morgen.»Ich werde heute Glück haben«, dachte er, als er der Bank zustrebte und sich in das Heer der dunkel Gewandeten eingliederte.

Glück hatte er nicht gerade, das wäre zuviel gesagt, aber es war ein Tag, an dem die Arbeit flüssig lief, denn das Schicksal schien zu wissen, daß er heute mit seinen Hosenträgern an keinem Haken hängenbleiben werde. Als er nach Hause kam, fand er Ina am Telephon. Sie lag auf dem Sopha und war tief in eine Konferenz mit Frau von Klein versunken. Nein, ein Glas mit den Leuten unten trinken konnte sie jetzt nicht, sie war auch nicht angezogen. Müsse das unbedingt heute sein? Hans fand, daß es heute sein müsse, die Verabredung war zu leichthin getroffen worden, um durch Verschiebung dann nicht zu etwas Komplizierterem, weniger Improvisiertem zu werden. Er legte sein Bankornat ab und zog ein Polohemd an, aus dem Eisschrank nahm er eine beschlagene Flasche Weißwein.

An der Tür unten standen zwei Namen: Lilien und Wittekind. Wer von beiden war die Frau? Eine Schauspielerin erwartete gewiß, daß man ihren Namen kannte. Hans ging nicht gern ins Theater. Ihm war bei den heftigen, die Schauspieler und die Zuschauer nicht schonenden Aktionen auf der Bühne stets ein wenig peinlich zumute. Er verstand schon: das mußte gewiß alles so sein, so laut, so roh, so häßlich, aber freuen konnte er sich darüber nicht. Die junge Frau entsprach in ihrer Frische und Geformtheit überhaupt nicht seiner Vorstellung von einer Schauspielerin. Vor der Tür wog er ab, welcher der beiden Namen künstlerischer klinge. Was paßte besser,»die Lilien «oder» die Wittekind«? Beides paßte, aber» die Wittekind «paßte nicht auf die junge Frau, die war etwas Leichteres, Durchsichtigeres, bei» der Wittekind «hörte man schon das Poltern des Bühnenbodens, wenn sie stampfend auftrat —»die Lilien «hingegen tanzte und schwebte.

Lilien war tatsächlich ein Künstlername. Die Schauspielerin hatte sich da etwas zurechtgebastelt in dem Wahn, es sei der feine Name, der die Karriere mache, wo es doch umgekehrt die Karriere ist, die dem Namen, und zwar ganz gleich welchem Namen, den Glanz verleiht. Die Jugendsünde einer Frau, die vielleicht gar nicht ein Leben lang Schauspielerin sein würde. Sie wolle eigentlich weg vom Theater, ihr Ziel sei, Sprecherin zu werden. Aber das wurde erst ein wenig später mitgeteilt.

Die Tür öffnete ihr Mann oder Freund — das blieb unklar—, und das war Dr. Wittekind, Kunsthistoriker am Museum. Er war blaß und klein, hatte eine schöne hohe Stirn und große sehr helle Augen. Er hielt sich nicht gut. Sein krummer Rücken war die Ergänzung eines stets etwas anzüglich-ironischen Lächelns, mit dem der Mann zu sagen schien:»Das ist fabelhaft, wie gut und straff Sie sich halten, machen Sie das, solange Sie noch nicht darauf gekommen sind, daß es Ihnen genauso wenig nützen wird wie mir.«

Die Rolläden waren herabgelassen. Schon im Flur der genauso wie die obere Wohnung geschnittenen Räume reichten die doppelt gefüllten Bücherregale bis zur Decke.

«Sie sind erwartet«, sagte Wittekind, der vielleicht fünfzehn Jahre älter als Hans sein mochte. Wieder hatte er diesen leicht anzüglich-bedeutungsvollen Ton. Die Schauspielerin erschien. Diesmal trug sie etwas hellgrün und weiß Gestreiftes.

«Sie enttäuschen mich — wo sind die Hosenträger? Wie können Sie es wagen, ohne die schönen Hosenträger hier zu erscheinen?«In der Wohnung duftete es nach Tee und Lavendel. Hans war durch Wittekinds Anwesenheit zunächst etwas gehemmt, aber das verlor sich schnell. Außerdem — was hatte er erwartet? Gar nichts, durfte er sich in voller Aufrichtigkeit sagen. Und dafür fühlte er sich schnell überaus wohl bei den Leuten und wollte schließlich gar nicht mehr aufbrechen.

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