XIII

Der Neumond näherte sich mit großen Schritten, so schien es jedenfalls dem ungenauen Beobachter, der eben noch das fette Halbmondstück vor Augen hatte und dem allmählichen Schwund der Sichel nicht gefolgt war. Jetzt war sie nur noch so zart, als ob ein stärkerer Windhauch sie hätte ausblasen können. Die Gesellschaft im Hinterhof verließ sich auf das künstliche Weiß der Bogenlampen und schenkte dem dahinschmelzenden Mond keinen Blick. Hans mußte länger im Büro ausharren, danach hatte es sich nicht abwenden lassen, daß er mit einigen jungen Kollegen ein Glas trinken ging, so würde er es Ina sagen, obwohl er das Abwenden solcher gemeinschaftlichen Verhaftungen im Internat und bei den Soldaten eigentlich gelernt hatte. Cliquen, die ihn vereinnahmen wollten, bekamen ihn nicht so leicht zu fassen. Aber jetzt zog es ihn nicht nach Hause. Die Telephonate mit Ina während der Bürozeit klangen unheilvoll. Immer wenn er glaubte, das Dunkel lichte sich, kehrte es noch schwärzer zurück. Und ihm war nun klar, daß er dem nichts entgegenzusetzen hatte, sondern selbst nach Hilfe suchen mußte, um die Veränderung, die sich in ihnen beiden vollzog, überhaupt nur zu verstehen.

«Souad hat schon wieder eine andere«, sagte Barbara, die ihre Löwenmähne neu hatte aufblasen lassen. Sie sah nämlich einem Treffen mit ihrem Mann entgegen, am Flughafen, sie würde sich von ihrem Vetter und einem Anwalt begleiten lassen —»das ist nämlich so einer, der hat immer ein Papier in der Tasche, das er sich plötzlich unterschreiben lassen will, und ich unterschreibe gar nichts mehr …«

«Das jetzt kannst du unterschreiben«, sagte der Vetter, der heute pistaziengrün trug und aus seinem Gram in eine mürrische Bestimmtheit hinübergewechselt war. Er gab sich keinerlei Mühe, seiner Cousine gegenüber den Eindruck des Doppelagenten zu vermeiden. Vielleicht war es ihr sogar recht so. Sie konnte sich das Leben ohne ihren herrschsüchtigen und gewalttätigen Mann immer noch nicht vorstellen.

«Ich habe Souad heute mit einer blondgefärbten, nicht mehr ganz jungen, etwas verlebten Frau«— holla, Barbara, Vorsicht! — »mit großem, ziemlich vulgärem Mund und solchen dicken Augenlidern gesehen — Souad, du wirst bald sechzig, das schaffst du doch alles gar nicht mehr.«

Souad jedoch hatte sich Haltung verordnet. Am liebsten wäre er zum Flughafen mitgefahren.

«Warum zeigen wir deinem Mann nicht schnell den ›Habsburger Hof‹ — das dauert zwanzig Minuten. Man muß gesehen haben, bevor man sich engagiert. Er wird mir dankbar sein, daß ich dich so gut berate, und ich weiß gar nicht, warum ich das tue, denn bei mir bleibt dabei kein Pfennig hängen. «Und er war derart darauf bedacht, gewinnend und beflissen zu erscheinen, daß er sich sogar mit seiner Opfergesinnung aufziehen ließ, und bei Geld verstand er sonst keinen Spaß. Mit veränderter Miene wandte er sich Hans zu, der sich widerstrebend setzte, vom Äthiopier sofort mit einer Bierflasche bedacht, und zwar von der Marke, die er beim ersten Mal bestellt hatte. Der Äthiopier merkte sich so etwas.

«Herr Sieger ist wieder bei euch gewesen«, raunte Souad mit stechendem Blick — es gelang ihm, diese weichen Schokoladenaugen in ihrer Klebrigkeit unversehens hart und klein werden zu lassen,»was will er denn die ganze Zeit? Was sagt er?«

Hans war eigentlich entschlossen, sich von Souad nicht das Reden befehlen zu lassen, aber dann siegte seine Neugier.

«Er sagt, daß Sie ihm unsere Miete nicht herausrücken.«

Das sei unerhört, sagte Souad. Die Mieter gehe so etwas gar nichts an. Alles sei korrekt geregelt. Man könne auch nicht sagen, daß Sieger überhaupt nichts bekomme.

«Er behauptet, er habe kein Geld«, sagte Hans.

Ein reicher Mann sei das, heulte Souad auf, immer setze der Mann solche Gerüchte in die Welt.

«Assez, Souad«, rief Frau Mahmouni, die entfernt saß und mit ihrem Taxifahrer plauderte,»Sieger sagt die Wahrheit: Er hat kein Geld. «Es war, als habe Souad einen Schlag bekommen. Er duckte sich und blinzelte verwirrt zu der levantinischen Matrone hinüber, deren Kleid — in dem gewohnten Schnitt — heute mit senffarbenen Gladiolen und Orangen bedruckt war, und vielleicht paßten ihre violetten Gesundheitssandalen sogar ganz gut dazu, es fehlte nur eine schwarze Spitzenmantilla, und sie hätte dennoch ausgesehen, wie von Goya gemalt.

Souad senkte die Stimme. Ein engerer Kontakt mit Herrn Sieger sei nicht ganz unriskant. Es sei nicht leicht davon zu sprechen, aber Hans müsse Bescheid wissen. Er könne dann selber entscheiden, wie er sich zu verhalten gedenke. In diesem weiten Umkreis — Souad machte mit der geöffneten Hand eine kreisförmige Bewegung, die die ganze Welt zwischen seiner Waschanlage und dem» Habsburger Hof «einbezog — sei Sieger bekannt. Nirgendwo hier bekomme Sieger auch nur eine Tasse Kaffee. In dem libanesischen Restaurant drüben habe man ihn sogar vor die Tür gesetzt. Nähere sich Sieger einer Imbißstube, wehre man drinnen ab — der da kriegt nichts. Der Äthiopier hier sei der unglücklichste Mensch von der Welt, denn der müsse Sieger nun einmal bedienen, er sei schließlich sein Mieter, aber dieser Mann finde immer einen Trick, der gehe auf Katzenpfoten. Tut mir leid, haben wir gerade nicht da, und was Sie statt dessen wollen, leider auch nicht. Die elegante Methode, Hans wisse, worum es gehe?

«Er zahlt nicht.«

«Ach, das sind doch Bagatellbeträge, darum geht es doch nicht«, sagte Souad und riß die Augen weit auf. Er hob den Zeigefinger mit dem sorgfältig abgekauten rosigen Fingernagel und legte ihn auf das linke untere Augenlid.

«Verstehen Sie jetzt?«Die rothaarige Frau im dritten Stock habe nach einer längeren Unterhaltung mit Sieger eine Fehlgeburt gehabt. In dem Kiosk des Äthiopiers seien die Sicherungen herausgeflogen, nachdem Sieger dort einen Kaffee getrunken habe. Wann immer er, Souad, mit Sieger gesprochen habe — ganz lasse sich das nicht vermeiden —, habe er stets Erektionsschwierigkeiten festgestellt, Hans solle darauf auch einmal achten. Diese Dinge seien übel. Hans sah so verwirrt aus, daß Souad nicht an sich halten konnte und lauter, als er es eigentlich wollte, hervorstieß:»Der böse Blick. Vor allem Ihre Frau muß aufpassen. Hier weiß jeder Bescheid.«

«Assez, Souad«, kam es wieder, diesmal scharf, von Frau Mahmouni. Souad heulte hündisch, die gekränkte Unschuld.

«Aber jeder weiß doch …«

«Jeder weiß, weil Sie es jedem gesagt haben. Deswegen muß es noch lange nicht stimmen.«

«Aber gerade Sie müßten doch …«

«Ich habe keine Anhaltspunkte. «Dies war mit eisiger Objektivität gesprochen. Hans sah, wie die blauen Adern auf dem Handrücken der Frau Mahmouni hervortraten, ein nerviges Geflecht, das von Willensstärke und einer auch in körperlicher Schwäche ungebrochen bewahrten Kraft sprach.

«Etwas anderes mag allerdings stimmen«, fuhr sie fort.»Das Horoskop von Sieger ist schlecht aspektiert. Er wird tatsächlich immer schlecht oder gar nicht bedient. Die Kellner sehen ihn nicht, obwohl er doch eigentlich nicht zu übersehen ist. Er kann sich auf niemanden verlassen. Was er veranlaßt, wird nicht ausgeführt. Seine Hemden gehen in der Wäscherei verloren oder kommen zerrissen zurück. Seine Anwälte verschlafen die Termine. Er muß alles zu teuer bezahlen.«

Souad verstand diese Rede als Anklage.»Ich bin absolut korrekt zu Herrn Sieger, auf mich kann er sich hundertprozentig verlassen«, das war wieder in jenem maulenden Heulen vorgetragen, mit dem Souad Angriffe auf seine Rechtschaffenheit zu verteidigen pflegte.

«Unsinn«, sagte Frau Mahmouni,»Sie sind der Beweis: ein interessanter Fall — mich bedienen Sie gut, ihn bedienen Sie schlecht — ein und dieselbe Person verhält sich in verschiedenen Konstellationen vollständig gegensätzlich. Das ist ein Faktum. Es ist darüberhinaus auch ein Gesetz. Man kann über ein Gesetz nicht diskutieren. «Dann wandte sie sich, als sitze sie in einer rot-goldenen Opernloge, gravitätisch wieder dem türkischen Taxifahrer zu, den sie» mein Freund «anredete.

Hätte Souad ohne diese öffentliche Zurechtweisung das Bedürfnis verspürt, Hans seine Zuständigkeit in den komplexeren Belangen der Menschennatur nachzuweisen? Barbara rückte mit ihrem Klappstuhl zu Frau Mahmouni, die ihr verhalten, aber streng einen verwickelten Sachverhalt darlegte. Der Sachverstand von Frau Mahmouni in der Abwicklung von Eheverhältnissen war unbestritten. Barbara lauschte mit ungewohnt ernster Miene. Um den Vetter kümmerte sich heute nur der Trinker, aber mit geringem Erfolg, denn der Vetter starrte angewidert zu ihm hinüber und verwandelte sich in ein Denkmal der Unansprechbarkeit. So wenig ihm im Leben bisher geglückt war, so zufrieden war er mit sich, wenn auch mit nichts sonst. Langeweile kannte er nur, wenn andere Leute mit ihm sprachen. War er allein, stieg die Selbstgenügsamkeit wie warmes Badewasser um ihn auf. Irgendwo auf der Welt, so sagte er sich, würde er bald wieder Koch sein, und wenn nicht, war es auch gut. Bei diesem Gedanken konnte er stundenlang verweilen.

«Wenn du so still dasitzt, siehst du aus wie ein vornehmer Engländer«, sagte Barbara häufig, und wenn vielleicht auch nicht ganz sicher war, auf welchen vornehmen Engländer sie sich da beziehen mochte, ahnt man doch, was sie ausdrücken wollte.

«Was diese Frau macht, ist nicht gut«, raunte Souad und behielt Frau Mahmouni dabei im Auge, als wolle er nicht verpassen, ab wann sie wieder mitzuhören versuchte.»Sie weiß genau, daß ich mich in solchen Sachen auskenne, solchen schlimmen Geschichten«, und wieder legte er den Zeigefinger aufs untere Augenlid. Frauen seien in dieser Hinsicht besonders gefährdet, wahrscheinlich habe es auch Frau Mahmouni erwischt, aber sie gebe so etwas nicht zu, sie sei hart wie Stahl — sinnloserweise. Ein Hinweis sei, wenn Frauen häufig grundlos heulten, wenn die Periode ausbleibe, wenn der Beischlaf plötzlich Schmerzen mache, die Verdauung nicht stimme. Ein sicherer Hinweis — bei Frauen häufig —, wenn sie sich plötzlich etwas einzubilden begännen, was nicht da sei, wenn es dieses endlose Gezänke um Einbildungen und Wahnvorstellungen gebe. Krankhafte Eifersucht sei ein Hinweis — hier schaute Souad besonders bedeutungsvoll —, was war in seinem Kosmos wohl krankhafte Eifersucht? Wenn eine Frau keine Ruhe gab und nicht verstand, sich mit Würde ins Unvermeidliche zu schicken? Sehr bedeutungsvoll sei es, wenn Frauen die Frisur wechselten, vor allem wenn sie die Haare abschnitten, außer wegen Läusen, diese Bemerkung war aber nicht scherzhaft gemeint.

Wofür sei das alles ein Hinweis, fragte Hans.

Dafür, daß etwas eingetreten sei. Genauer: Daß etwas in die Frau eingetreten sei. Es kündige an, daß die Frau in sich nicht mehr allein sei. Man müsse dann unbedingt etwas unternehmen, bevor es zu spät werde. Wirkungsvoll schützen könne natürlich nur jemand, der sich auskenne. Er, Souad, kenne sich bei den Frauen aus — deshalb seien Barbaras Sticheleien mit den Frauen, die sie tatsächlich mit ihm gesehen habe, so lächerlich — Frauen, mit denen er sexuelle Affären unterhalte, werde sie niemals mit ihm sehen, aus dem einfachen Grund, daß er selbst sie auch nie sehe. Gegenwärtig seien es drei. Er schlafe keine Nacht länger als drei Stunden. Hier lächelte er versonnen, dann aber wurde er wieder ernst.

Es sei für Hans vielleicht nicht unwichtig, wenn er einmal erlebe, was man in den beschriebenen Fällen tun könne. Gerade heute habe er guten Freundinnen versprochen, sie dorthin mitzunehmen, wo ihnen geholfen werde. In zwei Stunden seien sie zurück.

Hans hatte bei seinen Worten aufgehorcht. Souad war ihm so unangenehm wie je. Bei seinen Eröffnungen war Souad ihm so nahegerückt, daß er sein Parfum roch, ein teures, recht bekanntes Zeug, und das war ihm noch viel peinlicher gewesen. Zugleich konnte er sicher sein, daß kein Essen in der Küche war. Ina hatte für den Haushalt keine Lust und keine Kraft mehr. Es schmecke ihr nicht, wenn es so heiß sei, sagte sie zerstreut. Er gestand sich ein, daß es ihm gleichgültig war, ob Ina ihn erwartete, auch wenn sie plötzlich doch etwas vorbereitet hätte. Hans fühlte den Wunsch, sich treiben zu lassen, womöglich gar von zu Hause wegtreiben zu lassen.

*

Souad fuhr gegenwärtig eine große, schon etwas ältere Limousine. Er wechselte die Autos manchmal monatlich, durch die Waschanlage kam er an günstige Gelegenheiten. Er handelte auch ein bißchen mit Autos, aber wirklich nur nebenbei. An einer Straßenecke — dorthin hatte das Mobiltelephon Lotsendienste geleistet — stieg eine Frau mit braunen nackten Armen, blondgefärbtem, am Haaransatz kräftig schwarz nachwachsendem Haar und großem lachbereiten Mund ein, die Souad» mein Schatz «nannte. Viel Konversation wurde jedoch nicht gemacht. In längeres Schweigen hinein sagte die Frau schließlich:»Jetzt bin ich aber mal gespannt.«

Souad fuhr zügig. Bald schon kannte Hans sich nicht mehr aus. Die Fahrt ging durch Vorstadtniemandsland mit Siedlungsbauten und halbhohen kleinen Fabriken, und in die Einfahrt einer solchen Fabrik bogen sie schließlich ein. Hier stand ein großes Schild:»Gewerberaum zu vermieten«, produziert wurde hier also nichts mehr, aber der Hof war ordentlich aufgeräumt, das Kunststeinpflaster neu. Licht gab es allerdings keins. Nur von der Straße leuchteten die Bogenlampen, aber der Hof war weitläufig, kleine, saubere Schuppen, alle fest verschlossen, legten einen Damm zur Straße hin, und bald wäre man im Dunkeln gewesen, wenn Souads kleines Telephon nicht eine winzige Taschenlampe enthalten hätte: Er konnte sich auf dies Telephon wirklich in jeder Lebenslage verlassen.

Ersticktes Trommeln wurde hörbar. Aus dem Spalt eines Garagentores drang Licht. Bis vor kurzem waren hier hydraulische Hebebühnen zusammengebaut worden. Jetzt sorgten andere Kräfte für Hebung und Bewegung.

Souad klopfte, und nach kurzem schaute eine Frau mit blauem Turban und ebenfalls blauem, silberbesticktem Kaftan heraus, erkannte ihn und winkte ihn freudig herein. Sie war schwarz, eine Marokkanerin aus dem tiefen Süden des Landes, eine Haratin, wie Souad Hans zuflüsterte. In der Garage war es gleißend hell. Scheinwerfer auf Stativen ließen es hier drin unerträglich heiß werden, Hans japste. Er sah viele Leute in dem beschränkten Raum auf Stühlen die Wände entlang sitzen, vor allem Frauen, die meisten mit dem muslimischen Kopftuch, zwei Männer waren aber auch dazwischen, wenn auch mit verlegener Miene, sie waren offensichtlich nur mitgebracht worden. Die blaugewandete Schwarze war hier die Meisterin. Sie dirigierte ihre Gäste. Für Souad, seine Freundin und Hans mußten Stühle freigemacht werden. Kaum daß sie saßen, ließ sich die Schwarze ein Weihrauchgefäß reichen und umkreiste damit Köpfe und Füße der Neuankömmlinge. Im gleißenden Licht herrschte ohrenbetäubender Lärm. Die Stahlplatten dieser Baracke hatten den Trommelklang nur leise nach draußen dringen lassen. Hier drin aber war es, als würden einem die Trommelschlegel auf den Kopf gehauen. Fünf Männer, drei alte und zwei junge, mit braunen Gesichtern, bestickten Käppchen und den Trikots der örtlichen Fußballmannschaft bekleidet, schlugen schweißüberströmt auf ihre Trommeln ein, dann griff einer nach einem Blasinstrument, einer Art Schalmei und erzeugte damit einen kreischenden, schneidenden Ton, aus dem sich eine quälende und zugleich schöne Melodie entwickelte. Viermal wurde sie in Variationen wiederholt. Dazu sangen die Männer mit hellen, gellenden Stimmen, die sie an- und abschwellen ließen.

Die Frau sei berühmt, sagte Souad, ohne die Augen von ihr zu lösen. Auch jetzt hatte er seinen fressenden Blick, aber hierher paßte das, fand Hans und glotzte auch nicht schlecht, während Souads Freundin eingeschüchtert mit niedergeschlagenen Augen auf ihrem Stuhl hockte.

Die Schwarze näherte sich in tänzerischen Schritten einer dicken, ärgerlich blickenden Frau, die abwehrend die Hände hob, aber aufstehen mußte, denn auch ihre Nachbarinnen duldeten nicht, daß sie sitzen blieb. Sie machte aus ihrer Verstimmung kein Hehl, sie begann ihren Tanz in der Mitte der Garage mit einer Miene des Überdrusses und der Langeweile. Es war kein kunstvoller Tanz, ein wiegendes Hin- und Hertrippeln, aber nach einer Weile ging unter der Lärmglocke eine Veränderung in ihr vor. Der ärgerliche Gesichtsausdruck verschwand. Sie verlor jeden Ausdruck und schien im wiegenden Stehen einzuschlafen. Dann zuckte ihr Kopf, begann hin- und herzufallen, und ein Schütteln ergriff ihren ganzen Körper, und nun konnte sie sich nicht mehr auf den Beinen halten, sie schwang und schwankte wie betrunken, sie stürzte, ihr Kopf drohte wieder und wieder auf den Betonboden zu schlagen, wenn da nicht gleich eine Frau herbeigeeilt wäre, die ihn in den Schoß nahm und festhielt. Auf ein Zeichen der Schwarzen verstummte die Kapelle. Die Ärgerliche erwachte aus ihrem Krampf, ließ sich aufhelfen und zu ihrem Stuhl führen. Dort starrte sie vor sich hin. Jetzt kümmerte sich niemand mehr um sie. Erleichtert schien sie nicht. Es war, als hätte sie in ein finsteres Loch gesehen und müsse sich erst wieder an das Licht gewöhnen. Der Ärger war verschwunden, ein tiefsinniges Fragen war an seine Stelle getreten, ein Ausruhen am Straßenrand nach einem Unfallschock hätte so aussehen können.

Als die Musik wieder anhob, wurde eine schlanke Frau mit fest bandagiertem Kopf in den Kreis geschoben. Niemand schien gern tanzen zu wollen. Alle mußten sich offenbar dazu überreden lassen, nachdem sie doch Bescheid wußten, was sie erwartete, aber der Anordnung der blaugewandeten Schwarzen widersetzte sich niemand lange. Die Bandagierte löste ihren weißen dünnen Schleier. An ihren Schläfen klebte das zusammengedrückte hennarote Haar, aber ihre Augen waren aquamarinblau und groß. Sie war sehr weißhäutig und hatte trotz ihrer Schlankheit ein kindlichzartes Doppelkinn, Magerkeit und lieblicher Speck schlossen sich bei ihr nicht aus. Sie blickte ängstlich auf die Schwarze, die ihr ermutigend zunickte und die Männer der Kapelle anwies, sie in engem Kreis zu umgeben. Das Mädchen steckte in einem Lärmgefängnis. Man glaubte, ihre Bewegungen seien Fluchtversuche, sie strebe den Kreis zu durchbrechen, um wieder auf ihren Stuhl zu gelangen, aber in Wirklichkeit waren das schon die Krämpfe, die sie übergangslos in Besitz genommen hatten. Sie warf ihren Körper herum, sie breitete die Arme aus, als versuche sie einen taumelnden Flug, sie öffnete den Mund, als wolle sie schreien, aber nicht einmal ein Röcheln war zu hören, jeder Laut wurde von den immer wilder trommelnden und singenden Männern niedergehalten, bis auch sie zusammenbrach, und diesmal war das Hinzustürzen der Frauen zu der sich am Boden Windenden wie das von Feindinnen, als sollten ihr dort unten die Haare ausgerissen und die Augen ausgekratzt werden. Auch sie kehrte benommen wie nach tiefem, bösem Traum auf ihren Platz zurück, auch von ihr wandte man sich ab wie von einem Menschen, dessen Unglück zu groß ist, als daß man ihn trösten könnte.

Souad löste keine Sekunde den Blick von ihr. Er trank diese Ekstasen mit einer Hingabe, die selbst das Telephon nicht hätte steigern können.

«Die habe ich hierher gebracht«.

Aber nun erhob sich, ohne erst genötigt werden zu müssen und mit einer Duldermiene, die sich in die Mißhelligkeiten des Lebens zu schicken wußte, eine tonnenartige Frau mit einem Gesicht, in dem alles übergroß war. Auf ihrem Hinterteil stand der Oberkörper wie auf einem gemauerten Piedestal. Sie agierte gleichsam auf der Basis eines von ihrem Körper unabhängigen Hinterteils. Ihre Augen waren geschlossen, ihre Bewegungen höchst ökonomisch, da gab es kein Kopfwerfen und Hin- und Herfallen. Sie versetzte mit kleinen Schritten ihren Nilpferdleib in ein Beben, hob die Arme über den Kopf und war, vom Musiktosen umbrandet, in ihr kaum merkliches Wiegen vertieft, doch als die Musik abbrach, sah sie genauso verstört um sich wie die beiden jüngeren Frauen, die davor hatten bewahrt werden müssen, sich zu verletzen. Wie hätte man die schwere Frau auch vor der eigenen Gewalt schützen mögen? Sie hätte sich über die Helferinnen gewälzt und ihnen den Atem genommen. Und doch war auch sie in einen Zustand geraten, als sei sie einer Art Gefahr entronnen, die zu schlimm war, um sich über dies Entrinnen schon freuen zu können.

«Man wird das Böse, das in einem steckt, nie wieder los — man muß sich mit ihm arrangieren, sich an es gewöhnen, einen Kompromiß damit schließen«, sagte Souad, als die Musik wieder einmal schwieg. Ein schönes junges Mädchen mit Armbändern und Ketten, an denen Goldtaler hingen — das sah sehr nach Hochzeitsschmuck aus —, wurde nun in den Kreis gezogen. Sie blickte sich um. War der eine der beiden Männer etwa ihr Ehemann? Hans meinte aufspringen und die junge Frau aus der Garage wegführen zu müssen. Wenn dies alles hier zu etwas gut war — der Anblick der erschöpften und ratlos vor sich hinstarrenden Frauen ließ das nicht allzu sicher erscheinen —, dann mußte es im Verborgenen geschehen. Was war das für ein Ehemann, der mit anderen zusah, wie seine Frau dermaßen außer sich geriet? Der Mann schien wohl ähnliches zu empfinden. Er schwitzte vor Angst und Peinlichkeit, während die Frau ihn jetzt schon vollkommen vergessen hatte. Hans dachte an Ina. Souad mochte recht haben mit seiner Diagnose, die bei Ina etwas traf, obwohl er gar nicht ausdrücklich von ihr gesprochen hatte. Aber bei der Vorstellung, sie hier in dieser Garage zu wissen, nach dem Kommando der Zauberin tanzend und umfallend, erschrak er, als habe er ihr ein Leid getan.

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