IV

«Sie haben hier den Riesenvorteil, daß ich tagsüber oft in der Autowaschanlage bin und von dort aus alles am Haus überblicken kann«, sagte Abdallah Souad.»Es kann praktisch niemand das Haus betreten, ohne daß ich das weiß. «Es wurde ihm, in dem Augenblick, da er sich rühmte, wohl selbst klar, daß man diese vollkommene Überwachung vielleicht nicht nur genießen mochte. Er fügte deshalb hinzu, daß er oft, allzu oft gar nicht hinüberschaue, er sei mit den eigenen Angelegenheiten mehr als belastet. Das Personal der Autowaschanlage, gegenwärtig zwei Männer, einer aus Ghana, der andere aus Albanien, bedürften eiserner Aufsicht. Es wisse heute niemand mehr, was Arbeit sei.

«Arbeit«, sagte Abdallah Souad mit anklagendem Nachdruck,»ein Fremdwort. Das muß überhaupt erst wieder gelernt werden. «Barbara war mit dem Taxi davongefahren, und es war der Äthiopier, der ihr mit unwandelbarem Lächeln den Schlag geöffnet hatte. Souad blieb mürrisch sitzen, war sitzend von Barbara, deren Lockenschlangen bei dieser Prozedur seinen Kopf verbargen, auf die Wangen geküßt worden, wobei sie, in dem Bestreben, die flüchtige Berührung mit den Lippen sinnlicher erscheinen zu lassen, als sie war,»Mm «und» Mm «bei jedem Kuß machte, und schaute ihr mit leerem Blick hinterher, als ein solchermaßen Geküßter wohl mit einem gewissen Recht. Wie sie kicherte und mit vorgestrecktem Popo in engen, dünnen Hosen schauspielerisch küßte, war sie vielleicht gar ein bißchen beschwipst. Frau Mahmouni harrte ungerührt weiter in der Nacht aus. Sie saß so hingegossen in dem Kunststoffklappstuhl, als entspanne sie sich nach Vorstellung bei der englischen Königin in einem Teezelt auf dem Rasen des Buckingham-Palastes. Jetzt wandte sie sich dem Äthiopier zu und sprach raunend und eindringlich in sein zart gelbliches Ohr. Später wurde klar, daß sie stets so lange ausharrte wie er, weil er sie nach Hause brachte. Er war Nachtportier in dem Hotel, in dem Frau Mahmouni wohnte.

«Es ist schrecklich mit einem Menschen, der nicht weiß, was er will«, sagte Souad.»Ich sage zu ihr: Du weißt nicht, was du willst. «Das war in seinem Verständnis eine beunruhigende Analyse, die sich seine Freundin zu Herzen hätte nehmen müssen, am besten so:»Ich sehe ein, daß ich nicht weiß, was ich will, und werde deshalb von jetzt ab tun, was du willst.«

«Darauf wird es sowieso hinauslaufen«, sagte Souad, der den letzten Gedanken freilich nicht hatte laut werden lassen, deshalb etwas abrupt.»Zum Schluß wird sie machen, was ich gesagt habe — und dann ist es vielleicht zu spät. «Im übrigen tue er seit Wochen kein Auge mehr zu.

Seine Miene änderte sich. Das Muffige, das seine Werbung um Barbara so unvorteilhaft begleitet hatte, verschwand. Er strahlte verhalten. Es war, als öffne er den Deckel einer Schatztruhe und sehe darin die Dukaten glänzen. Er sei erschöpft von der Liebe. Er habe im Grunde keine Zeit mehr für anderes als die Liebe.

«Ich bin achtundfünfzig — ich weiß, man sieht mir das nicht an, ich färbe das Haar etwas, aber den Körper können Sie nicht betrügen. Ich habe allein gestern nacht zweimal Liebe gemacht — bedenken Sie mein Alter. «Er sah Hans offen und ohne Neid an. Er erinnerte sich, was ein junger Mann leistete, und machte sich nichts vor. Dafür nehme er sich jetzt viel mehr Zeit, und das Erlebnis werde stärker, erschütternder. Und es sei überall und in jeder Situation zu haben. Er tippte auf das Telephon in seiner Brusttasche, dies bebende Wesen, das seine elektronischen Erschütterungen unmittelbar an seine Haut weitergab. Souad behielt Frau Mahmouni fest im Auge, als versuche sie ihm die Worte von den Lippen abzulesen, was man sich durchaus vorstellen konnte. Aber war Souad eigentlich an Geheimhaltung gelegen? Wollte er sein physisches Glück nicht am liebsten mit der ganzen Welt teilen?

Dieses Glück hatte begonnen, als eines Tages eine Frau anrief, die er nicht kannte und die ihn, wie sie behauptete, gleichfalls nicht kannte —»obwohl ich das für ausgeschlossen halte, ich bin überzeugt, sie hat sich nicht verwählt«.

Ihre Stimme war warm und wohlklingend, und sie lachte so nett, als das Mißverständnis sich aufklärte. Man wußte nicht wie — auf einmal war man im Gespräch. Und diese sinnliche, sanfte Stimme verführte Souad dazu, die Unterhaltung ein wenig verfänglicher zu gestalten. Sieh da, sie ging darauf ein.

«Was man so sagt«, erklärte Souad in dem Ernst, in dem ein Mann dem anderen Mann Geständnisse macht, denn alle Männer sind bekanntlich gleich und sagen dasselbe. Hans konnte schlecht ableugnen, er wisse nicht,»was man so sagt«. Er hatte dabei mit Eroberungen eigentlich gar keine Erfahrung. Was sich in seinem Leben an Abenteuern ergeben hatte, war durch ein beinahe unmerkliches Hineingleiten zustande gekommen, es war wie beim Struwwelpeter-Hoffmann, als der Hans-guck-in-die-Luft ins Wasser fällt und seine Mappe verliert: Kaum ist er triefnaß an Land gezogen, heißt es:»…und die Mappe schwimmt schon weit«. An das wichtige Zwischenstadium, nachdem er ein Mädchen kennengelernt hatte, bis zu dem Zeitpunkt, an dem» die Mappe schon weit schwamm«, konnte er sich nicht einmal bei seiner Frau erinnern, bei ihr war ihm schon geradezu, als habe es sie immer gegeben, einer erstaunlichen Nichtachtung und Wesenlosigkeit fiel die Zeit vor ihrem Auftreten anheim. Als Historiker seines Lebens jedenfalls versagte Hans spektakulär. Souad hingegen bewahrte den einzelnen Stufen seiner Eroberungen ein genaues Gedächtnis. Er war Jäger — so bezeichnete er sich jetzt wörtlich —, er wolle die Frau nicht serviert bekommen, sondern sie zur Strecke bringen.

«Sehen Sie mal hier«, er ließ das Display seines Telephons aufleuchten und Hans die Botschaft lesen, die er angeblich soeben empfangen habe.»Je veux faire l’amour avec toi, chéri.«

«Ich verachte so etwas«, sagte er streng, indem er die Botschaft wegdrückte, ob in den Orkus der Vergessenheit oder doch in ein geheimes Vorratsfach, blieb unbesprochen. Einzigartig war, wenn man ihm glaubte, die Entwicklung gewesen, in der die Fremde mit der schönen Stimme immer weniger fremd geworden sei und Einblicke in ihre Vergangenheit gewährte. Wie kostbar war der Augenblick, in dem er verstand, daß sie ihre Erlebnisse im Bett nicht widerwillig preisgab, als er scheinbar nüchtern und mit der Objektivität ärztlicher Lebenserfahrung das Thema einzukreisen begann — man kann unter erwachsenen Menschen schließlich alles, mit der gebotenen Dezenz freilich, besprechen —, sondern geradezu darauf wartete, die letzten Hemmungen abzustreifen und ganz und gar indezent zu werden. Stundenlang habe die Unterhaltung inzwischen gedauert. Lange nach Mitternacht sei man endlich zur Sache gekommen. Sie sprach über ihren ersten Liebhaber; ob man damit weit in die Vergangenheit zurückging oder nur vom letzten Jahr die Rede war, wollte Souad bewußt zunächst unerörtert lassen.

«Sie sagte, sie sei zweiundzwanzig, die Stimme klang zwar älter, aber man kann sich in Stimmen irren. «Souad wußte von Fällen, in denen eine gurrende, erotisierende Stimme mit grauer Unscheinbarkeit der Erscheinung einhergegangen sei. Das Meer der Erfahrungen war uferlos. Wer sich darin treiben ließ, begegnete immer neuen Meeresfrüchten, mit bizarren Formen und von schlüpfrig schimmernder Leiblichkeit. Souad durfte jetzt wie ein Untersuchungsrichter fragen, streng und keine Ausflüchte zulassend.

«Was genau hat der Mann mit dir gemacht? Wie hat er dich ausgezogen? Hat er die Backen angefaßt, als er den Schlüpfer heruntergerollt hat? Waren deine Beine breit oder zusammen? Wo waren seine Hände?«Und dann nach einer Weile, als sie bereits auf viele solche Fragen scheinbar zögernd, sich dann aber überwindend immer ausführlicher Auskunft gegeben hatte, habe er es gehört, das schönste aller Geräusche, seinen Triumph, die Vorbereitung seines eigenen höchsten Glücks: ein etwas heftigeres Atmen, ein leises Japsen.

Ob er die Frau danach kennengelernt habe? Hans fühlte sich zu einer Frage verpflichtet, denn die Stille, in der Souad nach der Wirkung seiner Worte im Gesicht seines Zuhörers forschte, war ihm peinlich geworden. Souad guckte seinen Mitmenschen so rücksichtslos ins Gesicht, daß man schon von einem Angaffen sprechen mußte, das auf eine Gegenseitigkeit der Blicke gar nicht mehr aus war. Was der andere dazu denken mochte, wenn er so gemustert wurde, war Souad gleichgültig. Sein Gegenüber wurde in solchen Augenblicken gleichsam zur Leiche, die der Gerichtsarzt in der Morgue untersucht.

«Ich kenne sie, wir sprechen jeden Tag, sie hat mir auch ihre Freundinnen zugeführt, ich kann mich vor Anrufen nicht mehr retten«, sagte er schließlich mit Behagen.

«Und wie sah sie aus?«

«Sie hat mir ein Bild geschickt. Ein schönes Bild. Sie sieht darauf aus wie ein Photomodell, aber ich glaube, das Bild zeigt nicht sie. Niemals werden wir uns treffen, wo denken Sie hin. Ich bin ein vermögender Mann, ich habe die Waschanlage, ich habe …«Hier senkte er mit Blick auf die weiterhin raunende, weiterhin kühl zu Hans und Souad hinübersehende Frau Mahmouni die Stimme,»ich habe noch andere Interessen, jede Menge — ich bin geschieden, meine Frau hat keine Ansprüche, alles ist geklärt —, von einem solchen Mann träumen die Frauen, aber nicht mit mir«. Man müsse aufpassen, das sei seine Lebensregel: Vor allem aufpassen. Diese Regel sei auf vieles anwendbar, auf alles letztlich.

«Tu was du willst, aber paß auf. «Er blieb allein in seinem Bett, hatte aber das Telephon am Ohr und erlebte die reichsten und auslaugendsten Liebesstunden, wie schon lange vor seiner Scheidung nicht mehr — und er sei mit einer der schönsten Frauen weit und breit verheiratet gewesen — der schönsten überhaupt, aber ohne Herz und Hirn. Er vermisse sie keinen Tag. Immerhin hatte er aus seinen Ehetagen etwas Praktisches im Gedächtnis behalten.

«Wo werden Sie schlafen, wenn Ihre Frau morgen kommt?«Im Keller stehe noch ein großes Bett, das werde er morgen von dem Ghanesen in den vierten Stock schaffen lassen.

Hans hatte drei Bierflaschen geleert. Der Äthiopier ersetzte mit Diskretion jede leere Flasche augenblicklich durch eine volle. Aber die Mondnacht sprach deutlicher zu ihm, seitdem er etwas Alkohol im Blut hatte und aus dem Licht der Bogenlampe in den Schatten gerückt war. Sonnenlicht war so stark, daß es den ganzen Himmel leuchten ließ, aber der Mondschein überglänzte nur sanft, was unter ihm lag. Es war im Mondlicht, wie wenn man bei einer Kerze sitze, die den Gegenständen einige Lichter aufsetzte und sie im übrigen ins Dunkel übergehen ließ. Man ahnte die Massen nur noch, die sich in eigensinniges Schwarz zurückzogen. Das machte die Räume kleiner und größer zugleich. Schließlich war ihm zumute, als habe er einen Raum im eigenen Körper betreten, der groß war, dessen Grenzen sich nicht abschätzen ließen, und der dennoch etwas von einer Höhle hatte. In dieser dunklen Höhle war es zu den Gesprächen des späten Abends gekommen, die so ungewohnt für ihn waren, die ihm aber zugleich das Gefühl gaben, in der Wohnung, die er gemietet hatte, schon längst zu Hause zu sein.

Wenn Frau von Klein von der» Scheußlichkeit «Frankfurts sprach, mochten viele ihr zustimmen, ohne darüber nachzudenken, worin diese hoheitsvoll diagnostizierte Scheußlichkeit eigentlich bestehe. Hing Frau von Klein etwa an der im Krieg und während des Wiederaufbaus restlos vernichteten mittelalterlichen Stadt? Mittelalter und Frau von Klein, das war gewiß keine glaubwürdige Konstellation. Sie machte sich das Urteil mit der Scheußlichkeit etwas zu leicht. Verwüstet durch den Aufbau war jede von Bomben zerstörte deutsche Stadt. Jede von ihnen enthielt Schreckensorte, die eindringlicher als jedes Mahnmal davon sprachen, was durch den Krieg in Deutschland geschehen war. Das spezifisch Abstoßende an Frankfurt war daran gemessen etwas Zartes, das erst aufgestöbert und ins Bewußtsein befördert werden mußte: Ausgesogenheit konnte man es nennen, Verödung von Lebensadern, einen Pappkartongeruch, den feinen Staub in einem Lager mit Büroartikeln, den vollständigen Verlust von Hall und Timbre durch einen habgierigen Ausbau und die Nutzbarmachung von verborgenen Kavernen, Hohlräumen, in denen die alte Stadtluft gleichsam konserviert hätte werden können, von vergessenen Speichern, von gegenwärtigem Gebrauch entzogenen Vorräten, die eine geheime Reserve für die Zukunft hätten bilden müssen. Die Stadt war ausgeräumt, wie es im Deutsch der Gynäkologen bei gewissen radikalen Operationen heißt. Das war es vielleicht, was die Leute ahnten, wenn sie, ohne große Kenntnis, die Stadt verwarfen, und was auch Hans auf dem Fahrrad auf jeden Fall in der Innenstadt empfand, obwohl er weit entfernt davon war, es aussprechen zu können. Auf dem Baseler Platz trat dies Ausgesogen- und Ausgeräumtsein sogar in besonderem Maße ans Licht.

Aber jetzt hatten der kalte Mond und die noch kälteren Bogenlampen das Haus, den Hof und den Platz unversehens angeglüht. Es war, als knacke es leise in den Gemäuern, und das war keineswegs eine harmlose Empfindung. Behaglich und gastlich war einem bei diesem Knacken nicht zumute. Das blies sich auf, das Haus schlug gleichsam die Augen auf, und das ist bei einem Totgeglaubten ein erschreckender Anblick.

*

Am nächsten Abend sollte Ina mit ihrer Mutter am Flughafen eintreffen. Frau von Klein hatte nur zwei Stunden Aufenthalt, dann würde sie nach Hamburg weiterfliegen. Es war gut zu wissen, daß sie bei der ersten Wohnungsbesichtigung nicht dabei sein würde. Hans vertraute Ina, aber er fühlte sich der Lage nicht gewachsen, ihr seine Wohnung vorzuführen und sie dafür zu gewinnen, wenn gleichzeitig die mit Gewißheit zu erwartenden galligen Kommentare seiner Schwiegermutter zu bekämpfen wären. Frau von Klein fand grundsätzlich eine einzige Art von Haus bewohnbar: den in den fünfziger Jahren entwickelten Walmdach-Bungalow, wie er die nach dem Krieg entstandenen Villenviertel zierte. Ob sehr groß oder weniger groß war gar nicht so wichtig. Ein Schloß lehnte Frau von Klein jedenfalls grundsätzlich ab. Das schuf zuviel Abhängigkeit, in einem Schloß war man auf andere Leute angewiesen, die man nicht einfach wegschicken konnte. Treppen waren gleichfalls ein Graus. Ein Haus, in dem sie leben sollte, mußte vollständig ebenerdig sein, damit man nicht außer Atem geriet, wenn man nur ins Schlafzimmer ging. Treppen bedeuteten zwangsläufig, daß der Gegenstand, den man gerade eben brauchte, im anderen Stockwerk war. Es sollte hübsch konservativ und landhausmäßig aussehen bei ihr — dafür stand das Walmdach —, aber im übrigen praktisch und modern sein und sich keinesfalls von den Häusern ihrer Freunde unterscheiden. Aber würden die Treppen am Baseler Platz wirklich verhindern, daß sie nicht doch einmal die Anstrengung unternahm, sich dort hinaufzubemühen?

Mittags rief Souad im Büro an. Er war nicht allein. Hans hörte im Hintergrund Barbara kichern.

«Wir haben das Bett hinaufgeschafft«, sagte er mit seiner hellen Heiserkeit, und Barbara rief im Hintergrund:»Die Turteltäubchen! Ruckedigu! Ruckedigu!«

Hans war bei der Aussicht, Ina heute abend wieder bei sich zu haben, so aufgeregt, daß er die Indiskretion der ganzen Situation kaum empfand und sogar für die Familiarität, die in dieser Unterstützung lag und die er ebenso gut hätte Distanzlosigkeit nennen können, dankbar war. Das Wetter übernahm gleichfalls einen Part an diesem spannungsvollen Tag. Der Morgen war, überraschend genug nach der klaren Mondnacht, drückend und grau. Es wurde nach Souads Anruf immer dunkler, als solle es geradezu Nacht werden. Im Büro gingen überall die Neonröhren an, und dann tat es einen Donnerschlag, daß Hans meinte, die Bleistifte auf seinem Schreibtisch müßten in die Luft springen. Vor den Fenstern des zwanzigsten Stocks eröffnete sich ein großartiges Kriegspanorama. Die Blitze stürzten wie sich verzweigende und mäandrierende Flüsse vom Himmel. Die Stadt verwandelte sich unter den gewaltigen Donnerschlägen in eine Pauke, auf die gnadenlos eingeschlagen wurde. Dazu knatterte und zischte es, als zerreiße das Trommelfell schließlich unter den Schlägen, und dann ergoß sich der Regen in Sturmfluten. Schwall und Rauch und Klebrigkeit der letzten Tage wurden von der Stadt abgewaschen, als sei sie in Souads Waschanlage geschoben worden. Das Wasser spritzte und sprudelte und quoll aus den verstopften Gullys, es kam nicht nur vom Himmel herab, sondern stieg auch aus der Erde auf. Im übrigen verhielt sich der Himmel wie ein cholerischer Mensch, der in der Wut gleichsam erblindet und alles kurz und klein schlägt, um alsbald erschöpft in sich zusammenzufallen. Auf den Straßen standen noch die Seen, da lächelte es von oben schon wieder hellblau herab. Zu einer wirklichen Erfrischung fehlte aber viel. Die Feuchtigkeit verdampfte, es wurde schnell wieder warm.

In der Kunstwelt des Flughafens war von solchen Exaltationen nichts zu ahnen. Mutter und Tochter waren sanft gebräunt, die Mutter eine Spur mehr als die Tochter, Ina nur wie angehaucht, aber dadurch noch verschönt, auch etwas weniger zart als bei der Abreise. Vor Frau von Klein in Wiedersehensentzücken auszubrechen, verbot sich für sie beide, aber Hans bemerkte an Inas Schweigen und Lächeln, wie glücklich sie war, wieder bei ihm zu sein. Jede Minute, die sie da immer noch mit Frau von Klein in einem Flughafen-Café sitzen mußten, war ihnen eine Qual. Hätte die Schwiegermutter sie nicht einfach wegschicken können? Sie dachte gar nicht daran.

«Ich hoffe, ihr habt ein Gästezimmer«, sagte sie beim Abschied. Es war eine Denkunmöglichkeit für sie, im Hotel zu wohnen. Sie wäre sich wie eine Landstreicherin vorgekommen.

Viele Vorbereitungen hatte Hans nicht treffen können. Das Büro ließ wenig Zeit für Einkäufe, man schien sich sogar zu wundern, daß er um halb sieben schon aufbrach. Sein Plan sah so aus: Man konnte natürlich in der Pension schlafen, aber er dachte doch darauf hinzuwirken, daß sie in der neuen Wohnung, in den hallenden leeren Räumen campierten. Er wollte die Wohnung gemeinsam mit Ina in Besitz nehmen. In der Mittagspause hatte er Champagner und eine gebratene Ente gekauft, Bettzeug war auch in der Tasche. Er hatte an Kerzen gedacht, um das nackte Glühbirnenlicht ausschalten zu können. Im Parkhaus küßten sie sich, kaum daß sie im Auto saßen, wie einst die Liebespaare im Autokino. Sie blieben recht lange an diesem unwirtlichen Ort und fuhren erst weg, als ihnen der Fahrer des Nachbarautos in die Scheibe sah. Beide sprachen vergnügt. Hans bereitete Ina auf das Kommende vor.

«Du darfst nicht entsetzt sein. Es ist nicht schön. Wir müssen es uns schön machen.«

Ina erzählte von Ischia. Sie hielt es für ausgeschlossen, daß er einen Fehler gemacht haben könnte. Der Abend half ihm, die Ankunft zu schmücken. Der Himmel war seidenblau, Mond und Sterne leuchteten trotz der Helligkeit mühelos. War der Baseler Platz wirklich so schlimm? Selbst die roten Bremslichter der Autos trugen bei, ihn festlich zu illuminieren. Im Hof parkten sie. Die abendliche Runde war wegen der Nässe offenbar noch nicht zusammengetreten, der Rolladen vor dem äthiopischen Stehimbiß ließ den Ausschank ebenso ausdruckslos aussehen wie seinen Besitzer. Sie stiegen die Treppen hinauf. Es polterte im Treppenhaus. In der Wohnung schlug ihnen der Farbgeruch entgegen, da hätte man tüchtig lüften müssen. Hatte Hans die Fenster nicht offen gelassen? Jetzt waren alle geschlossen — von Souad, wie sie anderntags erfuhren, der durch das Schlagen der Fensterflügel während des Gewitters alarmiert worden sei. Der große Eckraum in seinem gleißenden Sahneweiß gefiel Ina. Sie trat ans Fenster und sah auf die Lichter draußen. Sie war in der Stimmung eines Kindes, das im Speicher seines Elternhauses zum ersten Mal auf Entdeckungsfahrt geht, und das im Rausch des Geheimnisses bereit ist, jedem Ding, das es dort oben findet, eine besondere Bedeutung zuzumessen. Hans breitete sein Picknick auf dem Tisch mit den gedrehten Säulenbeinen aus. Als sie sich umwandte und die Flasche und die gebratene Ente sah, machte sie eine Miene, als sei dies alles in einem Zauber durch die Luft geflogen. Sie tranken aus demselben Glas, Ina nicht viel, denn sie mochte eigentlich gar keinen Champagner, was Hans hätte wissen können, aber er hatte sich ganz von der Vorstellung einer Liebes-Theater-Inszenierung hinreißen lassen.

«Willst du das Schlafzimmer sehen?«Er ging durch den Flur voran. Er öffnete die Tür und machte Licht. Tatsächlich, Souad hatte nicht zuviel versprochen. Dort stand ein breites Polsterbett mit ziemlich fleckigen Matratzen. Aber was war in diesem Zimmer geschehen? An den Wänden klebten dicke Dreckbatzen, weiß-schwarze Spritzer, als habe jemand einen schmutzigen dicken Pinsel ausgeschüttelt. Auch auf dem Bett war weißer Dreck. Hans stand noch verwundert, als Ina schon begriffen hatte und aufschrie.

Auf dem Boden hockte eine große Taube, satt aufgeplustert in einer Federpracht, die dem verwilderten Großstadttier gar nicht zuzutrauen war. Nein, sie hockte nicht. Sie lag auf dem Bauch und hatte sich mit den Flügeln zugedeckt, der Kopf war still zur Seite gedreht, das runde Vogelauge starr zur Decke gerichtet.

«Faß sie nicht an«, rief Ina, die zitterte und sich nicht von der Stelle rührte.

«Sie ist tot«, sagte Hans,»aber wie ist sie hier hereingekommen?«

Die Taube war äußerlich unverletzt. Er holte aus der Küche eine Kehrichtschaufel — die Küche war der am vollständigsten ausgerüstete Raum — und schob sie unter die Taube. Sie war so leicht, als bestehe sie nur aus dem Federkleid. Ina hatte sich herumgedreht. Sie schwieg. Sie wandte alle Kraft darauf, sich zu beruhigen.

«Verzeih bitte«, sagte sie, als sie ihn schließlich mit einem fremden Gesicht ansah, aber immer noch, als wolle sie gleich in Tränen ausbrechen,»ich habe vergessen, dir zu sagen, daß ich eine furchtbare Angst vor Tauben habe.«

Hans machte kein Federlesen. Sie verließen sofort die Wohnung und fuhren in die Pension. Das war ohnehin bequemer.

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