XII

Zwischen Beunruhigung und Erleichterung schwankte Hans, aber die Erleichterung war zunächst stärker. Daß Ina ihm keine Vorwürfe machte, daß sie keine Rechenschaft für die letzte Nacht forderte, ließ ihn aufatmen, und aus einer gerade überwundenen furchtsamen Reue wurde fürsorgliche, anteilnehmende Überlegenheit, in die sich auch ein kleines wohlverborgenes Lächeln mischte, wenn Ina nicht hinsah, und sie mied seinen Blick, das war in den wechselnden Stimmungen der letzten Tage zu einer Konstante geworden. Betont ruhig stellte er Fragen. Wo habe sie gestanden? In welchem Winkel habe sie aus dem Fenster gesehen? Er führte sie an das rechte äußere Fenster, das auf eine ähnliche Häuserzeile wie das linke blickte, auch Buntsandsteinhäuser standen hier vereinzelt, dazwischen die armen Wiederaufbau-Fassaden, durchaus mit dem Bild aus dem anderen Fenster vergleichbar, aber eben ohne Souads Waschanlage. Konnte es sein, daß sie zunächst aus dem einen, dann aus dem anderen Fenster geguckt hatte? Er selbst tue sich immer noch schwer damit, rechts und links auseinanderzuhalten; dieses scherzhafte Eingeständnis einer kleinen Schwäche erntete einen blitzenden Verachtungsblick. Hans suchte daraufhin einen anderen Zugang zu ihr. Im Grunde entspreche ihr Erlebnis seinen eigenen Empfindungen und wahrscheinlich denen vieler Menschen, ohne daß jemals darüber gesprochen werde. Sei es nicht eigentlich ein Wunder, was man erlebe, wenn man ein dunkles, aber wohlvertrautes Zimmer betrete und das Licht anmache? Sei es nicht jedes Mal eine geheime Überraschung, daß da alles so dastehe, wie man es im Gedächtnis behalten habe? Er selbst habe als Kind lange geglaubt, die Sachen tauschten in der Dunkelheit die Plätze und rasten, noch während man auf den Schalter drückte, zu ihrem alten Standort zurück, wo sie gleichsam atemlos stramm standen, wenn es hell wurde — aber wer genau hinsah, konnte Sessel und Kommoden noch nach Luft ringen sehen. Die Möbel machten aus der Betätigung ihrer verborgenen Selbständigkeit eine militärische Übung.

«Was willst du damit sagen?«fragte Ina, und deutliche Ablehnung lag in ihrer Stimme. Er sei davon überzeugt, daß diese kindliche Vorstellung eine Realität berühre, man könne sich so etwas schließlich nicht ausdenken. Diese Realität sei die Erfahrung, daß die Gegenstände sich unsichtbar machen könnten — ob sie nun den Betrachter blendeten oder ob sie sich tatsächlich selbst unsichtbar machten — Erfahrungen des täglichen Lebens eines jeden Menschen, die allerdings einen tiefen Schacht hinab in die wahre Natur der Dingwelt gruben. Oder hätte sie noch nie erlebt, daß sie Schlüssel und Brieftasche verzweifelt in allen Winkeln suchte, während das Zeug die ganze Zeit vor ihrer Nase lag? Man müsse auch bedenken, daß der Mensch nur sehen könne, worauf er geistig eingestellt sei. Die Südseeforscher berichteten von einer abgelegenen Insel, deren Bewohner noch nie einen Ozeandampfer gesehen hatten, und die ihn folglich auch nicht sahen, als er in ihrer Bucht schwamm — er war gleichsam zu groß, um gesehen zu werden. Ein verwandtes Phänomen hatte sich womöglich heute auch bei ihr zugetragen: Sie sei nicht disponiert gewesen, Souads Waschanlage zu sehen — was er verstehe, denn Souad sei wirklich ein schmieriger Patron —, und so habe sie sie so lange nicht gesehen, bis sich die Wirklichkeit gegenüber ihrer seelischen Abneigung wieder durchsetzte.

«Ich finde Souad bei weitem nicht so unangenehm wie die Wittekinds«, sagte Ina,»und ich finde, daß du wie Wittekind sprichst, du ahmst ihn schon nach, und ich versichere dir, das paßt nicht zu dir. «Im Grunde sei hinter seinen an den Haaren herbeigezogenen Überlegungen und Abschweifungen, die allesamt ihr Erlebnis nicht wirklich beträfen, nur eines herauszuhören: Daß er ihr nicht glaube. Aber so mürrisch und ablehnend auch klang, was sie sagte, sie hatte sich doch beruhigt. Das haltlose Schluchzen, das ihre Miene in die einer fremden Frau verwandelte — und keiner hübschen —, lag nun weit hinter ihr, etwas Fremdes, an das sie sich kaum erinnerte.

Hans schlug vor, sie in ein Restaurant zu führen. Außer Butter, Honig und Brot wäre auch nicht viel im Haus gewesen. In dem polternden Treppenhaus dämpfte er seine Schritte, bis sie an der Wittekind-Wohnung vorübergekommen waren. Wir sind ja regelrecht belagert, dachte er, während er an der ausdruckslosen Tür des Paares vorüberschlich, und in die Sorge mischte sich auch schon etwas rechtschaffene Empörung, als hätten die Wittekinds die Pflicht gehabt, sich nach dem gestrigen Abend in Luft aufzulösen.

Hans hatte Inas Verwünschung der Wohnung nicht ungern gehört. Es war bei aller Improvisation zwar schon ein nettes Geld in die Herrichtung der Räume gesteckt worden, Ina versäumte keine Gelegenheit, etwas Notwendiges zu kaufen — was sie in den Kartons in Hamburg alles bereits besaßen —, und es hatte sich in wenigen Wochen angesammelt, was man schon einen ganzen Hausrat nennen durfte. Wer sich vom Prinzip des benediktinischen Mönchtums verabschiedet und Bett, Tisch, Stuhl und zwei Gewänder, dazu ein Messer, eine Gabel, einen Löffel und ein Mundtuch zum Leben nicht für ausreichend hält, der wird, auch wenn er arm ist, bald eine staunenswerte Fülle von Dingen besitzen, und zwar gerade als Armer, so will es ein höhnisches Paradox. So sind denn auch die verrückten Landstreicher, viele Frauen darunter, mit ihren prallgefüllten Tüten — die listigen unter ihnen haben einen Einkaufswagen aus dem Supermarkt an sich gebracht, was die Menge der mitgeführten Tüten freilich nur steigert — die wahren Realsymbole unserer Existenz. Wie sie schleppen wir eine Unzahl von Gegenständen durchs Leben und unterwerfen uns der Last, unablässig scheinbar dringend benötigtes Zeug anzuhäufen, es durchs Land zu fahren, es mit Mühe und Not unterzubringen und alle Lebenssorgen auf es zu verschwenden. Wenn Gerichtstag gehalten wird, etwa am Tag eines Umzugs oder einer Haushaltsauflösung, hebt sich für einen Augenblick die Verblendung, und der Irrsinn des staats- und wirtschaftserhaltenden Sammeltriebes wird sichtbar.

Aber Hans war großzügig und Ina nicht mittellos. Was Frau von Klein ihr überwies, wollte Hans nicht wissen, und er sollte es nach dem Willen seiner Schwiegermutter auch nicht. Sie war zwar jetzt zufrieden, ihre Tochter verheiratet zu haben, aber sie sah es als ihre Pflicht an, die Bande, in die sie eben noch eingewilligt hatte, kaum daß sie bestanden, allmählich auch wieder zu lockern. Hans empfand die Vorstellung, daß Ina eine neue Wohnung suchte, die ihr von vornherein und allein schon deswegen zusagen würde, weil sie es war, die sich für sie entschieden hatte, als glänzenden Ausweg aus der seit ihrer Rückkehr aus Italien so bedrückend gewordenen Verstimmung. Es sei offenbar auch der Hausbesitzer ein verdächtiger Vogel, sagte er, als sie vor ihrem Salat saßen, um Ina zu ermutigen.

Da widersprach sie ihm überraschend: Nein, keineswegs, Urban Sieger sei schätzenswert. Sie habe ihn geradezu gern und wolle ihn nach Möglichkeit nicht verletzen. Er sei offen zu ihr gewesen — hier verdunkelte sich ihr auf Hans gerichteter Blick, es gebe nicht viele Menschen, die so offen seien. Und er sei unglücklich, und sie vermute, daß er dieses Unglück nicht verdient habe. Wie es denn überhaupt mit dem Verdienen des Unglücks so eine Sache sei: Wer habe schließlich sein Unglück wirklich verdient? Wer mache sich schon klar, wie hoch die Rechnung sei, die uns für die kleinsten Unachtsamkeiten und Irrtümer ausgestellt werde? Längst Vergessenes müsse hart und unnachsichtig abgebüßt werden — so sei es doch. Ihre Augen füllten sich wieder mit Tränen. Sie saßen ein wenig abseits, da mochten die Tränen denn rollen, ohne Aufsehen bei den Nachbarn zu erregen, die diese Trauer eines schönen jungen Mädchens gewiß der Herzlosigkeit ihres Begleiters angelastet hätten.

*

Als habe Sieger dies Bekenntnis der Sympathie und des Mitgefühls mitbekommen — nach volkstümlicher Vorstellung klingt es einem in den Ohren, wenn weit entfernt lobend über einen gesprochen wird, und Sieger war von echt elephantenhafter Empfindlichkeit, so daß sich dies Klingen bei ihm am Ende wirklich ereignete —, stand er am anderen Tag wieder vor Inas Tür. Sie sah schon an dem ungeheuren Schatten auf dem Milchglas, wer geklingelt hatte. Wie Siegers Kopf auf den breiten Speck- und Wasserschultern saß, hatte sich ihr eingeprägt. Er war vom Treppensteigen so erschöpft, daß er schweigend und tief atmend vor ihr stand und nur den Zeigefinger hob, als wolle er sagen:»Aufgepaßt! Ich beginne zu sprechen, sowie ich in der Lage dazu bin.«

Er war wieder in weißem Hemd und schwarzer Hose, das schien seine einmal angenommene Tracht, im Winter kam dann wohl die schwarze Anzugsjacke hinzu. Als er eingetreten war und sich niedergelassen hatte, bat er um ein Glas Wasser. Aus einer kleinen Dose nahm er bunte Tabletten und warf sie sich in den geöffneten Mund. Er komme aus einem ihr wahrscheinlich absurd erscheinenden Grund, sagte er in der flehenden Höflichkeit, die ihm eigen war und mit der er Ina für sich eingenommen hatte. Er habe schließlich hier gelebt, zunächst mit seinen Eltern, dann nur mit der Mutter, dann ganz allein — und er bekenne, daß er diesen Tag herbeigesehnt habe —»Ich habe meine Eltern geliebt, und ich war ihr geliebter Sohn, und ich habe sie dennoch in Gedanken ermordet«— nicht anders dürfe man diesen Wunsch, hier einmal ganz allein zu leben, deuten — dies Alleinsein habe schließlich den Tod der Eltern vorausgesetzt — so werde man zum Gedankenmörder. Die bösen Wünsche gingen immer in Erfüllung — wisse sie das?

Ina wußte es nicht, aber es traf sie tief, sie würde sich das merken. Herr Sieger hatte keinen sichtbaren Hals. Das Fett war ihm bis zum Kinn gestiegen, und oben auf dem Schulterplateau rollte sein Köpfchen nun scheinbar lose hin und her. Er verband in seiner Erscheinung seltene Massen mit einer verblüffenden Zerbrechlichkeit. Ina kochte jetzt Tee. Es sei in der Hitze gut, etwas Warmes zu trinken, sagte sie und genoß es, diesem sie anrührenden Mann fürsorglich Belehrendes zu sagen, was sie allerdings nur nachschwatzte. Was bei Hitze gut sei, darüber hatte sie sich wie jeder gesunde junge Mensch noch nie den Kopf zerbrochen. Wenn Herr Sieger Inas schöne Tasse zum Mund hob, verschwand der Henkel vollständig, die Tasse sah aus wie ein Fingerhut.

Die ersehnte Einsamkeit sei ihm gewährt worden, sagte Herr Sieger, aber dann habe er auch den Sog kennengelernt, den diese Leere entwickelte und von dem er sich keine Vorstellung gemacht habe. Und dieser Sog habe eine Frau hier herauf zu ihm getragen. Das sei ein geradezu physikalischer Vorgang gewesen. Sie war älter als er, eine Frau von großen Erfahrungen und scharfsinnig, aber sie mußte unbedingt ihren Willen haben, was ihn aber gar nicht gestört habe, ihm sei es so unwichtig, seinen Willen zu haben, daß er oft daran zweifle, ob er überhaupt einen besitze. Der Gegensatz zwischen ihnen sei stark gewesen. Hier der scharfe Wille, dort vollkommene Willensschlaffheit — so drückte er selbst das aus —, hier die Fähigkeit zu gnadenlosem Haß, dort die Unfähigkeit zum Haß aus der Gleichgültigkeit heraus.»Ich würde nie behaupten, ich sei ein guter Mensch«, sagte Herr Sieger,»was bei mir wie Güte aussieht, ist nur Schwäche. Bei guten Menschen kommt das Gute aus der Stärke.«

Womit aber nicht gesagt werden solle, seine Frau mit ihrer Hassenskraft sei böse gewesen, nein, keinesfalls, nur unerhört verletzbar. Von ihrem ersten Ehemann hatte sie eine Stieftochter, der sie Schlimmes nachsagte —»Sie interessierte sich eben allzu leidenschaftlich für andere Menschen, das war ihr Fehler. Wer so genau hingucken will, muß sich auf das Fürchterlichste gefaßt machen. «Er vergesse nie, wie diese Stieftochter, die weit weg, gar nicht in Deutschland lebe — die es eigentlich schon beinahe gar nicht mehr gebe —, das Verbrechen begangen habe, seiner Frau eine Weihnachtskarte zu schicken, mit vorgedruckten Grüßen. Er habe sie mit dieser Karte in den Händen vorgefunden, und sie habe vor sich hingeflüstert:»Sie soll im Haus des Teufels kochen«, und dabei habe sie mit ihrem brennenden Blick den gedruckten Text studiert, als wolle sie ihn sich für die Ewigkeit ins Hirn prägen.

«Würden Sie sagen, daß Sie nicht zusammengepaßt haben?«fragte Ina, die ihm mit großen Augen lauschte. Was sie bedrückte — benennen hätte sie es ohnehin nicht können — war weggeflogen, während Sieger bei ihr war. Sie fühlte eine innere Saite schwingen, solange sie ihm zuhörte.

«Im Gegenteil«, sagte Sieger, als verrate er ein Geheimnis,»wir haben uns ergänzt. Ein gutes Paar soll zusammen entweder ein großes Ganzes ergeben oder sich gegenseitig aufheben zu Plus-Minus-Null — wie Sie es mathematisch lieber haben, ist Ihre Sache, aber beides ist richtig. Das große, runde Ganze ist für die anderen so undurchdringlich, daß es für die Außenwelt der Null schon nahekommt, die beiden sind für die restliche Gesellschaft nicht existent. Kurze Zeit haben wir das wahrscheinlich sogar erlebt. Ich habe sie gut gekannt, zu gut erkannt — ich habe sie erkannt. Ohne sie wäre ich nicht geworden, was ich jetzt bin. Ohne sie wäre ich nicht …«

Er brach ab, legte den kugelig beweglichen Kopf nicht ohne Mühe in die Säuglingshände — es kam mehr eine Geste dabei heraus als ein wirkliches Bedecken des Gesichtes, denn die Arme waren zu kurz für den dicken Leib —»…oh, wäre ich doch nur nicht«, seufzte er, indem er seinen Fragment gebliebenen Satz in eine neue, trostlose Richtung weiterentwickelte.

Ina verweilte bei dem Gedanken, daß ein so raumbeanspruchender Mensch von sich wünschen konnte, nicht zu sein. Wie verwundert müßte die Erde sein, die seine Last getragen hatte, sollte sein Wunsch in Erfüllung gehen. Es war wohl kaum mehr als ein Gedankenexperiment, zu dem Herr Sieger mit seinem selbstzerstörerischen Seufzer einlud. Nachdem es ihn in seiner Fülle nun einmal gab, werde man ihn sich nie wieder spurlos verschwunden denken können, zu diesem Schluß kam Ina.

Sieger faßte sich und begann wieder zu sprechen. In diesem restlosen Ineinanderaufgehen sei offenbar doch ein Rest übrig geblieben, der keine Entsprechung fand: bei ihr selbstverständlich nur, denn sie war die außergewöhnliche, die nach seinen Worten geradezu überlebensgroße Persönlichkeit. Sie hatte ihm eines Tages den Ehering vor die Füße geworfen. Er habe sich auf den Boden legen müssen, um ihn aufzuheben, aber erst, nachdem sie gegangen sei — er habe sie nicht noch mit dem Anblick einer solchen Geste belasten wollen.

Ina mußte das Schweigen, das sich ausbreitete, schließlich brechen, es ging über ihre Kraft. Sie brachte Zitroneneis aus dem Kühlschrank und hatte das Vergnügen, Herrn Sieger mit einem in seinen Händen winzig wirkenden Löffelchen dies Eis genießerisch löffeln zu sehen. Sie hatte das Richtige getroffen, etwas Süßes. Jetzt konnte man den Gesprächsgegenstand wechseln. Ob sich der Eingang der Miete inzwischen geklärt habe? Geklärt ja, sagte Herr Sieger, aber leider habe er nichts davon erhalten. Souad rücke einfach nichts heraus. Er habe ihn angerufen, aber Souad sei einfach zu abgelenkt.

Ina fragte, ob sie in Zukunft die Miete nicht lieber unmittelbar an Sieger schicken solle. Da wurde er ängstlich und aufgeregt: Nein, keinesfalls. Man solle an solche Dinge nicht rühren. Wenn Souad merke, daß das Geld nicht mehr komme, könne er sehr zornig werden —»und das ist auch für Sie nicht gut«.

Aber da sei etwas anderes, weswegen er sie heute störe, obwohl allein schon dieser Genuß, in der eigenen Wohnung, in der er soviel Schweres erlebt habe, nun ganz entspannt Eis zu essen, diesen Besuch mehr als rechtfertige. Er habe sich vorgenommen, seiner Frau den Ehering zurückzugeben — ohne große Worte. Sie selbst solle entscheiden, wie sie diese Handlung bewerte: als endgültigen Bruch oder als Wiederanknüpfung — beides könne in dieser Gabe gesehen werden, und er selbst werde sie in dieser Vieldeutigkeit auch belassen —»das ist das Ehrlichste so, denn ich weiß tatsächlich nicht, was ich will«. Nur stehe ihm nicht mehr vor Augen, wo er den Ring nach seinem Auszug aus der Wohnung bloß hingetan habe. Lange habe er gesucht, vergeblich. Da sei ihm in der letzten schlaflosen Nacht —»können Sie bei dieser Hitze schlafen?«— plötzlich die Eingebung zuteil geworden, der Ring könne in jenem Glas mit den Reisemünzen sein. Daß dieses Glas immer noch in dieser Wohnung herumstehe, sei an sich schon ein Wunder — warum kein zweites Wunder erwarten? Ob sie gestatte, daß er einmal nachsehe?

Ina stand sofort auf und holte das Glas aus der Küche. Auf dem Schreibtisch mit den Säulenbeinen leerte sie die Münzen aus. Sieger hatte sich erhoben und sah auf den staubigen Haufen. Mit den Fingerspitzen schob er die Münzen auseinander, bis keine mehr auf der anderen lag.

«Es ist eine Enttäuschung«, sagte er leise, fuhr dann aber mit einem Eifer fort, als müsse er sich selbst überreden:»Ja, es ist mehr: das Ende der Täuschung. Ich habe mich in meiner Nachtstunde nur allzu gern von der Täuschung umarmen lassen, aber der Tag läßt dies Gespenst zerflattern. Ich bin Ihnen unendlich dankbar, daß Sie mir Gewißheit in dieser Frage verschafft haben«— wenn er die Wahrheit gesprochen habe, als er ihr seine Willens- und Absichtslosigkeit gestand — und er sei davon überzeugt —, dann dürfe er jetzt nicht betrübt sein. Ein bestimmter Weg, der sich als Möglichkeit auftat, sei verschlossen. Es sei der nicht ihm bestimmte Weg. Mit solchen Reden wiegte und schob er sich dem Korridor entgegen. Er verließ Ina, indem er sie zärtlich, wie ihr vorkam, aus seinen kleinen Augen ansah. Sie stellte sich vor, daß in seinem Leib eine kleine hochbewegliche Seele wie ein Flaschenteufelchen eingesperrt war, die zwischen seinen Füßen und dem Kopf auf den sanftesten Druck hin auf- und abtanzte.

Als Ina allein war, ging sie nachdenklich im Korridor spazieren. War es nicht ein Zeichen, daß im abgesteckten Kreis dieser Wohnung nun schon wieder etwas nicht an dem Platz gewesen war, an dem es mit Sicherheit vermutet wurde? Sie staunte, wie gefaßt Sieger das Verschwinden des Ringes aufgenommen hatte, als wäre seine Wiederauffindung so bedeutsam auch nicht gewesen. In träumerischen Gedanken legte sie sich auf das Sopha und ließ den Besuch des Hausbesitzers an sich vorbeiziehen. Er war ein Liebender, daran bestand für sie kein Zweifel, und indem sie das dachte, stiegen ihr wieder Tränen in die Augen, aber diesmal nicht heftig quellend, ja geradezu spritzend wie beim letzten Mal, sondern als milde, große Tropfen, die eine Weile in ihren schönen Wimpern hängenblieben und dann über Schläfen und Wangen hinabrannen. Ein tiefes Selbstmitleid erfüllte sie. In welchem Gedicht stand die Zeile:»Was hat man dir, du armes Kind, getan?«Angesichts Siegers Liebe fühlte sie sich unendlich verlassen und zu kurz gekommen. Nie würde sie etwas Ähnliches erleben.

Als sie dann in Schlaf sank, merkte sie eine Weile nicht, daß sie träumte, denn sie durchwanderte auch mit zugefallenen Augen ihre Wohnung, öffnete die Türen und sah in die aufgeräumten Zimmer. Alles, was darin war, erkannte sie als etwas Vertrautes oder gar selber Angeschafftes und selber Aufgestelltes. Auch was Sieger gehörte, wurde jetzt im Traum noch einmal ganz deutlich so benannt. So hübsch und mit leichter Hand dekoriert, wie sie in der Tageswirklichkeit erschien, erlebte sie auch die Wohnung des Traumes. Sie sah die Teppiche und die neuen Fenster, die Souad leider anstelle der Sprossenfenster hatte einsetzen lassen, weil er als Hausmeister ein besonders ernsthaftes Verhältnis zur Heizung unterhielt, vielleicht auch weil sein südliches Herz in Deutschland zu verfroren war.

Warum also war dies ein derart beunruhigender, ja erschreckender Traum? Figuren traten keine auf, es war nur ein Schweifen durch die renovierten Räume. Der Schrecken entstand denn auch nicht durch die Bilder, die der Traum zeigte, als vielmehr durch das Wissen der Schläferin, worum es sich bei diesen Räumen handelte.

In ihrem Schlafzimmer, dem am wenigsten hübschen Zimmer der Wohnung, weil es für ein großes, modernes Ehebett einfach zu klein war, hörte sie, während sie den Traum-Fußboden betrachtete, der sich in nichts von dem realen Boden unterschied, eine Stimme sagen:»Dies ist das Haus des Teufels. «Und augenblicklich war ihr trotz allem Vertrauten, was sie wiedererkannte, klar, daß die Stimme die Wahrheit sprach.

Ja, es sah genauso aus wie in ihrer eigenen Wohnung. Und doch wohnte hier die vollständige Hoffnungslosigkeit. Hier gab es nichts, woran man in Verzweiflung noch hätte appellieren können, nichts, woran man hätte anknüpfen können. Keine Sprache war hier denkbar, mit der man sich hätte verständlich machen können, keine Konvention, keine Regel, keine Dauer. Hier zerfiel jeder Gedanke. Sehen konnte man das nicht. Da gab es nur eine schlecht geschnittene, neu geweißelte Wohnung. Aber einer, der wußte, wer hier wohnte, der erkannte die Leere hinter den hübschen Allerweltszimmern. Und wem die Sinne dafür erst einmal geöffnet waren, der konnte die Gewißheit, es gebe nichts Schreckliches, das in diesen Räumen unmöglich und das dann auch unabwendbar gewesen wäre, niemals wieder vergessen.

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