VIII

Es war etwas geschehen, mit dem weder Hans noch Ina hatten rechnen können. Ein gesunder, junger Mensch stellt sich Veränderungen des Lebens stets als äußeres Ereignis vor: ein neuer Beruf, eine neue Liebe, ein großer Erfolg, neue Menschen, eine neue Stadt, ein neues Land. Wer klug ist, mag hier auch allfälliges Unglück in Rechnung ziehen, denn wir bewegen uns auf dünnem Eis, unsere Schritte erzeugen ein Knistern, das der Lebenserfahrene hören kann, der Bruch der Eisdecke eines Tages ist das zu Erwartende. Im Kleinen war das selbst dem glücksbegabten Hans so geschehen. Man zog sich sorgfältig an, um zu einer wichtigen Verabredung zu eilen, setzte sich aufs Fahrrad, sauste davon auf gewohnten Wegen, auf denen jeder Stein einem vertraut war, geriet bei dem Versuch, einem entgegenkommenden Auto auszuweichen, mit dem Vorderrad zu nah an den Bordstein, schlidderte die Kante entlang und flog schließlich über das Lenkrad hinweg auf den Asphalt. Die Hosen waren zerrissen, die Hände, die sich aufgestützt hatten, blutig verschrammt, das Knie tat weh, mußte durchleuchtet werden und war angebrochen. Die Verabredung fiel aus, die nächsten Tage verliefen völlig anders als geplant, das alles hatte sich in einer einzigen Sekunde entschieden. Ein philosophischer Augenblick war das, wenn man es recht bedachte und seine Schlüsse daraus zog. Solche Einbrüche hinzunehmen und gar anzunehmen und zu überwinden, wurde vom erwachsenen Menschen erwartet. Das Scheitern aller Pläne war immer mit einzurechnen.

Was aber geschah, wenn gar nichts Schlimmes geschah: niemand gestorben, kein Haus abgebrannt, keine Schulden und keine Krankheit, und das Leben, das weiterhin nicht aufhörte, sich wie vorgesehen und erhofft und angestrebt zu entwickeln, dabei unversehens eine neue Farbe annahm, einen unerwarteten Geruch, eine Eintrübung des Lichtes hinnehmen mußte, wenn die Luft dicker wurde und das Atmen zur Arbeit?

Ina dachte an Herrn Siegers Worte über sein Haus, das einem anderen Jahrhundert entstammte und sich nun in einer Welt befand, für die man es nicht geplant hatte. Ohne sich selbst verändert zu haben, war es plötzlich etwas Minderwertiges, Schäbiges geworden. Was ihr eigenes Befinden anging, das ließ sich gewiß nicht mit einem solchen Haus vergleichen, aber sie war durch Siegers Worte auf eine Spur gesetzt worden. Wie gut es ihr ging. Wie froh sie war, Hans geheiratet zu haben und mit ihm als seine Frau zu leben, was sie beide jahrelang angestrebt hatten — die Verlobungszeit zog sich auch deshalb so lange dahin, weil Ina ihre Mutter zunächst unbedingt im Guten bewegen wollte, die Zustimmung zu dieser Ehe zu geben, erst als das aussichtslos war, erklärte sie, Hans dennoch zu heiraten. Von diesem Tag an hatte Frau von Klein sofort alle Bedenken fallenlassen und sogar behauptet, sie sei von Anfang an für diese Ehe gewesen, aber die jungen Leute wüßten eben nie, was sie wollten. Wie sehr dieses Leben, das Ina jetzt führte, ihren Hoffnungen und Absichten entsprach, gerade auch, was die Zurückgezogenheit anging, die sich aus der Fremdheit der Stadt ergab; beide hatten sich vielfach versichert, wie sie sich danach sehnten, die Vielzahl der Leute loszuwerden, die Ansprüche an sie erheben durften. Wie zufrieden sie sein konnte mit dem Renovieren und dem Einkaufen für die Wohnung — all dies stand als unbestreitbares Glück vor ihren Augen.

Alles war, wie es sein sollte — und doch, alles war zugleich ungreifbar anders als erhofft und erwartet. Das Freudenfeuerchen, das immerfort gebrannt hatte, wenn sie zusammen waren, war erloschen. Aber wann genau? Erst bei der Rückkehr von der Italien-Reise mit Frau von Klein? Während dieser Reise? In den Tagen danach? Hatte dieses Erlöschen mit der Reise zu tun? Ina machte sich insgeheim Vorwürfe gereist zu sein. Sie sah jetzt, was ihre Mutter ihr da zugemutet hatte: Den jungen Ehemann allein zu lassen bei neuer Stelle und ohne Wohnung und sich dann bei der Rückkehr ins gemachte Nest zu setzen. Und wenn sie sich auch nicht in regelrechte Selbstanklagen hineinsteigerte, so suchte sie doch die Schuld bei sich. Hans warf sie nichts vor, er war wie zuvor, war verliebt und lächelte, wenn er sie sah, und war außerdem unerhört fleißig und geschickt, was die Bank anging. Nur daß sie inzwischen mit Bangigkeit zu bemerken meinte, daß die Veränderung, dies Unnennbare, das alles überschattete und matt machte, auch an ihm nicht vorüberging.

Eine Weile wiegte sie sich in der Hoffnung, daß Hans gar nichts wahrnahm von diesem über ihr hängenden großen Flügel, unter dem es dunkler war. Es tröstete sie und beruhigte sie, daß diese trübe Einfärbung offenbar kein objektives Ereignis war, sondern nur von ihr wahrgenommen werden konnte. Dann glaubte sie, sie selbst müsse nur einfach von ihrem Eindruck wegsehen, ihn unbeachtet lassen und so tun, als sei alles beim alten. Unversehens kam sie sich in ihrer Schauspielerei aber würdelos vor. Warum sollte sie Freude zeigen, wenn ihr danach nicht zumute war?

«Was hast du?«fragte Hans eines Nachts, als der Mond auf ihre Bettdecke schien, weil sie das Rouleau noch nicht heruntergezogen hatten. Ihre Antwort ist schon tausend Mal auf eine solche Frage gegeben worden:»Nichts«, aber sie fügte, nach einer Weile des Schweigens wenigstens hinzu:»Es hat nichts mit dir zu tun. «Da war es Hans nicht zu verdenken, wenn er die Ohren spitzte.

*

Eine erste größere Auseinandersetzung — Krach will man sie nicht nennen, aber ungewöhnlich war sie doch für die beiden — gab es, als die Leute im dritten Stock,»le ménage Wittekind«, wie Frau von Klein gesagt hätte, zum Abendessen baten. Hans freute sich über diese Geste von Herzen. Er hatte Ina schwungvoll und begeistert von seinem Besuch erzählt und nachgedacht, wie man die Verbindung vertiefen könne. Ob es passend sei, dieses Paar einzuladen? Da rief Britta schon an und schlug» ein einfaches kleines nachbarliches Essen «vor. Aber Ina freute sich nicht. Was sie gehört hatte, machte sie nicht neugierig. Sie war schüchtern, und sie hatte sich kaum außerhalb ihrer eigenen gesellschaftlichen Kreise bewegt. Ein Mann mit so vielen Büchern würde sie ganz gewiß langweilig finden. Was sagte man zu einem solchen Mann? fragte sie ratlos, als enge die Lektüre vieler Bücher den Gesprächshorizont des Lesers derart ein, daß er nicht mehr in der Lage sei, eine Tischkonversation zu bestreiten. Die Vorstellung, eine Schauspielerin zu sehen, war ihr gleichfalls nicht angenehm, auch wenn sie hübsch sei. Obwohl Hans nachdrücklich von dieser Hübschheit sprach, zeigte sich bei Ina aber nicht der kleinste Zipfel Eifersucht. Sie war selbst hübsch und fand es selbstverständlich, daß die Leute, mit denen man verkehrte, hübsch waren, und sie ging großzügig mit diesem Prädikat um, das unterschied sie von vielen Frauen, die einen übelwollenden, zänkisch-kritischen Blick auf das eigene Geschlecht werfen. Ina wollte geradezu, daß Frauen hübsch waren und auch Hans gefielen. Es war, als ahne sie sehr deutlich — eigentlich über ihre Erfahrung hinaus, aus einer grundsätzlichen Disposition heraus—, daß Hübschheit und erotische Anziehung zwei Dinge waren, die miteinander nichts zu tun haben mußten. Auch sie fand, daß Schauspielerinnen zu den» interessanten Leuten «gehörten, wie das hieß, daß es erstrebenswert sei, mit einer» hübschen Schauspielerin «einen Abend zu verbringen, so entschieden sie für sich selbst alle Schauspielerei ablehnte, aber sie fühlte sich außerstande in dieser ihr noch rätselhaften, undeutlichen Verfassung» interessante Leute «zu besuchen. Das mußte einen Mißerfolg geben.

Davon sagte sie Hans nichts, sondern schlug vor, er möge alleine gehen —»wenn es denn überhaupt klug sei, mit Leuten aus dem Haus so schnell Freundschaft zu schließen«. Das könne sich doch zu einer großen Belastung entwickeln. Es sei ihr unheimlich, die Leute dann womöglich jeden Tag irgendwie mit Freundlichkeit bedenken zu müssen, immerfort unter dem Druck zu stehen, sich gegenseitig einzuladen, und schließlich Angst zu haben, die Wohnung zu verlassen, weil man Schritte im Treppenhaus gehört habe. Als Hans das alles nicht gelten lassen und vor allem keinesfalls allein dort erscheinen wollte —»wie das denn aussehe, ein zweites Mal«—, versuchte sie, sich hinter ihrer Mutter zu verschanzen. Heute sei der Telephontag von Frau von Klein, denn heute gehe sie nicht aus und sitze allein zu Hause, ein bemitleidenswertes Bild.

Es war eigentlich erst der Appell an die Bedürfnisse von Frau von Klein, der die Schärfe ins Gespräch brachte. Plötzlich wollte Hans von den Wünschen und überhaupt dem Befinden seiner Schwiegermutter nichts mehr wissen. Es sei ihm gleichgültig, was Frau von Klein an einem solchen einladungsfreien Abend unternehme. Wie sie die tote Zeit, ohne von anderen Leuten unterhalten zu werden, bis zum Schlafengehen herumbringe, interessiere ihn nicht. Es lasse ihn die Vorstellung kalt, daß Frau von Klein heute abend vor Langeweile Juckreiz bekomme. Frau von Klein habe sich niemals für das Befinden anderer Leute interessiert — und könne in diesem Desinteresse durchaus für vorbildlich gelten —, vor allem aber sei ihr ihre Tochter stets perfekt gleichgültig geblieben: Sie habe ihr ja nicht einmal einen richtigen Namen gegeben. Ina — das sei kein Name, sondern die Abkürzung eines Namens, aber ob Georgina, Albertina oder Martina gemeint war, wisse Frau von Klein nicht, die nur einen einzigen Zweck mit dieser Ina verfolgt hatte: Das Monogramm ihrer Silbersachen — sie hieß Irma — sollte auch für die Tochter passen, damit später nichts graviert werden mußte. Tatsächlich war im Familienkreis von der praktischen Gleichheit des Monogramms von Mutter und Tochter gelegentlich die Rede, aber im Sinn des Lobpreises für soviel vorausschauendes Wirken. Es wirkte geradezu heimtückisch auf Ina, daß Hans dieses Familienthema jetzt zu seiner Schmähung der Schwiegermutter hervorholte.

Sie war verletzt, weil ein solcher Angriff bei dem geduldigen, aber auch diplomatischen Hans bisher nicht vorgekommen war. Sie hatte sich mit ihm einig geglaubt, daß ihre Mutter zu ertragen sei und daß er die Notwendigkeit, sich deren Launen zu beugen, genauso erkannte wie sie selbst. Hier tat sich ein Riß auf, den sie als bedrohlich empfand. Niemals würde sie zulassen, daß Hans einen Machtkampf um Frau von Klein erzwang. In der Stimmung, in die sie geraten war, hatte niemand das Recht, zum Wanken zu bringen, was ihrem Leben Sicherheit gab.

Als Hans und Ina gebadet und erfrischt in leichten sommerlichen Kleidern, rundum appetitlich und erfreulich aussehend, das bereits erwähnte» schöne Paar «eben, bei Lilien und Wittekind klingelten, war dies überzeugend schöne Aussehen, das die Gastgeber sichtlich wahrnahmen, nur die Fassade, hinter der sich eine ernste Verstimmung verbarg. Man hatte keine Zeit gehabt, sich zu versöhnen, war dazu auch nicht geneigt und hatte in frischem Zank die Wohnung verlassen.

Die obere Wohnung war weit, hell und etwas nackt, hier unten war alles höhlenhaft und wirkte dadurch auch ein wenig kleiner. In der Sommerhitze war allein der Anblick der beiden erfrischten Frauen schon ein Labsal, es war, als gehe Kühle von ihren Körpern aus. Sie mochten gleich alt sein, aber Ina erschien als die Jüngere, das Bühnendasein gab Britta die Möglichkeit, ein souveränes Auftreten auch dann zu markieren, wenn ihr danach eigentlich nicht zumute war. Zwischen den Bücherstapeln war ein kleiner Tisch aufgeschlagen, ein richtiges Tischlein-deck-dich war herbeigeflogen, mit Kerzenleuchtern und einem Eiskübel und daraus ragenden Weinflaschen. Der lässig in seine freundliche Ironie wie in eine bequeme Hausjacke gehüllte Hausherr wirkte, als habe er kaum vom Schreibtisch aufgesehen, während all dies herbeigeflogen war. Britta kam nämlich aus dem Theater und hatte zu Vorbereitungen keine Zeit gehabt, aber wer immer da tätig geworden war, er hatte seine Arbeit geschickt gemacht.

Es gab nur kalte Sachen. Gekühlte Tomatensuppe mit Basilikumblättern, kalten Braten und Bohnensalat, schließlich Zitroneneis, das mußte Ina dann doch gefallen. Sie entspannte sich auch, wie Hans aus den Augenwinkeln festzustellen meinte, wenn sie seinem Blick auch weiterhin auswich. Wittekind behandelte Ina mit zeremonieller Höflichkeit, aber Hans zweifelte, ob seine großen, etwas hervortretenden Augen sie überhaupt wahrnahmen. Mit Lebhaftigkeit sprach er, wenn er sich an Hans wandte. Durch Ina schien er, mit mondhaft gütiger Miene, hindurchzusehen.

Man sprach davon, wie schön es wäre, an einem solch heißen Abend vor diesem Treffen noch im Main schwimmen zu gehen, der schließlich beinahe an der Haustür vorüberfloß. Vor dem Krieg sei das üblich gewesen, sagte Wittekind, obwohl der Fluß damals schmutziger gewesen sei als heute. Man habe in dieser Zeit einen Fluß ja noch ganz unschuldig als große Abflußrinne angesehen. Die Strömung sei heute natürlich erheblich stärker, weil der Fluß ausgebaggert und für die großen Schlepper schiffbar gemacht sei. Wer heute in ihn hineinsteige, komme wahrscheinlich weit entfernt von seinen Kleidern wieder heraus. Dennoch werde sich das ganze Verhältnis der Bewohner zu ihrer Stadt ändern, wenn sie wieder im Fluß schwämmen.

«Du gehst doch niemals schwimmen, nicht am Meer und nicht im Schwimmbecken«, sagte Britta. Wittekind gab das mit der bekannt gelassenen Miene zu, richtig, er selbst schwimme nie, wisse auch nicht, ob er es noch könne, denn er sei das letzte Mal in tiefem Wasser gewesen, als man ihn in der Schule dazu gezwungen habe. Als Hans allein dagewesen war, hatte Britta gesammelt und andächtig gelauscht, so sah das doch aus, wenn ihr Freund sprach und nachgerade dozierte. Sie hatte Hans das Gefühl vermittelt, daß sie selbst am meisten genieße, an diesem Born der Weisheit zu sitzen, aber heute gab sie Widerwort und stichelte gegen ihn, als ob sie eine Störung seiner Gelassenheit versuche, aussichtslos freilich, die ironische Hausjacke verbarg in Wahrheit ein Kettenhemd, das undurchdringlich war. Hans meinte zu sehen, daß es Inas Anwesenheit war, was Britta veränderte. Sie wollte sich in der Gegenwart einer anderen Frau ganz offensichtlich nicht nur passiv ergeben darstellen.

Die Arbeit gegenwärtig sei sehr intensiv, sagte sie mit großem Ernst. Sie arbeite gegenwärtig mit Alexander Rutz — den Namen mußte man offenbar kennen —, und das sei eine Chance, aber auch eine harte Herausforderung. Sie habe keine große Rolle in diesem Stück, sie wolle gegenwärtig ganz bewußt keine große Rolle, aber Rutz arbeite aus ihrer kleinen Partie eine Miniatur heraus, die in ihrer Präzision beinahe zum Zentrum des Abends werde. Britta beschrieb die Rolle einer Frau, die von ihrem Liebhaber verlassen worden sei und nun vor Schmerz fürchten müsse, wahnsinnig zu werden. Wie aber lege Rutz dieses Wahnsinnigwerden an? Aus dem Text gehe so gut wie nichts hervor. Es schwinge mit, beim ersten Lesen aber entgehe einem der Wahnsinn, sie habe zunächst überhaupt nichts davon bemerkt.

«Die Frau hat verstanden, daß der einzige Mann, den sie je geliebt und dem sie fest vertraut hat, sie verrät und schon über alle Berge ist«— das sei die Situation. Und nun diese Delikatesse: In dieser Lage werde sie von einem Passanten nach dem Weg zum Bahnhof gefragt.

«Sie begreift: Diese Frage ist der ihr vom Schicksal zugeworfene Rettungsring. Diese Frage stammt aus einer Welt, in der man ihren Kummer und den erlittenen Verrat nicht kennt, in der es diese beiden sie bedrängenden Mächte gar nicht gibt. Während sie auf diese Frage antwortet, tritt sie, für die Dauer der Antwort, aus ihrer eigenen schrecklichen Realität hinaus und begibt sich in eine Wirklichkeit ohne Schmerz, in eine Sphäre radikaler Sachlichkeit, in der niemand leidet, in der es einzig um die Lösung der praktischen Frage geht, wie man am schnellsten zum Bahnhof kommt. «So habe Rutz ihr das in einem Privatissimum erklärt. Alle Kollegen hätten gewartet und gestaunt, was es da zu sprechen und zu arbeiten gebe für diese knappe Szene.

«Spiel sie alle an die Wand«, habe Rutz ihr zugeflüstert. Das sei allerdings seine Methode, dies Alle-gegeneinander-Aufhetzen, um die berühmte» Rutz-Hysterie «zu erzeugen, die tatsächlich etwas Einzigartiges sei, wenn man bereit war, sich darauf einzulassen. Und so hatte die Arbeit heute ausgesehen: In ihren betäubenden Schmerz, der wie ein Messer in ihrer Brust sitzt, mitten hinein fragt der bewußte Passant. Und nun beginnt sie, mit einer fanatischen Pedanterie den Weg zu erklären, zeigt den Weg mit einer besessenen Exaktheit, so daß alle förmlich spüren, wie sehr sie sich an dieses Stück Objektivität klammert.»Es muß deutlich werden, daß sie den Schmerz während der Erklärung tatsächlich für einen Augenblick vergißt. Die Stelle, wo das Messer sitzt, wird taub — für diesen Augenblick, in dem der Zuschauer versteht, wie es um sie bestellt ist.«

Es war, als sei bei der Probenarbeit auch ein Impuls für diesen Abend gegeben worden. Rutz konnte stolz sein, wie gut er sich verständlich gemacht hatte. Die ihr gestellte Aufgabe war allerdings schwer —»vermutlich unlösbar«, sagte Wittekind, der dem heftigen Redestrom unbewegt lauschte. Der lichte Sommerabend war unmerklich dunkler geworden. Jetzt war aus der blauen Stunde, die eine Weile gar nicht hatte weichen wollen und nur immer blauer wurde, doch noch eine wirkliche Dämmerung herausgekommen. Hans sah zu Wittekind hinüber, der sich wieder, wie schon das letzte Mal, auf einem Schattenplatz befand. Jetzt hatten die Schlagschatten ihm ein neues Gesicht aufgeschminkt. Es sah aus wie eine zu triumphierendem kaltem Hohn verzerrte Maske. Die Kerzen setzten den Augen ein diabolisches Glitzern auf. Merkte sonst niemand die Veränderung, die in ihm vorgegangen war? Britta war nach ihrer Privatvorführung wieder still geworden. Sie litt jetzt an der Verstimmung, die viele Schauspieler nach der Arbeit befällt. Sie haben ihr Bestes gegeben, aber wieviel davon über die Rampe gekommen ist, bleibt selbst nach freundlichem Applaus unklar. Als Hans und Ina aufbrachen, war die Verabschiedung dennoch herzlich.

Ehepaare, die sich auseinandergelebt haben, finden in gemeinsamem Spott über andere Leute oft noch ein Stückchen der alten Gemeinsamkeit zurück. Man hat einen Ton gemeinsam, man sieht Ähnliches und lacht über dasselbe. Unter dem Gesichtspunkt ehelicher Friedfertigkeit und des Festhaltens am gemeinsamen Leben ist der böswillige eheliche Nachklatsch moralisch durchaus zu rechtfertigen. Auch Ehefrieden hat eben einen Preis. Hans und Ina waren heute abend zum ersten Mal in der Verfassung, diesen Weg zu beschreiten, um wieder zueinander zu finden. Ina hatte den ganzen Abend geschwiegen, auch deshalb, weil niemand das Wort an sie richtete, aber dafür hatte sie gut zugehört.

«Plötzlich hatte ich das Gefühl, daß jedes einzelne Wort, das diese Frau sagte, gelogen war. Sie hat es so hinbekommen, daß alles, was sie sagte, falsch klang, auch ganz gleichgültiges Zeug. Zum Beispiel: ›Ich vertrage kein Olivenöl‹ oder ›Ich brauche zum Arbeiten eine Flasche Champagner‹ oder ›Ich möchte keine Hauptrolle spielen, ich bin noch nicht soweit‹ oder ›Wir freuen uns wahnsinnig, Sie zu sehen‹ oder ›Ich hasse Rom‹ oder ›Ich liebe Musik‹ — daß das alles ausgedachte Behauptungen sind, von denen das Gegenteil ganz genauso gestimmt oder auch nicht gestimmt hätte. Und du hast an ihren Lippen gehangen, aber der Mann ist nicht dumm, dem war das alles furchtbar peinlich.«

Hans bestritt, an Liliens Lippen gehangen zu haben, obwohl er genau das getan hatte, aber ohne ihr zuzuhören, nur indem er ihre Lippen in ihrem Klappauf-Klappzu beobachtete —»muschelrein «fiel ihm ein, wenn er an diese hellgrauen Lippen dachte, die ein zarter Speichelfilm opalisierend glänzen ließ, aber er lachte von Herzen, als Ina ihre Aufzählung brachte. Sie war unbestechlich gegenüber falschen Tönen, nur bei ihrer Mutter nicht, und doch steckte mütterliches Training in diesem arglos-unbestechlichen Hinhören. Ina ließ sich von ihm ein bißchen umarmen. Sie versöhnten sich auf Kosten der Wittekinds. Es trug zu Inas Befriedigung bei, daß sie schwören wollte, dort unten sei nach ihrem Verschwinden noch ein Streit losgebrochen. Sie meinte, im Schacht, auf den die Badezimmerfenster beider Wohnungen hinausgingen, einen scharfen Wortwechsel gehört zu haben.

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