IX

Heute nacht war es anders als gewohnt: Ina hatte sich kaum ausgestreckt und mit dem Leintuch zugedeckt, ein Geschenk aus den alten Aussteuerbeständen der Mutter, und tatsächlich war ein großes I unter kleinem fünfzackigen Adelskrönchen hineingestickt, da fielen ihr auch schon die Augen zu, während Hans, der sich zu ihr gedreht hatte, um, wie sie es zuvor immer getan hatten, sich gegenseitig in den Schlaf zu plaudern, allein im Zustand der Bewußtheit zurückblieb. Und so sehr er sich auch wünschte, daß der Schlaf ihn einholte und in die Arme nahm, es wurde nichts daraus. Er blieb hellwach. Zunächst war es die Enttäuschung, die ihn munter hielt. Hoffte er etwa, daß die zurückgekehrte gute Laune in Ina den Wunsch gefördert hätte, sich noch ein bißchen mit ihm zu beschäftigen? Jedes geübte Paar hat sein kleines Ritual in der Liebe. Bei diesen beiden kam die Leidenschaft nicht in Lüsternheit oder durch irgendwelche aufreizenden Manöver zustande, sondern spielerisch. Außenstehende, die es zum Glück nicht gab, hätten auch von Albernheit sprechen können. Die ging vor allem auf Inas Konto, die sich, obwohl Hans keineswegs ihr erster Liebhaber war, in der Vorstellung gefiel,»von diesen Dingen nicht viel zu verstehen «und auch nicht zu begreifen, was die Leute daran so wichtig fänden. Hierin hätte eine tüchtige Portion Heuchelei gelegen, wenn die angebliche Ahnungslosigkeit nicht in ihr Spiel eingebaut gewesen wäre. Von Hans’ Seite gehörte zum Ritual die Frage, ob» er ihr wehtue«, die nach Zögern verneint wurde. Daß es Hans nicht glücklich machte, Ina die Frage, ob er ihr» wehtue«, nun schon eine Weile nicht gestellt zu haben, darf man freilich annehmen. Ina schlief mit festen Zügen, aber die Hitze setzte ihr auch im Schlaf zu, und so schob sie das Leintuch weg. Ihre Schultern, immer noch leicht bronziert, und die weißen Brüste kamen aus dem Laken hervor. Zeit sie zu betrachten hatte Hans. Sie knirschte leise mit den Zähnen und runzelte die Brauen. Etwas Unerfreuliches begegnete ihr in dem nahen fernen Land, in das sie sich hatte hineingleiten lassen.

Liebevolle, oder besser, begehrliche Gedanken, die aber nicht auf Erfüllung hoffen durften, galten ihrem Anblick, aber Gelegenheit, die letzten Stunden zu bedenken, gab es auf diese Weise gleichfalls. Hans staunte, wie unerwartet scharfsinnig Ina beobachtet hatte. Wie unversöhnlich kritisch sie war. Dabei hätte Britta eine Schwester von ihr sein können in dieser» Muschelreinheit«— da war es wieder, das seltsame Wort, aber Hans wollte etwas ganz Bestimmtes darunter verstehen: Das Muschelige sollte die Vorstellung eines reinen, dünnflüssigen, duftenden Speichels hervorrufen. Das Appetitlichste, was es für Hans überhaupt gab, sich in einen solchen reinen süßen Speichelmund zu versenken, das war der Gipfel seiner Wünsche.

Er konnte, wenn er sich aufrichtig Rechenschaft gab, auch gar nicht finden, daß Britta da nun unablässig» gelogen «habe, ohnehin ein viel zu starkes Wort, Ina war eben noch sehr jung, man konnte sagen, sie war von juvenilem Moralismus. Britta hatte ein wenig auf die Pauke gehauen. Sie war Gastgeberin und wollte die Gäste unterhalten. Bei einer Schauspielerin war es nicht mehr als recht und billig, wenn das dann bedeutete, daß die Gäste zu Publikum werden mußten. Schon deshalb war der ernste Begriff Lüge hier ganz fehl am Platze. Eine Schauspielerin log nie. Sie spielte ihre Rolle, und wenn man solches Theaterspielen im Privaten, nachdem der eigentliche Vorhang gefallen war, auch fragwürdig finden mochte, war es doch ein verzeihliches gesellschaftliches Delikt. Fragten sich die Wahrheitsfanatiker eigentlich zuweilen, was ihnen überhaupt den Anspruch auf wahrheitsgemäße Reden, wahrheitsgemäße Bekenntnisse gab? Warum sollte man denn verpflichtet sein, sich vor Fremden zu entblößen?

Er hatte über Inas Sammlung von aufgespießten Bemerkungen gelacht, aber er fühlte sich jetzt, nachdem sie ihn allein gelassen hatte, ein bißchen schlecht mit diesem Gelächter, als habe er damit einen Verrat verübt, der dazu noch gar nicht belohnt worden war.

Für Hans war die Treue zu Ina eine Selbstverständlichkeit. Er war keine frivole Natur. Auch wenn sich früher die Gelegenheit zu kleinen Abenteuern ergab, schenkte er seinen Damen immer reinen Wein ein, und empfand keine Freude daran, jemanden zu betrügen. In dieser Hinsicht hatte Frau von Klein schon recht mit ihrem Urteil, Hans sei» plain«, aber Ina sah diese Einfachheit als Vorteil und wollte gern in einfachen Verhältnissen leben und selbst auch einfach sein. Ina war eigentlich niemals Hansens Geliebte gewesen, in der vollen, berauschenden, sinnlichen Bedeutung dieses schönen alten Wortes. Es war da von Anfang an eine Art erotischer Geschwisterlichkeit zwischen ihnen, wie man sie vielleicht bei Völkern findet, in denen man die kleinen Buben und Mädchen lange vor der Geschlechtsreife miteinander verlobt und zusammen aufwachsen läßt, so daß sie sich, wenn der Augenblick der Hochzeit dann schließlich kommt, schon ihr ganzes Leben lang zu kennen meinen, weil sie zusammen sprechen gelernt und zusammen Versteck gespielt haben. Treue wird hier ein Lebensgesetz. Und obwohl Hans nicht mit Ina aufgewachsen war, sondern sie erst vor fünf Jahren kennengelernt hatte — der Entschluß zu heiraten war von beiden schon sehr schnell gefaßt worden, beinahe gleichzeitig, einen regelrechten Heiratsantrag hätte man historisch nicht destillieren können —, war ihm, als habe er sie schon immer gekannt. Eine Treulosigkeit war ihm dennoch anzulasten und keine kleine: die Treulosigkeit gegen die vielen Jahre vor Ina, die nun mit all ihren Begegnungen und Erlebnissen gar nichts mehr darstellen sollten.

Der Treue-Sockel — um es architektonisch zu sagen —, auf dem Hans mit Ina stand, war also äußert stabil fundamentiert, so felsenfest errichtet, daß er sich gar nichts dabei dachte, als er sich nun in Gedanken mit Britta beschäftigte. Wer die Untreue nicht kennt, vermag auch ihre ersten Anzeichen nicht wahrzunehmen. Er meinte sich keinen Fingerbreit von der neben ihm im Mondstrahl schlummernden, vom weißen Mondlicht gestreichelten und mit dem nackten Körper selbst in einen Mond verwandelten Ina, die schwach zu leuchten schien, zu entfernen, während er sich den Gedanken an Britta überließ. Dieses Mädchen hatte sich ihm heute abend so nachdrücklich und ungeschützt sichtbar gemacht, wie es nur eine Schauspielerin konnte, der es aus den Gesetzen ihrer Profession heraus verboten war, sich vor dem Publikum zu schonen. Freiwillig unsympathisch sein, war das nicht etwas sehr Tapferes?

Aber wußte Wittekind mit seinem schläfrigen Sarkasmus solche Tapferkeit überhaupt zu würdigen?

Es war so heiß, daß das Liegen Unbehagen bereitete. Er stand auf, um in der Küche Durchzug zu machen und sich an das offene Fenster zu stellen. Die Lähmung der hohen Temperatur hatte sich inzwischen auf die ganze Stadt gelegt. Selbst in der heruntergekühlten Bank ließ das Arbeitstempo nach. Die Leute kamen von einer heißen Nacht zermürbt und schweißgebadet ins Büro und spürten in sich die verbotene Sehnsucht nach einer langen Siesta. Viele nahmen Urlaub, und das behinderte die täglichen Vollzüge wohltuend. Hans holte eine Flasche gekühltes Mineralwasser aus dem Eisschrank, aber das war auf einmal zu kalt und schmerzte an den Zähnen und im Magen, auch hier war keine Erleichterung in Sicht.

Auf dem Fensterbrett stand das Glas voller Münzen, Herrn Siegers Reiseandenken, wie Hans jetzt wußte. Er setzte sich an den Küchentisch und leerte die angelaufenen Münzen aus. Wie Spielmarken rollten sie auf die Platte. Dazu könnte man sie vielleicht verwenden, dachte Hans, vielleicht fangen wir im Winter ja wieder das Kartenspielen an — gewiß nicht mit den Wittekinds, fügte er dann mit leichtem Bedauern hinzu, die spielten bestimmt nicht Karten. Darin bestand nämlich der eigentliche Vorbehalt Frau von Kleins gegen Intellektuelle: daß sie keine Karten spielten. Erst wenn man aufs Kartenspiel verzichtete, tat sich die Bedrohung durch das Gespräch ja auf.

Wie Sieger vor Ina nahm er sich jetzt die einzelnen Münzen vor. Es war auffällig, wie sehr die Fähigkeit der Medailleure mit den Jahrzehnten abgenommen hatte, das Rund einer Münze mit einem guten Relief zu füllen. Die besten Leute schienen noch in England zu arbeiten, auch die Nordamerikaner machten gute Reliefs, sie gruben die Münze regelrecht aus und ließen den Kopf in der Mitte schön plastisch stehen, aber das waren alte Entwürfe, erstaunlich, wie konservativ man in Nordamerika mit solchen öffentlichen Dokumenten war, in Europa wurde unablässig entworfen und geändert, als bleibe sonst die Uhr stehen. Hans sortierte die Münzen und baute Türmchen aus Pence und Peseten.»Dei gratia regina «und» Por la gracia de Dios Caudillo «wuchsen nebeneinander in die Höhe.

Aber was war das? In dem Haufen blinder Geldstücke funkelte es unversehens rotgolden. Ein Ehering, ein schmaler, innen mit verwischten Initialen und unlesbarem Datum gezeichneter Reif. Herr Sieger war schon ein seltener Patron. Gut versteckt war das schicksalsträchtige Ringlein gewesen. Wer sich nicht über das Glas und seinen Inhalt hermachte — und welcher vernünftige Mensch tat das schon —, der würde ihn nicht finden. Offenbar hatte Herr Sieger selbst vergessen, was er hier aufbewahrte. Oder lag in diesem auffälligen Verstreuen seines Eigentums eine Absicht? Oder hatte der letzte Mieter den Ring hier vergessen? War in dieser Wohnung gar eine Ehe auseinandergegangen? Hatte sich ein Mann oder eine Frau geweigert, den Ring zurückzunehmen? Hatte man sich beim Zerbrechen einer Ehe gewehrt, sie wie eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts abzuwickeln? Hatte vielleicht jemand geglaubt, daß seine Ehe, solange der Ring auf Wanderschaft war, irgendwie fortbestand? Müßte man bei einer Scheidung die Eheringe nicht eigentlich zerschlagen und zerschmelzen?

Er füllte die Münzen wieder in das Glas und legte den Ring hinein, als es halbvoll war. Den Rest der Münzen ließ er aus der hohlen Hand darüber rieseln. Jetzt war der Ring wieder gut begraben.

Es war halb drei. Die Nacht dauerte noch lang. Er ging in das dunkle Wohnzimmer, öffnete alle Fenster und legte sich auf das Sopha. Wirklich erreichte ihn ein linder Hauch. Es gelang ihm, an gar nichts zu denken. Er sah mit offenen Augen ins Dunkel, durch das vereinzelte Autoscheinwerfer wanderten, die Zimmerdecke ins Licht hoben und sie dann wieder zurücksinken ließen. Hans erinnerte sich genau an die Geräusche: das ferne Brausen, die weit entfernte Sirene eines Krankenwagens, die dem Raum Tiefe gab, die Empfindung, unter einer riesigen Glocke zu sein. Und während er da lag und der Vorstellung der Glocke nachhing — das wußte er genau, daß er gerade das getan hatte —, hörte er plötzlich ganz in der Nähe eine ruhige helle Stimme ohne Aufregung und Nachdruck, mit sanfter Bestimmtheit seinen Namen sagen:»Hans. Hans.«

Er richtete sich auf. Es war ihm, als habe er die Stimme nah an seinem Ohr gehört. Eine helle Stimme — von einem Mann? einer Frau? einem Kind? — das wäre nicht zu sagen gewesen, es war diese Bestimmtheit, die im Vordergrund stand. Es war nicht eigentlich ein Ruf gewesen. Vielleicht wollte die Stimme sich nicht unmittelbar an ihn richten, vielleicht war dem Menschen, dem diese Stimme gehörte, nach langem Nachdenken der Name Hans eingefallen, und so sprach er ihn denn aus:»Hans. Hans.«, so war aus ruhigem Überlegen heraus sein Name gesprochen worden. Oder war die Stimme nur Einbildung? Kein Apparat hatte sie aufgezeichnet, und dennoch war sie dagewesen, unbezweifelbar, nah an seinem Ohr. Dies war von außen gekommen, das konnte er genau unterscheiden, dies war nicht ein Gedanke in seinem Kopf oder Herzen, sondern etwas von ihm Unabhängiges.

War Ina erwacht? Hatte sie zu ihm gesprochen? Schlaftrunken war die Stimme nicht gewesen, aber sie kam aus tiefer Ruhe. Gab es hier in der Nähe jemanden, der von einem Hans geträumt hatte und sich im Aufwachen seinen Traum bestätigte? Nur er selbst hatte nicht geträumt. Er stand auf und rührte sich eine Weile nicht. Er ging in den Korridor. War vielleicht unten im Badezimmer der Wittekinds von Hans gesprochen worden? Hatte eine Wärmeböe eine Stimme aus dem Hof oder von der Straße zu ihm hinaufgetragen?

Er steckte den Kopf aus dem Fenster. Tatsächlich, unten im Hinterhof war noch Licht. Der Äthiopier hatte dort eine Art Stehlampe herausgestellt. Es ging auch anderen Leuten wie Hans: an Schlaf war nicht zu denken. Er schlich sich ins Schlafzimmer und zog Hemd und Hose an. Aber noch während er sich anzog und als er dann im hallenden, rumpelnden Treppenhaus hinabstieg, war ihm klar, daß auch dann, wenn sich irgendeine natürliche Erklärung fand für diese Stimme, die» Hans. Hans. «gesagt hatte — und sei es Souad, der mit seinem weittragend hellen, heiseren Organ gerufen hätte, sei es Britta in ihrem Badezimmer, oder Ina, die im Schlaf sprach, das tat sie übrigens gelegentlich, aber murmelnd und unverständlich —, die eigentliche Bedeutung dieses Erlebnisses davon nicht berührt wurde.»Hans. Hans. «Das war eine Anrufung oder eine Ankündigung. Es bedeutete etwas allein auf ihn Bezogenes. Ein Blatt in seinem Lebensbuch wurde umgewendet. Meistens merkte man das erst viel später. Ihm aber war nun vergönnt gewesen, in diesem entscheidenden Augenblick anwesend zu sein.

Im Hof hielt die gewohnte Gesellschaft die Wacht. Barbara trug ein enges Oberteil mit dünnen Trägern. Sie hatte eine ganze Landschaft aus Schlüsselbeinlöchern und Gelenkkugeln, hartem Brustbein und Rippenansätzen freigelegt, die nicht einmal von der Löwenmähne magdalenenmäßig verhüllt werden durfte, denn das Haar war hochgesteckt, sie wollte im Nacken den Nachtwind fühlen. Der Vetter war rosa gekleidet, Polohemd und Jeans in abgestimmtem Ton, aber trotz dieser optimistischen Farbe gewohnt grämlich. Frau Mahmouni saß in einer Haltung im Klappstuhl, als seien ihre Beine von einem Rudel edler Windspiele umgeben, wie immer in ihrem ein für allemal für sie geschaffenen Seidencomplet, diesmal mit großen violetten Sommerblumen bedruckt, die ihre Gestalt noch zerbrechlicher erscheinen ließen. Es war gewiß nur der späten Stunde zu verdanken, daß alle Telephone ruhten. Auch mit anderen Zeitzonen wollte keiner der Anwesenden gegenwärtig in Verbindung treten. Hans wurde mit gedämpftem Zuspruch begrüßt. Er spitzte die Ohren. Glich eine der Stimmen, die da» Hans «sagten, jener einsamen aus seinem Wohnzimmer? Er kam zu keinem Ergebnis. Das war aber, wie gesagt, auch schon ohne Bedeutung. Souad musterte ihn mit gewohnt nacktem Blick, aber er war gerade in ein anderes wichtiges Geschäft vertieft und wollte sich Hans erst später vornehmen.

«Hören Sie mal zu«, sagte er deshalb, wie häufig im Befehlston,»das ist auch für Sie interessant. «Er hatte noch nicht von dem Versuch abgelassen, sich mit dem Vetter zu verbünden. Falsch war dieser Einfall nicht. Der Vetter war gegenwärtig der wichtigste Mensch in Barbaras Leben. Sie hatte noch niemals in ihrem Leben einen Tag allein zugebracht. Die Scheidung forderte ihr hier ein Äußerstes ab, denn ihr Ehemann ließ sie überwachen und hatte angekündigt, alle Zahlungen einzustellen, wenn sie sich einen neuen Freund nahm. Der Vetter war ihm vertraut, der hatte ihm schon lange auf der Tasche gelegen mit seinen mißglückten Restaurantgründungen, er machte sogar den Verbindungsmann, wenn nach ausgedehntem Zank am Telephon die Verbindung zwischen Mann und Frau für eine Weile abriß. Souad hatte nun schon eine Stunde damit zugebracht, dem Vetter ein marokkanisches Restaurant in der Nähe anzupreisen, das, weil es expandiere, einen Teilhaber benötige. Jetzt war er bei den Frauen angelangt, die dort bedienten.»Eine unschlagbare Mannschaft«, wie er wirklich sagte, ihm vollständig ergeben und auf Abruf für jeden seiner Wünsche bereit. Er selber rühre diese Frauen nicht an — niemals mit einer Marokkanerin, gelte für ihn.

«Ja, Souad ist brav«, sagte Barbara und tätschelte ihm die Knie.

«Aber für dich das Richtige«, sagte Souad, ohne diese Liebkosung zu beachten.»Die erste ist eine etwas herbe, vernünftige, eine nordische — helles Haar, graue Augen — Rif-Kabylin. Aus guter Familie, Vaters Tochter, eine Frau mit Festigkeit und Prinzipien. Schnelle, sachliche Bewegungen. Überhaupt keine Kellnerin, wenn du mich verstehst, keine Dienerin. Sie steht auf der Seite des Gastes, der Gast hat nie das Gefühl, daß ihm etwas verkauft wird, er wird beraten. Sie wirkt immer objektiv. Macht souveräne Unterhaltung, von gleich zu gleich, aber wohlerzogen, diskret. Keine Aggressionen, ein reifes, erwachsenes Mädchen, schöne gewölbte Stirn. Allerdings fromm, etwas plattfüßig ist sie auch, aber schnell. Für das Restaurant unersetzlich. «Die zweite sei eine Kokette, Ironische, sogar etwas Freche, aber auch unterwürfig. Tiefe Schatten unter den Augen, bereits etwas unfrisch — was er, Souad, aber schätze, die ganz und gar frischen Frauen verstünden noch nicht, worum es gehe. Hier stieß er den Vetter in das rosa Hemd, wo er den Brustkorb vermutete, denn der Vetter war klapperdürr, seine Kleider umflatterten ihn. Die Kokette kehre ihre Vertraulichkeiten etwas zu demonstrativ heraus, kichere spitz, schmolle, blinzle anzüglich, stelle alberne Fragen mit falsch unschuldigem Augenaufschlag. Der Teint sei eher dunkel. Eine gute und schnelle Arbeiterin, er rate aber dennoch ab. Die dritte passe in der Größe gut zu dem Vetter, eine Große, Langsame, Tragische. Die Wangen mollig, auch etwas talgig. Vielleicht sei die große Tragische unter ihrer Jellabah nicht ganz so gerade gewachsen, wahrscheinlich x-beinig, wenn er den Gang richtig deute. Die Unterlippe sei dick, an sich ein gutes Zeichen, aber sie habe da immer eine kleine rote Stelle. Ihre Bewegungen seien schön, vornehm, sie sei immer in eine feine Trauer getaucht. Sie arbeite gut, aber sie bediene wie eine Gedemütigte, eine Verschleppte, eigentlich zu Höherem Berufene. Eine Nachdenkliche, Sinnende. Natürlich kreisten die Gedanken dieser Frau nur um die Liebe. Neulich sei aber ihr Fuß entzündet gewesen, heldenhaft hinkend sei sie umhergegangen, ein Insekt habe sie gestochen.

«Ich ahne, was das für ein Insekt war«, sagte Souad und versuchte, den Vetter in ein kennerhaftes Grinsen hineinzuziehen,»ein Floh — also die besser doch nicht, obwohl diese Demutstrauer oft sehr, sehr gut ist. «Die beste sei die vierte, eine Strahlende, Distanzierte. Könne auch singen. Ungeschminkt wirke sie ein wenig teigig und reizlos, aber wenn sie geschminkt sei, mache man Augen. Ohne im strengen Sinn hübsch zu sein, könne sie bildhübsch aussehen, sie tanze gut, werfe ihr langes Haar dann herum wie eine Stute im wilden Galopp. Allerdings eine Unabhängige, sie habe noch andere Beziehungen als die zum Restaurant. Er schätze das nicht so sehr.

«Ich habe gern, wenn die Hühner abends alle im Stall sind«, sagte er, wieder um Einverständnis werbend.»Wohin gehst du?«frage er sie, und sie antworte:»Ich habe frei. «Aber er könne das leicht herauskriegen, wie er ohnehin alles über jeden leicht herauskriegen könne. Wieviel bereits erobertes Gelände mit solchem Eigenlob allerdings wieder verlorenging, würde Souad vielleicht nie erfahren. Noch wohlgemut, wenn auch von seiner großen darstellerischen Leistung erschöpft, fragte er abschließend:»Also welche von den vieren soll ich jetzt für dich kommen lassen?«

Der Vetter wandte sich an Barbara. Seine Stimme klang nach verwöhntem Überdruß.»Wir gehen hier weg, das wird hier nichts, das sagt mir hier nichts«, aber Barbara behandelte ihn genauso wie Souad und rief in amüsierter Verzweiflung:»Ihr zerrt alle an mir herum, und dabei bin ich eine Frau, ich gehe kaputt bei diesem Gezerre.«

Hans betrachtete Frau Mahmouni, die den Unterhaltungen stumm, aber voll Interesse und mit scharfem Blick folgte. Es war, als sitze sie im Kino und sehe einen Film. Plötzlich sagte sie zu Hans:»Zu teuer. Die junge Dame muß aufpassen. Ich bin mit Geschäften groß geworden. Ich habe immer auf den Preis geachtet. Man darf sich nicht zu gut sein, den Preis nachzuprüfen. Aber auch wer nicht geprüft hat, liegt meist richtig, wenn er sagt: zu teuer. Versuchen Sie herunterzugehen. «Sie sah bei diesen Worten so feierlich drohend aus, daß Hans für möglich hielt, sie habe mit dieser Methode Erfolg gehabt. Ein Mensch mit schwachen Nerven mußte sich von diesen Augen bis zum Grund durchschaut fühlen.

Sie erhob sich mit Mühe. Die Füße in Sandalen aus falschem Schlangenleder trugen sie kaum, so verformt waren sie. Es nahte die Frühschicht des Nachtportiers, zu dem der Äthiopier nach Schließung seines Lädchens wurde. Er hatte seiner Herrin ein Zeichen gegeben. Hans war von seinem nächtlichen Verweilen hier unten nicht enttäuscht, obwohl man meinen könnte, daß er nach den gedankenreichen Augenblicken in seiner Wohnzimmereinsamkeit das Schwatzen im Hof als einen Abfall an Spannung empfinden müsse, aber weit gefehlt: Die Vorstellung vom neuen Blatt in der Lebensgeschichte ließ ihn nicht los, und so wollte ihm alles, was er in diesen ersten neuen Stunden erfuhr, saftig grün und frisch erscheinen wie ein Drahtkorb voll von frischgewaschenem, wassertriefendem jungem Kopfsalat. Woher kam denn so lange nach Mitternacht noch dieses Bild in den kahlen Hof geflogen? Richtig, aus Brittas Küche, wo sie mit ihren Lilien-Händen einen solchen Drahtkorb herumgeschwenkt hatte, so daß Hans, der einen Tellerstapel hinaustrug, mit dem Salatwasser fein besprenkelt worden war.

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