XV

Daß es Neumond war, die Nacht, in der das schwarze Loch des Weltalls den letzten feinen Rand des Mondes aufschluckte, mußte jedem entgehen, der damit die Vorstellung einer vollständigen Lichtlosigkeit verband, wie sie im Westen Deutschlands aber kaum mehr zu erleben ist, denn das echte Nachtschwarz ist aufgeweicht im Neonschein der Städte und der Dörfer, die längst Vorstadtcharakter angenommen haben. Zunächst lag auch noch der sommerliche Lichtzauber über der Stadt. Der todweiße Sonnenhimmel des Tages, der die Farben wegsaugte und nur das Hellgrau von muffigen Schwarzweißaufnahmen übrig ließ, verflüchtigte sich, der Himmel erstrahlte in reinem Hellblau und war nun als leuchtende Kuppel vorstellbar. Eine Stunde des Aufatmens und Genießens, für Ina jedoch eine Stunde der Wehmut und der Reue. Reue worüber? Was hatte sie in ihrem Leben zu bereuen? Welchen Menschen hatte sie verletzt, ohne seine Verzeihung erlangt zu haben, welche Chancen hatte sie nicht ergriffen, wo hatte sie den ihr vorgegebenen Weg verlassen? Hatte sie nicht mit mäßiger Disziplin, einfach aus ihrer Natur heraus, getan, was man von ihr erwarten durfte? Es war ihr jetzt, als hätte sie sich mit ihrer Heirat und dem ehelichen Leben danach schon viel zu weit von dem ihr angemessenen Lebenskreis entfernt, als bewege sie sich hier in fremden Zonen, für die sie nicht ausgerüstet sei, und als werde ihr selbst Hans hier ein Fremder. Wir lernen die Menschen eigentlich erst kennen, wenn wir ihnen in ihrem Milieu begegnen und plötzlich begreifen, daß sie mit ihren urpersönlichen Eigenschaften doch nur ein Mosaikstein sind und damit Teil eines großen Bildes. In Frankfurt war das Gegenteil eingetreten: Hans und Ina hatten die vertrauten Sphären verlassen, und es fiel Hans offenbar gar nicht schwer, sich anderswo einzufinden. Daß er mit Leuten wie den Wittekinds zurechtkam, war eine verstörende Entdeckung, die dazu aufforderte, ihn, den sie zu kennen meinte, vollkommen neu zu deuten. An die Wohnung würde sie sich nie gewöhnen. Sie hatte um diese Folge von Zimmern regelrecht geworben, hatte sie sich anverwandeln wollen, und jetzt sah sie, daß die Wohnung sich zu wehren begann und sie abschuppte wie eine abgestorbene Substanz. Wie anders war das Leben mit ihrer Mutter am Golf von Neapel gewesen, in einer Umgebung von lässigem Luxus, mit einem Tagesablauf, der von klösterlicher Präzision war und der außerhalb von Klöstern nur durchgehalten wird, wo die Notwendigkeit besteht, eine Riesenmenge Zeit totzuschlagen. Immer hatte man gerade nur eine knappe Stunde, um sich hinzulegen, weil man sich schon wieder für eine Mahlzeit oder einen Ausflug fertigmachen mußte. Frau von Klein schwamm gern und war deswegen in noch höherem Maße als sonst mit der Wiederherstellung ihrer Frisur beschäftigt — das Vernichten und Auftürmen des Haarhelms nahm viele Stunden in Anspruch, auch einer besonderen Lieblingsbeschäftigung, der Umlegung von Friseurterminen, konnte nachgegangen werden, das war meist Inas Aufgabe, die als wesentlichen Gewinn ihres Kunstgeschichtsstudiums ein recht flüssiges Italienisch vorweisen konnte. Es war lästig, wenn man es vor sich hatte, dies Umbestellen, aber welcher Friede ging in der Erinnerung davon aus! Unwichtiges mit wichtiger Miene betreiben zu dürfen und sich in einer Welt aufzuhalten, in der es andere als unwichtige Wichtigkeiten gar nicht gab, das erschien ihr jetzt als Inbegriff des Heimatgefühls. Und war die richtige Welt, die Welt eben, aus der sie stammte und in der sie jene Person geworden war, mit der sie es jetzt zu tun hatte, nicht nur durch ein Häutchen, hauchdünn wie das in der Eierschale, von ihr geschieden? So wie man war, wie man leben sollte — das war ja nicht verloren, das lockte im Reich des Greifbaren. Morgen schon, in jedem ihr beliebigen Augenblick, könnte sie in dies Reich wieder eintreten. Es würde zwar Ballast an ihr hängen, man würde ihr anmerken, daß sie einmal fort gewesen sei, aber sie würde gewiß schnell heilen.

Daß Frau von Klein den Menschen, die mit ihr lebten, gerade noch die Atemluft an eigenem Freiraum zugestand, das war vielleicht gut. Die Vortrefflichkeit solch lückenloser Eingespanntheit war als Schutz jedenfalls überhaupt nicht zu unterschätzen. Hans ahnte nicht einmal, was Schutz war. Wenn sie jetzt an ihn dachte, dann erschien er ihr wie in einer Traumsequenz: Sie versinkend in einem pechschwarzen Moor, er weit von ihr der roten Sonne entgegengehend, singend und pfeifend und taub für ihre Schreie, und, nachdem er sie schließlich gehört hatte, auf die für Träume bezeichnende Weise daran gehindert, zu ihr zu gelangen, mit den Füßen festgeklebt, ein Bild der Unfähigkeit und des ohnmächtigen Bedauerns.

Ina wanderte wieder stadteinwärts. Sie war in dem Alter, in dem ein verschwitztes junges Mädchen noch hübscher aussehen kann, als wenn es sorgfältig zurechtgemacht Kühle ausstrahlt, der Schweiß ist dann wie Tau auf dem Rosenblatt oder der Firnis, der den Ölfarben Frische und Tiefe verleiht. Aber sie sah sich ja nicht und fühlte sich schmutzig und elend, und tatsächlich hatte sie nicht einmal ein paar Münzen dabei, um sich an der Eisbude, an der sie vorbeikam, ein Zitroneneis zu kaufen. So weit war sie gelangt auf ihrer Lebensreise. Hier kannte sie keiner, keiner gab ihr, wie sie es gewohnt war, nur auf ihren Namen hin Kredit — daß dies auch bei den Hamburger Eisbuden selten sein würde, brauchte jetzt nicht mitbedacht zu werden.

Bei Ina wurden nun die Gedanken vom Gehen hervorgebracht. Wie sie voranschritt, leicht bergab inzwischen, an großen, vielbefahrenen Straßen entlang der Innenstadt zu, betrat sie auch in ihrer Phantasie neue Räume. Je mehr sie sich vertrauteren Regionen näherte — sie erkannte gelegentlich eine Kreuzung oder ein Gebäude —, desto schauriger erschien ihr die Vorstellung, nach Hause zurückzukehren. Sie mußte es, um an kaltes Wasser, um an ein Bad, an den Rest Zitroneneis im Eisschrank und an Geld zu gelangen. Auch ihr Telephon lag dort mit der eingespeicherten Nummer von Frau von Klein. Nur ein Knopfdruck genügte, und sie hätte die vertraute, leicht gereizte Damenstimme im Ohr, die Stimme einer Frau, die für das Telephon lebte, aber immer den Eindruck entstehen ließ, als sei sie bei bedeutenden Verrichtungen gestört worden.

Noch einmal jedoch dies Treppenhaus zu betreten, noch einmal mit Hans zu sprechen, noch einmal aus den Fenstern des Wohnzimmers auf die Nachbarstraßen zu blicken, das ging über Inas Kraft. Ihr Zustand fand jetzt den Durchbruch zu einer höheren Reinheit. Ihre Verzweiflung trat unverhüllt zutage. Sie bedurfte nicht mehr der Vorwände und Vorwürfe, sie erhob überhaupt keinen Vorwurf gegen irgendwen. Sie trauerte nicht um den Verlust idealer Zustände. Sie war als ganze Person zu einem in alle ihre Gefäße ausgegossenen explosiven Gefühl geworden. Ein Funken genügte, um es zu entzünden. Niemandem hätte sie diesen Zustand beschreiben dürfen, weil sie genau wußte, wie man sie zu beruhigen versuchen würde, mit welch erbärmlicher Hilflosigkeit, etwa von der Art: Es sei doch alles gar nicht so schlimm. Doch, es war schlimm, jetzt stand sie schon in Flammen.

Eine Frau mit dem muslimischen Kopftuch trat auf sie zu. Sie hielt einen Zettel in der Hand und fragte in mühevollem Deutsch nach dem Hauptbahnhof. Sie hatte sich das ihr unverständliche Wort nach dem eigenen Sprachgefühl zurecht geformt und sagte mehrfach» Happana«. Nachdem Ina den Zettel entziffert hatte, verstand sie schließlich. Die Frau war der ihr vom Schicksal in dieser Stunde der Not zugeworfene Strohhalm, und sie ergriff ihn mit einer Entschlossenheit, daß die Frau sie verwundert ansah.

Zum Hauptbahnhof hätte Ina von hier aus gefunden, freilich nicht auf dem kürzesten Weg. Das teilte sie der Frau jetzt auch mit. Sie wisse genau, wo der Hauptbahnhof liege, nur sei er nicht nah, sie schätze, daß die Frau mit ihrer großen Tasche mindestens dreißig oder gar fünfunddreißig Minuten für den Weg rechnen müsse. Möglicherweise gelinge es ihr auch unterwegs, den Umweg, den sie jetzt gewiesen werde, abzukürzen. Wichtig sei, sich zunächst geradeaus zu halten, über etwa drei oder vier Kreuzungen hinweg. Die Schwierigkeit beginne erst dann. Der Hauptbahnhof liege im Grunde parallel zu der Straße, auf der sie sich jetzt befänden. Die Aufgabe sei nun, sich auf der richtigen Höhe durch einige Querstraßen dem Hauptbahnhof seitlich anzunähern. Sehe man ihn vor sich liegen, könne man ihn aber nicht mehr verfehlen. Er sehe unverkennbar wie ein Hauptbahnhof aus.

Dies alles sagte sie, als sei ihrem Schweigen eine Schleuse geöffnet worden. Die Muslimin verstand kein einziges Wort, lauschte dem erhitzten Mädchen aber mit gerunzelter Stirn und stetem Nicken. Sie gingen sogar noch ein Stück zusammen, Ina half der Frau die Tasche tragen und sprach ohne Unterlaß, indem sie den Weg, den sie nahmen, zugleich beschrieb —»Wir gehen jetzt praktisch immer geradeaus«, sagte sie etwa —, und als sie sich trennten, war sie tatsächlich ruhiger geworden. Zwar spürte sie ein seelisches Zurückrinnen ins Dunkle, als sie wieder allein war, aber es kam ihr jetzt weicher, samtiger dort vor. Auch um sie herum war es nun Nacht geworden. Die Rücklichter der Autos leuchteten wie rote Grabkerzen auf einem abendlichen Friedhof, und der Anblick dieser roten Lämpchen tat ihr gut.

Zuhause war jeder Gedanke an ein schönes Bad und ein köstliches Eis vergessen, gerade daß sie sich am geöffneten Eisschrank ein Glas Mineralwasser eingoß, das sie aber schon nach zwei Schlucken wegschüttete. Eine erneuerte Rastlosigkeit beherrschte sie: Jetzt sofort aufbrechen und in derselben Nacht noch nach Hamburg fahren! Frau von Klein mußte schon gar nicht mehr angerufen werden, sie ahnte ohne Zweifel, daß ihre Tochter kam, und würde ohne Benachrichtigung den Weg zum Bahnhof finden. An Hans dachte sie gar nicht, der schien spurlos hinweggesunken.

«Hans hat damit nichts zu tun«, sagte sie dann plötzlich laut und war verwundert, die eigene Stimme zu hören. Er hatte nichts damit zu tun — womit, danach wurde schon überhaupt nicht mehr gefragt —, aber helfen konnte er eben auch nicht. Es ist für den weiteren Verlauf des Abends nicht unwichtig, daß Ina während dieses gesamten bedrückenden und letztlich ungeklärten Zustands vielleicht gelegentlich etwas ungeduldig und befremdet, aber nie feindselig an Hans dachte. Man muß dies im Gedächtnis behalten und darf auf keinen Fall Hansens Sicht der Ereignisse übernehmen: Er war im Schutz seines schlechten Gewissens wohlgeborgen vor dem Medusenanblick der Sinnlosigkeit.

Ina begann zu packen, aber obwohl sie eine geübte Reisende war, gestaltete sich dies Geschäft jetzt kompliziert bis zur vollständigen Undurchführbarkeit. Taschen und Koffer wurden herbeigezerrt und lagen mit aufgerissenen Mäulern auf dem Bett, dann holte sie heraus, was in Kommoden und dem großen Wandschrank aufbewahrt wurde. Ein Kleiderhaufen türmte sich über den Koffern. Sie nahm eine Bluse weg und legte einen Pullover dazu. Sie trug einzelne Kleidungsstücke herum und ließ sie dann irgendwo fallen. In kurzer Zeit war der gesamte Fußboden des Schlafzimmers mit Kleidern bedeckt. Sie hüpfte barfuß in dem wild durcheinandergeworfenen Kleiderhaufen herum. Sie fühlte, daß es ihr besser ging.

*

Hans fand die Hinterhofgesellschaft diesmal erweitert vor. Zu der im Kunststoffklappstuhl königinnenhaft hingegossenen Frau Mahmouni — heute in einem mit Bambus und tropischen Schmetterlingen bedruckten Complet gewohnten Stils, nur die orangefarbenen Sandaletten, die viel von den verdrehten Füßen sehen ließen, stachen mit gleichsam eigener Leuchtkraft aus dem Ensemble hervor —, zu Barbara, die einen dünnen Safarianzug angelegt hatte und zu dem ganz in hellblau gekleideten Vetter, zu Souad, der mißtrauisch aufgeplustert wie ein großer Truthahn dasaß, hatte sich Herr Wittekind gesellt, aber nicht, wie sich schnell zeigte, um sich unterhalten zu lassen oder ein Publikum für seine Monologe zu finden, sondern um mit Souad, in der gewohnt lässigen Weise und betont friedlich, über dessen Abrechnungen zu verhandeln.

«Kommen Sie rüber in mein Büro«, sagte Souad gerade und wies in Richtung der Waschanlage.»Aber nicht morgen — übermorgen um fünf.«

«Keineswegs werde ich das tun«, antwortete Wittekind. Er sprach wie immer lächelnd und tat, als begreife er das Ganze als Spiel. Es sei schwer, bei Souad einen Termin zu bekommen, und er sei davon überzeugt, daß ihnen übermorgen um fünf ein brennendheißes Telephonat dazwischenkommen werde. Es ging um die Nebenkostenabrechnung —»Das dürfte auch Sie interessieren«, sagte Wittekind zu Hans, auf das Selbstverständlichste zum Sie zurückkehrend. Dieser Mann gehörte offenbar zu dem glücklichen Geschlecht, das keine Peinlichkeit kannte. Hier war der nicht so seltene Fall gegeben, daß eine Zurücknahme des Du, mit so leichter Hand bewältigt, eine Entspannung gewährte, die seine Beibehaltung nicht zugelassen hätte. Man konnte Dinge im allgemeinen nicht ungeschehen machen, das hatte Hans mit Schmerzen empfunden, aber wenn man sich zusammentat, konnte man es offenbar doch. Als Zeichen seiner Dankbarkeit setzte er eine geschäftsmäßig teilnehmende Miene auf. Souad sank in Verdrossenheit.

Man hielt es in diesem Haus wie in den meisten anderen Mietshäusern auch: Die Mieter leisteten einen monatlichen Vorschuß auf die Heizungskosten, die Versicherungen und was da sonst noch anfiel — erfahrungsgemäß viel — und erhielten am Jahresende eine Abrechnung über die Verwendung dieser Gelder, und dann war entweder noch zuzuzahlen, oder es mußte von den Vorschüssen etwas zurückerstattet werden.

«Wir warten seit zwei Jahren auf diese Abrechnungen«, sagte Wittekind und fügte scherzend hinzu, daß er vermute, die Verwaltung — das war Souad — hätte sich gewiß gemeldet, wenn sie mit dem Vorschuß nicht ausgekommen wäre —, aber da tiefes Schweigen herrsche, habe er die dringende Vermutung, daß im Gegenteil er etwas herauszubekommen habe. Souad fuhr auf und warf ihm einen anklagenden Blick zu, aber Wittekind gebot mit aufgehobener Hand Schweigen und fuhr fort, daß er um so mehr davon überzeugt sei, hier seien» Vorgänge«, wie er ironisch sagte, liegengeblieben, als auch Herr Sieger schon mehrfach bei ihm geklagt habe, überhaupt noch nie eine Abrechnung von Souad gesehen zu haben. Darauf solle es hier nicht ankommen — wieder erstickte er einen Einwurf Souads —, aber es unterfüttere doch seinen Verdacht.

«Also was machen wir?«Das war so nett und harmlos gefragt, daß Souad auf diesen Ton leicht hätte eingehen können. Statt dessen schwang er sich in die Pose des Strafverteidigers, richtete sich in seinem Klappstuhl auf und rief voller Empörung:»Warum sollte ich so etwas tun? Können Sie mir diese Frage beantworten? Warum?«Zur allgemeinen Überraschung, besonders Souads, ergriff aus ihrer Distanz nun Frau Mahmouni das Wort.

«Warum? Souad, das ist eine sinnlose Frage. Die Frage, warum ein Mensch dieses oder jenes tut, ist meist nicht befriedigend zu beantworten. Nicht einmal Vermögensinteressen geben hier Gewißheit. Oft handeln die Menschen nach ihren Interessen oder ihren vermeintlichen Interessen — sehr oft aber auch nicht. Es gibt für jede Handlung tausend Gründe; hoffnungslos, sie zu erforschen. Und außerdem sind viel mehr Menschen, als man glaubt, verrückt. Manche nur zeitweise, um es noch schwieriger zu machen. Sie werden verrückt, wie sie den Schnupfen bekommen, und werden die Verrücktheit wie den Schnupfen nach einer Weile wieder los. Also kein Warum. Eine ganz andere Frage ist, ob jemand imstande ist, dies oder das zu tun. Diese Frage ist schon sinnvoller. Und wenn ich mich frage, ob Sie imstande sind, Herrn Doktor Wittekind die Abrechnungen zu verweigern, ist die Antwort viel einfacher. Natürlich sind Sie dazu imstande, Souad.«

Sogar Barbara hatte bei dieser kleinen Rede aufgehört zu telephonieren, ihr Vetter freilich nicht, da hätte schon anderes geboten werden müssen. Am meisten wunderte sich Hans aber über Souad. Kein Aufschrei des Protestes von seiner Seite. Er saß brütend da wie ein Frosch, man sah geradezu seine Kehle pumpen. Frau Mahmouni sprach weiter.

«Herr Doktor Wittekind. Ich darf Ihnen mitteilen, daß ich ab heute die Verwaltung dieses Hauses wieder übernehme. Ich war mir mit meinem Mann über verschiedene Fragen nicht einig, aber das ist geklärt.«

«Und ich?«Souad sprach wie vom Donner gerührt, ungewohnt ausdruckslos, ja verhalten.

«Sie machen weiter die Waschanlage«, befahl Frau Mahmouni,»aber nur noch für zwei Monate. Es wird bald schon gar keine Waschanlage mehr geben. Die Waschanlage wird verschwinden. Dort drüben zieht ein großer pakistanischer Baumwollimport ein, der Kontrakt ist heute unterschrieben. Danach übernehmen Sie den ›Habsburger Hof‹. Mein Mann und ich haben uns entschlossen, unsere Interessen hier auf diesen Platz zu konzentrieren, um den Immobilienbesitz zu arrondieren.«

«Es ist auch von mir was drin, Souad«, zwitscherte Barbara. Souads langen leeren Blick hielt sie ohne Mühe aus.»Man muß bei Immobilien immer alles gut bedenken«, sagte sie in dem Bemühen, ihn an ihrer Zufriedenheit teilnehmen zu lassen,»eine gute Anlage ist halt immer viel Arbeit.«

Wer glaubte, nach solchen Eröffnungen werde der Kreis schnell auseinanderfliegen, hatte sich getäuscht. Vielleicht war es nur die nächtliche Hitze, die jeden von einer unnötigen Bewegung abhielt, bis auf den Äthiopier, dem sie nichts antat und der mit flinkem Blick darauf achtete, daß jeder eine Flasche hatte, jeder eine andere, wohlgemerkt. Die Unterhaltung floß leise dahin. Es war, als sei man dankbar, die neue Normalität gemeinsam einüben zu dürfen.

Plötzlich neigte Souad sich zu Hans und sagte mit hinaufweisendem Kopfnicken:»Deine Frau steht die ganze Zeit da am Fenster und schaut zu uns herab.«

Ina hatte tatsächlich die von ihr angerichtete Unordnung, die sie nicht mehr zu beherrschen vermochte, verlassen und war die Treppe hinabgestiegen. Beim letzten Fenster des Treppenhauses, unmittelbar über der Gesellschaft, blieb sie stehen, an den Rahmen gelehnt und die Leute dicht unter sich betrachtend. Von den Gesprächen drang manches zu ihr hinauf, wenngleich nicht alles. Eben hörte sie Wittekind mit leicht erhobener Stimme sagen:»Aber es kommt doch gar nicht darauf an, glücklich zu sein.«

«Worauf kommt es denn an?«fragte Barbara, aber von der Antwort bekam Ina wieder nichts mit, nur von der Zustimmung, die sie fand.

«Genau, genau«, rief Barbara und wandte sich sogar an den Vetter, der gleichfalls, aber widerwillig, wie Ina vorkam, nickte. Jetzt fuhr ein Taxi vor die Hofeinfahrt, der Türke stieg aus, im Fond blieb ein unerhört massiger Mann sitzen. Frau Mahmouni erhob sich behutsam und nahm den Arm des türkischen Fahrers. Ina löste sich vom Fenster und stieg langsam, aber ohne Zögern die Treppe hinab, gerade als Souad auf sie aufmerksam geworden war. Sie erschien im Türrahmen. Die Gesellschaft saß im Schein der Bogenlampen vor ihr und sah zu ihr hinüber. Wie es gelegentlich selbst in angeregter Runde geschieht, schwiegen gerade alle für einen Augenblick. Ina kam auf sie zu. Nur Hans wußte, daß sie verändert aussah, mit ungekämmtem Haar verließ sie sonst niemals die Wohnung.

Zielsicher ging sie auf Wittekind zu, erwiderte seinen Gruß nicht, bückte sich nach der Bierflasche, wandte sich zu Hans und schlug ihm die Flasche mit einer weiten Bewegung auf den Kopf. Die Flasche zerbrach. Ina stand still da mit dem gezackten Hals in der Hand. Hans bewegte sich nicht. Blut quoll aus seiner Stirn und lief ihm in die Augen. Es rührte sich keine Hand in der verzauberten Stille. Ina stand mit geschlossenen Augen. Sie wartete. Irgend etwas, das wußte sie, würde geschehen.

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