11

Von Angella erfuhr sie später, daß der Hornkopf im gleichen Moment, in dem sie das Steuergerät zerschlug, schlagartig das Interesse an Hrhon verloren und zu toben begonnen hatte. Das Ungeheuer hatte sich wahllos auf Freund oder Feind gestürzt. Nur sehr wenige von den Banditen, die an dem Hinterhalt beteiligt gewesen waren, hatten sein Wüten überlebt. Anschließend war der Hornkopf weitergezogen und hatte drei komplette Straßenzüge in Schutt und Asche gelegt, ehe es der Stadtgarde gelungen war, ihn zu töten.

Drei Tage später nach dieser Schlacht wurde Kara von Angella aus dem Heilschlaf erweckt. Zweiundsiebzig Stunden totentiefer Schlaf und Angellas Magie hatten die tiefe Wunde in ihrer Schulter fast und das halbe Dutzend kleinerer Verletzungen, das sie davongetragen hatte, vollkommen verheilen lassen. Ihr Körper hatte den Blutverlust verkraftet, und sie fühlte sich frisch und ausgeruht, als hätte sie monatelang geschlafen. Trotzdem hätte Angella sie drei weitere Tage schlafen lassen, hätte nicht für diesen Abend Gendik seinen Besuch angekündigt.

Angella hatte darauf bestanden, daß Kara die Zeit bis dahin noch in ihrem Zimmer und im Bett verbrachte. Der magische Heilschlaf wirkte manchmal Wunder, aber er barg auch Gefahren, denn er mobilisierte die geheimen Kraftreserven des Körpers, so daß sich derjenige, der daraus erwachte, nur zu oft fühlte, als könne er die sprichwörtlichen Bäume ausreißen und manchmal zu spät begriff, daß dieses Gefühl trog. So mancher hatte seine Kräfte überschätzt und prompt einen Rückfall erlitten, der tödlich enden konnte.

Bei Kara bestand diese Gefahr allerdings nicht – ganz einfach, weil sie keinen Moment allein gelassen wurde. Nachdem Weller zu ihr gekommen war, um sich in allen Einzelheiten die Geschichte ihres Kampfes erzählen zu lassen, wechselten sich Hrhon, Angella und Elder darin ab, Kara die Zeit zu vertreiben und ihr den Rest der Geschichte zu erzählen, den sie nicht mehr aus eigenem Erleben kannte. Viel war allerdings nicht mehr passiert. Nachdem der Angriffswille der Banditen einmal gebrochen war, war es Angella und dem Waga ein leichtes gewesen, sie in die Flucht zu schlagen.

Als es dämmerte, kam Elder zum zweiten Mal zu ihr und erklärte, daß Gendik und ein zweiter, hochrangiger Würdenträger der Stadt auf dem Weg seien und in wenigen Augenblick eintreffen mußten. Kara ging zum Fenster und warf einen Blick auf den Hof hinaus. Es war noch niemand zu sehen.

»Also gut«, seufzte Angella. »Dann laßt uns hinuntergehen und alles für den Empfang unserer hohen Gäste vorbereiten.«

Kara sah sie aufmerksam an. Täuschte sie sich, oder hörte sie eine ganz sanfte Spur von Spott in ihrer Stimme? Nein – sie täuschte sich nicht. Das Glitzern in Angellas Augen, bevor sie ihre Maske aufsetzte und damit wieder zur gesichtslosen Führerin der Drachenkämpfer wurde, verriet es ihr.

Auch Kara wandte sich zur Tür. Gedankenverloren rieb sie sich über den Arm, den sie in einer Schlinge vor dem Körper trug. Die Schulter schmerzte nur noch ein wenig, aber sie fühlte sich noch immer taub an.

»Kara?«

Sie blieb stehen, während Elder das Zimmer verließ, und sah Angella fragend an.

»Nur eines«, begann Angella. »Und ich bitte dich, mir ausnahmsweise einmal zuzuhören.«

»Ja?«

»Ganz gleich, was ich oder Gendik oder irgendein anderer nachher sagen oder tun – du wirst schweigen und nur antworten, wenn du gefragt wirst, ist das klar?«

Kara nickte. »Wenn du es wünschst«, sagte sie.

»Nein, ich wünsche es nicht. Ich befehle es dir.«

Kara spürte, wie sich ein Lächeln der Verwirrung auf ihre Züge stehlen wollte, doch im letzten Moment unterdrückte sie es. Mit völlig ausdruckslosem Gesicht antwortete sie: »Wie Ihr befehlt, Herrin.«

Angella wollte an ihr vorübergehen, aber da hielt Kara sie zurück. »Gestattet Ihr mir eine Frage, Herrin?«

Angella machte eine ärgerliche Handbewegung. »Hör mit dem Unsinn auf, ja? Was willst du wissen?«

»Wieso soll ich überhaupt dabeisein, wenn ich doch nichts sagen darf?«

»Eine gute Frage«, antwortete Angella. »Ginge es nach mir, dann wärst du es auch nicht, sondern würdest jetzt noch in deinem Bett liegen und schlafen. Aber es geht nicht nach mir. Gendik bestand ausdrücklich darauf, dich zu sehen.«

»Mich?«

»Alle, die bei dem Überfall dabei waren, lautete sein genauer Befehl«, antwortete Angella. »Du wirst ihm alle seine Fragen wahrheitsgemäß beantworten, aber nicht mehr. Nicht, was du geglaubt hast oder gedacht oder befürchtest. Verstehst du?«

»Nein«, sagte Kara wahrheitsgemäß. »Aber ich werde tun, was du befiehlst.«

»Es ist wichtig, Kind. Ich kann es dir jetzt nicht erklären, aber von diesem Gespräch kann viel abhängen, glaub mir. Für uns alle.«

»Es gibt eine Menge, was du mir jetzt nicht erklären kannst oder willst. Nicht wahr?« Kara spürte, daß ihre Worte Angella verletzten. Aber sie war auch in diesem Augenblick zu stolz, um sich zu entschuldigen. Und zu zornig. Mit einem Ruck drehte sie sich herum und lief mit raschen Schritten die Treppe hinab. Die zum Hof führende Tür stand offen. Ein kühler Lufthauch drang herein und das grüne Licht Dutzender von Leuchtstäben. Im ersten Moment dachte sie, Weller hätte sie entzünden lassen, aber als sie sich der Tür näherte, erkannte sie, daß sich auf dem Hof einiges getan hatte: Auf dem ummauerten Viereck befanden sich gute zwei Dutzend Reiter in den gelben Umhängen der Stadtgarde. Weitere Berittene schirmten das Tor und die Straße ab, und dann als Angella neben sie trat und ebenfalls stehenblieb, hörte Kara ein durchdringendes Summen und sah die klobigen Hornköpfe, die die beiden Reiter um Haupteslänge überragten, obwohl sie zu Fuß neben ihnen einherstaksten. Kara konnte nicht erkennen, welcher Gattung sie angehörten, aber sie bestanden fast nur aus Panzerplatten, Stacheln, Scheren, und Klingen. Darüber hinaus schleppten sie genug Waffen mit sich herum, um eine kleine Armee auszurüsten. Oder niederzumachen.

»Wenn es um seine eigene Sicherheit geht, scheint sich Gendiks Abneigung gegen Nichtmenschen in Grenzen zu halten«, sagte sie stirnrunzelnd.

Angella lachte spöttisch. »Vielleicht hat er Angst vor Überfällen?«

Die beiden Reiter saßen ab, wodurch sie neben den Hornköpfen vollends zu Zwergen zusammenzuschrumpfen schienen, und näherten sich dem Haus. Kara unterdrückte ein Schaudern. Sie hatte Hornköpfe noch nie besonders gemocht, und seit dem Erlebnis vor drei Tagen hatte sie eine regelrechte Abneigung gegen sie. Zu ihrer Erleichterung betraten die beiden Giganten das Haus nicht, nachdem Weller seine Gäste begrüßt und mit den zeremoniellen Worten – die ihm offenbar schwer von den Lippen gingen – hereinbat.

Kara musterte besonders den zweiten Besucher aufmerksam, während sie Angella und den anderen in respektvollem Abstand in Wellers Wohnküche folgte. Er war älter als der Gouverneur, ein gutes Stück kleiner, aber sehr viel drahtiger. Sein Haar war grau und fiel bis auf die Schulter herab, und sein Gesicht war hart, wirkte aber trotzdem nicht unsympathisch. Er trug einen Mantel von blutroter Farbe, der wie Elders geschnitten war. Auf seinen Schultern glänzten goldene Insignien, deren Bedeutung Kara nicht kannte.

Weller bat seine Gäste, Platz zu nehmen, und bot ihnen zu trinken an, was sie jedoch ablehnten.

Gendiks Blick glitt über die Gesichter der Anwesenden, nachdem er sich gesetzt hatte. Außer ihm selbst und seinem Begleiter hielten sich nur Weller, Angella, Elder und Hrhon in der Küche auf. Lediglich zwei von Wellers Hornköpfen standen bereit, um die Wünsche der Gäste zu erfüllen. Gendik scheuchte die beiden Insektenkreaturen mit einer fast angewiderten Geste hinaus und wartete, bis sie das Zimmer verlassen hatten. Dann wandte er sich wieder an Kara und lächelte. »Du bist die junge Drachenkämpferin, die man Kara nennt, nicht wahr?«

Kara dachte an Angellas Warnung und nickte nur.

»Es freut mich, daß du wieder wohlauf bist«, fuhr Gendik stirnrunzelnd fort. »Man erzählte mir, du wärst bei dem Kampf schwer verletzt worden.«

Kara fing einen raschen, warnenden Blick Angellas auf. Sie lächelte flüchtig und machte eine wegwerfende Geste. »Es war halb so schlimm«, sagte sie. »Eine kleine Fleischwunde, mehr nicht.«

In den Augen des Mannes neben Gendik blitzte es spöttisch auf. »Eine kleine Fleischwunde? Deine Schulter wurde durchbohrt, Mädchen! Was nennst du eine schwere Verletzung?

Wenn man dir den Arm abhackt?« Er lachte. »Es scheint zu stimmen, was man sich über die heilende Magie der Drachenkämpfer erzählt. Als ich vor Jahren einmal einen Pfeil in die Schulter bekam, lag ich drei Wochen auf dem Krankenbett und konnte den Arm monatelang nur unter Schmerzen bewegen.«

»Vielleicht hattet Ihr die falschen Heiler«, sagte Angella. »Vielleicht«, antwortete der Grauhaarige. »Aber bei uns nennt man sie Ärzte.« Er konzentrierte seine Aufmerksamkeit wieder auf Kara. »Hauptmann Elder berichtete mir, daß du es warst, die den Kampf entschieden hat?«

Hinter Karas Stirn begann es heftig zu arbeiten. Das war kein bloßer Austausch von Belanglosigkeiten, sondern ein Gespräch, das mit einer ganz bestimmten Absicht geführt wurde. Sie wog jedes Wort sorgsam ab, ehe sie antwortete. »Wenn das stimmt, dann war es ein Zufall. Ich geriet an ihren Anführer und erschlug ihn.«

»Erschlagen hast du ihn nicht«, sagte der Grauhaarige. »Wir fanden das Steuergerät, mit dem er den Hornkopf lenkte, und...« Er unterdrückte mit Mühe ein Lachen. »... ein paar seiner Zähne. Aber keinen Toten.«

Kara konnte einen überraschten Blick in Angellas Richtung nicht unterdrücken. Weder sie noch Hrhon oder Elder hatten ihr bisher gesagt, daß der Fremde entkommen war. Und sie war ziemlich sicher, daß das kein Zufall war.

»Es ist schade, daß er entkommen ist«, fuhr der Grauhaarige fort. »Ich hätte mich gern mit ihm unterhalten. Das Steuergerät, das er bei sich hatte, war ein kleines Wunderwerk. Wir könnten so etwas nicht bauen. Unsere Techniker verstehen nicht einmal, wie es funktioniert. Zu bedauerlich, daß du es zerstört hast.«

Vorsicht! dachte Kara. Zögernd antwortete sie: »Ich hatte keine andere Wahl.«

»Ja. Auch das hat man mir erzählt.« Der Grauhaarige lächelte noch immer, aber etwas an diesem Lächeln gefiel Kara nicht. Ganz plötzlich begriff sie, daß die Ausstrahlung des starken, aber gütigen alten Mannes, die ihn umgab, nicht echt war, sondern eine sorgsam gepflegte Maske, hinter der sich etwas völlig anderes verbarg. »Ist dir sonst noch irgend etwas an ihm aufgefallen, Kind?«

Kara zögerte, um ihn glauben zu lassen, sie denke über seine Frage nach. Dann schüttelte sie den Kopf. »Nein. Er war nur ein ausgezeichneter Schwertkämpfer.« Sie begriff nicht ganz, was an dieser Antwort verfänglich war, aber Angella warf ihr einen mahnenden Blick zu und mischte sich ein.

»Womit wir beim Thema wären, geehrter Rusman. Da Ihr als oberster Befehlshaber der Stadtgarde persönlich gekommen seid, nehme ich an, Ihr habt herausgefunden, wer für den heimtückischen Überfall verantwortlich ist.«

Man sah Rusman an, daß er lieber noch weiter mit Kara geredet hätte, statt Angella zu antworten. Er schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, ich muß Euch enttäuschen, Angella«, sagte er. »Meine besten Männer haben drei Tage lang buchstäblich jeden Stein in dieser Stadt herumgedreht. Ohne Erfolg.«

»Das meint Ihr nicht ernst«, erwiderte Angella ohne jeden Respekt vor den Kommandanten. »Ihr wollt mir erzählen, Ihr hättet nichts herausgefunden?«

»Ich will es Euch nicht erzählen«, verbesserte sie Rusman. »Es ist die Wahrheit. Aber wir haben natürlich eine Menge herausgefunden, nur fürchte ich, nicht genau das, was Ihr hören wollt, Angella.«

»Ach?« machte Angella herausfordernd. »Und was wäre das?«

»Daß es sich genauso verhält, wie ich schon vor drei Tagen vermutet habe«, antwortete Gendik an Rusmans Stelle. »Die Männer, die Euch überfallen haben, waren ganz gewöhnliche Straßenräuber. Gesindel, dem Ihr durch einen unglücklichen Zufall in die Hände gefallen seid. Ein paar von den Toten sind uns wohlbekannt. Mörder und Diebe, um die es nicht schade ist. Von der großen Verschwörung, der Ihr auf die Spur gekommen zu sein glaubt, haben wir nichts gefunden.«

»Mörder und Diebe?« wiederholte Angella ungläubig. »Eine ziemlich große Mörderbande, nicht wahr?«

»Schelfheim ist eine große Stadt«, antwortete Gendik. »Und Ihr wart in einer üblen Gegend. Seht Ihr – es hat seine Gründe, daß wir manche Viertel nur für Menschen freigeben.«

»Die allermeisten von ihnen waren Menschen«, wandte Kara ein.

»Und sie waren ziemlich gut ausgerüstet für eine Mörderbande«, fügte Angella hinzu. Erstaunlicherweise verzichtete sie darauf, Kara mit einem neuerlichen Blick wieder zum Schweigen zu bringen, sondern wies statt dessen beinahe anklagend auf Elder. »Sie hatten einen Dämpfer, Gendik!«

»Nein, das hatten sie ganz bestimmt nicht«, sagte Rusman. »Ich habe Hauptmann Elders Waffe untersuchen lassen. Sie war defekt, ein Materialfehler, mehr nicht.«

Elder wirkte verblüfft, fast erschrocken. Er nickte zwar, als Rusman ihn auffordernd ansah, aber es wirkte nicht sehr überzeugend.

Angella hob spöttisch die Brauen. »Und sein Sender? Wieso funktionierte der nicht?«

»Ein weiterer Defekt«, sagte Rusman achselzuckend. »So etwas kommt vor.«

»Im gleichen Moment?«

»Ein Zufall.« Rusman gab sich nicht einmal die Mühe, überzeugend zu lügen.

»Dann war es sicher auch ein Zufall, daß auch mein Rufer nicht funktionierte, wie?« fragte sie herausfordernd. »Ich habe hinterher mit Weller gesprochen. Sein Tier hat nichts empfangen. Etwas hat die Gedankenwellen des Tieres blockiert.«

»Ihr tragt einen Rufer?« fragte Rusman. »Ihr wißt, daß diese Tiere in Schelfheim verboten sind.«

Angella lachte böse. »Dann legt mich doch in Ketten«, erwiderte sie.

Rusman blieb ernst. »Zwingt mich nicht dazu, es wirklich zu tun, Angella«, sagte er. »Es könnte sein, daß mir keine andere Wahl bleibt. Und sei es zu Eurem eigenen Schutz.«

»Wie rührend«, sagte Angella. »Das habe ich noch nie gehört.«

»Aber ich meine es ernst«, antwortete Rusman. »Seht Ihr, Angella – in einem habt Ihr recht. Es gibt sehr wohl noch eine andere Erklärung für den Überfall auf Euch. Aber sie wird Euch noch viel weniger gefallen als die erste.«

»So?« Angella bewegte sich nervös.

»Die Menschen hier fürchten Euch«, sagte Rusman. »Und daher hassen sie Euch. Ihr und Eure Begleiter seid nicht willkommen in Schelfheim.«

»Bei niemandem, nehme ich an«, sagte Angella. »Nicht einmal bei Euch.«

»Nein«, sagte Rusman mit überraschender Offenheit.

»Gerade bei mir nicht, denn ich bin für die Sicherheit dieser Stadt verantwortlich. Wir sind jedoch zivilisiert genug, nicht gleich ein Schwert zu nehmen und jeden, den wir nicht mögen, zu erschlagen. Wie Ihr leider erfahren mußtet, gilt das nicht für alle Einwohner dieser Stadt.«

»Der Mann, gegen den ich gekämpft habe, war nicht aus Schelfheim«, sagte Kara.

Sie hätte sich am liebsten im gleichen Moment auf die Zunge gebissen, aber da war es schon zu spät. Alle starrten sie an. Angella wirkte ziemlich wütend.

»Wie meinst du das?« fragte Rusman mißtrauisch.

»Es war... nur so ein Gefühl.« Kara druckste einen Moment herum. »Etwas an ihm war fremd. Ich kann es nicht genauer beschreiben.«

»Unsinn!« sagte Gendik, aber Rusman brachte ihn mit einer Geste zum Schweigen.

»Sprich weiter, Mädchen«, sagte er. »Wie meinst du das?«

»Was sie meint«, drängte sich Angella in das Gespräch, »ist, daß dieser Mann ganz bestimmt kein dahergelaufener Halsabschneider war. Kara ist eine Drachenkämpferin, Rusman. Vielleicht die beste, die ich je ausgebildet habe. Und dieser Fremde hat sie besiegt?«

Kara fuhr zusammen, und Angella warf ihr einen um Verzeihung bittenden Blick zu, bevor sie fortfuhr: »Vor ein paar Tagen hat sie vier Eurer Soldaten niedergeschlagen, Rusman, ohne sich sonderlich dabei anzustrengen. Und dieser Halsabschneider, wie Ihr ihn nennt, hätte sie um ein Haar getötet.«

»Ich dachte, sie hätte den Kampf gewonnen«, antwortete Rusrhan.

»Das hat sie. Aber nur durch einen ziemlich schmutzigen Trick, über den ich noch mit ihr reden werde. Er war besser als Sie.«

»Und das verletzt Euren Stolz, nicht wahr?« Gendik schnaubte. Angella wollte auffahren, aber er ließ sie nicht zu Wort kommen. »Das führt zu uns, Angella. Unsere Entscheidung ist ohnehin gefallen. Rusman und ich sind hergekommen, um sie Euch persönlich mitzuteilen.«

»Was für eine Entscheidung?« fragte Angella eine Spur zu hastig.

»Die Entscheidung, daß wir Euch bitten möchten, die Stadt zu verlassen«, antwortete Rusman.

Angella starrte ihn an. Sie sagte nichts.

»Ich könnte es Euch befehlen«, sagte Rusman, »und ich werde es, wenn Ihr mich dazu zwingt. Aber es wäre mir lieber, wenn Ihr es nicht tätet. Schelfheim hat sich verändert, Angella. Es ist nicht mehr die Stadt, über die Ihr einst als Anführerin einer Räuberbande herrschtet. Und es ist auch nicht mehr die Stadt, die sich der Gewalt von Jandhis Drachenschwestern gebeugt hat. Ihr könnt hier nicht mehr leben.« Er wies mit einer Geste, die frei von jeder Anklage war, auf Kara und Hrhon. »In nur drei Tagen, die Ihr hier wart, habt Ihr zweimal fast einen Bürgerkrieg entfesselt. Was wird als nächstes passieren? So hart es klingen mag, aber wir können uns Gäste wie Euch nicht leisten. Bitte geht.«

»Und wann?« fragte Angella.

»Am liebsten sofort. Aber ich will nicht unhöflich sein. Morgen bei Sonnenaufgang ist früh genug. Ich lasse die Posten am Hochweg informieren, damit Ihr passieren könnt.«

»Wie großzügig«, spottete Angella. »Und Ihr ladet uns sicherlich noch zu einem üppigen Frühstück in Eurem Palast ein wenn wir darauf bestehen, nicht wahr?«

»Eure Verbitterung ist verständlich«, sagte Rusman. »Aber sie hilft uns nicht weiter.«

»Und... und der Hochweg?« fragte Angella. Sie war sichtlich aus der Fassung gebracht. Kara erinnerte sich nicht, sie jemals so hilflos gesehen zu haben. »Der Stamm? Ist es Euch völlig gleichgültig, was mit dem Stamm geschieht? Er ist krank. Er wird zusammenbrechen! «

»Kaum«, erwiderte Gendik.

Angella funkelte ihn wütend an. »Ihr wart nie dort unten!« sagte sie aufgebracht. »Ihr habt ihn nicht gesehen. Aber ich habe ihn gesehen, und glaubt mir, was ich gesehen habe, das hat mich mit Entsetzen erfüllt! Er stirbt! Er ist fast schon tot.«

»Dieser eine vielleicht. Aber der Stamm hat Hunderte von Trieben.«

»Und wenn sie alle krank sind? Donay sagt...«

Gendik unterbrach sie mit einer Handbewegung. »Donay ist ein zorniger junger Mann. Glaubt mir, wir sind uns des Problems durchaus bewußt und arbeiten daran. Und wir haben gute Spezialisten für solch eine Aufgabe.«

Angella seufzte tief und schwieg, und Rusman sagte fast sanft: »Ich verstehe Eure Gefühle, Angella. Und bitte, glaubt mir – könnte ich so handeln, wie ich wollte, würde ich Euch bestimmt nicht bitten zu gehen. Aber ich kann nicht anders. Ich bin für Ruhe und Sicherheit in dieser Stadt verantwortlich.«

»Ich glaube Euch«, murmelte Angella. Sie lachte bitter. »Ich glaube Euch. Und vielleicht ist das gerade das Schlimme.«

Загрузка...