Sie brauchte eine knappe Viertelstunde, um Tess und die drei anderen einzuholen, denn obwohl Markor der größte und stärkste Drache des Schwarmes war, war er verletzt und ziemlich erschöpft. Außerdem hatte Kara es nicht besonders eilig, sie einzuholen. Sie war einerseits zornig, weil die vier sich so offen über ihren Befehl hinweggesetzt hatten, aber andererseits war sie froh, über den Vorwand, selbst nach Norden fliegen zu können statt zurück zum Hort. Ihr Befehl, den Angriff abzubrechen, war von der Vernunft diktiert gewesen, nicht von ihrem Gefühl.
So enthielt sie sich auch jeden Kommentars, als Markor schließlich zu den anderen aufschloß. Sie glitten dicht über den Baumwipfeln dahin, um den dunklen Hintergrund des Waldes als Deckung auszunutzen, und da die Drachen sehr langsam flogen, bewegten sich ihre Schwingen nahezu lautlos.
Tess hob den Arm und winkte ihr zu, aber Kara widerstand dem Impuls, zurückzuwinken. Wie die Dinge auch immer aussahen – die vier hatten gegen einen direkten Befehl verstoßen, und das war ein schweres Vergehen, über das sie später reden würden.
Sie flogen eine gute Stunde nach Norden, ohne die beiden Libellenmaschinen zu Gesicht zu bekommen. Kara glaubte mittlerweile nicht mehr, daß sie sie wirklich einholen konnten. Die Drachen waren müde, während die Libellen keine Erschöpfung kannten. Sie waren Maschinen, die entweder funktionierten oder nicht. Außerdem wußte Kara ja noch nicht einmal, ob sie sich überhaupt auf dem richtigen Weg befanden. Vielleicht waren die Maschinen nur ein kurzes Stück nach Norden geflogen und dann auf einen anderen Kurs eingeschwenkt. Schließlich gab Kara das Zeichen, nach einem Landeplatz Ausschau zu halten, und dieses Mal gehorchten die vier Drachenreiter. Vorsichtig suchten sie einen halbwegs sicheren Platz und gingen nieder. Alle bis auf Maran stiegen aus den Sätteln. Kara war ein wenig enttäuscht. Sie hatte sich mit Marans Aufsässigkeit im Grunde abgefunden, aber daß er auch noch feige war, hätte sie nicht gedacht.
Tess, Silvy und Zen balancierten über den unsicheren Boden heran. Silvy wich ihrem Blick aus und wirkte schlichtweg verängstigt. Kara war niemals so deutlich wie jetzt aufgefallen, daß sie nur so etwas wie Tess’ Anhängsel war. Zen versuchte so gelassen und ruhig auszusehen, als wäre gar nichts Außergewöhnliches passiert, während Tess Karas Blick trotzig erwiderte und schon wieder kampflustig die Lippen geschürzt hatte. Kara sah sie schweigend an, wartete und überließ es ganz bewußt ihr, das Gespräch zu eröffnen.
»Also!« sagte Tess nach einer Weile.
»Also – was?«
Zornig ballte Tess die Fäuste, daß es fast aussah, als wolle sie auf Kara losgehen. Aber die herausfordernde Haltung sollte lediglich ihre Unsicherheit überspielen. »Nun fang schon an, damit wir es hinter uns haben. Du bist doch sicher gekommen, um uns Vorhaltungen zu machen.«
»Wenn du wirklich glaubst, ich fliege euch eine Stunde lang nach, um euch Vorhaltungen zu machen, dann tust du mir leid«, antwortete Kara. »Nicht, daß das nicht passieren würde. Wir werden uns über eure Auffassung des Wortes Gehorsam unterhalten, aber nicht jetzt. Das hat Zeit, bis wir zurück sind.«
»Ich weiß«, murmelte Tess. »Wir haben Aires gehört.«
»So schlimm wird es schon nicht werden«, sagte Kara seufzend. »Ich werde sehen, was ich für euch tun kann.« Sie wechselte mit einer Handbewegung das Thema. »Die Drachen brauchen dringend eine Pause. Wir werden eine Stunde rasten und dann weiterfliegen.« Ach ja, und Maran, fügte sie lautlos hinzu, wenn es dir auf dem Rücken deines Tieres schon so ausnehmend gut gefällt, dann kannst du gleich dableiben und die erste Wache übernehmen, während wir versuchen, ein wenig zu schlafen!
Maran fügte sich ihrem Befehl widerspruchslos, und Kara kuschelte sich an Markor, kaum daß Tess und die beiden anderen gegangen waren, und fand zu ihrer eigenen Überraschung sofort Schlaf. Aber entweder war Maran ebenfalls eingeschlummert, oder sie hatte seinen Weckruf nicht gehört; als sie erwachte, stand die Sonne schon zwei Fingerbreit am Horizont. Kara lief ein wenig auf und ab, um ihre Muskeln wieder geschmeidig zu machen, und betrachtete währenddessen besorgt den Drachen. Seine Verletzungen waren schwerer, als sie befürchtet hatte. Das Loch in seiner Schwinge war harmlos, aber die Wunde an seinem Hals sah schlimm aus, sie war gute drei Meter lang und so tief, daß das rohe Fleisch hervorbrach. Der Anblick erschütterte Kara. Die Panzerplatten eines Drachen waren härter als Stahl; nicht einmal Aires’ Laserwaffe vermochte ihnen ernsthaften Schaden zuzufügen. Die Waffen der Fremden mußten ihren grenzenlos überlegen sein. Kara fragte sich ernsthaft, ob irgend etwas von dem, was sie tun konnten, überhaupt noch einen Sinn hatte.
Sie verscheuchte den Gedanken. Sie würden einfach weitermachen und sehen, was geschah.
Tess, Maran, Zen – seid ihr wach?
Sie bekam keine Antwort; wahrscheinlich schliefen die drei noch. Kara war eher amüsiert als verärgert. Sie alle hatten während der letzten vierundzwanzig Stunden praktisch keine Minute Ruhe gefunden.
Wacht auf!
Nichts.
Sie hob die Hand über die Augen und blinzelte gegen das rote Licht der aufgehenden Sonne. Die vier Drachen hockten ein Stück weit entfernt wie schlafende Riesenkrähen auf den Ästen. Von ihren Reitern war keine Spur zu entdecken. In das Gefühl der Beunruhigung, das Kara empfand, mischte sich ein deutliches Empfinden von Gefahr. Hinter ihr hob Markor träge den Kopf und blinzelte, als hätte er ihre Beunruhigung gefühlt. Sie ging weiter, blieb wieder stehen, machte wieder einige Schritte und stockte abermals. Sie erkannte jetzt Tess, die mit an den Leib gezogenen Knien an ihrem Drachen lag und schlief. Kara rief abermals ihren Namen, Tess bewegte sich zwar leicht, reagierte aber ansonsten nicht. Hinter ihr ließ Markor ein drohendes Grollen hören. Aber es hätte seiner Warnung nicht einmal mehr bedurft, um Kara erneut innehalten zu lassen.
Vor ihr... war etwas.
Sie konnte nicht genau erkennen, was es war; eine Veränderung in den Blättern vor ihr, in den Geräuschen und vor allem dem Gefühl des Waldes. Sie ließ sich in die Hocke sinken und betrachtete das Blattwerk vor sich. Etwas mit den Blättern stimmte nicht, aber sie konnte nicht sagen, was es genau war. Sehr viel vorsichtiger ging sie weiter. Der Boden unter ihren Füßen federte, und manchmal klafften große Löcher in der grünen Decke. Während sie weiterlief, wurde ihr bewußt, wie müde sie immer noch war. Die wenigen Stunden Schlaf hatten längst nicht ausgereicht, sie wieder völlig zu Kräften kommen zu lassen. Ihre Glieder fühlten sich wie Blei an, und es fiel ihr immer schwerer, sich darauf zu konzentrieren, wohin sie ihre Füße setzte. Aber es war eine angenehme Müdigkeit, so wohltuend, daß es ihr schwerfiel, ihrer warmen Verlockung zu widerstehen.
Beinahe wäre sie in eines der klaffenden Löcher im Blätterdach gestürzt. Sie bemerkte im allerletzten Moment, daß dort, wohin sie ihren Fuß setzen wollte, nichts mehr war, und prallte zurück.
Der Schrecken jagte eine zusätzliche Dosis Adrenalin in ihren Blutkreislauf. Ihr Herz begann zu jagen, und für einen Moment war sie so wach und klar, als hätte sie eine Woche geschlafen. Was geschah mit ihr? Diese plötzliche Müdigkeit war nicht normal, und sie – kam zurück. Kara konnte regelrecht spüren, wie sich eine Woge angenehmer Mattigkeit in ihrem Körper ausbreitete. Ihr Denken begann unscharf zu werden und zerfaserte... Sie stolperte und fing den Sturz im letzten Moment instinktiv ab, aber sie spürte es kaum mehr. Langsam hob sie die Hand, versuchte, sich die Müdigkeit aus den Augen zu wischen, aber selbst dafür fehlte ihr die Kraft. Ihre Hände fielen schwer wie Blei hinunter, glitten über ihre Wangen und berührten den winzigen chitingepanzerten Körper des Rufers, der direkt an ihr Nervensystem angeschlossen war. Das Insekt bewegte sich unruhig, schien zu pulsieren, als Kara griff mit einer letzten Willensanstrengung zu und riß das Tier aus ihrem Fleisch.
Ein entsetzlicher Schmerz zuckte wie ein Stromschlag durch ihren Körper. Sie schrie auf, fiel auf die Knie und fühlte, wie warmes Blut an ihrem Hals herablief. Der Schmerz war so schlimm, daß er ihr die Tränen in die Augen trieb und sie stöhnend die Zähne zusammenbiß. Aber im gleichen Maß, in dem er verebbte, kehrte auch ihr klares Denken zurück. Es war, als würde ein Schleier von ihren Augen gezogen, der ihren Blick getrübt hatte. Plötzlich sah sie die Abermilliarden haardünner, weißer Fäden, die die Blätter ringsum bedeckten.
Sie, die Drachen und die vier Reiter.
Kara rannte mit einem Schrei los. Ihr Schrecken steigerte sich zu purem Entsetzen, als sie das dünne, glitzernde Netz erblickte, das Tess von Kopf bis Fuß einhüllte, noch nicht so dicht wie ein Kokon, aber dicht genug, daß ihr Gesicht kaum noch zu erkennen war. Hastig kniete sie neben der jungen Kriegerin nieder, streckte die Hände aus und zerriß das Gewebe, das ihr Gesicht bedeckte. Die Berührung schmerzte, als hätte sie eine Brennessel angefaßt. Tess stöhnte, wachte aber nicht auf. Kara zerrte mit der linken Hand weiter an dem Netz, das Tess’ Körper einhüllte, während sie mit der anderen heftig an ihrer Schulter zu rütteln begann und ihren Namen schrie. Tess’
Kopf rollte haltlos von einer Seite auf die andere, und sie stöhnte, wachte aber noch immer nicht auf. Karas Blick suchte den Rufer. Sie erschrak. Das Tier war heftig angeschwollen und pulsierte wie ein kleines, wie rasend schlagendes Herz. Entschlossen griff sie zu, nahm das Tier zwischen Daumen und Zeigefinger und riß es heraus. Tess zuckte zusammen und öffnete die Augen. Einen Moment lang blickte sie Kara nur verstört an, dann sah sie an sich herab, begriff, was mit ihr geschah, und bäumte sich so heftig auf, daß Kara sie mit aller Kraft festhalten mußte.
»Beruhige dich«, sagte Kara beschwörend. »Es ist vorbei! Es ist alles in Ordnungl«
»Was...«
»Jetzt nicht«, unterbrach sie Kara. »Wir müssen den anderen helfen. Es sind die Rufer. Ich weiß nicht wie, aber irgendwie haben sie euch betäubt. Schnell! «
So schnell sie konnten, eilten sie zu Silvy, Maran und Zen, die sich in demselben erschreckenden Zustand befanden wie Tess zuvor. Doch sie erwachten ebenso rasch, nachdem sie die Rufer entfernt hatten. Das klebrige Gewebe von ihren Körpern herunterzubekommen, erwies sich als nicht schwierige, aber langwierige und schmerzhafte Prozedur. Kara hielt einen der dünnen Fäden an spitzen Fingern vor das Gesicht und betrachtete ihn eingehender. Er war nur scheinbar glatt. Sah man genauer hin, erkannte man Hunderte kleiner Widerhaken, mit denen sie sich in der Haut ihrer Opfer festkrallten.
»Was, um Gottes willen, ist das?« murmelte Maran verstört, während er sich mit der Hand über den Hals rieb und stirnrunzelnd das Blut betrachtete, das an seinen Fingerspitzen klebte. »Gäa?«
Kara schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht«, sagte sie. »Wahrscheinlich irgendein Bewohner dieser reizenden Gegend. Seht ihr?« Sie deutete nach links. Nicht weit entfernt entdeckte sie eine Anzahl großer, formloser Kokons, die im Blätterdickicht versunken waren. Einige waren kaum so groß wie Bälle, andere geradezu riesig. »Es schließt seine Beute ein und löst sie dann wahrscheinlich auf«, murmelte sie. »Wie eine fleischfressende Pflanze.«
Tess schauderte. »Es hätte uns bei lebendigem Leibe verdaut, wenn du uns nicht gerettet hättest.«
»Aber wieso die Rufer?« fragte Zen.
»Ein Zufall«, vermutete Kara. »Wahrscheinlich haben sie die beruhigenden Impulse dieses... Dinges so weit verstärkt, daß ihr keine Chance hattet. Sie sind direkt an unser Nervensystem angeschlossen. Man spürt es trotzdem noch.«
Tess und Maran sahen sie verständnislos an, und Kara machte eine weit ausholende Geste. »Euch fällt wirklich nichts auf?«
»Nein«, sagte Tess.
»Eben«, antwortete Kara. »Ich finde es schon seltsam, daß ich nicht einmal Angst habe – nachdem wir alle um ein Haar ums Leben gekommen wären.«
»Fast alle«, sagte Zen betont.
Kara zuckte mit den Schultern. »Ich hatte eben das Glück, nicht unmittelbar neben ihrem Nest zu landen.« Sie deutete auf die Drachen. »Kümmert euch um sie. Und dann laßt uns sehen, daß wir weiterkommen.«
Wie sich herausstellte, waren die Drachen nicht der einschläfernden Verlockung des unheimlichen Pflanzenwesens erlegen. Das unheimliche Gewebe hatte während der Nacht auch sie einzuspinnen versucht, es hatte aber ihren stahlharten Panzerplatten nicht den mindesten Schaden zufügen können. Vielleicht, dachte Kara in einem Anflug von Galgenhumor, hatten sie mit der Wahl dieses Platzes sogar Glück gehabt. Gott allein mochte wissen, welchen Monstern sie sonst in die Hände gefallen wären.
»Wir haben ein Problem«, sagte Zen nach einer Weile.
Kara sah ihn fragend an. »So?«
»Ohne die Rufer können wir uns nicht verständigen.« Er deutete in den Himmel hinauf: »Wir sollten vorher besprechen, in welche Richtung wir weiterfliegen.«
»Du hast recht«, sagte Kara nach einigem Nachdenken. »Wer weiß, wann wir das nächste Mal einen sicheren Landeplatz finden. Ruf die drei anderen.«
Während Zen sich entfernte, um Maran und die beiden Mädchen zu holen, sah sich Kara mit einem neuen Gefühl von Unsicherheit um. Die unmittelbare Bedrohung durch das Pflanzenwesen hatte sie für einen Augenblick fast die andere größere Gefahr vergessen lassen, in der sie schwebten. Sie befand sich vermutlich schon in dem Teil des Schlundes, von dem nicht sehr viel mehr bekannt war, als daß es ihn eben gab. Wie es schien, breiteten sich Gäas Sumpfwälder endlos weit aus; auf jeden Fall sehr viel weiter, als ein Drache zu fliegen imstande war. Zen kam mit den beiden anderen herbei, und sie einigten sich darauf, in einer engen Formation weiter nach Norden zu fliegen. Kara schärfte ihnen noch einmal ein, auf gar keinen Fall auf eigene Faust zu handeln, sollten sie die Libellen wieder einholen oder auf andere Gegner stoßen.
Wenige Augenblicke später saß Kara wieder auf Markors Rücken, und der Flug in die unbekannten Tiefen des Schlundes ging weiter.
Eine Stunde. Eine zweite, der eine Rast von der gleichen Länge folgte, und dann wieder eine Stunde Flug. Die Sonne stieg höher, und bald begann es selbst auf den Rücken der Drachen unangenehm warm zu werden. Die Landschaft unter ihnen änderte sich nicht: grüne Hügel, zwischen denen gelegentlich gewaltige Löcher klafften.
Sie hatten eine zweite Rast eingelegt und glitten in dreißig oder vierzig Metern Höhe am Rand einer der gewaltigen Lichtungen entlang, als der Drache, der links von Kara flog, plötzlich eine scharfe Wendung machte und sich fast im rechten Winkel von Kara entfernte.
Kara fluchte ungehemmt, Tess! Wer sonst?
Sie sparte sich die Mühe, den Namen der jungen Kriegerin zu rufen, sondern zwang Markor mit einer abrupten Bewegung herum und flog hinter ihr her. Gleichzeitig signalisierte sie den drei anderen zu bleiben, wo sie waren und ihr und Tess den Rücken freizuhalten.
Tess schraubte ihren Drachen in einer immer enger werdenden, flachen Spirale in die Tiefe. Kara beobachtete das Flugmanöver nicht ohne Sorge. Drachen waren eher einfache Segler als Kunstflieger. Wenn das Tier mit den Bäumen kollidierte oder Tess es in eine zu enge Kurve zwang, dann würde es der Drache zwar überstehen; seine Reiterin aber nicht. Kara hatte diesen Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, da vollführte Tess ein noch gewagteres Manöver – ihr Drache schoß plötzlich mit vorgestreckten Krallen auf einen Ast zu und versuchte, darauf Halt zu finden. Der Anblick erinnerte an einen Falken, der auf seine Beute hinabstieß; nur daß der Drache kein Falke war, sondern ein Gigant von achtzig oder auch hundert Tonnen Körpergewicht. Der Ast splitterte unter dem Aufprall und stürzte mit einem gewaltigen Krachen und Poltern in die Tiefe. Kara beobachtete mit angehaltenem Atem, wie der Drache taumelte und Tess sich im allerletzten Moment mit verzweifelter Kraft auf seinem Rücken festklammerte.
Sie lenkte Markor an das heftig mit den Flügeln schlagende Tier heran und versuchte, gestikulierend Tess’ Aufmerksamkeit zu erwecken. »Bist du wahnsinnig geworden?« schrie sie. »Was hast du vor? Dich umzubringen?«
Es war zweifelhaft, ob Tess die Worte überhaupt verstand, aber sie winkte jedenfalls zurück. Dann bemerkte Kara, daß Tess auf etwas im Wald deutete: Unter ihnen, vielleicht vierzig oder fünfzig Meter tief, lag eine der Libellenmaschinen. Sie hing aufgespießt wie ein übergroßer Schmetterling an einem der vorstehenden Äste des Riesenbaumes.
Kara ließ Markor wieder höhersteigen, signalisierte Tess, ihr zu folgen, und hielt nach einem Landeplatz Ausschau. Tess’
Idee, den Drachen möglichst nahe bei dem Wrack niedergehen zu lassen, wäre nicht einmal so dumm gewesen, hätte es einen ausreichend stabilen Ast gegeben, um den Drachen landen zu lassen. Leider aber gab es keinerlei Landemöglichkeit.
Resignierend steuerte sie Markor von der Lichtung fort und hielt nach einem Ast Ausschau, der das Gewicht des Tieres, zu tragen imstande war. Die Äste, die sie fand, lagen ein gutes Stück von der Lichtung entfernt. Trotzdem – es ging nicht anderes. Kara wäre auch zwanzig Meilen zu Fuß durch den Dschungel marschiert, um sich eine der Libellen aus der Nähe anzusehen. Dicht hintereinander landeten sie in einer Baumkrone, und stiegen ab.
»Was hattest du vor?« empfing Kara Tess verärgert. »Eine besondere Art Selbstmord?«
»Hast du sie nicht gesehen?« fragte Tess verblüfft.
»Doch«, erwiderte Kara. Sie mußte an sich halten, um Tess nicht vor Zorn anzuschreien. »Aber du hättest etwas sagen können.« Sie winkte ab. »Vergiß es. Ich will mir dieses Ding ansehen.« Sie deutete auf Zen. »Du kommst mit. Maran, Silvy ihr steigt abwechselnd auf und haltet uns den Rücken frei.«
Ihr knapper, befehlender Ton verfehlte seine Wirkung nicht. Keiner der anderen widersprach, obwohl sie Maran ansah, wie enttäuscht er war. Im Grunde hätte sie auch viel lieber ihn als Tess mitgenommen. Aber schließlich hatte Tess das Wrack entdeckt.
Vorsichtig machten sie sich auf den Weg zur Lichtung. Die Baumkronen waren hier nicht annähernd so dicht wie in den Gebieten, über die sie bisher geflogen waren, so daß sie langsamer als erwartet vorankamen und mehr als einmal Umwege oder halsbrecherische Klettereien in Kauf nehmen mußten, um sich ihrem Ziel zu nähern. Sie drangen immer weiter in den Wald ein, denn die obersten Äste waren nicht stark genug, um ihr Gewicht zu tragen. Als sie die Lichtung erreichten, erhob sich das gigantische Blätterdach gut zwanzig Meter über ihnen. Kara gab den beiden anderen ein Zeichen zurückzubleiben, ließ sich auf Hände und Knie herab und kroch die letzten Meter bis zum Ende des mannsdicken Astes. Er endete an einem zersplitterten Stumpf, aus dem Harz gequollen und zu einer dicken braunen Kruste erstarrt war. Dahinter lag nichts als Leere, die sich in dunkler Tiefe verlor. Ein fauliger Geruch stieg empor. Kara schauderte. Der flüchtige Gedanke, den sie vorhin gehabt hatte, war richtig gewesen. Diese Lichtung war nicht auf natürlichem Wege entstanden. Irgend etwas war vom Himmel gestürzt und hatte ein gewaltiges Loch in das Blätterdach gerissen.
Mit größter Konzentration überzeugte sie sich davon, daß sie mit Händen und Füßen sicheren Halt hatte, dann beugte sie sich vor und hielt nach der Libelle Ausschau. Sonderbar: Jetzt, wo sie praktisch festen Boden unter den Füßen hatte, ergriff sie ein heftiges Schwindelgefühl. Sie schloß für einen kurzen Moment die Augen, wartete, bis der Schwindel sich legte, und zwang sich dann, direkt in den Abgrund zu blicken.
Die Libelle lag kaum dreißig Meter tiefer. Kara erwog für einen Moment, einfach in die Tiefe zu klettern, was sie gekonnt hätte – es gab genug Äste, um sich festzuhalten. Aber irgend etwas warnte sie, nicht hinabzusteigen.
Sie kroch ein Stück rückwärts, richtete sich vorsichtig wieder auf und ging zu Tess und Zen zurück. »Wir sind fast da«, sagte sie. »Aber das letzte Stück wird schwierig.«
»Hast du jemanden gesehen?« fragte Zen. »Der Pilot könnte noch am Leben sein.«
Kara war keine Bewegung aufgefallen. Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Seid aber vorsichtig.«
Für die letzten fünfzig Meter brauchten sie fast genauso lange wie für die knappe Meile hierher. Sie stießen entweder auf ein Gewirr aus Ästen, Zweigen und Dornenranken, das so gut wie undurchdringlich war, oder Löcher, die sie nur mit lebensgefährlichen Sprüngen überwinden konnten. Die abgestürzte Libelle war schon zu sehen, als sie beinahe zum Aufgeben gezwungen worden wären: Vor ihnen lagen noch vier oder fünf Meter, aber der Stamm des Riesenbaumes war an dieser Stelle so glatt, als hätte sich jemand die Mühe gemacht, ihn sorgfältig zu polieren. Sie überwanden den Abgrund nur, indem sie all ihren Mut zusammennahmen und einfach sprangen.
Dann saßen sie erschöpft neben dem Wrack der Libelle und mußten erst einmal wieder zu Kräften kommen. Kara blinzelte müde zu der gewaltigen Flugmaschine auf. Sie mußte in die Sonne blicken, weshalb sie die Libelle nur als schwarzen Schattenriß erkannte, aber der Anblick war auch so unheimlich genug. Aus der Nähe betrachtet kam ihr die Maschine viel größer vor als in der vergangenen Nacht. Es war kein Zufall, daß sowohl Maran und Zen als auch die Kinder von Libellen gesprochen hatten. Es war eine Libelle. Der schwarze Umriß vor ihr glich so sehr dem eines ins Riesenhafte vergrößerten Insekts, daß Kara für einen Moment fast damit rechnete, es würde seine Flügel entfalten und davonfliegen. Statt dieser Flügel befanden sich über dem runden Kopf drei lange Blätter aus einem recht elastischen Metall. Einer davon war abgebrochen. Als Kara schließlich aufstand und näher an das Wrack herantrat, wich die Ähnlichkeit mit einer Libelle ein wenig. Wie sie schon gestern abend erkannt hatte, bestand der eigentliche Körper der Libelle nur aus einer offenen Gitterkonstruktion, vor der sich eine Glaskugel befand. In der gläsernen Kapsel waren zwei sonderbar geformte Sessel und eine verwirrende Anordnung fremdartiger Apparate zu sehen, die offenbar dazu dienten, das Gefährt zu steuern.
Allerdings würde diese Libelle nirgendwo mehr hinfliegen, dachte Kara. Sie konnte sich jetzt ungefähr vorstellen, was passiert war. Dem Winkel nach zu schließen, in dem sich das Gefährt in der Astgabel verkeilt hatte, mußte der Pilot es in einem flachen Kurs nach unten gesteuert haben. Vielleicht hatte er versucht, in dem Wald zu landen. Sie hatte am Abend zuvor beobachtet, daß diese bizarren Maschinen durchaus in der Lage waren, sehr langsam zu fliegen; ja, für eine kurze Zeit sogar in der Luft zu stehen.
»Wer immer dieses Ding geflogen hat, war ein richtiger Künstler«, sagte Tess spöttisch. »Er hat es hübsch an den Baum genagelt.«
Kara nickte. »Um ein Haar hättest du das gleiche Kunststück vollbracht.«
Tess’ Augen blitzten auf, aber sie antwortete nicht darauf. Statt dessen wandte sie sich wieder der Libelle zu und fragte:
»Weiß einer von euch, was, zum Teufel, das ist?«
Kara wollte antworten, aber Zen kam ihr zuvor. »Ich bin nicht sicher«, murmelte er. »Aber ich glaube, ich habe so etwas schon einmal in einem von Angellas Büchern gesehen.« Er sah Kara fragend an, aber sie zuckte nur mit den Schultern. »Ein Heliotopter... eine Maschine der Alten Welt.«
»Niemals«, sagte Tess impulsiv. Sie deutete auf die Trägerkonstruktion des Rumpfes. »Das Metall der Alten Welt rostet nicht.«
»Falsch«, korrigierte sie Zen. »Es rostet sehr wohl. Nur das, was heute noch übrig ist, rostet nicht. Der Rest hat sich längst in Staub aufgelöst.«
Während Tess und Zen sich zu streiten begannen, trat Kara näher an die zerstörte Maschine heran. So naiv Tess’ Antwort auf den ersten Blick klang, sie war nicht ganz aus der Luft gegriffen. Kara hatte noch nie ein rostiges Artefakt aus der Alten Welt gesehen. Was zweihunderttausend Jahre überdauerte, das überdauerte auch ein paar Tage oder Wochen im Dschungel.
Diese Maschine hier nicht.
Sie gehörte nicht zu den beiden, die sie am vergangenen Abend in die Flucht geschlagen hatten, sondern mußte schon eine ganze Weile hier liegen, ein paar Monate vielleicht. Die ledernen Bezüge der beiden Sessel waren voller schimmeliger Flecken und alle Metallteile völlig verrostet.
Aber wenn diese Maschine nicht aus der Alten Welt stammte, dachte Kara erschrocken, woher kam sie dann? Die Vorstellung, daß es auf dieser Welt jemanden gab, der in der Lage war, so etwas zu bauen, versetzte sie in Schrecken. Sie warf einen Blick über die Schulter zurück und sah, daß Tess und Zen noch immer stritten, griff aber nicht ein, sondern versuchte, die Pilotenkanzel des Libellenflugzeuges zu öffnen. Sie fand keinerlei Tür oder irgendeinen Öffnungsmechanismus. Vielleicht, überlegte sie, wurde die ganze Kuppel nach oben geklappt. Was dagegen sprach, war, daß die Leiche des Mannes verschwunden war, der ungefähr zehn Liter Blut auf dem durchbohrten Sessel hinterlassen hatte.
»Interessant, nicht?« Zen trat plötzlich neben sie und deutete mit einer Kopfbewegung auf die Kanzel.
»Was?« Zen beugte sich vor und wies auf eine Anzahl wuchtiger Scharniere, die an der Kuppel befestigt waren. »Man muß das ganze Ding hochklappen, um einzusteigen. Aber das geht nicht mehr.« Seine flache Hand klatschte auf den Ast, der die Kanzel durchbohrt hatte. »Wie zugenagelt.«
»Und?« fragte Kara. Worauf wollte er hinaus!
»Wo ist der Pilot geblieben?« Zen deutete auf den Sitz. »Der Kerl hat geblutet wie ein abgestochenes Schwein. Ich glaube nicht, daß er noch aus eigener Kraft davongelaufen ist.«
»Vielleicht haben ihn seine Leute abgeholt?«
»Und sich danach die Mühe gemacht, die Kuppel wieder zu schließen?« Zen lachte. »Bestimmt nicht. Irgendwas stimmt hier nicht, Kara.«
»Was für eine tiefschürfende Erkenntnis«, spöttelte Tess. Zen sah sie schon wieder kampflustig an, und Kara trat mit einem raschen Schritt zwischen sie.
»Hört endlich mit dem Unsinn auf«, sagte sie streng. »Dafür haben wir wirklich keine Zeit. Laßt uns das Ding untersuchen und dann von hier verschwinden. Dieser Ort gefällt mir nicht.«
Zumindest in diesem Punkt schienen sie ausnahmsweise alle einer Meinung zu sein.
Trotzdem nahmen sie sich Zeit, das Wrack sehr gründlich in Augenschein zu nehmen. Und wenn Kara noch einen Beweis gebraucht hätte, daß die stählernen Libellen und die Männer in den blauschwarzen Uniformen, auf die sie in der Höhle tief unter Schelfheim gestoßen waren, zusammengehörten, dann fand sie ihn jetzt. Es war die Waffe der Libelle; ein zerborstener, gläserner Lauf, der wie ein Stachel unter der Kanzel hervorragte. Obwohl er beschädigt war, gab es doch keinen Zweifel: ähnliche, nur kleinere Gewehre hatten die Männer getragen, die aus dem Tauchboot gekommen waren.
Kara versuchte trotz des Widerwillens, mit dem sie der Anblick der Flugmaschine erfüllte, sich so viele Einzelheiten wie möglich einzuprägen, denn sie war sicher, daß Aires und die anderen viele Fragen stellen würden, sobald sie zurück waren und von ihrem Fund erzählten. Irgendwann hatte sie genug gesehen und erinnerte die beiden anderen daran, daß sie noch eine Stunde ebenso anstrengender wie gefährlicher Kletterrei vor sich hatten. Tess wirkte ebenso erleichtert wie sie, aus der Nähe des unheimlichen Wracks zu kommen, aber Zen schüttelte fast erschrocken den Kopf.
»Gib mir noch zehn Minuten«, bat er. »Ich denke, ich kann die Kanzel öffnen und einen Blick hineinwerfen.«
Kara sah ins Innere der verglasten Pilotenkugel. »Glaubst du, du siehst mehr, wenn du die Glaskugel hochgeklappt hast?« Sie schlug mit den Knöcheln gegen die Kugel. Obwohl durchsichtig wie feinstes Kristall, fühlte sich das Material härter als Stahl an. »Vielleicht«, sagte Zen. »Was machen schon zehn Minuten! Vielleicht finden wir ja etwas, was uns weiterhilft?«
Tess verdrehte die Augen, aber Kara gab Zen mit einem Kopfnicken zu verstehen, daß sie einverstanden war. Er hatte recht – was machten schon zehn Minuten? Vielleicht war es vernünftiger, jetzt noch ein wenig Zeit zu investieren, als sich die nächsten Tage immer wieder zu fragen, ob sie vielleicht nicht doch einen wichtigen Hinweis übersehen hatten.
»In Ordnung«, sagte sie, während sich Zen bereits wieder umwandte und an der Kanzel zu hantieren begann. »Aber ich werde versuchen, Silvy und Maran ein Zeichen zu geben, ehe sie anfangen, sich Sorgen zu machen. Wir sind schon eine ganze Weile weg.«
Es war eine Ausrede. Ob sich die beiden anderen Sorgen machten oder nicht, war Kara ziemlich gleichgültig. Aber sie fühlte sich noch immer unwohl in der Nähe dieser bizarren Maschine. Die linke Hand auf dem Rumpf, balancierte sie vorsichtig so weit über die Astgabel nach außen, bis sie wieder den Himmel sehen konnte. Über ihr kreiste ein mächtiger, dreieckiger Schatten. Sie konnte gegen das grelle Gegenlicht nicht erkennen, ob es Silvy oder Maran war, aber allein der Anblick wirkte beruhigend, gleichwohl wußte Kara, daß ihnen der Drache nicht im mindesten helfen konnte, wenn sie hier in Gefahr gerieten oder angegriffen wurden. Sie hob die freie Hand und winkte, und nach einigen Augenblicken hob die winzige Gestalt auf dem Rücken des Drachen ebenfalls den Arm und winkte zurück.
Kara blieb noch einige Augenblicke reglos stehen und genoß das Sonnenlicht, das warm auf ihr Gesicht fiel. Es war ein angenehmes Gefühl, das sie für Sekunden alles andere vergessen ließ. Nur der faulige Geruch war mehr als störend, der aus der Tiefe zu ihr emporstieg. Widerwillig öffnete sie die Augen und blickte mit einem verblüfften Stirnrunzeln in die Tiefe. Es war Mittag. Die Sonne stand im Zenit, und es dauerte nur wenige Augenblicke, bis die Sonne weiterwanderte und die Schatten den Grund des klaffenden Risses im Wald wieder verschlangen – aber in dieser Minute, vielleicht sogar der einzigen des Jahres, in der es überhaupt möglich war, brachen sich die Sonnenstrahlen glitzernd auf einer gewaltigen Wasserfläche, die dort war, wo der Waldboden sein sollte. Es war nicht einfach nur ein Bach oder ein Tümpel; Kara sah ganz deutlich die Wipfel kleinerer Bäume, die schon fast völlig im Wasser verschwunden waren, blattlos und tot wie die skelettierten Hände von Ertrunkenen. Hier und da trieb etwas auf dem Wasser, zu weit entfernt, um es genau zu erkennen, aber zu groß, um einfach ein Stück Baumrinde oder ein ausgerissener Busch zu sein. Vielleicht waren es die Kadaver von Tieren, die in diesem Wasser den Tod gefunden hatten.
Kara sah verwirrt auf, als sich die Schatten wieder über den Grund der Lichtung schoben. Erst jetzt bemerkte sie, daß sie nicht allein war: Fast lautlos war Tess neben sie getreten. Und auf ihrem Gesicht lag die gleiche, ungläubige Verblüffung, die auch Kara erfüllte.
Tess las die unausgesprochene Frage in ihrem Blick. »Nein, du bist nicht verrückt. Es sei denn, wir sind es beide. Und beide auf die gleiche Weise.«
»Aber das ist unmöglich«, murmelte Kara.
»Stimmt«, sagte Tess.
»Dort unten kann kein Wasser sein.«
»Nein, das kann es nicht«, pflichtete ihr Tess bei.
»Ich meine, Angella hat uns immer wieder erzählt, daß dort Sumpf ist!«
»Das hat sie«, bestätigte Tess.
»Gäa könnte im Wasser nicht leben.«
»Nein, bestimmt nicht«, versicherte Tess.
»Und außerdem... wachsen Bäume nicht aus dem Meer!«
»Niemals!« stimmte Tess zu.
»Also kann es dieses Wasser gar nicht geben.«
»Ganz sicher nicht«, sagte Tess.
Kara blickte sie eine Weile durchdringend an. »Aber es ist da«, murmelte sie schließlich und blickte noch einmal in die Tiefe. Aber schon hatte sich Finsternis über diese sonderbare Wasserfläche gelegt.
»Dieser Wald stirbt«, murmelte Tess plötzlich. »Und jetzt wird auch klar, wieso wir so leicht hierhergekommen sind.«
»Leicht?« Kara ächzte. Ihr schwindelte noch, wenn sie an die halsbrecherischen Kletterpartien dachte, die hinter ihnen lagen. »Ich fand es alles andere als leicht.«
»Nach allem, was uns Angella über diesen Wald erzählt hat, dürften wir gar nicht mehr leben«, beharrte Tess.
Kara verstand, was sie meinte – und sie gestand sich widerwillig ein, daß Tess recht hatte. So unheimlich dieser Teil des Waldes auch war, gab es doch kaum tierisches Leben. Ein paar Insekten, einige wenige Vögel, die schimpfend davongeflogen waren... Von all den gefräßigen, tödlichen, heimtückischen Monstern, von denen es in Gäas Reich nur so wimmeln sollte, hatten sie auf dem Weg hierher nicht eines gesehen.
»Vielleicht sind sie alle ertrunken«, murmelte Tess mit einem schiefen Lächeln. Ihre Worte hatten scherzhaft klingen sollen, aber sie schürten Karas Beunruhigung nur noch. Sie waren beide zu sehr im Einklang mit der Natur aufgewachsen, um nicht sofort und zweifelsfrei zu wissen, was hier geschehen war:
Wenn es dort unten wirklich plötzlich ein Meer gab, dann war das ökologische Gleichgewicht des Waldes vielleicht schon jetzt unwiderruflich zerstört.
Ein lautstarkes Klirren ließ sie beide zum Wrack der Libelle herumfahren. Im ersten Moment war die Ursache des Lärms nicht auszumachen, aber dann erkannte Kara, daß Zens Füße aus einer schmalen Öffnung des Libellenkopfes herausragten. Erschrocken liefen sie los, um Zen zu Hilfe zu eilen, doch noch bevor sie ihn erreichten, begann Zen sich rückwärts ins Freie zu schieben. Tess wollte ihm helfen, aber Kara hielt sie zurück. Sie wußten nicht, wie es hinter der Klappe aussah, Durch die sich Zen gezwängt hatte. Es war möglich, daß sie ihn verletzten, wenn sie versuchten, ihm zu helfen.
Es dauerte noch eine geraume Weile, bis sich Zen keuchend und verschwitzt aus der Öffnung herausgearbeitet hatte. Er zitterte vor Anstrengung – aber das hinderte ihn nicht daran, über das ganze Gesicht zu grinsen.
»Was ist los mit dir?« fragte Tess stirnrunzelnd. »Hast du die Notration des Piloten gefunden?«
»Nein«, antwortete Zen atemlos. »Etwas viel Besseres.« Er beugte sich vor. Sein rechter Arm verschwand noch einmal bis zur Schulter in der Klappe. Als er die Hand wieder herauszog, hielt sie ein buntes, total zerknittertes Stück Papier, das an einer Ecke angesengt war.
»Was ist das?« fragte Kara.
»Das«, antwortete Zen triumphierend, während er das Blatt auseinanderfaltete, »ist eine Karte, Kara. Eine Karte des Schlundes.« Seine Augen leuchteten vor Stolz auf, als er Karas Verblüffung registrierte. Dann stieß sein Zeigefinger so heftig auf das Papier herab, daß er fast ein Loch hineingestoßen hätte. »Und ich fresse Markors rechten Flügel«, fuhr er fort, »wenn das hier nicht der genaue Standort ihres Hauptquartiers ist.«