12

Der Abschied der beiden hochrangigen Besucher verlief beinahe überhastet. Beide waren sichtlich froh, gehen zu können. Weller und Elder begleiteten sie auf den Hof hinaus, während Angella, Hrhon und Kara allein in der Küche zurückblieben. Es wurde sehr still. Angella hatte sich auf einen Stuhl am Tisch sinken lassen und das Gesicht zwischen den Händen verborgen, und Kara fühlte sich immer unbehaglicher. Schließlich hielt sie die Stille nicht mehr aus.

»Es... es tut mir leid«, sagte sie. »Bitte, entschuldige.«

Im ersten Moment reagierte Angella gar nicht. Dann nahm sie ganz langsam die Hände herunter und sah Kara an. »Entschuldigen! Was?«

»Daß ich mehr gesagt habe, als ich durfte«, antwortete Kara. »Ich habe mich hinreißen lassen.«

Angella winkte ab. »Das ist schon in Ordnung«, sagte sie. »Es war ein dummer Befehl, und dummen Befehlen sollte man nie gehorchen. Wenn überhaupt, dann war es mein Fehler.« Sie seufzte. »Ich hielt es für einen klugen Gedanken, vorsichtig zu sein. Diplomatisch. Pah! Man muß diesen Narren die Wahrheit ins Gesicht schleudern. Mit Knüppeln sollte man sie ihnen in die Schädel prügeln! Aber das würde wahrscheinlich auch nichts nutzen. Sie wollen sie ja gar nicht hören. Und vielleicht haben sie ja recht.« Sie seufzte abermals und schwieg für eine ganze Weile.

Zögernd hob Kara die Hand und berührte ihre Lehrerin an der Schulter, und plötzlich streckte auch Angella den Arm aus und berührte Karas Finger. Es war ein seltsames Gefühl. Sie hätte sich nie auch nur träumen lassen, daß eines Tages sie es sein könnte, die Angella Trost spendete. Aber es war so. Vielleicht war Angella nicht so stark, wie sie immer geglaubt hatte. »Vielleicht haben sie recht«, sagte Angella noch einmal. Sie löste ihren Griff von Karas Hand, straffte die Schultern und nahm die Maske ab. Das Gesicht, das darunter zum Vorschein kam, sah sehr alt aus und sehr müde. »Vielleicht bin ich es ja, die sich irrt. Vielleicht gibt es keinen Feind, und ich bilde mir das alles nur ein.«

»Bestimmt nicht«, sagte Kara.

Angellas Hände begannen nervös mit der goldenen Halbmaske zu spielen. »Vielleicht doch«, sagte sie. »Weißt du, Kara, es gibt viel, was ich dir nicht erzählt habe. Du weißt vielleicht von allen lebenden Menschen am meisten über mich, aber du weißt nicht alles von mir.« Sie deutete auf die verbrannte Seite ihres Gesichtes. »Ich habe dir erzählt, daß es Jandhis Drachen waren, die mir dies angetan haben. Aber was ich dir niemals erzählt habe, ist, daß ich nie wirklich darüber hinweggekommen bin, Kara. Nie.«

Kara sah sie verwirrt an. Sie begriff nicht ganz, was Angella meinte.

»Ich war nicht viel älter als du, als es passierte«, fuhr Angella fort. Ein bitterer, harter Klang schwang plötzlich in ihrer Stimme. »Ich war wild und jung und stark und wollte die Welt erobern, und dann war es ganz plötzlich vorbei. Sie haben meine Familie getötet und mich selbst in... in ein Wesen verwandelt, bei dessen Anblick es jedem schaudert. Sie haben mein Leben zerstört, Kara, in einem einzigen Augenblick! Ich habe sie dafür gehaßt. Ich habe mich selbst gehaßt für das, was ich geworden war, aber noch mehr habe ich sie gehaßt. Ich wollte sterben, aber noch sehr viel mehr wollte ich herrschen. Und wenn ich ganz ehrlich sein soll – deshalb habe ich Tally und Hrhon damals geholfen. Nicht, weil sie meine Freunde waren. Weil sie die Feinde meiner Feinde waren, Kara. Dieses närrische, hitzköpfige Kind und ihr schildkrötengesichtiger Freund waren mir so gleichgültig wie der Schmutz unter meinen Fingernägeln.«

Kara warf einen Blick auf den Waga, der neben der Tür saß und zuhörte. Hrhon reagierte aber nicht auf Angellas Worte. Eigentlich glaubte Kara auch nicht, daß sie die Wahrheit sagte. Angella hatte ihr Tallys und ihre Geschichte erzählt, in jener furchtbaren, nicht endenwollenden Nacht, in der sie sie vor den Ruinen ihrer brennenden Heimatstadt aufgelesen hatte. Vielleicht war es ganz am Anfang so gewesen – aber das war nicht alles. Tally hatte ihr Leben geopfert, um Jandhi und ihre Drachen tödlich zu treffen, aber was danach kam, der fünfundzwanzigjährige, zermürbende Kampf gegen die Versprengten, das zähe, aufreibende Ringen, aus dem Sieg einen dauerhaften Zustand des Friedens und der Sicherheit zu machen, war der schwerere Teil der Arbeit gewesen. Und den hatten Angella und Hrhon ganz allein bewältigt. Sie allein hatten die neuen Drachenkämpfer aufgebaut.

»Aber du hast sie besiegt«, sagte Kara leise.

»Vielleicht«, murmelte Angella. »Und vielleicht hätte ich es besser nicht getan.«

Kara verstand nicht.

»Vielleicht haben wir sie damals wirklich geschlagen, Kara, vernichtend und endgültig. Ich habe es niemals geglaubt, aber heute beginne ich mich zu fragen, warum das so war. Sag es mir, Kara. Wieso suche ich seit fünfundzwanzig Jahren nach einem Feind, den es vielleicht schon nicht mehr gibt!«

»Weil man immer auf der Hut sein muß«, antwortete Kara. »Weil der Feind niemals schläft und immer auf einen Moment der Unaufmerksamkeit wartet, um...«

Angella unterbrach sie. »Das ist es, was ich euch erzählt habe. Ich habe es dir und den anderen zwanzig Jahre lang eingehämmert, so lange, bis ich es selbst glaubte. Aber ich weiß einfach nicht mehr, ob es die Wahrheit ist. Vielleicht... brauchte ich einfach einen Feind. Vielleicht brauchte ich all die Jahre über einfach etwas, das ich hassen konnte.«

Sie schloß mit einem tiefen Seufzen. Kara ahnte, wie schwer Angella dieses Eingeständnis gefallen war, ob es nun stimmte oder nicht. Angellas Worte erschütterten sie zutiefst. Sie betrachtete Angellas Gesicht, und in gewisser Weise war es, als sehe sie es zum ersten Mal.

Die eine Hälfte von Angellas Antlitz war einfach das einer alten Frau; die andere Hälfte ihres Gesichtes, wo sie der Feueratem des Drachen getroffen hatte, war eine Maske aus braunschwarzem Narbengewebe, in dem einzig das Auge wie durch ein Wunder unversehrt geblieben war. Für Kara hatte dieser Anblick niemals etwas Abstoßendes gehabt. Sie versuchte zu begreifen, was Angella ihr gerade gesagt hatte, aber der bloße Versuch ließ sie schon erschaudern. Ein Leben, das nur von Haß bestimmt war. Was bedeutete es, wenn sie recht hatte und es jenen geheimnisvollen Feind, auf den sie warteten, schon längst nicht mehr gab?

Sie dachte den Gedanken nicht zu Ende. Denn wenn sie wirklich einem Phantom aufgesessen waren, bedeutete es, daß alles, was Angella jemals getan, alles, was sie aufgebaut und erschaffen hatte, der Drachenhort, die Armee der Drachenkämpfer, ihr aller Leben, umsonst gewesen war. Nein, das durfte nicht sein!

Leise fragte Kara: »Und was willst du jetzt tun?«

Angella hob müde die Schultern. »Was kann ich schon tun!« fragte sie. »Du hast Gendik gehört. Wir werden die Stadt verlassen – und hoffen, daß ich mich geirrt habe.«

Daß in diesem Moment die Tür aufging und Weller und Elder hereinkamen, erschien Kara wie ein Geschenk des Himmels, denn Angella gab sich bei ihrem Anblick einen sichtbaren Ruck und setzte ihre Maske wieder auf. Kara bemerkte, daß Elder erschrocken zusammenfuhr, als er Angellas Gesicht für einen Moment sah, wie es wirklich war. Wahrscheinlich hatte er ihre goldene Halbmaske für ein Schmuckstück gehalten; für eine harmlose Marotte.

»Nun, Hauptmann?« begrüßte ihn Angella. »Habt Ihr Euren... Herrn zur Tür begleitet?«

Elder zuckte unter ihren Worten zusammen, als hätte sie ihn geohrfeigt. »Es tut mir leid«, sagte er. »Es... war nicht meine Entscheidung, das müßt Ihr mir glauben. Im Gegenteil. Ich...«

Er brach ab. Mit einem hilfesuchenden Blick wandte er sich an Kara, aber sie reagierte nicht. Was hätte sie auch sagen sollen? »Ich glaube eher, daß Ihr recht habt und Rusman und Gendik sich irren.«

Angella blickte ihn nur schweigend durch die Schlitze ihrer Maske hindurch an, aber Kara sagte in scharfem Ton: »Wenn das so ist, Elder, warum habt Ihr dann vorhin geschwiegen?«

»Mir waren die Hände gebunden«, verteidigte sich Elder. »Was hätte ich tun sollen? Rusman der Lüge bezichtigen? Oder etwa Gendik?«

»Der Lüge? Wie meint Ihr das? « Angellas Interesse war erwacht. Elder druckste einen Moment herum. »Vielleicht ist es auch nur ein Irrtum«, sagte er ausweichend. »Jemand kann einfach einen Fehler gemacht haben. Aber mein Laser...« Er zögerte noch einmal, dann stieß er mit sichtlicher Anstrengung hervor:

»Er war völlig in Ordnung. Ich habe ihn aufgehoben, nachdem der Hornkopf fort war, und noch drei oder vier Schüsse abgegeben. Ihr habt es nicht gemerkt, weil Ihr mit dem Waga und mit Kara beschäftigt wart. Aber er funktionierte tadellos.«

»Genauso wie Euer Sender, vermute ich.« Angella schürzte verächtlich die Lippen. »Ihr solltet Euch überlegen, ob Ihr für die richtigen Leute kämpft, Elder. Das Leben ihrer Untergebenen scheint Euren Herren nicht viel wert zu sein.«

Elder sah immer unglücklicher aus. »Bitte, Angella«, sagte er. »Zwingt mich nicht, eine Entscheidung zu treffen, die ich nicht fällen will. Ich bin nur ein einfacher Soldat, der nichts von Politik versteht. Ich weiß nicht, was hier vorgeht. Ich bin nicht einmal sicher, ob ich es wirklich wissen will.«

»Ein bequemer Standpunkt«, erklärte Kara spöttisch.

Angella brachte sie mit einem Blick zum Schweigen, ehe sie sich wieder an Elder wandte. »Ihr wollt mir damit also sagen, daß Rusman gelogen hat.«

»Jemand hat gelogen«, antwortete Elder betont. »Es muß nicht Rusman gewesen sein. Er ist ein ehrlicher Mann.« Nervös fuhr er sich mit der Zunge über die Lippen. Er wich Angellas Blick aus. »Aber sie haben einen Dämpfer. Ich bin ganz sicher.«

»Was ist das?« fragte Kara, »ein Dämpfer?«

»Ein technisches Gerät«, antwortete Angella an Elders Stelle. »Es stammt noch aus der alten Welt. Ich selbst habe noch nie einen gesehen, aber davon gehört. Dämpfer sind sehr selten. Angeblich sollen sie jede andere technische Apparatur in einem gewissen Umkreis lahmlegen.«

»Und das Steuergerät, das der Fremde trug?«

Angella zuckte mit den Schultern. »Vielleicht war es der Dämpfer.« Sie lachte rauh. »Sollte es so sein, dann verstehe ich, daß Rusmans Techniker so enttäuscht waren, daß du es zerschlagen hast.«

Sie stand auf. »Es ist spät geworden. Laßt uns schlafen gehen. Die Nacht ist kurz, und wir haben eine anstrengende Reise vor uns.«

Elder blickte sie völlig verwirrt an, aber nach einem Moment schien er zu begreifen, daß Angella jetzt einfach nicht mehr reden wollte. Er verabschiedete sich mit dem Versprechen, am nächsten Morgen noch vor Sonnenaufgang wiederzukommen; nach einer Weile verließen auch Weller und Hrhon das Zimmer.

Kara hielt Angella mit einer Handbewegung zurück, als auch sie gehen wollte. Es gab noch eine Frage, die sie bewegte. »Was du vorhin gesagt hast, Angella«, sagte sie. »War der Fremde wirklich besser als ich?«

»Es würde deinen Stolz verletzen, wenn es so wäre, nicht wahr?« erwiderte Angella. Sie schüttelte den Kopf, als Kara widersprechen wollte. »Wenn du ganz ehrlich zu dir bist, dann kannst du dir diese Frage allein beantworten, Kara. Und wenn nicht... nun, ich werde sie dir beantworten, wenn du mir zuvor eine andere beantwortest.«

»Und welche?« Kara hatte das Gefühl, daß es besser gewesen wäre, das Thema nicht anzusprechen.

»Als er dich am Boden hatte, da hast du um dein Leben gefleht«, sagte Angella. »War das wirklich nur eine List? Oder meintest du deine Worte ernst?«

Kara senkte betroffen den Blick. Sie wußte es nicht. Die Verlockung, sich auf eine List herauszureden, war groß – aber sie war nicht sicher, ob es wirklich die Wahrheit gewesen wäre. »Ich verlange nicht, daß du mir antwortest«, sagte Angella sanft. »Aber vielleicht solltest du darüber nachdenken, daß es Fragen gibt, die man besser nicht stellt.«

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