48

Während der nächsten fünf Tage geschah weiter nichts, als daß sich Karas Mißtrauen Elder gegenüber in einem Maße steigerte, das es ihr beinahe körperlich schwermachte, seine Nähe zu ertragen. Aires hielt die Maskerade Elder gegenüber mit bewundernswerter Geduld aufrecht. Unter den Drachenreitern begann sich allmählich ein gewisser Unmut auszubreiten, denn die Nachricht, daß die Magierin mit dem Gedanken spielte, den Kampf aufzugeben und die ganze Welt an die Invasoren von den Sternen zu verschenken, sprach sich in Windeseile herum. Donay verkroch sich die ganze Zeit über in seinem Labor und kam nur heraus, um zu essen, weil Kara eigens einen Mann abstellte, der darauf zu achten hatte, daß er regelmäßige Mahlzeiten zu sich nahm. Trotzdem sah er mit jedem Tag, der verging, immer blasser aus, so daß Kara kurz vor Sonnenuntergang des fünften Tages zu ihm ging, um ihm ins Gewissen zu reden. Donay war auf seinem Gebiet sicher so etwas wie ein Genie – aber was nutzte ihnen ein krankes oder gar totes Genie?

Sie mußte dreimal klopfen, ehe der Riegel zurückgeschoben wurde und Donay durch einen schmalen Spalt zwischen Tür und Rahmen hinausspähte. Sie wußte, daß er sein Refugium eifersüchtig bewachte und niemanden hineinließ, der nicht irgend etwas brachte oder abholte. Sie wäre nicht einmal erstaunt gewesen, hätte er auch ihr den Eintritt verwehrt; allerdings hatte sie Hrhon den Befehl gegeben, die Tür nötigenfalls einzuschlagen, sollte Donay nicht nach der dritten Aufforderung von sich aus aufmachen.

Doch Donay zeigte sich sogar äußerst erfreut, sie zu sehen, und stolperte fast über seine eigenen Füße, weil er es so eilig hatte, zurückzutreten und ihr die Tür aufzuhalten. Sie gab Hrhon ein Zeichen, draußen zu warten, trat an Donay vorbei und sah sich in dem grauen Zwielicht hier drinnen um.

Der Anblick von Donays ›Labor‹ erfüllte sie mit einer Mischung aus Heiterkeit und Verwirrung. Sie war zum ersten Mal hier, und sie hatte irgend etwas Außergewöhnliches erwartet, etwas, das den hehren Geist der Wissenschaft widerspiegelte: verwirrende Versuchsanordnungen, komplizierte Gerätschaften und gläserne Kolben und Rohre, in denen geheimnisvolle Flüssigkeiten und Dämpfe zirkulierten.

Was sie wirklich erblickte, war ein einziges Durcheinander. Auf Tischen, Bänken, Stühlen und sogar auf dem Boden stapelten sich alle möglichen und unmöglichen Dinge – Kisten, Kartons, Päckchen, Beutel, Gläser, Töpfe, Tiegel, Bücher, Pergamente, Flaschen. Es gab nur einen einzigen Flecken in diesem Raum, an dem wenigstens der Anschein von Ordnung herrschte: ein Regal neben dem Fenster, in dem in gläsernen Behältern die Tier- und Pflanzenproben aufbewahrt wurden, die die Krieger Donay noch immer aus dem Schlund brachten, allesamt mit kleinen, weißen Zetteln versehen, auf denen in Donays kleiner Handschrift ihre genaue Art, Fundort und Herkunft notiert waren. Kara hoffte, daß sich wenigstens dieses Unternehmen lohnte, denn Donay trieb die Drachenreiter mit seiner unersättlichen Gier nach allen nur denkbaren Monstern aus dem Schlund allmählich in den Wahnsinn.

»Kara!« begrüßte sie Donay aufgeräumt. »Wie schön, daß du mich besuchst. Ich dachte schon, du kämst überhaupt niemals hierher.«

Kara war nicht sicher, ob es eine gute Idee gewesen war, herzukommen. Sie drehte sich hilflos einmal im Kreis und sah dann Donay an. Sein Gesicht war blaß; tiefe, im matten Licht fast schwarz aussehende Ringe lagen unter seinen Augen. »Hast du etwas... herausgefunden?« fragte sie unsicher. »Eine Menge«, antwortete Donay. »Aber nicht sehr viel davon hilft uns weiter, fürchte ich.« Er seufzte, ging zu dem Regal mit seinen Proben und winkte Kara heftig, ihm zu folgen. Sie folgte ihm mit einem spürbaren Zögern. Sie hatte sich Donays ›Schätze‹ schon aus sicherer Entfernung betrachtet, aber das allermeiste davon erweckte weniger ihr Interesse als viel mehr ihren Ekel. Einiges in diesen Gläsern bewegte sich. Donay deutete auf ein schlankes, mit einem metallenen Deckel verschlossenes Gefäß, das etwas enthielt, das man auf den ersten Blick für weiße Spinnengewebe hätte halten können, auch weil sich eine faustgroße Spinne in dem Glas befand. Aber wenn man genau hinsah, erkannte man, daß sie dieses Netz nicht gesponnen hatte, sondern von Donay eingewoben worden war. Das so harmlos aussehende, seidige Gewebe hatte die obersten Hautschichten ihres Körpers bereits halb aufgelöst. Kara verspürte ein heftiges Ekeln. Plötzlich hatte sie einen bitteren Kloß im Hals. Sie versuchte, ihn herunterzuschlucken und bedauerte das fast sofort wieder, denn sie hatte den Eindruck, daß er acht Beine und einen pelzigen, runden Körper hatte.

Donay bemerkte ihr Zögern. »Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte er. »Das ist das Geschöpf, das euch im Schlund beinahe getötet hätte. Aber das hier ist nur eine kleine Probe. Nicht genug, um gefährlich zu sein. Aber trotzdem... hier, fühl selbst.«

Er legte die flache Hand auf das Glas und bedeutete Kara, es ihm nachzumachen. Kara kostete es eine ungeheure Überwindung, die Hand dicht über dem halb verdauten Kadaver der Spinne auf das Glas zu legen.

»Fühlst du es?« fragte Donay.

Kara riß sich zusammen und lauschte ihm zuliebe in sich hinein – und nach einer Weile... spürte sie wirklich etwas. Ein Gefühl von Ruhe und Entspannung überkam sie, wie sie es schon lange nicht mehr empfunden hatte, und...

Beinahe erschrocken zog sie die Hand wieder zurück.

»Aha«, sagte Donay zufrieden. »Du fühlst es auch. Würdest du einen Rufer tragen, wäre das Gefühl noch viel stärker.«

»Ich weiß«, sagte Kara. Fast ohne ihr Zutun wich sie einen Schritt von Donays Regal zurück. Die bloße Nähe dieses... Dings machte sie nervös. »Ich wußte es sogar früher als du. Dieses kleine Monster hätte mich um ein Haar gefrühstückt.«

»Aber ich habe herausgefunden, wie sie es macht«, sagte Donay selbstzufrieden.

»So?« Kara versuchte vergebens, mehr als ein gelindes Interesse aufzubringen. Der Schlund war voll von Monstern und Ungeheuern, die hundertmal tödlicher waren als dieses lebende Gespinst. »Und was ist daran so wichtig?«

»Vielleicht nichts«, sagte Donay, »aber vielleicht auch alles. Dieses Ding verändert die Gedanken seiner Opfer wie eine bewußtseinsverändernde Droge. Verstehst du?«

»Ja«, sagte Kara und schüttelte den Kopf.

Donay lächelte. »Laß es mich anders ausdrücken: Es ist eine Art Raubtier, aber es greift nicht die Körper seiner Opfer an, sondern ihre Gedanken.«

Kara blickte ihn an – und ganz allmählich begann sie zu begreifen. »Du meinst...«

»Ich meine«, sagte Donay, »daß ich mir seit Tagen vergeblich den Kopf darüber zerbreche, wie ich einen Gegner bekämpfen soll, der im Grunde nur aus einem Gehirn besteht. Die Antwort ist ganz einfach: Indem ich genau dieses Gehirn angreife. Und ich glaube, ich bin dazu in der Lage.«

Kara deutete auf das Glas. »Damit?«

»Nicht direkt«, gestand Donay. »Aber ich denke, ich kann es verändern.«

»Wie?« fragte Kara. Plötzlich war sie doch sehr interessiert. »Ich bin mir noch nicht sicher«, antwortete Donay ausweichend. »Ich tue so etwas nicht gern...«

»Was?« fragte Kara. »Lebewesen verändern? Dinge erschaffen?«

»Etwas erschaffen, das tötet«, antwortete Donay mit großem Ernst. »Ich konstruiere Lebewesen, die... die helfen sollen. Die Dinge tun, Kara. Die helfen, erschaffen. Nichts, was zerstört.«

»Ich verstehe, was du meinst«, sagte Kara. Als Donay über das sprach, was er über das tödliche Gewebe herausgefunden hatte, hatten seine Augen vor Begeisterung geleuchtet – aber sie hatte auch den Schmerz gesehen, der tief unter dieser Begeisterung lag. »Ich wollte, es gäbe einen anderen Weg, Donay. Aber ich fürchte, es gibt keinen.« Sie schwieg einen Moment und fühlte sich fast verlegen, weil diese Worte ihr nur wie ein billiger Trost vorkamen. »Vielleicht kommt es ja gar nicht zu einem Kampf. Vielleicht hält Elder ja Wort. Aber wenn nicht, dann wäre es besser, wenn wir wenigstens etwas hätten, um ihnen weh zu tun.«

»Das haben wir«, sagte Donay. »Es gibt zwei oder drei ganz besonders bösartige Spezies aus dem Schlund, die ich mir ausgeguckt habe. Wenn es mir gelingt, sie mit unserem kleinen Freund da drüben zu kreuzen, dann kann ich ihnen mehr als nur Kopfschmerzen bereiten.«

»Du meinst, du könntest sie töten?«

»Oder sie wahnsinnig machen«, erklärte Donay. »Ich weiß nicht, was schlimmer für einen Unsterblichen ist, aber es wird ihnen so oder so nicht gefallen.« Plötzlich drehte er sich um und begann in dem Durcheinander auf einem seiner Tische herumzukramen. Kara sah ihm einen Moment lang zu, gab es aber dann auf, in seinem Tun irgendeinen Sinn erkennen zu wollen. Zum wahrscheinlich hundertsten Mal, seit sie Donay kennengelernt hatte, fragte sie sich, wie Donay jemals zu auch nur einem sinnvollen Ergebnis kommen konnte bei dem Chaos, das er verbreitete. Sie hörte ein Geräusch und registrierte erst jetzt, daß Donay und sie nicht die einzigen Personen im Raum waren. Donays Erinnerer saß auf einem Stuhl unter dem Fenster und blätterte in einem Buch, wobei sein Blick auf jeder Seite noch nicht einmal eine Sekunde lang verharrte. Dann fiel ihr auch der gewaltige Berg von Büchern und Pergamenten auf, der sich neben Iratas Stuhl stapelte.

»Was tut er da?« fragte Kara. »Er... er kann doch unmöglich in diesem Tempo lesen.«

Donay sah nur flüchtig von seiner Sucherei auf, als er antwortete: »Das könnte er, aber das ist im Moment nicht nötig. In den meisten dieser Bücher steht ohnehin nur haarsträubender Unsinn. Es lohnt sich nicht, ihm das Gedächtnis damit zuzukleistern.«

»Aber was tut er dann?«

»Dasselbe wie ich«, antwortete Donay in leicht gereiztem Tonfall. »Er sucht.«

Kara ging ein paar Schritte auf Irata zu. Der Erinnerer hatte das Buch zu Ende geblättert, legte es auf den wachsenden Stapel neben sich und nahm einen weiteren Band zur Hand.

»Und wonach sucht er?«

»Das weiß ich selbst nicht so genau«, gestand Donay. »Nach einem Hinweis, einem Wort, selbst ein einzelner Buchstabe würde mich schon glücklich machen.«

Kara sah ihn fragend an.

»Ich versuche noch immer, die Inschrift auf dieser Tür zu übersetzen«, sagte Donay. »Aber dazu braucht Irata wenigstens einen winzigen Anhaltspunkt. Diese Schrift ähnelt nichts, was ich je gesehen hätte; weder die Buchstaben noch ihre Kombination untereinander. Deshalb lasse ich Irata Angellas Bibliothek sichten. Wenn es irgendwo einen Hinweis gibt, dann dort.«

»Die gesamte Bibliothek?« fragte Kara ungläubig. »Aber das sind Tausende von Bänden!«

»Ja«, antwortete Donay ungerührt. »Und manche davon sind sehr alt – jedenfalls behauptet Aires, daß ein paar noch aus der Alten Welt stammen sollen. Es wird eine Weile dauern, bis er sie alle gesichtet hat.«

»Eine Weile? Du meinst ein paar Jahre!«

»Allerhöchstens einige Wochen«, korrigierte sie Donay.

»Falls er sie wirklich alle durchsehen muß. Die Chancen, daß er auf der nächsten Seite auf den entscheidenden Hinweis stößt, sind genauso hoch wie die, daß er bis zur allerletzten suchen muß.«

»Und wenn er nichts findet?« fragte Kara.

»Ich fürchte, dann können wir bis zum Ende unserer Tage an dieser verfluchten Inschrift herumraten«, sagte Donay. »Du kannst nicht eine völlig fremde Sprache entschlüsseln, wenn du gar nichts über sie weißt.«

»Wir könnten Elder fragen«, schlug Kara vor.

»Er würde uns sicher freudig antworten«, sagte Donay spöttisch. »Nein.« Er schüttelte entschieden den Kopf. »Außerdem glaube ich nicht einmal, daß er uns helfen könnte, selbst wenn er es wollte. Wenn er diese Schrift entziffern könnte, dann hätte er die Tür geöffnet.« Er hatte endlich gefunden, wonach er die ganze Zeit über gesucht hatte, und kam damit um den Tisch herum. Obwohl Kara den Gegenstand bisher nur einmal gesehen hatte, erkannte sie ihn sofort. Es war der geflügelte Metallpfeil, den sie aus der Brust des toten Libellenpiloten gezogen hatten.

»Ich habe lange über dieses Ding nachgedacht«, begann Donay. »Elder hat uns lang und breit erklärt, wie dieses Ding programmiert wird, wie unbarmherzig es einen Menschen sucht und wie unmöglich es ist, ihm zu entkommen. Nur eines hat er uns nicht erzählt.«

»Und was?« fragte Kara, als Donay nicht von sich aus weitersprach.

»Wie es ihm gelungen ist, den Schild der Libelle zu durchbrechen«, sagte Donay.

Kara verstand im ersten Moment gar nicht, worauf er hinauswollte. Sie hatte bisher angenommen, daß ein Volk, das in der Lage war, einen unsichtbaren Schutzschild zu erschaffen, auch in der Lage sein mußte, ihn wieder zu überwinden. Donay nahm ihr den kleinen geflügelten Stahlpfeil wieder aus der Hand und drehte ihn wie ein Spielzeug. »Ich glaube, ich weiß es jetzt«, sagte er.

»Und wie? Bitte, mache es nicht zu spannend«, sagte Kara, als Donay sichtbar tief Atem schöpfte, um zu einem seiner gefürchteten Vorträge anzusetzen. »Ich habe nicht zu viel Zeit.«

Donay zuckte aber mit den Schultern. »Ich habe in den letzten Tagen mehrmals mit Tess gesprochen«, begann er, »und auch mit den anderen Kriegern, die schon gegen die Libellen gekämpft haben. Dabei ist mir eines aufgefallen: Kein Geschoß scheint diesen unsichtbaren Schild durchdringen zu können.«

»Das stimmt«, sagte Kara. »Markor hat mit dem Flügel nach ihnen geschlagen. Seine Schwingen würden eine Burgmauer zertrümmern, aber die Libelle haben sie nicht einmal getroffen.«

Donay nickte wissend. »Ich habe keine Ahnung, wie dieser Schild funktioniert«, sagte er, »aber nach alldem, was ich gehört habe, scheint er jeden sich schnell bewegenden Gegenstand aufzuhalten.« Er hob den Pfeil demonstrativ in die Höhe und bewegte ihn vor Karas Gesicht von links nach rechts. »Aber dieses Ding hier war ziemlich langsam.«

Kara sah ihn fragend an, und Donay unterstrich seine Worte mit einem bekräftigenden Nicken. »Ich habe mit Tess gesprochen. Sie sagt, er hätte sich so langsam bewegt wie eine fallende Feder. Vielleicht ist das der Grund, aus dem er den Schild durchbrochen hat.«

»Selbst wenn es so wäre«, sagte Kara nach kurzem Überlegen. »Was würde uns das nutzen?« Sie deutete auf den Pfeil in Donays Hand. »Wir können so etwas nicht bauen. Und wir können auch unsere Drachen nicht langsamer machen, als sie sind.«

»Ich weiß«, sagte Donay betrübt. »Trotzdem... es ist eine Spur.«

»Dann verfolge sie weiter«, antwortete Kara. »Aber nicht heute.« Sie deutete mit einer Kopfbewegung zum Fenster. Das Licht über dem Hof färbte sich grau. »Ich bin eigentlich nur gekommen, um dich mitzunehmen.«

»Mitnehmen?« Donay wirkte ein bißchen aufgeschreckt.

»Wohin?«

»Auf jeden Fall hier heraus«, antwortete Kara in bestimmendem Ton. »Und in irgendein Bett, in dem du zwölf Stunden durchschlafen kannst.«

»Aber das geht nicht«, protestierte Donay. »Ich habe noch viel – «

»Unsinn!« unterbrach ihn Kara. »Du bringst dich um. Eigentlich wäre mir das egal, denn du bist alt genug, um selbst zu wissen, was du deinem Körper antun kannst, aber im Moment brauchen wir dich. Und weder du noch wir haben etwas davon, wenn du im entscheidenden Moment zusammenbrichst, oder auch nur einen Fehler begehst, weil du übermüdet bist.«

»So schlimm ist es nicht«, widersprach Donay, aber Kara blieb hart.

»Ich wollte dir einen freundschaftlichen Rat erteilen, Donay«, sagte sie. »Aber ich kann es dir auch als Herrin des Drachenhortes befehlen, wenn es sein muß.« Sie machte eine Kopfbewegung zur Tür. »Hrhon steht draußen und wartet auf mein Zeichen. Du hast die Wahl, freiwillig mitzukommen, oder dich von ihm hinaustragen zu lassen.«

Donay blickte sie vorwurfsvoll an, aber der Ausdruck in ihren Augen schien ihm klarzumachen, daß sie zu keinem Kompromiß bereit war. Trotzdem versuchte er es noch einmal mit einer anderen Taktik. »Ich kann Irata nicht allein lassen«, sagte er. »Wenn er irgend etwas findet oder braucht – «

» – lasse ich dich sofort wecken, das verspreche ich dir«, unterbrach ihn Kara. »Außerdem kann ich mir vorstellen, daß ihm eine kleine Pause auch ganz guttut.«

»Er braucht vier Stunden Schlaf am Tag«, antwortete Donay. »Und ich achte sorgsam darauf, daß er sie bekommt.«

»Dann achte ich jetzt darauf, daß auch du bekommst, was du brauchst«, sagte Kara bestimmt. Mit einer entschlossenen Bewegung nahm sie ihm den Pfeil aus der Hand, legte ihn auf den Tisch und streckte den Arm wieder nach seiner Schulter aus, um ihn nötigenfalls mit sanfter Gewalt mit sich zu ziehen.

Donay wich ihrer Berührung aus, aber er hatte wohl eingesehen, daß jeder weitere Widerspruch sinnlos war, denn nach einigen weiteren Augenblicken wandte er sich mit finsterem Gesichtsausdruck zur Tür und schob den Riegel zurück.

Kara trat dicht hinter ihm auf den Hof hinaus. Ihre Augen hatten sich an das schattige Dämmerlicht in dem Labor gewöhnt, so daß selbst der rote Schein des Sonnenuntergangs sie im ersten Augenblick blinzeln ließ. Deshalb bemerkte sie im ersten Moment auch gar nicht, daß außer Hrhon noch eine zweite Gestalt vor der Tür auf sie gewartet hatte. Als sie Elder erkannte, war es zu spät, sich eine Ausflucht einfallen zu lassen, um nicht mit ihm reden zu müssen. Sie befürchtete ohnehin, daß ihm ihr verändertes Verhalten in den letzten Tagen aufgefallen war. Sie war ihm aus dem Weg gegangen, wo immer sie konnte, und die wenigen Male, wo sie nicht umhingekommen war, mit ihm zu reden, da hatte sie es knapp und beinahe unfreundlich getan.

Donay drehte sich noch einmal herum, zog die Tür hinter sich zu und kramte ein gewaltiges Vorhängeschloß hervor, das er mit umständlichen Bewegungen anbrachte. Den Schlüssel reichte er Kara, die sich im ersten Moment fragte, was sie damit sollte, ehe ihr ihr eigenes Versprechen, sich um Irata zu kümmern, wieder einfiel. Sie steckte ihn ein, streifte Elder im Herumdrehen mit einem flüchtigen Blick und gab dann dem Waga einen Wink. »Kümmere dich um ihn. Ich... komme sofort nach.« Sie wartete, bis der Waga Donay am Arm ergriffen und mit sanfter Gewalt weggeführt hatte, ehe sie sich mit einer ruckartigen Bewegung an Elder wandte. »Also?«

Elder reagierte nicht sofort. Er sah sie nur stumm an, und der unausgesprochene Vorwurf in seinem Blick traf Kara, was sie selbst überraschte. »Eigentlich sollte ich diese Frage stellen«, sagte Elder schließlich.

»Ich verstehe nicht ganz, was du meinst«, antwortete Kara. Sie drehte sich mit einem Ruck herum und begann über den Hof auf das Haupthaus zuzugehen. Elder folgte ihr.

»Du gehst mir aus dem Weg«, sagte Elder. »Schon seit ein paar Tagen.«

»So?« fragte Kara. »Meinst du?«

»Ich meine gar nichts«, antwortete Elder betont. »Ich bin weder blind noch taub – und es wäre nett, wenn du nicht zu allem Überfluß auch noch so tust, als wäre ich dämlich.«

»Aber das tue ich doch gar nicht«, sagte Kara. Sie hatten das Haus erreicht und gingen die Treppe hinauf, und irgendwie brachte sie es fertig, daß Elder immer eine Stufe hinter ihr blieb. »Ich hatte in den letzten Tagen viel zu tun, Elder. Ich bin erschöpft, und ich bin genauso nervös wie jeder andere hier, das ist alles.«

»Verkauf mich nicht für dumm!« sagte Elder zornig. »Du behandelst mich wie... wie einen Aussätzigen, seit du auf diesem verfluchten Schiff warst! Was hat dir dieser Thorn über mich erzählt?«

»Nichts«, sagte Kara. »Jedenfalls nichts, was ich nicht schon vorher ge...«

Sie kam nicht weiter. Elder packte sie plötzlich, wirbelte sie herum und stieß sie so grob gegen die Wand, daß ihr die Luft wegblieb. Kara versuchte ganz instinktiv, sich loszureißen und nach ihm zu schlagen, aber er fing ihre Hand mit einer fast spielerischen Bewegung auf und hielt sie fest; gleichzeitig blockierte er ihr hochgerissenes Knie mit dem Bein und preßte sie mit seiner ganzen Kraft gegen die Wand, so daß sie völlig wehrlos war. »Jetzt reicht’s mir endgültig!« schrie er. »Wofür hältst du dich eigentlich, du dummes kleines Mädchen?«

»Laß mich los!« verlangte Kara.

Elder verstärkte seinen Griff. »Nicht, bevor du mir nicht gesagt hast, was los ist!« schrie er. »Was, zum Teufel, habe ich getan? Du behandelst mich wie... wie einen Aussätzigen!«

Kara sah aus den Augenwinkeln, wie zwei der jüngeren Krieger um die Biegung des Ganges kamen und mitten im Schritt stehenblieben, als sie Elder und sie erblickten. Aber dann stürmten sie beide los und zogen gleichzeitig ihre Waffen. »Nicht!« sagte Kara hastig. »Bleibt stehen! Und steckt die Waffen weg!«

Elder sah erschrocken auf. Aber er war nicht erschrocken genug, seinen Griff auch nur um einen Deut zu lockern. Die beiden Krieger zögerten, Karas Befehl zu befolgen. Sie blieben zwar stehen, senkten ihre Schwerter aber nicht.

»Ihr sollt verschwinden!« sagte Kara noch einmal. »Das hier ist eine reine Privatangelegenheit, die euch nichts angeht.«

Nicht halb so schnell, wie Kara es sich gewünscht hätte, schoben sie ihre Schwerter in die ledernen Hüllen an ihren Gürteln zurück und entfernten sich. Kara wartete, bis sie wieder hinter der Biegung verschwunden waren, dann drehte sie bewußt langsam den Kopf und sah Elder kalt und drohend an. »Und du solltest mich jetzt besser loslassen – ehe Hrhon auftaucht und dich in Stücke reißt. Ich bin nicht sicher, ob ich ihn ebenfalls zurückhalten könnte.«

»Ich weiß«, knurrte Elder. »Ich versuche seit fünf Tagen, dich einmal ohne diese größenwahnsinnige Eidechse zu erwischen.«

»Jetzt ist es dir ja endlich gelungen«, antwortete Kara. »Und was hast du jetzt vor? Mich verprügeln?«

»Vielleicht sollte ich das tun«, murmelte Elder. Er ließ ihre Handgelenke plötzlich los und trat einen Schritt zurück. »Können wir jetzt miteinander reden?« fragte er.

Kara starrte ihn eine Sekunde lang zornig an, dann blickte sie in die Richtung, in der die beiden Krieger verschwunden waren. »Noch ein oder zwei solcher Zwischenfälle, und ich brauche mir um meinen guten Ruf keine Sorgen mehr zu machen«, sagte sie, während sie ihre brennenden Handgelenke massierte. »Kara...« sagte Elder. Seine Stimme klang beinahe gequält. »Was?« schnappte Kara. Es gelang ihr nicht mehr wirklich, Zorn auf Elder zu empfinden. »Was willst du? Soll ich mich bei dir entschuldigen – weil du mich die ganze Zeit über belogen hast?«

»Ich habe dich...?« Elder war ehrlich verwirrt. »Aber wieso denn? Ich meine... was habe ich denn – «

»Du wußtest, was wir dort unten finden werden!« unterbrach ihn Kara. »Du wußtest, wer Liss und die beiden anderen getötet hat – und warum. Du wußtest, daß sie dort unten waren daß sie dort unten auf uns warten würden. Angella könnte noch leben, wenn du uns gewarnt hättest!« Die letzten Worte hatte sie förmlich herausgeschrien.

»Aber wie konnte ich das?« murmelte Elder. »Ich kannte euch doch kaum. Ihr wart... Fremde für mich. Nichts anderes als Krieger, die – «

» – du nach Gutdünken opfern konntest?« unterbrach ihn Kara schneidend. »Wie Bauern auf einem Schachbrett!«

»Die für mich nicht mehr bedeuteten als Thorns Krieger heute für dich«, sagte Elder ungerührt. »Wie viele von ihnen hast du getötet? Meinst du nicht, auch sie hätten Freunde und Familien?« Er schnitt ihr mit einer zornigen Bewegung das Wort ab, noch ehe sie ihn überhaupt unterbrechen konnte. »Verdammt, ich habe Fehler gemacht. So wie du, wie Aires und Angella und auch Thorn.«

»Und sein Vorgänger«, sagte Kara.

Elder sah sie mit einem Ausdruck an, der Erschrecken sein konnte, aber auch ehrliche Verwirrung.

»Sag mir die Wahrheit, Elder«, sagte sie. »Warst du dieser Mann? Bekämpfst du Thorn, weil du glaubst, er säße auf einem Platz, der eigentlich dir gehört?« Das war etwas, das ihr im selben Moment erst in den Sinn gekommen war, in dem sie es aussprach. Ein paar Augenblicke starrte Elder sie einfach nur an und plötzlich begann er zu lachen, trat mit einer raschen Bewegung auf sie zu und schloß sie mit einer ebenso raschen Bewegung in die Arme. Kara versteifte sich unter seiner Berührung, aber sie versuchte nicht mehr, sich zu wehren.

»Und das hast du wirklich geglaubt?« fragte er. »Wer hat dir diesen Unsinn erzählt? Thorn?«

»Nein«, antwortete Kara.

»Das hätte mich auch gewundert«, sagte Elder. »Er lügt zwar gern und oft, aber eigentlich sehr viel geschickter.«

Kara befreite sich aus seiner Umarmung und schob ihn mit sanfter, aber doch entschlossener Gewalt auf Armeslänge von sich – ohne ihn allerdings loszulassen. »Das ist keine Antwort auf meine Frage. Warst du es?«

»Und ich werde sie dir auch nicht beantworten«, sagte Elder ernst. »Weil du das nämlich ganz gut allein kannst, weißt du? Überleg selbst: Was war ich, als wir uns kennenlernten? Ein Soldat, der seit fünf Jahren in Schelfheims Stadtgarde diente. Überzeuge dich selbst davon, wenn du mir nicht glaubst. Außerdem – woher sollte ich die Hilfe bekommen, auf die ich warte, wenn ich nichts als ein gefeuerter Angestellter der gleichen Firma wäre, die ich zu bekämpfen vorgebe?«

»Das kann eine weitere Lüge sein!«

»Dann wäre es allerdings keine sehr kluge Lüge, denn in spätestens vier oder fünf Tagen würde ich dir erklären müssen, wieso die Schiffe und Krieger nicht kommen, die ich euch versprochen habe.«

»Und wenn!« sagte Kara mit gespieltem Trotz. »Das ändert nichts daran, daß du mich belogen hast. Ich... ich habe gedacht, du vertraust mir. Aber du gibst immer nur gerade soviel von der Wahrheit preis, wie du unbedingt mußt, nicht wahr?«

»Ich habe dir erklärt, warum«, antwortete Elder. »Vielleicht ist es eine schlechte Angewohnheit. Vielleicht liegt es an der Art von Leben, die ich seit mehr als einem Jahrhundert führe. Wenn man zu lange gelernt hat, allem und jedem zu mißtrauen, dann verlernt man vielleicht irgendwann einmal, was Vertrauen überhaupt noch bedeutet, verstehst du?«

»Nein«, antwortete Kara. »Das verstehe ich nicht. Ich habe lieber Menschen um mich, denen ich vertrauen kann.«

»Ich auch«, sagte Elder ernst. »Aber ich habe zu viele getroffen, die mein Vertrauen ausgenutzt haben, und zu wenige, die es nicht taten. Ich weiß, daß das falsch ist, aber ich kann nun einmal nicht aus meiner Haut. Niemand kann das.« Er lächelte traurig. »Vielleicht ist das der Preis, den man für ein so langes Leben zahlen muß.«

»Wenn das wirklich so ist, dann ist der Preis zu hoch«, antwortete Kara. Elders Worte überzeugten sie nicht. Zum einen waren sie ihr einfach zu glatt, selbst wenn er die Wahrheit sprechen sollte. Und zum anderen hatte sie eines schon früh begriffen, daß man auch Offenheit und das Eingestehen von Fehlern zu seinem Vorteil nutzen konnte und daß Elder ein wahrer Meister in dieser Kunst war. Nicht zum ersten Mal gestand sie sich ein, daß Elder ihr in jeder Beziehung überlegen war. Sie fragte sich, ob er nicht vielleicht selbst jetzt nur mit ihr spielte und in Wahrheit längst wußte, daß ihr Verhalten nur zu ihrem Plan gehörte, sein Vertrauen völlig zu gewinnen. Doch wie sollte sie das Vertrauen eines Mannes gewinnen, der ihr vor einer Minute selbst gesagt hatte, daß er absolut niemandem traute? »Du hast mich belogen, Elder«, fuhr sie mit leiser, bebender Stimme fort. Sie brauchte den Schmerz in ihren Worten nicht einmal zu heucheln.

»Und das tut weh, ich weiß.« Elder streckte wieder die Hände nach ihr aus, führte die Bewegung aber nicht zu Ende, sondern lächelte dieses traurige, so echt wirkende Lächeln. »Aber weißt du... seit diese Geschichte angefangen hat, hat eigentlich jeder ununterbrochen gelogen.« Eine winzige Pause, dann: »Als du in dieser Nacht bei mir warst, Kara, war das... auch gelogen?«

»Nein«, sagte sie.

»Glaubst du, daß es wieder so werden könnte!« Er bemerkte ihren erstaunten Blick und beeilte sich, seine Worte zu erklären:

»Ich meine nicht unbedingt, daß wir miteinander schlafen müssen. Es würde mir schon reichen, wenn wir einfach nur Freunde wären.«

Freunde... Es war Kara unmöglich, darauf zu antworten.

Das war so ein großes Wort. Sie hatte – Hrhon ausgenommen – niemals einen wirklichen Freund gehabt. Sie hätte Elder erklären können, daß sie mit diesem Begriff mindestens so vorsichtig umging wie er mit dem Wort Liebe. Aber sie glaubte nicht, daß er es verstehen würde, und so zuckte sie lediglich mit den Schultern und sagte, ohne ihm dabei in die Augen zu sehen: »Vielleicht.«

»Vielleicht ist schon mehr, als ich vor einer halben Stunde noch zu hoffen gewagt hätte«, sagte Elder. Für diese Worte allein haßte Kara ihn beinahe. War seine Krämerseele schon so abgestumpft, daß er im Ernst glaubte, mit ihr um ihr Vertrauen schachern zu können? »Wie weit bist du mit den Dingen gekommen, die wir dir aus Schelfheim mitgebracht haben?«

Elder hatte ihr erzählt, daß er versuchen würde, einen primitiven Sender zu bauen, um mit dem Raumschiff, dessen Ankunft sie erwarteten, Verbindung aufzunehmen.

»Nicht so weit, wie ich gehofft habe«, gestand er. »Gendik hat auch längst nicht alles gebracht, was ich aufgeschrieben habe. Aber ich denke, ich werde noch rechtzeitig fertig. Die Energieversorgung ist ein Problem. Ich werde wohl eine der erbeuteten Waffen auseinandernehmen müssen, um an die Batterie zu kommen.«

»Ich könnte jemanden nach Schelfheim schicken, um dir alles bringen zu lassen, was du brauchst«, sagte Kara. »Gendik wird es nicht wagen, sich mir offen zu widersetzen.«

»Bist du sicher?« fragte Elder. »Jetzt, wo er neue Verbündete hat?«

Sie schüttelte den Kopf, drehte sich herum und begann ihren Weg fortzusetzen. »Nicht einmal jetzt«, sagte sie. »Ich kenne Männer wie ihn, glaube mir. Er gehört zu denen, die immer gern mehrere Feuer im Eisen haben. Er wird es nicht wegen ein paar Kleinigkeiten auf eine Machtprobe ankommen lassen.«

»Was ich habe, reicht aus«, sagte Elder. »Außerdem könnte Thorn davon Wind bekommen. Ein einziger Blick auf meinen Einkaufszettel, und er wäre zehn Minuten später hier, um dich zu fragen, was du mit den Einzelteilen für einen Ultrakurzwellensender willst. Und ich schätze nicht, daß er allein kommt.«

»Wird er das nicht früher oder später ohnehin tun?« fragte Kara. Sie bogen in den Gang ein, auf dem Angellas ehemaliges Zimmer lag. Gegen Karas eindeutigen Befehl hatte Aires ihre Abwesenheit genutzt, alle Verwundeten in anderen Räumen unterzubringen,- so daß sie ihr Quartier wieder beziehen konnte. »Ich meine – selbst wenn deine Leute ihn besiegen, wird er den Hort nicht aus purer Rache doch vernichten? Ich überlege, ob wir ihn nicht besser evakuieren, ehe dein Schiff eintrifft.«

»Ich weiß nicht, ob Thorn etwas nur aus Rachelust tut«, antwortete Elder. »PACK setzt niemanden auf einen solchen Platz, der es zuläßt, daß seine Handlungen von Gefühlen beeinflußt werden. Aber selbst wenn ich mich täuschen sollte, brauchst du keine Angst zu haben – er wird viel zu beschäftigt sein, um auch nur an euch zu denken.«

Kara fröstelte. Elders Worte hatten sie beruhigen sollen, aber sie bewirkten das Gegenteil. Sie hatte die Drohne gesehen. Die Vorstellung, daß zwei solche Kolosse gegeneinander kämpfen würden, ließ sie innerlich vor Angst erstarren. Welche unvorstellbaren Gewalten wollte Elder da heraufbeschwören?

Er schien ihre Gedanken zu erraten, denn er schüttelte den Kopf und lächelte beruhigend. »Keine Sorge. Niemandem hier wird etwas geschehen.«

Kara lachte, aber es klang nicht besonders amüsiert. »Du glaubst, sie geben einfach auf?«

»Ganz bestimmt nicht«, antwortete Elder, »obwohl es das klügste wäre. Aber die Entscheidung wird nicht hier fallen, sondern dort oben, wo ihr Schiff kreist. Wenn es meinen Leuten gelingt, es zu zerstören oder zur Aufgabe zu zwingen, hat Thorn keine andere Wahl mehr als zu kapitulieren.«

»Und wenn er es nicht tut?«

»Er wird es«, antwortete Elder überzeugt.

Sie betraten Karas Zimmer. Hrhon war noch nicht zurück, so daß Elder ihr ohne zu zögern folgte. Kara fuhr ganz leicht zusammen, als Elder die Tür hinter sich schloß. Dann fiel ihr Blick auf den Tisch, und was sie dort sah, das ließ sie hoffen, daß Elder entweder mit plötzlicher Blindheit geschlagen war oder wenigstens nicht ganz so aufmerksam wie gewohnt. Doch noch bevor sie zum Tisch gehen und versuchen konnte, möglichst unauffällig die kleine fünfzackige Brosche verschwinden zu lassen, die sie am vergangenen Abend darauf vergessen hatte, humpelte Elder an ihr vorbei und nahm sie. Überrascht sah er Kara an. »Woher hast du das?«

»Das gehört dir«, antwortete Kara und dankte im stillen dem Himmel dafür, daß Donay das ältere Gegenstück dieser Brosche mitgenommen hatte, um sie einer genaueren Untersuchung zu unterziehen. »Es war an deiner Jacke, als du hierher kamst. Cord wollte deine Sachen verbrennen lassen, aber ich habe sie entdeckt und abgenommen.«

Elder sah zuerst die Brosche, dann sie an. »Hast du sonst was retten können?«

Kara schüttelte den Kopf. »Es ist hübsch. Was ist es – ein Schmuckstück?«

»Das Emblem meiner Firma«, antwortete Elder. Er hielt die Brosche zwischen Daumen und Zeigefinger in die Höhe. »Die Form steht für die Sterne, die wir für die Menschen erobern«, sagte er. »Und die beiden Buchstaben sind der Name: Central Company. Siehst du?« Kara nickte. Ein bitteres Gefühl machte sich in ihr breit. Trotzdem zwang sie ein Lächeln auf ihre Züge, als sie ihn fragte: »Kann ich es behalten?«

»Behalten?« Elder wirkte im ersten Moment einfach nur verwirrt.

»Oder ist es sehr wertvoll?«

»Wertvoll! Nein. Bestimmt nicht.« Elder lächelte und ließ die Brosche in ihre ausgestreckte Hand fallen. »Es muß ein paar Millionen von den Dingern geben. Jeder Mitarbeiter der Company besitzt eines. Was willst du damit?«

»Mir gefällt es«, antwortete Kara. »Es ist auf dieser Welt das einzige.«

»Ich glaube beinahe, ich habe mich doch in dir getäuscht«, sagte Elder lachend. »Unter all der Drachenhaut und dem Stahl scheinst du doch eine ganz normale Frau zu sein.« Er lachte abermals, aber dann wurde er plötzlich wieder ernst und schüttelte den Kopf, als Kara die Brosche anstecken wollte.

»Tu das lieber nicht«, sagte er. »Jedenfalls nicht, bis wir Thorn und seine Bande von eurer Welt vertrieben haben.«

Kara sah ihn einen Moment lang betroffen an, aber dann steckte sie die Brosche in die Tasche, statt sie an ihrer Bluse zu befestigen. Elder kam um den Tisch herum auf sie zu und versuchte wieder nach ihr zu greifen, und wieder entzog sie sich seiner Berührung.

»Was ist los mit dir?« fragte er stirnrunzelnd.

»Nichts«, antwortete Kara. »Du... sagtest doch selbst, daß wir nur Freunde sein müßten – wenigstens vorerst.«

»Ich hatte auch nicht vor, dir sofort die Kleider vom Leib zu reißen und dich zu Boden zu zerren«, fauchte Elder. »Was ist los mit dir, Kara! Ich spüre doch, daß dich noch irgend etwas quält. Ich habe es die ganze Zeit über gespürt.«

»Es ist nichts«, antwortete Kara. »Jedenfalls nichts, was dich betrifft.«

Elder sagte nichts mehr, aber er starrte sie so durchdringend an, daß allein sein Blick sie dazu zwang, weiterzureden. »Es war... alles zuviel, Elder. Ich weiß manchmal einfach nicht mehr, was ich denken soll. Was richtig ist und was falsch.«

»Aires«, vermutete er und bestärkte Kara damit in ihrer Vorsicht, ihn als den sehr präzisen Beobachter und Zuhörer zu behandeln, für den sie ihn hielt.

»Ja. Wir... hatten Streit. In den letzten Tagen haben wir uns praktisch ununterbrochen gestritten, wenn wir allein waren. Aber ich beginne mich zu fragen, ob sie nicht recht mit dem hat, was sie über diese Welt gesagt hat, unserer Verantwortung und unseren Pflichten ihr gegenüber.«

»Das hat sie«, antwortete Elder. »Genauso wie du.«

»Aber wie können wir beide recht haben?«

»Weil eure Standpunkte gar nicht so verschieden sind, wie es auf den ersten Blick aussieht«, sagte Elder sanft. »Und ich bin sicher, ihr werdet das früher oder später selbst erkennen.«

»Erkläre es mir«, verlangte Kara.

»Nein. Soll ich vielleicht noch dein Leben für dich leben?« antwortete Elder mit sanftem Spott. »Es gibt ein paar Dinge, die man besser selbst herausfindet und auf seine eigene Weise. Ist dir eigentlich klar, daß sie dich sehr liebt?«

»Aires?« Kara riß ungläubig die Augen auf. »Sie haßt mich!«

»Das ist es, was du glaubst. Und wahrscheinlich glaubt sie selbst es auch. Aber es stimmt nicht.« Für die Zeit, die ihre Blicke brauchten, um ineinander zu verharren, blieb er noch reglos stehen, dann seufzte er plötzlich tief und wandte sich mit einem Kopfschütteln ab.

»Vielleicht sollte ich dich jetzt besser alleinlassen«, sagte er. »Du brauchst Zeit, um über dich selbst nachzudenken. Und wenn wir uns das nächste Mal sehen – versprichst du mir, daß ich dir dann näher als zehn Meter kommen darf, ohne daß Hrhon mir auch noch die andere Hand bricht?«

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