45

Als sie Stunden später verdreckt und bis zum Umfallen erschöpft aus dem Korb stiegen, den ein Dutzend keuchender, verschwitzter Gardesoldaten mit Hilfe einer quietschenden Seilwinde nach oben kurbelten, da wartete die nächste Katastrophe bereits auf sie. Es war nicht das Erdbeben, das kaum heftig genug gewesen war, ein paar Teller und Krüge von ihren Regalen herunterzustürzen und zerbrechen zu lassen, und es waren auch nicht die Libellen, die zurückgekommen waren, aber in der Stadt herrschte ein hektisches Durcheinander, und die Luft war voller Drachen. Kara hörte ein entferntes, zorniges Brüllen, und sie sah orangeroten flackernden Feuerschein hinter den flachen Dächern im Norden.

Noch ehe der Korb vollends zum Stillstand gekommen war, sprang sie mit einem ungeduldigen Satz hinaus und griff sich den erstbesten Soldaten, den sie erreichen konnte. »Was ist passiert? Werdet ihr angegriffen?«

Der Mann versuchte, ihre Hand abzustreifen. Karas Griff war so fest, daß er kaum Luft bekam. »Ja... nein, ich... ich weiß nicht«, stammelte er.

»Libellen?« mischte sich Cord ein.

»Nein. Sie erzählen etwas von... von irgendwelchen Ungeheuern, die aus dem Schlund gekommen sein sollen«, antwortete der Soldat.

»Ungeheuer?« Donay, der taumelnd unter seiner Last aus dem Aufzugkorb kam, zog die Augenbrauen hoch. »Was ist das für ein Unsinn.«

»Ich weiß es doch nicht!« beteuerte der Gardist. »Ich war die ganze Zeit hier. Ich habe nur gehört, was sie sich zugerufen haben, und – «

Ein mächtiges Rauschen und Brausen in der Luft unterbrach ihn und ließ Kara aufblicken. Sie zog unwillkürlich den Kopf zwischen die Schultern, aber lief im gleichen Moment auch schon los. Als Markors Krallen sich knirschend in die Ruinen eines Hauses auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes gruben, hatte sie den Krater bereits umkreist.

Ein zweiter Schatten verdunkelte die Sonne. Kara sah auf und beantwortete das Winken des Drachenreiters mit einer hastigen Geste, dann hatte sie Markor erreicht und kletterte hastig in den Sattel in seinem Nacken. Der Drache wartete nicht einmal, bis sie sich festgebunden hatte, sondern stieß sich mit einem gewaltigen Satz ab und segelte dicht über den Dächern der Stadt nach Norden.

Kara entdeckte den Feuerschein. Einige der Häuser am nördlichen Stadtrand standen in Flammen, und je weiter sie sich dem Schlund näherten, desto größer wurde die Anzahl der Menschen, die ihnen entgegeneilten, manche mit Taschen, Säcken oder anderen Gepäckstücken beladen. Trotzdem dauerte es noch einige Augenblicke, bis Kara begriff, daß diese Menschen vor irgend etwas flohen. Etwas, das aus dem Norden kam und von dort aus in die Stadt eingedrungen war. Was hatte der Mann gesagt? Ungeheuer aus dem Schlund?

Wieder loderte das grellorange Feuer eines Drachen vor ihr auf. Kara sah, wie der Flammenstrahl einen Häuserblock eine halbe Meile vor dem Schlund traf und in Brand setzte – aber sie konnte beim besten Willen nicht erkennen, worauf der Drache gezielt hatte.

Sie ließ Markor langsamer fliegen und ging weiter hinunter. Die gleichmäßig schlagenden Schwingen des Drachen berührten jetzt beinahe die Häuser. Hier und da schien der Anblick des Drachen den Menschen neuen Mut zu geben, denn sie blieben stehen und winkten ihr zu, manche machten gar kehrt und rannten ein Stück im Schatten des riesigen Tieres in die Richtung zurück, aus der sie gekommen waren, aber bei den meisten schien Markors Auftauchen die Angst nur noch zu verstärken. Kara beugte sich weit im Sattel vor und hielt nach dem Grund der Massenflucht Ausschau.

Sie brauchte nicht lange zu suchen.

Sie war noch mehr als eine Meile vom Rande der Stadt und damit dem Schlund entfernt, als sie ein gewaltiges, häßliches Etwas erblickte, das auf zu vielen mißgestalteten, kurzen Beinen hinter der Menschenmenge herlief. Im allerersten Moment kam ihr die Gestalt so grotesk vor, daß sie ein Lachen unterdrücken mußte und sich verblüfft fragte, wieso all diese Menschen dort unten vor ihr davonliefen. Aber dann sah sie die schnappenden Kiefer und die blind herumtastenden, mit Stacheln versehenen Greifarme der Kreatur und machte sich klar, daß der Anblick allerhöchstens von der sicheren Höhe des Drachenrückens aus komisch wirkte.

Kara zog Markor herum, steuerte in einer eleganten Schleife auf das Monster zu und verbrannte es mit einem kurzen, gezielten Feuerstoß. Gleichzeitig wurde ihr allerdings bewußt, wie nutzlos dieses Unterfangen war. Während des kurzen Rundfluges hatte sie gesehen, daß die Straßen unter ihr von allen möglichen und unmöglichen Monstern nur so wimmelten. Eine halbe Meile vor dem Schlund hatte sich eine mindestens fünf Meter große Spinnenkreatur eingenistet und bereits damit begonnen, in aller Seelenruhe ein gewaltiges Netz zwischen den Häusern zu spinnen. Sie würde nicht allzu weit damit kommen, denn gleichzeitig hatte etwas, das wie der Urgroßvater sämtlicher Käfer auf diesem Planeten aussah, damit begonnen, eines der Häuser aufzufressen, an denen sie ihre Fäden befestigt hatte. Neben diesen beiden Kolossen gab es Dutzende von anderen, kleineren Gestalten, die allesamt aus einem Alptraum entsprungen zu sein schienen. Viele von ihnen waren so groß wie ein Mensch.

Kara widerstand der Versuchung, dem Spuk zumindest in dieser Straße mit einem weiteren Feuerstrahl Markors ein Ende zu bereiten. Die Flammen waren die mächtigste Waffe der Drachen, aber eben aus diesem Grund mußten sie vorsichtig damit umgehen. Es fiel einem Drachen nicht leicht, Feuer zu speien. Es bereitete ihm sowohl Schmerzen als auch große Mühe, und Kara hatte von Fällen gehört, in denen Drachenreiter ihre Tiere umgebracht hatten, indem sie sie zwangen, zu oft und zu lange Feuer zu speien.

Sie lenkte Markor wieder nach Norden und ließ ihn gleichzeitig ein wenig Höhe gewinnen, als die Klippe des Kontinentalschelfs unter ihr davonglitt und sich der Drache plötzlich inmitten der tückischen Windböen befand, die seit zweihundert Jahrtausenden an Schelfheims Fundamenten rüttelten. Geschickt nutzte sie diese Böen aus, um den riesigen Drachen fast ohne einen einzigen Flügelschlag ein Stück weiter in die Höhe und zugleich von der Klippe forttreiben zu lassen, und begann dann in enger werdenden Spiralen wieder in die Tiefe zu sinken. Das schier endlose Häusermeer Schelfheims breitete sich für einen Moment wie ein bizarres Spielbrett der Götter unter ihr aus, schien dann in die Höhe zu steigen und wurde zur Zinnenkrone der ungeheuerlichen Wehrmauer, die das Leben auf dem Land gegen das auf dem Meeresgrund errichtet hatte.

Die annähernd drei Meilen hohe, lotrechte Klippe des Kontinentalschelfs war eine Bastion, und sie wurde im Moment von einer Armee berannt, deren bloßer Anblick Kara einen Schauer des Entsetzens über den Rücken laufen ließ. Ungeachtet der heulenden Windböen, die immer wieder einzelne, manchmal aber auch Dutzende oder Hunderte der Angreifer von der Wand pflückte, bewegte sich eine unvorstellbare Masse von meist ebenso unvorstellbaren Kreaturen an der Wand empor. Manche von ihnen waren so groß, daß sie vermutlich selbst einem Drachen gefährlich werden konnten, andere wieder so winzig, daß sie aus der Entfernung gar nicht zu sehen waren, dafür aber nach Millionen oder auch Milliarden zählten. Kara begriff voller jähem Schrecken, daß das, was sie oben in der Stadt gesehen hatte, nur die Vorhut dieser unvorstellbaren Invasion gewesen war – einige wenige Späher, denen ein Heer folgte, das die Stadt dort oben auf der Klippe und ihre Bewohner einfach überrennen würde, gleichgültig, was sie taten, und gleichgültig, ob sie ein Dutzend Drachen zu ihrer Unterstützung hatten oder nicht.

Links von ihr loderte orangerotes Feuer auf. Sie wandte den Kopf, korrigierte gleichzeitig Markors Kurs, damit er der Klippe und seinen entsetzlichen Bewohnern nicht zu nahe kam, und erblickte eine Gruppe von drei Drachen, die sich der Wand näherten und wieder davonglitten, wobei sie versuchten, eine Schneise aus Feuer zu legen, die der krabbelnden Monsterarmee den Weg verwehrte. Die Idee war gut, dachte Kara, aber leider undurchführbar. Sie hätten nicht zwölf, sondern zweihundert Drachen gebraucht, um die Stadt auf diesem Wege zu schützen.

Sie signalisierte den drei Drachenreitern, in ihrem sinnlosen Tun innezuhalten und wieder höherzusteigen, lenkte Markor selbst in die entgegengesetzte Richtung. Sie hatte eine ziemlich genaue Vorstellung davon, was die Bewohner des Schlunddschungels bewogen haben mochte, alle im gleichen Moment ihren Wohnort zu wechseln. Aber sie konnte sich nicht mit einer Ahnung zufriedengeben, wenn das Leben von Millionen Menschen gefährdet war.

Markors Flug wurde unruhiger, je mehr sie sich dem Dschungel näherten. Die Anpassung und der schneidende Wind trieben Kara die Tränen in die Augen, so daß sie im ersten Moment kaum mehr als ein verschwommenes Muster aus Farben und Bewegung unter sich wahrnehmen konnte. Halb blind tastete sie nach rechts, fand die Schutzbrille, die an Markors Sattel befestigt war, und setzte sie auf, nachdem sie sich mit dem Handrücken die Tränen aus den Augen gewischt hatte. Sie konnte jetzt wieder klar sehen, aber der Dschungel unter ihr blieb ein Gewusel aus brauner glitzernder Bewegung, das mehr an die Oberfläche eines Ozeans aus verschmutztem Teer als an den gewohnten Anblick der Baumwipfel erinnerte. Wo das alles überwuchernde Grün des Blättermeeres gewesen war, da tobte jetzt eine unvorstellbare Masse der gleichen Kreaturen, die auch die Klippe und die Stadt attackierten. Es war, als hätte der Schlund jedes bißchen Leben, das in der Lage war, sich von der Stelle zu bewegen, aufgeboten, um hier eine apokalyptische Generalprobe des Weltunterganges abzuhalten.

Das brodelnde Meer einander aus purer Todesangst umbringender Geschöpfte erstreckte sich unter ihr wie eine braunschwarze Flutwelle, die gegen den Fuß der Klippe gebrandet war und sich nach Osten und Westen in der Entfernung verlor. Was im Norden war, das verbarg sich unter der niemals wirklich aufreißenden Wolkendecke des Schlundes. Und Kara wollte auch gar nicht wissen, wie es dort aussah. Vielleicht, weil sie schon wußte, was sie erwarten würde.

Trotzdem lenkte sie Markor nach einem kurzen Zögern nach Norden und hielt instinktiv den Atem an, als der Drache in die grauen Wolkenschicht eintauchte. Für zwei, drei Sekunden umgab sie nichts als Feuchtigkeit und Kälte, dann waren die Wolken plötzlich über ihr, und sie sah, daß sich die Armee der Ungeheuer auch in dieser Richtung noch sicherlich fünf oder sechs Meilen weit erstreckte.

Dahinter war der Dschungel verschwunden. Und mit ihm die Masse der flüchtenden Tiere. Aus dem unsterblichen Grün des Waldes war eine Ödnis aus blattlosen Bäumen geworden; die von einer dünnen weißen Schicht wie von einem Eispanzer eingehüllt wurden. Es sah aus, als wäre der Wald dort im Griff einer Eiszeit erstarrt, die binnen eines Atemzuges gekommen war.

Aber Kara wußte, daß das, was sie sah, alles andere als die Abwesenheit von Leben bedeutete. Die weiße Schicht war nicht starr, wie es von weitem den Anschein gehabt hatte, sondern bewegte sich auf eine Weise, mit der das Auge nicht fertig zu werden vermochte. Es war ein Wogen und Gleiten, das die ganze Welt der belebten und unbewohnten Dinge erfaßt zu haben schien, als wäre jedes winzige Teilchen der Schöpfung in diese zuckende, fressende Bewegung geraten – ein mehrere Meilen tiefer, gerader Streifen, der sich langsam, aber vollkommen unaufhaltsam nach Süden schob, wobei er alles auslöschte, was er berührte. Zurück blieb das Skelett des Waldes, der seit Jahrtausenden hier unten gewachsen war.

Es war Gäa.

Im Anblick dieser unvorstellbaren Vernichtung – die im Grunde doch nur eine Verwandlung bedeutete – fragte sich Kara, wieso es nicht schon längst geschehen war. Die riesige, auf eine für Menschen vollkommen unverständliche Art denkende Kreatur aus den Sümpfen des Schlundes floh vor den heranrückenden Wassermassen eines Meeres, das sein Reich zurückforderte.

Kara wußte, daß es eine Flucht in den Tod war. Der Angriff des wimmelnden weißen Pilzgeflechtes, der die Bewohner des Schlundes zu ihrer Massenflucht veranlaßt hatte, war nur ein letztes Aufbäumen. Gäas Reich waren die lichtlosen, heißen Sümpfe unter dem Dschungel. Wäre sie fähig gewesen, in anderen Lebensräumen zu existieren und sie zu erobern, dann hätte sie es längst getan, denn obgleich sie und diese winzigen verwundbaren Wesen, die die Welt über dem Schlund bewohnten, einmal für kurze Zeit Verbündete gegen einen gemeinsamen Feind gewesen waren, waren ihr doch Begriffe wie Mitleid und Rücksicht völlig fremd. Die Katastrophe, deren Zeugin Kara wurde, war nichts als ihr letzter verzweifelter Versuch, ihre eigene sterbende Welt zu verlassen, wobei sie einer anderen samt ihren Bewohnern den Untergang brachte. Die gesamte Tier- und Pflanzenwelt des Dschungels befand sich auf der Flucht vor der unaufhaltsam näherrückenden, alles verschlingenden Masse aus dünnen, beweglichen Pilzfäden, deren Gesamtheit Gäa war. Und die einzige Richtung, in die sie fliehen konnten, war nach Süden.

Kara hatte genug gesehen und kehrte um. Gebannt von dem apokalyptischen Bild unter ihr hatte sie gar nicht gemerkt, daß sie beinahe eine halbe Stunde tief in den Schlund vorgedrungen war, und sie erschrak, als sie die Kontinentalklippe in größerer, viel größer als erwarteter Entfernung vor sich im Westen aufragen sah. Gleichzeitig beruhigte sie der Anblick ein wenig. Auf diese Weise blieben ihnen noch einige Stunden, sich so etwas wie eine Verteidigung zu überlegen.

Noch etwas anderes bemerkte sie erst jetzt – nicht nur die Baumwipfel, sondern auch die Luft war von wirbelndem Leben erfüllt. Riesige Schwärme mikroskopisch kleiner Insekten glitten wie die Schatten von Wolken über den Wald dahin, große und kleine Vögel versuchten sich verzweifelt in der Luft zu halten, und nicht weit entfernt entdeckte Kara etwas, das wie ein gewaltiges, fliegendes Spinnennetz aussah. Sie lenkte Markor näher und drehte hastig wieder ab, als sie dem dicht genug gekommen war, um zu erkennen, daß es Hunderte von Metern messendes Gewebe war, in das sich Millionen faustgroßer, haariger Bälle gekrallt hatten. Kurze Zeit darauf änderte Kara zum zweiten Mal den Kurs, als sie auf etwas zutrieben, das wie eine riesige, halb durchsichtige, schwebende Qualle aussah und ein Büschel dunkelgrauer Fäden hinter sich herzog. Wo diese Fäden die Baumwipfel berührten, stieg grauer Rauch auf. Eine Spur verkohlter, sterbender Tiere und Pflanzen markierte den Weg der Qualle.

Die meisten dieser Geschöpfe schienen nicht in der Lage zu sein, sich weit über die Baumwipfel zu erheben, aber einige Kreaturen vermochten es doch, und denen wollte Kara selbst auf dem Rücken des gewaltigen Drachen lieber aus dem Weg gehen. Sie warf einen letzten Blick zurück, um sich zu orientieren, dann ließ sie Markor wieder höher steigen, um das letzte Stück des Weges über der Wolkendecke zurückzulegen.

Kurz bevor sie in den grauen Dunst eindrang, sah sie das Aufblitzen von Licht, das sich auf einer spiegelnden Oberfläche brach. Sofort ließ sie den Drachen wieder tiefer sinken, machte abermals kehrt und flog wieder nach Norden. Ihr Blick tastete aufmerksam über die abgestorbenen Baumwipfel und die weiße Linie des Todes, die Gäas Vorrücken markierte. Ganz weit entfernt am Horizont gewahrte sie eine silberblaue Linie, von der sie annahm, daß es das Wasser des neu entstandenen Ozeans war. Aber sie war sicher, daß sie nicht die Ursache des Lichtblitzes gewesen war, den sie erblickt hatte. Sie hatte einen ähnlichen Reflex vor nicht sehr langer Zeit schon einmal gesehen vom höchsten Turm des Hortes aus, als Tess in der gestohlenen Libelle zurückkam und sich ein Sonnenstrahl auf ihrer Kanzel gebrochen hatte.

Einen Moment später entdeckte sie das Blitzen ein ganzes Stück weiter westlich, und dann gesellte sich ein zweiter, dritter und vierter Funke hinzu. Plötzlich begriff Kara, daß die Wolkendecke für einen Moment aufgerissen sein mußte, so daß sich das Licht der Sonne auf den Libellenmaschinen spiegelte. Wenig später schloß sich die Lücke in den Wolken wieder, und die Kette aus funkelnden Diamantsplittern verschwand so spurlos, wie sie aufgetaucht war.

Es waren Libellen. Sie schwebten irgendwo dort draußen über dem sterbenden Wald, und Kara mußte nicht einmal lange überlegen, um zu wissen, was sie dort taten. Hastig ließ sie den Drachen wieder in die Wolkendecke tauchen und atmete erst auf, als die Wolken wie ein Teppich aus Zuckerwatte unter ihr lagen.

Über Schelfheim hing der schwarze Rauch zahlloser Brände, als sie die Stadt wieder erreichte. Es befanden sich nur noch sehr wenige Drachen in der Luft, aber der plötzliche Schrecken, mit dem diese Beobachtung Kara erfüllte, währte nur einen Augenblick; dann entdeckte sie Silhouetten der Tiere auf der eigentlichen Kontinentalklippe, die Schelfheims westliche Grenze bildete. Alles in allem war sie eine gute Stunde fortgewesen. Die Tiere mußten entweder völlig erschöpft sein, oder ihre Reiter hatten die Sinnlosigkeit ihres Tuns eingesehen. Obwohl auch Markor deutliche Anzeichen von Ermüdung zeigte, kreiste sie noch einmal über der Stadt. Was sie erblickte, das erschreckte und beruhigte sie zugleich. Die panische Massenflucht hielt noch immer an, aber der Angriff der Monsterarmee war wenn schon nicht aufgehalten, so doch deutlich verlangsamt worden. Ein gut fünfhundert Meter breiter Streifen der Stadt stand in Flammen. Die Verteidiger hatten das einzige getan, was sie überhaupt tun konnten – sie hatten eine Mauer aus Feuer zwischen sich und dem Schlund errichtet, die von den Drachen aus sicherer Höhe heraus überwacht wurde. Manchmal stieß eines der Tiere herab und entfachte die Flammen neu, wenn sie zu erlöschen drohten. Von überall her strömten Männer und Hornköpfe herbei und warfen Holz ins Feuer, und von der anderen Seite her ergoß sich ein unablässiger Strom glitzernder, schuppiger und horngepanzerter Körper in die Flammen; die Armee, die Schelfheim überrannte. Die Furcht vor dem, was sie verfolgte, mußte größer sein als die Angst vor dem Feuer.

Aber Kara wußte auch, daß diese Verteidigung nicht lange halten würde. Es war unmöglich, einen Brand dieser Ausdehnung lange Zeit unter Kontrolle zu halten. Irgendwann würde er auf den Rest der Stadt übergreifen.

Sie vertrieb den Gedanken und lenkte Markor endgültig nach Süden. Wenige Augenblicke später landete sie unweit der Stelle, an der sie Schelfheim das erste Mal betreten hatte, und stieg vom Rücken des Drachen herab. Sofort war sie von einem Dutzend Männer umringt – unter ihnen auch Cord und Donay, wie sie mit einem deutlichen Gefühl von Erleichterung registrierte –, die sie mit Fragen bestürmten. Sie hob die Arme und bat mit befehlender Stimme um Ruhe. Erschöpft sah sie sich um und blickte in Gesichter, die von Schweiß und Staub bedeckt waren und deutlicher als alle Worte verrieten, was die Männer in der letzten Stunde getan hatten. Und sie alle wußten, wie sinnlos ihr Tun gewesen war. Wenn kein Wunder geschah, dann war Schelfheim verloren. Und offensichtlich erwarteten sie dieses Wunder von ihr.

Ehe Kara zu einer Erklärung ansetzen konnte, vernahm sie eine wohlbekannte Stimme hinter sich und erkannte Gendik und seinen Berater, die, begleitet von einem guten Dutzend Krieger, auf sie zueilten. Jede Spur von Hochmut war aus Gendiks Zügen verschwunden; Kara las nichts als Verzweiflung und Schrecken in seinen Augen. Seltsam, dachte sie, er stand jetzt so vor ihr, wie sie ihn hatte haben wollen – ein gebrochener, verzweifelter Mann, der nur noch Hilfe wollte. Aber der Anblick erfüllte sie nicht mit Triumph. Vielleicht hatte sie ihm auch vorher unrecht getan. Sie hatte ihn für überheblich und kalt gehalten, aber vielleicht war das die einzige Möglichkeit gewesen, einen Moloch wie diese Stadt zu verwalten.

»Was... geschieht dort draußen?« brachte Gendik heraus und blickte sie entgeistert an.

»Gäa«, antwortete Kara. »Es ist Gäa, Gendik. Sie...« Sie zögerte. Aus irgendeinem Grund scheute sie sich plötzlich davor, Gendik die Wahrheit zu sagen. »Sie verschlingt den Wald. Ich weiß nicht warum, aber ich habe es gesehen. Sie greift alles an, was sich ihr in den Weg stellt.«

Sie hörte, wie einige der Krieger hinter ihr erschrocken die Luft einsogen, aber Gendiks Gesichtsausdruck änderte sich nicht. Erst nach einigen Sekunden wurde ihr klar, daß er gar nicht verstanden hatte, was ihre Worte bedeuteten.

Aber das ist doch unmöglich! dachte Kara. Er muß doch von Gäa wissen!

Dann fragte Gendik mit verwirrter Stimme: »Gäa? Du... ich verstehe. Du redest von diesem... Wesen, das in den Sümpfen dort unten leben soll.«

Kara starrte ihn an, hin- und hergerissen zwischen dem Bedürfnis, in ein hysterisches Gelächter auszubrechen oder ihm ins Gesicht zu schlagen, bis er endlich aufwachte und begriff, was in der Welt dort draußen vor sich ging. Doch dann begriff sie den fundamentalen Irrtum, dem sie bisher erlegen war. Gendik konnte gar nicht begreifen, was sie meinte, so wenig wie sie umgekehrt wirklich über seine Beweggründe und Entscheidungen urteilen konnte. Sie lebten in zwei verschiedenen Welten. Schelfheim und der Drachenhort hatten ein Bündnis, das den einen untrennbar mit dem anderen verband, aber im Grunde hatten sie so wenig miteinander zu tun wie ihre Welt und die Elders und der Männer, die er bekämpfte. Gendiks simple Frage nach Gäa machte ihr in einer Sekunde klar, was Angella ihr in zehn Jahren nicht hatte begreiflich machen können.

Gendik war nicht dumm. Natürlich wußte er, was Gäa war. Aber es spielte keine Rolle für ihn. Die größte denkende Kreatur dieser Welt – vielleicht aller Welten im ganzen Kosmos – war für ihn so unwichtig wie irgendein Insekt, das er unter seinem Schuh zertreten mochte, ohne es überhaupt zu bemerken. Einen Moment lang fragte sie sich ernsthaft, ob Männer wie er und diese ganze verdammte Stadt es überhaupt wert waren, gerettet zu werden. Sie verfolgte diesen Gedanken nicht zu Ende – vielleicht weil sie Angst vor der Antwort hatte. »Ja«, sagte sie nur. »Sie wird den gesamten Dschungel verschlingen, fürchte ich.«

»Und all diese Ungeheuer – «

» – sind auf der Flucht vor ihr«, führte Kara den Satz zu Ende. Sie sah Gendik fest in die Augen, während sie eine Kopfbewegung auf die Stadt hinab machte. »Das ist nur die Vorhut, Gendik. Ich weiß nicht, wie schnell sich Gäa bewegt, aber ich fürchte, wenn sie den Fuß der Klippe erreicht, dann werden noch viel mehr von diesen... Ungeheuern die Wand hinaufkommen. Ihr werdet Schelfheim nicht halten können.«

Gendik erbleichte. »Was meinst du damit?«

»Ich meine, daß ihr die Stadt evakuieren müßt«, sagte Kara. »Und zwar sofort. Es sei denn, ihr wollt zusehen, wie die Hälfte ihrer Bewohner von diesen Monstern aufgefressen wird.«

»Du bist von Sinnen, Kind!« keuchte Gendik. »Du weißt nicht, was du da redest! Schelfheim hat zwei Millionen Einwohner, und es gibt nur diesen und zwei oder drei andere Wege aus der Stadt.« Er deutete erregt auf den Hochweg, der nur wenige Schritte von ihnen entfernt lag. Erst jetzt fiel Kara auf, daß bisher niemand die Stadt verlassen hatte. Der Hochweg war verwaist, die großen Tore in der beweglichen Barrikade waren verschlossen und mit einem massigen Riegel gesichert. Plötzlich begriff sie, daß Gendik den Zugang zur Stadt absichtlich geschlossen hatte.

»Verzeiht, Kara, aber ich fürchte, Gendik hat recht«, mischte sich Karoll ein.

Sie fuhr auf. »Ihr wollt doch nur – «

»Es steht gar nicht zur Debatte, was wir oder andere wollen«, fiel ihr Karoll ins Wort. »Es ist unmöglich, eine Stadt wie Schelfheim binnen weniger Stunden zu evakuieren. Wir bräuchten sechs Wochen, um die Bevölkerung aus der Stadt zu schaffen. Und selbst wenn wir es könnten – wo sollten wir all diese Menschen unterbringen? Wie sollten wir sie ernähren?« Er schüttelte traurig den Kopf. »Es ist leider so – wir müssen uns verteidigen. Ich bitte Euch – helft uns.« Seine Stimme wurde leise. »Ich poche nicht auf irgendwelche Verträge oder Absprachen, Kara. Ich appelliere auch nicht an Euer Gewissen oder das Versprechen auf Schutz, das uns Angella gegeben hat. Ich bitte Euch nur, uns zu helfen.«

Unter normalen Umständen hätte Kara jetzt nichts als Verachtung für den Mann empfunden. Aber sie wußte auch, warum sich Karoll so erniedrigte. Er hätte alles gegeben, was nötig war, um seine Stadt zu retten.

»Aber das können wir nicht, Karoll«, sagte sie so ruhig sie konnte. Sie deutete auf die Drachen. »Die Tiere sind erschöpft. Und selbst wenn ich alle Drachen hierherbrächte, die noch im Hort sind, würde es nichts nutzen.«

»Aber ihr habt über zweihundert Drachen!« protestierte Gendik.

»Es wäre nicht einmal genug, wenn es zweitausend wären«, sagte Kara. »Ihr habt nicht gesehen, was ich gesehen habe. Schelfheim ist verloren.«

»Dann zünden wir die Stadt an!« sagte Gendik mit verzweifelter Stimme. Er gestikulierte wild nach Norden, wo sich noch immer ein lodernder Flammenvorhang über der Klippe erhob. »Wir legen eine Feuerschneise und verbrennen sie.«

»Euch wird sehr schnell das Brennmaterial ausgehen«, sagte Donay. Es war das erste Mal, daß er das Wort ergriff, seit Kara zurückgekommen war.

»Dann brennen wir die ganze Stadt nieder!« sagte Gendik in der Tonlage eines verzweifelten Kindes, das sich zum ersten Mal mit der Unbarmherzigkeit des Schicksals konfrontiert sieht. »Wir bauen sie sowieso alle zehn Jahre neu. Es spielt keine Rolle, ob wir es einmal mehr oder weniger tun!«

»Es würde nichts nutzen«, sagte Donay an Karas Stelle.

»Eure Feuerschneise wird nicht lange halten. Schelfheim ist keine normale Stadt, Gendik. Sie ist ein Schwamm, auf dessen Oberfläche zufällig ein paar Menschen leben. Sie werden durch die Keller kommen und die Stollen und Gänge unter unseren Füßen. Es würde Euch gar nichts nutzen, die Stadt anzuzünden.«

»Er hat recht, Gendik«, sagte Kara beinahe sanft. Dann faßte sie einen Entschluß. »Wir können nur eines tun. Ich werde die restlichen Drachen herrufen, und wir werden versuchen, diese Ungeheuer so lange wie möglich aufzuhalten. Vielleicht bringt es Euch nur ein paar Stunden, vielleicht einen halben Tag. Aber ihr werdet wenigstens einige Eurer Untertanen retten können.«

Sie wandte sich an Cord. »Du und Donay – sucht euch die kräftigsten Drachen heraus und fliegt zum Hort zurück.«

»Und wenn er... ebenfalls angegriffen wird?« fragte Cord zögernd.

Kara wußte, daß dem nicht so war. Sie hatte den wahren Grund für die Invasion der Ungeheuer gesehen. »Dann gebt den Hort auf. Sie sollen alle Verwunde...« Sie brach mitten im Wort ab, als sie sah, daß Cord ihr gar nicht mehr zuhörte. Sein Blick war plötzlich auf einen Punkt hinter ihr gerichtet, und auf seinem Gesicht erschien ein Ausdruck, der eine Mischung aus Fassungslosigkeit und Furcht war.

Und als Kara sich herumdrehte, verstand sie ihn.

Über dem nördlichen Rand der Stadt waren zwei Libellen aufgetaucht. Sie flogen langsam, fast gemächlich, und unter ihren Rümpfen blitzten in regelmäßigen Abständen verschiedenfarbige Lichter auf: rot, grün, rot, grün, rot...

Großer Gott! dachte Kara. Ich habe die hierhergeführt! Sie mußten sie gesehen haben, als sie draußen über dem sterbenden Dschungel flog, und waren ihr gefolgt. Statt der Rettung hatte sie den Tod nach Schelfheim gebracht!

Aber die Libellen waren nicht gekommen, um der Stadt den Todesstoß zu versetzen, denn dann wären sie nicht nur zu zweit gekommen und hätten sich nicht jede erdenkliche Mühe gegeben, gesehen zu werden.

Einige Krieger wollten zu ihren Tieren rennen, aber Kara hielt sie zurück. »Wartet«, sagte sie. »Sie... wollen nicht... kämpfen.« Ihr Blick irrte nervös zu den drei Drachen hinauf, die über dem brennenden Stadtviertel kreisten. Zwei von ihnen hatten ihren Kurs geändert und versuchten, neben den Libellenmaschinen herzufliegen. Die Helikopter bewegten sich jedoch so langsam, daß die Tiere wahrscheinlich abgestürzt wären, hätten ihre Reiter versucht, ihre Geschwindigkeit den Maschinen anzupassen. So umkreisten sie die beiden viel kleineren Flugmaschinen ständig wie zwei Falken, die zum Angriff auf ein Taubenpärchen ansetzten. Kara signalisierte den Drachenkämpfern nicht einzugreifen, aber die beiden Krieger schienen auch so begriffen zu haben, daß es sich diesmal nicht um einen Angriff handelte.

Aber was war’ es dann?

Die Maschinen flogen sehr langsam in östliche Richtung an der Flammenwand entlang.

»Was tun die da?« fragte Cord. »Es sieht aus, als... suchten sie etwas.«

Kara begriff, was der Sinn dieser Demonstration war, noch bevor die beiden Libellen endgültig in der Luft still standen. Vor der lodernden Feuerwand wurden sie zu schwarzen Schemen, deren Konturen sich in den Tränen aufzulösen schienen, die das grelle Licht in Karas Augen trieb. Trotzdem erkannte sie einen dritten, viel größeren Schatten, der im Inneren der Feuerwand heranwuchs – und sie plötzlich durchbrach.

Es war nicht das erste Ungeheuer, das die Feuerbarriere überwand, aber wahrscheinlich bisher das größte – ein riesiges, gepanzertes Insektenwesen mit einem zweifach unterteilten Körper, der länger war als ein Haus, und mannsdicken, behaarten Beinen, unter deren stampfenden Schritten das Straßenpflaster zu Staub zerfiel. Das Feuer hatte eines seiner gewaltigen Facettenaugen geblendet, hier und da schwelte sein Panzer oder war von häßlichen Brandflecken bedeckt. Aber die Flammen hatten es nicht aufhalten können.

Die beiden Libellen hatten sich dem Ungeheuer bis auf dreißig oder vierzig Meter genähert. Der Kopf des Ungeheuers pendelte hin und her, als es versuchte, mit seinem einzigen verbliebenen Auge die beiden Angreifer zugleich zu beobachten.

»Was zum Teufel – ?« begann Gendik, und im gleichen Moment blitzte es grell unter den Köpfen der beiden Libellen auf. Eine Perlenkette aus Tausenden winziger giftgrüner Funken spannte sich für eine Sekunde zwischen den Libellen und der Dinosaurier-Ameise. Dann explodierte das Ungeheuer in einem grellen Blitz aus Flammen.

»Sie helfen uns?« murmelte Gendik. »Mein Gott, seht euch... seht euch das an – sie helfen uns!«

Kara warf ihm einen nachdenklichen Blick zu, schwieg aber ansonsten. Es machte im Grunde keinen Unterschied, ob die Verteidiger Schelfheims es nun mit einem Ungeheuer mehr oder weniger zu tun hatten. Und Gendik hatte nicht gesehen, was sie gesehen hatte auf der anderen Seite der Feuerbarriere. Aber der Sinn dieser Demonstration war so klar gewesen, daß sich jedes weitere Wort erübrigte.

Die beiden Libellen gewannen wieder an Höhe – und Kara war nicht überrascht, als sie nach einigen Augenblicken erkannte, daß sie direkt auf sie und die anderen zuhielten. »Cord, Donay«, flüsterte sie, ohne die beiden bizarren Gebilde aus den Augen zu lassen. »Verschwindet! Tut, was ich gesagt habe!«

»Aber – «

»Auf der Stelle! Zurück zum Hort. Wenn hier... irgend etwas passiert, dann hat Aires das Kommando.«

Die beiden entfernten sich gehorsam, und noch bevor die Libellen herangekommen waren, hörte Kara ein mächtiges Rauschen; ein gewaltiger Schatten legte sich über sie und die anderen, als die beiden Drachen abhoben und sich nach Osten wandten.

Die Männer wichen zu einem Halbkreis vor der Klippe zurück, während die beiden Libellen aufsetzten und der Sturmwind der Rotoren in ihre Gesichter schlug. Auch Kara schloß die Augen und drehte das Gesicht weg, widerstand aber der Versuchung, wie die anderen zwei, drei Schritte zurückzuweichen, obwohl ihr die kreischenden Sturmböen den Atem nahmen. Erst als das infernalische Heulen ebenso wie der künstliche Orkan zu verebben begannen, wagte sie es, den Kopf wieder zu drehen und die beiden Maschinen anzublicken.

Selbst jetzt, als sie wußte, daß sie nichts weiter als Maschinen waren, hatte ihr Anblick nichts von seiner unheimlichen Wirkung verloren. Die riesigen Rotoren mit ihren scharfgeschliffenen Kanten drehten sich wie tödliche Messer, und die Läufe der gläsernen Waffen glichen den tödlichen Stacheln wirklicher Riesenlibellen.

Hinter ihnen begannen sich einige der Drachen unruhig zu bewegen. Kara war nicht sicher, ob es Zufall war, oder ob die Tiere tatsächlich die Fremdartigkeit dieser Maschinen spürten. Sie verlängerte die Linie, die die Zwillingsläufe der beiden Geschütze bildeten, in Gedanken, und war nicht überrascht festzustellen, daß die Waffen auf die beiden am nächsten stehenden Drachen deuteten. Eine Sekunde lang fragte sie sich, ob diese beiden Maschinen allein wohl in der Lage waren, mit ihnen und ihren geflügelten Reittieren fertig zu werden. Noch vor zehn Minuten hätte sie diese Frage mit einem klaren Nein beantwortet. Aber dann dachte sie daran, mit welcher spielerischen Leichtigkeit die Libellen das Rieseninsekt vernichtet hatten. Entweder waren diese beiden Maschinen sehr viel besser bewaffnet als die, mit denen sie es bisher zu tun gehabt hatten, oder sie hatten die wahre Macht der Libellen bisher noch nicht zu spüren bekommen.

Die Rotoren der Maschinen kamen endgültig zur Ruhe, und im gleichen Moment verstummte auch das schrille Geräusch der Triebwerke. Kara überlegte, ob sie auf die beiden Libellen zugehen sollte, aber die Entscheidung wurde ihr abgenommen:

Lautlos klappten die durchsichtigen Kugelköpfe der Maschinen nach oben, und zwei Männer stiegen ins Freie. Sie trugen eine dunkelblaue, einteilige Uniform, die mit Schwarz abgesetzt war, und mattsilberne Helme, deren getönte Glasvisiere ihre Gesichter zur Hälfte verbargen. Sie kletterten ohne jedes Zögern heraus. Offensichtlich fühlten sie sich sehr sicher – und warum auch nicht? dachte Kara bitter. Sie waren zwar nicht unverwundbar, aber im Besitz von Körpern, die sie nach Belieben austauschen und erneuern konnten. Plötzlich wurde ihr bewußt, daß sie einen einzigen, winzigen Trumpf in diesem ungleichen Spiel besaß. Das Wissen um die einzig verwundbare Stelle dieser unheimlichen Angreifer von den Sternen.

Und sie war sehr froh, daß außer ihr, Donay und Cord – die sich schon zehn Meilen entfernt auf dem Rückflug zum Drachenhort befanden – niemand hier um das Geheimnis der Blaugekleideten wußte.

Ihr fiel auf, daß die beiden Männer unbewaffnet waren. Die Halfter an ihren breiten Instrumentengürteln waren leer; eine Geste, die ziemlich bedeutungslos war – es hätte ihnen auch nicht viel genutzt, bewaffnet hierher zu kommen.

Sie überwand endlich ihre Erstarrung und wollte etwas sagen, aber wieder kamen ihr die Fremden zuvor. »Du bist Kara?« fragte der eine Mann sie und löste den Blick seiner hinter getöntem Glas verborgenen Augen von ihrem Gesicht, noch ehe sie antworten konnte. »Wer von euch ist Gendik? Ist er hier?«

Kara war sehr sicher, daß er Gendik ebenso zweifelsfrei erkannt hatte wie sie selbst. Sie glaubte, das Vorgehen der Fremden allmählich zu durchschauen. Nichts von dem, was sie taten, war Zufall. Ihre Art, sich zu bewegen, die Fragen, die sie stellten, selbst die Ausdrücke auf ihren Gesichtern. Und sie würde sich diese Erkenntnis zunutze machen. Es war immer gut, ein wenig unterschätzt zu werden. Sie würde nicht den Fehler begehen und die Idiotin spielen, aber sich ein wenig dümmer anstellen, als sie war.

»Ich bin Gendik«, antwortete Gendik und trat mit zwei schnellen Schritten neben Kara. Sie wandte den Kopf und konnte sehen, wie sich Angst und eine kaum unterdrückte Hoffnung auf seinem Gesicht einen stummen Zweikampf lieferten. Er versuchte, gelassen und so unbeeindruckt auszusehen, wie Kara ihn fast immer erlebt hatte, aber es gelang ihm nicht. Seine Hände zitterten zu sehr.

»Ich bin Gendik«, wiederholte Gendik. »Wer seid ihr? Ihr habt uns geholfen. Wieso – «

»Unser Kommandant wünscht Euch zu sprechen«, unterbrach ihn der Fremde in einem Ton, der so beiläufig war, als rede er über das Gebell eines Straßenköters hinweg. Er deutete auf die noch immer offenstehenden Kanzeln der beiden Libellenmaschinen. Gendik zögerte.

»Wir garantieren für freies Geleit«, fuhr der Fremde fort. Mit der anderen Hand deutete er zuerst auf seinen Kameraden, dann auf sich. »Wir beide werden im Austausch für dich und das Mädchen hierbleiben.«

Gendik war offensichtlich noch immer nicht überzeugt; vielleicht hatte er auch einfach nur Angst vor der fremdartigen, bizarren Maschine. Auch Karas Herz begann etwas schneller zu schlagen. Obwohl sie ganz genau wußte, wie dumm dieser Gedanke war, erinnerte sie der Anblick der aufgeklappten, durchsichtigen Halbkugeln an aufgerissene Mäuler, die nur darauf warteten, daß sie so dumm waren, auch noch von selbst hineinzumarschieren. Und trotzdem war sie es, die nach einigen Augenblicken als erste ihr Zögern überwand und mit langsamen, aber festen Schritten auf die beiden stählernen Kolosse zuzugehen begann.

Umständlich nahm sie auf dem Sitz neben dem Piloten Platz; sie versuchte, sich daran zu erinnern, auf welche Weise Tess darauf festgeschnallt gewesen war, erhob aber keinen Einspruch, als der Pilot mit einem Arm über sie griff, die Gurte aus einer Vertiefung in der Wand über ihrem Kopf hervorzog und in ein kleines Schloß neben dem Sitz einrasten ließ. Sie versuchte, desinteressiert zu wirken, merkte sich aber das Funktionsprinzip des Mechanismus sehr genau.

Sie sah, wie Gendik endlich ihrem Beispiel folgte und die zweite Maschine ansteuerte, und sie sah gleichzeitig, wie unter den Kriegern eine merkliche Unruhe entstand. Rasch hob sie die Hand und signalisierte ihnen in der Zeichensprache der Drachenkämpfer, daß alles in Ordnung sei und sie nichts unternehmen sollten. Tatsächlich machte keiner der Männer einen Versuch, sie aufzuhalten oder gar die beiden Fremden anzugreifen. Kara hoffte, daß nichts geschah, bis sie zurück war – falls sie zurückkam. Eine kleine Unbedachtsamkeit, ein Fehler oder eine nachlässige Bemerkung, und die Drachenflieger würden diese beiden Männer töten.

Nach ein paar Augenblicken, die ihr wie eine Ewigkeit vorgekommen waren, hatte auch Gendik in der zweiten Maschine Platz genommen, und ebenso lautlos, wie sie sich geöffnet hatten, begannen sich die durchsichtigen Kugeln der Kanzeln wieder zu senken. Sie rasteten mit einem kaum hörbaren Klicken ein, und im selben Augenblick legte der Mann neben ihr eine Hand auf den Steuerknüppel der Maschine und betätigte mit der anderen rasch hintereinander ein paar Schalter. Die Triebwerke erwachten mit einem hellen, winselnden Geräusch zum Leben, und über Karas Kopf begann sich der dreiflügelige Rotor zu drehen, zuerst langsam, dann immer schneller, bis er zu einem wirbelnden Kreis aus Schatten und Lichtreflexen wurde. Das Geräusch der Triebwerke wurde lauter, doch nicht annähernd so laut, wie es sich draußen angehört hatte. Und obwohl Kara zu den sehr wenigen Bewohnern ihrer Welt gehörte, für die das Fliegen nicht nur nichts Ungewohntes darstellten, mußte sie sich doch erschrocken mit beiden Händen an ihren Sitz klammern, als die Libelle mit einem sanften Zittern abhob. Der Mann neben ihr wandte kurz den Kopf, und sie glaubte die Andeutung eines spöttischen Lächelns über sein Gesicht huschen zu sehen. Sie zog verärgert die Hände zurück und unterdrückte im letzten Moment den Impuls, die Arme nun vor der Brust zu verschränken. In einer Haltung, die Gelassenheit ausdrücken sollte, saß sie dann da und blickte mit einer Mischung aus Furcht und Faszination durch die Kuppel nach unten. Das braunschwarze Schachbrettmuster Schelfheims raste nur so unter ihnen dahin, eine Sekunde später blitzte eine dünne, orangerote Linie unter ihnen auf, dann lag der Schlund unter ihnen. Die Maschine wurde schneller und schneller, sank plötzlich tiefer und raste dann unterhalb der Wolkendecke des Schlundes dahin.

Es war eine völlig andere Art des Fliegens als die, die Kara bisher kannte. Plötzlich löste der Pilot eine Hand von seinem Steuer und betätigte ein paar Schalter vor sich. Das Heulen der Motoren wurde leiser, und eine Sekunde später bemerkte sie voller jähem Schrecken, daß die Rotoren über ihr aufgehört hatten, sich zu drehen. Die Libelle zitterte, begann für einige schreckliche Sekunden zu trudeln und an Tempo zu verlieren und beschleunigte dann mit einem Ruck, der Kara wie ein Faustschlag in den Sitz preßte und ihr die Luft nahm. Die Landschaft unter ihr wurde zu einem dahinrasenden Kaleidoskop, und selbst die Wolken über ihnen sprangen ihr entgegen wie in einem Alptraum, in dem sie das Verstreichen der Zeit hundertmal in den Himmel riß. Es hatte nichts mit dem majestätischen Dahingleiten auf dem Rücken eines Drachen zu tun; es war schlicht und einfach wider die Natur.

Der Mann neben ihr lächelte plötzlich. »Keine Angst, Kleines«, sagte er. »Uns kann nichts passieren.« Er wandte den Kopf.

»Wir fliegen ein bißchen schneller als eure mutierten Fledermäuse, nicht wahr?«

»Es ist wirklich sehr schnell«, erwiderte Kara gepreßt. »Können wir noch schneller fliegen?«

Zuerst wollte er antworten, dann jedoch zuckte er mit den Schultern und sagte nur: »Vielleicht«, ehe er sich wieder den Kontrollen seines Flugapparates zuwandte.

Karas Enttäuschung hielt sich in Grenzen. Was immer sie dort, wo sie hinflogen, auch erwarten mochte, sie glaubte nicht, daß es noch eine große Rolle spielte, ob sie diesem Mann ein paar Informationen mehr oder weniger entlocken konnte.

Etwas in der Welt unter ihr änderte sich. Das matte Grau des abgestorbenen Waldes wurde plötzlich zum Schimmern eines gewaltigen, blaugrauen Spiegels. Sie rasten über das neu entstandene Meer hinweg.

Da sie nicht einmal zu schätzen wagte, wie schnell sich die Libellenmaschine bewegte, konnte sie auch nicht sagen, welche Entfernung sie zurückgelegt hatten, als der Pilot ihre Geschwindigkeit endlich wieder drosselte. Aber wie weit es auch war es war auf jeden Fall zu weit, als daß sie diesen Ort mit ihren Drachen erreichen konnten.

Die Maschine wurde immer langsamer und verlor gleichzeitig an Höhe. Karas Blick tastete aufmerksam über die endlose Wüste aus Wasser. Sie sah nirgends eine Insel, einen Felsen oder auch nur ein Schiff, das ihr Ziel hätte sein können. Trotzdem wurde die Libelle weiter langsamer, sank auf hundert, dann auf fünfzig und endlich auf weniger als zehn Meter auf die Meeresoberfläche herab und verhielt schließlich auf der Stelle. Kara gewahrte einen Lichtreflex in der spiegelnden Kanzel vor sich und blickte zur Seite, wo die zweite Libelle schwebte, die Gendik transportierte.

Eine Welle kräuselte plötzlich das Wasser unter ihnen, dann eine zweite, dritte und vierte, die zu einer kreisförmigen Woge verschmolzen, Zuerst langsam, dann immer schneller werdend, entstand aus dem Nichts ein rasender Strudel unter den beiden Maschinen. Kara sah mit angehaltenem Atem zu, wie der Strudel wuchs, bis er zu einem gewaltigen Trichter geworden war, der hundert oder mehr Meter tief ins Meer hinabreichte: ein Schacht von kreisrundem Durchmesser, dessen Wände aus kochendem, von einem unsichtbaren Zauber gehaltenem Wasser bestanden. Und an seinem Grund war nicht der Fels des Meeresbodens, sondern das nasse Metall eines gewaltigen, buckeligen Gebildes, das dort lag. So riesig der Strudel auch war, enthüllte er doch nur den winzigen Teil eines stählernen Ungeheuers, das wie ein ertrunkenes Fabeltier in der Tiefe lauerte. Die Libellen begannen langsam hinunterzugehen, erreichten die Meereshöhe und glitten weiter hinab, aber Kara verschwendete keinen einzigen Blick auf die zischenden Wände des Strudels, dessen Anblick sie vor zehn Sekunden noch an ihrem Verstand hatte zweifeln lassen. Wie gebannt sah sie das ungeheuerliche Etwas an, das auf dem Grund des neu entstandenen Ozeans lag, und zum allerersten Mal glaubte sie, Elders Warnung wirklich zu verstehen. Sie hatten nicht im Ansatz begriffen, was er ihnen wirklich hatte sagen wollen. Es war nicht nur so, daß sie gegen einen hoffnungslos überlegenen Feind kämpften. Sie hatten nicht einmal gewußt, wogegen sie kämpften. Dieses... Ding war gewaltig, ein Berg aus Stahl, neben dem selbst der Drachenhort zu einem Nichts verblaßte. Rote, grüne und gelbe Lichter waren willkürlich über seine Oberfläche verteilt, und als sie tiefer sanken, erschien in einem der gewaltigen Buckel eine schmale Linie aus Licht, die rasch breiter wurde zweifellos die Schleuse, durch die die Libellen einfliegen würden. Für Kara war es das Maul eines unbeschreiblichen Dämons, der von den Sternen gekommen war, um ihre Welt zu verschlingen.

Die beiden Libellen glitten nebeneinander auf diese Öffnung zu. Im ersten Moment war Kara beinahe blind, als sie hindurchflogen, denn der dahinterliegende Raum war von gleißender Helligkeit erfüllt. Aber ihre Augen gewöhnten sich an dieses unnatürliche, weiße Licht, noch bevor die Libelle unweit des Eingangs aufsetzte und der Pilot die Motoren abschaltete, so daß sie ihre Umgebung zumindest in Schemen wahrnehmen konnte. Sie befanden sich in einem gigantischen Saal. Rechts und links von ihnen standen säuberlich aufgereiht Libellen. Zehn, fünfzehn, zwanzig... Insgesamt zählte Kara achtundvierzig Libellenmaschinen, die allein in diesem einzigen Buckel Platz gefunden hatten. Und sie war sicher, mehrere dieser häßlichen Auswüchse auf der Oberfläche des fremden Raumschiffes gesehen zu haben. Wie viele von diesen Mordmaschinen besaßen sie?

Die Kanzel öffnete sich, und Kara hatte sich nicht gut genug in der Gewalt, um nicht von sich aus nach dem Sicherheitsgurt zu greifen und das Schloß aufschnappen zu lassen, was ihr einen erstaunten Blick ihres Piloten einbrachte. Rasch kletterte sie aus der Maschine, sah sich eine Sekunde suchend um und eilte dann auf die zweite Libelle zu, aus deren Kanzel Gendik herauskletterte. Er gab sich jetzt keine Mühe mehr, das Zittern seiner Hände zu unterdrücken, und als er sich aufrichtete, wankte er.

»Was... was ist hier los?« flüsterte Gendik. Seine Augen waren so groß, als wollten sie aus den Höhlen hervorquellen, und seine Stimme war flach und dünn wie die eines alten Mannes, der kaum noch Kraft zum Sprechen hatte.

Aber erging es ihr viel anders? Ihr scheinbares Verstehen der Dinge ringsum, ihre Neugier, ja selbst der Zorn, den der Anblick der schlafenden Libellen erweckte, waren sie wirklich etwas anderes als hastig errichtete Schutzschilde, um sich nicht eingestehen zu müssen, daß auch sie halb verrückt vor Angst war? Eine der ersten Lektionen, die sie als junge Drachenkriegerin gelernt hatte, besagte, daß man nur einmal sterben konnte. Es spielte keine Rolle, ob man gegen einen nur leicht oder hoffnungslos überlegenen Gegner antrat. Das Entsetzen, das eine überlegene Waffe, ein gefährliches Raubtier oder ein einfach zahlenmäßig überlegener Gegner auslöste, war schädlich. Ihr wurde bewußt, daß seit Gendiks Frage eine gute Minute verstrichen war und daß sie ihm nicht nur nicht geantwortet, sondern die ganze Zeit aus geweiteten Augen um sich geblickt hatte. Sie bemerkte eine Bewegung und sah, daß sich im hinteren Ende der Halle eine kleinere Tür geöffnet hatte und drei blauuniformierte Männer herausgetreten waren, die nun mit schnellen, aber nicht hastigen Schritten auf sie zukamen. »Das, Gendik«, sagte sie so ruhig sie konnte, »ist der Thron der Libellen.«

Загрузка...