14

Der Strahl des starken Handscheinwerfers, von dem Elder behauptet hatte, er reiche eine halbe Meile weit, verlor sich unter ihr in der Tiefe, ohne irgend etwas anderes als wirbelnden Staub zu zeigen. Dann und wann glitt das bleiche, kalte Licht über Stufen, die im Nichts endeten, tastete über Türen, die in das gigantische Labyrinth des unterirdischen Schelfheim hineinführten, oder verlor sich in völliger Dunkelheit, wenn es durch einen der gewaltigen Hohlräume glitt, die es unter der Stadt gab. Manche von ihnen mußten groß genug sein, um allein eine kleine Stadt aufzunehmen. Niemand hatte bisher von der Existenz dieser ungeheuerlichen Höhlen gewußt, denn sie lagen tiefer in den steinernen Eingeweiden Schelfheims, tiefer als je ein Mensch vorgedrungen war.

Aber Kara war im Moment einzig daran interessiert, an das Ende des Lochs zu geraten. Wenn die Angaben stimmten, die Elder ihr regelmäßig über Funk durchgab, dann befanden sie sich mittlerweile zwei Meilen unter dem Straßenpflaster. Zwei Meilen... aber unter ihr gähnte nur Leere! Vielleicht führte dieses Loch tatsächlich geradewegs in die Hölle. Was sie allerdings nicht daran hindern würde, es bis zu seinem Ende zu erkunden, und wenn sie bis zur anderen Seite der Welt an diesem Seil hinabgleiten mußte! Sie würde Angella finden, ganz egal, wo und wann.

Zuerst an den seidenen Fäden dreier Transporter, dann über den Gang, den sie bereits kannte, waren sie selbst, Hrhon und Elder zu jenem unheimlichen Saal eine halbe Meile unter der Stadt geeilt. Beinahe allerdings wären sie abgestürzt, denn fast die gesamte gewaltige Halle war in den ungeheuerlichen Schlund geglitten. Und von Angella, Weller und den vier Männern, die in ihrer Begleitung gewesen waren, fehlte jede Spur. Trotzdem war Kara überzeugt, daß Angella noch lebte.

Sie hatte sogar einen Beweis dafür; oder zumindest doch etwas, von dem sie behaupten konnte, daß es ein Beweis war:

Der winzige Rufer an ihrem Hals, der auf die gleiche gedankliche Frequenz eingestellt war wie der Angellas und Wellers, regte sich von Zeit zu Zeit. Wenn schon nicht Angella, so war zumindest ihr Rufer noch am Leben.

Natürlich hatte Elder versucht, sie von ihrem Vorhaben abzubringen. Worauf Kara sich aber nicht eingelassen hatte; sie hatte sich lediglich bereit erklärt, seine Hilfe anzunehmen. Ob das fingerdicke Drahtseil, an dem sie hing, tatsächlich sicherer war als der Spinnenfaden eines Transporters, wußte sie nicht. Aber der Scheinwerfer erwies sich als recht nützlich. Kara war im Moment in einer Verfassung, in der sie jede Hilfe gebrauchen konnte; selbst die verpönte Technik.

Sie hatte eine unvorsichtige Bewegung gemacht und begann sich prompt am Ende des Kabels um ihre Achse zu drehen. Sehr behutsam versuchte sie, die Drehung abzufangen, und nach einer Weile gelang es ihr. Erleichtert atmete sie auf. Es war nicht nur das unangenehme Gefühl, sich wie ein lebender Kreisel hilflos herumzudrehen. Elder hatte sie gewarnt: am Ende eines zwei oder drei Meilen langen Kabels konnte jede unvorsichtige Bewegung sie mit Wucht gegen die Schachtwand schleudern. In ihrem Ohr knackte es, und Kara fuhr erschrocken zusammen, noch ehe Elders Stimme aus dem Funkgerät drang. Sie würde sich nie daran gewöhnen, diese Dinger zu tragen. »Alles in Ordnung, Kara?«

Sie hob vorsichtig den Kopf und blickte in die undurchdringliche Schwärze über sich. Das Tageslicht war schon vor Stunden zu einem münzgroßen Fleck über ihnen zusammengeschrumpft und danach erloschen. Obwohl Elder kaum fünf Meter über ihr schwebte, konnte sie ihn nur als Schemen erkennen. Er konnte sie offenbar deutlicher ausmachen. »Sicher«, antwortete sie. Es ärgerte sie, daß Elder Zeuge ihres kleinen Patzers geworden war.

»Gut«, sagte Elder. »Aber sei vorsichtig, ja?«

Kara runzelte die Stirn und ersparte sich eine Antwort. Statt dessen konzentrierte sie sich lieber auf das, was unter ihr lag. Wie tief war dieses verdammte Loch? Sie wünschte sich, eine Sucher-Fledermaus dabei zu haben, die sie vorausschicken konnte. Aber wahrscheinlich gab es so etwas in ganz Schelfheim nicht.

Vorsichtig hob sie die Hand und berührte eine Taste des winzigen Kästchens, das vor ihrem Kinn befestigt war. In ihrem Ohr erscholl ein Knacken, als schnippe jemand mit dem Zeigefinger gegen ihr Trommelfell.

»Hrhon?«

»Jha?« fragte die Stimme des Waga in ihrem Ohr. Sie klang gepreßt – als unterdrücke Hrhon mit letzter Kraft seine Angst. »Alles in Ordnung?«

»Nhein«, antwortete Hrhon. »Nhihsss ihssst ihn Ohrdhnunhngh. Ihsss whill ehndhlhisss whidher fhessthen Bodhen uhnther dhen Fhüssshen!«

»Dann beiß doch dein Seil durch und flieg schon mal voraus«, mischte sich Elders Stimme in das Gespräch. Ernst fügte er hinzu: »Haltet Funkdisziplin!«

»Gern«, antwortete Kara. »Wenn du mir erzählst, was das ist.«

Elder seufzte. »Jemand könnte mithören.«

Das zumindest war bei einem Rufer nicht möglich, dachte Kara. Sie mußte an den Fremden denken, der sie um ein Haar getötet hätte. Wenn das kleine Kästchen an seinem Gürtel, das sie zerschlagen hatte, wirklich ein Dämpfer gewesen war, dann verfügten diese Männer vielleicht noch über ganz andere Schätze aus der Trickkiste der Alten Welt. Sie mußten aufpassen.

Gute zehn Minuten glitten sie weiter durch die Dunkelheit, dann sagte Elder plötzlich: »Da unten ist etwas.«

Kara preßte angestrengt die Augen zusammen, aber sie sah nichts. Der Scheinwerferstrahl verlor sich noch immer in sechsoder siebenhundert Metern unter ihr in einer Schwärze, die fast stofflich zu sein schien. »Da ist nichts«, sagte sie.

»Mein Trigger zeigt etwas an«, beharrte Elder. Mochten die Götter wissen, was nun wieder ein Trigger war. »Da bewegt sich etwas. Aber das...« Er erschrak hörbar. »Das ist unmöglich!« keuchte er.

»Wieso?«

»Anderthalb Meilen!« stöhnte Elder.

»Und?« fragte Kara. »Es ist ein tiefes Loch.«

»Das wäre eine Meile unter dem Schlund!« sagte Elder. »Wir sind fast auf dem Meeresgrund, aber dieses Loch reicht noch viel tiefer.«

»Oh«, brachte Kara nur hervor.

»Da unten ist etwas«, fuhr Elder nach einer Weile fort. »Ich kann es nicht genau erkennen. Zehn, vielleicht auch fünfzehn...«

»Fünfzehn was?«

»Blips.«

»Aha«, sagte Kara.

»Du schaltest besser den Scheinwerfer aus. Sie könnten das Licht sehen, lange bevor wir sie sehen«, sagte Elder. Kara gehorchte.

Der Scheinwerferstrahl, so dünn und blaß er gewesen war, hatte immerhin noch einen letzten Schutz vor dieser fürchterlichen Schwärze geboten. Jetzt glitt sie völlig orientierungslos durch die Dunkelheit. Sie kam sich hilflos und furchtbar verloren vor. Für Augenblicke mußte Kara mit aller Macht gegen die Panik ankämpfen, die nun sie zu überwältigen drohte. Es war nicht die Abwesenheit von Licht, es war ein unsichtbares Ding, das sie packen und zerreißen würde, unweigerlich, und... Sie zwang sich mit aller Kraft, den Gedanken zu vertreiben und die Panik zurückzudrängen.

Für beinahe eine halbe Stunde glitten sie schweigend immer weiter in die Tiefe. Sie wagten es nicht einmal, die Funkgeräte zu benutzten.

Sie mußten sich noch zwei- oder dreihundert Meter über dem Boden befinden, wenn Karas Einschätzung richtig war, als sie plötzlich einen flüchtigen Eindruck von Bewegung unter sich erhaschte – und einen Moment darauf einen grünen, unglaublich dünnen Faden aus Licht sah, der wie ein leuchtender Finger zu ihnen hinauftastete. Geblendet schloß sie die Augen und hörte einen gellenden Schrei über sich. Erschrocken blickte sie hoch.

Der Lichtfaden hatte eine der Gestalten über ihr getroffen. Sie konnte nicht erkennen, wer es war, denn der Mann brannte lichterloh. Kreischend warf er sich hin und her, dann riß sein Seil, und er stürzte wie eine lebende Fackel an ihnen vorbei in die Tiefe. Seine Schreie hörten plötzlich wie abgeschnitten auf, aber der lodernde Flammenschein war noch sekundenlang zu sehen, ehe er erlosch.

Das grüne Licht flammte zum zweiten Mal auf und traf mit tödlicher Präzision sein Ziel, und in die gellenden Schreie des Mannes über ihr mischte sich Elders überschnappende Stimme. »Um Gottes willen! In Deckung!«

In Deckung? dachte Kara, die selbst einer Panik nahe war. Wie sollten sie in Deckung gehen? War Elder völlig übergeschnappt?

Die Schreie des unglücklichen Mannes über ihr verstummten, aber sein Seil riß nicht ab. Im flackernden Feuerschein des lichterloh brennenden Körpers sah Kara, wie Elder mit raschen, ruckhaften Bewegungen am Seil zu zerren begann, so daß er sich wild im Kreise drehte. Sie begriff rechtzeitig genug, warum er das tat, und machte es ihm nach, denn der nächste Schuß war auf sie gezielt. Der grüne Lichtblitz verfehlte sie so knapp, daß sie das elektrische Knistern der Luft hören konnte. Immer heftiger warf sie sich hin und her. Ein zweiter Lichtblitz tastete nach ihr und verfehlte sie erneut, dann sah sie die Wand des Schachtes auf sich zurasen und konnte noch die Knie an den Körper ziehen, um dem Aufprall wenigstens die ärgste Wucht zu nehmen. Trotzdem hatte sie das Gefühl, ihr würden die Beine zerschmettert werden. Sie schrie vor Schmerz, hielt sich aber instinktiv irgendwo fest und brachte es sogar fertig, nicht wieder von der Wand zurückgeschleudert zu werden. Etwas schnitt ihr tief in ihre Hände. Sie spürte ihr eigenes Blut warm und klebrig über ihre Finger rinnen, biß die Zähne zusammen und klammerte sich nur noch fester an ihren Halt, und in diesem Moment zischte der grüne Lichtfaden ein drittes Mal aus der Tiefe und kappte ihr Seil kaum einen Meter über ihrem Kopf.

Kara rutschte schlagartig ein Stück weit nach unten und keuchte ein zweites Mal vor Schmerz, als das rotglühende Ende des durchtrennten Drahtseils wie eine Peitsche auf ihren Rücken schlug. Aber sie ließ nicht los. Und wenn sie es tat, war sie verloren.

Wahrscheinlich wäre sie auch so abgestürzt, hätte nicht plötzlich eine Hand nach ihrem Arm gegriffen und sie mit einem einzigen, kräftigen Ruck nach oben gezerrt. Fels schrammte über ihre Hüftknochen, dann wurde sie in einen niedrigen, muffig riechenden Korridor hineingezerrt und sank keuchend zu Boden. Mit letzter Kraft drehte sie den Kopf und blickte in den Schacht hinaus. Der Tote am Ende des Seiles brannte noch immer, und der Feuerschein tauchte die Szene in ein unheimliches, flackerndes Licht.

Nachdem Elder und sie sich aus der Schußlinie gebracht hatten, konzentrierte sich das grüne Feuer auf Hrhon. Der Waga zappelte brüllend am Ende seiner drei Meilen langen Sicherheitsleine und versuchte gleichfalls, Elders Manöver nachzuahmen, wozu er sich allerdings nicht geschickt genug anstellte. Immerhin erschwerte es dem unsichtbaren Schützen in der Tiefe sein Geschäft. Zwei-, dreimal stach der grüne Blitz vergebens nach ihm. Dann änderte der Schütze seine Taktik und kappte schlicht und einfach Hrhons Seil. Mit einem gellenden Schrei stürzte der Waga in die Tiefe.

Kara schloß entsetzt die Augen, Aber sie gestattete sich nicht, den Schmerz an sich herankommen zu lassen, sondern richtete sich sofort wieder auf und starrte Elders Umriß in der Dunkelheit vor sich an.

»Was ist das?« flüsterte sie.

»Wer ist das, Elder?!«

Elder zuckte mit den Schultern, kroch auf Händen und Knien zurück zum Ende des gemauerten Tunnels, in dem sie Zuflucht gefunden hatte, und steckte behutsam den Kopf ins Freie. Allerdings nur, um ihn hastig wieder zurückzuziehen, denn beinahe augenblicklich zuckte wieder das grüne Feuer aus der Tiefe empor und schlug Funken in die Felswand.

»Ich weiß es nicht«, murmelte er. »Aber wer immer sie sind, sie können im Dunkeln sehen.« Kara wagte es nicht, gleichfalls einen Blick in die Tiefe zu riskieren. »Sie haben Hrhon umgebracht! Und Farin!«

»Und einen meiner Männer«, versetzte Elder ärgerlich. »Aber was soll ich jetzt tun? Mich aus purer Sympathie erschießen lassen?«

Kara deutete anklagend auf den Laser in seinem Gürtel. »Du hast eine Waffe! Warum wehren wir uns nicht?«

»Weil ich nicht im Dunkeln sehen kann!« erwiderte Elder gereizt. Dann seufzte er. Mit einer müden Bewegung zog er den Laser aus dem Gürtel und drehte ihn in den Händen.

»Ich weiß nicht einmal, ob das Ding so weit schießt«, gestand er. »Außerdem wäre es Selbstmord, auch nur eine Sekunde über den Felsrand zu blicken. Ich fürchte, wir sitzen hier fest.«

»Was soll das heißen?« fragte Kara alarmiert.

Elder lächelte humorlos und machte eine Geste auf die Wand hinter Kara. »Sieh dich doch mal um!«

Kara zog erschrocken die Luft zwischen den Zähnen ein. Sie hatte angenommen, daß sie sich in einem jener endlosen Tunnel befanden, die es unter der Stadt gab. Aber der Stollen, den sie erwischt hatten, endete nach ein paar Schritten vor riesigen Felsblöcken.

»Und was tun wir jetzt?« fragte Kara mutlos.

Elder zuckte nur mit den Schultern. »Warten«, sagte er. »Früher oder später werden sie merken, daß irgend etwas nicht stimmt, und nachsehen kommen.«

»Und wann wird das sein?«

Elder grinste. »Ich schätze, in sechs oder sieben Stunden.«

»Sechs oder sieben Stunden?!« Kara ächzte. »In diesem Loch?«

»Keine Sorge.« Elder hob beruhigend die Hand. »So lange werden wir nicht hier aushalten müssen.« Er machte eine Kopfbewegung zum Ausgang. »Ich denke, unsere Freunde werden sehr viel früher hier auftauchen und nachschauen, ob wir noch am Leben sind.«

»Deine sonderbare Art von Humor geht mir ein wenig auf die Nerven, Elder«, sage Kara.

Sie erntete ein weiteres, noch breiteres Grinsen und schluckte ihren Ärger wie eine bittere Flüssigkeit hinunter. Elder hatte vermutlich recht – die Männer, die auf sie geschossen hatten, mußten wissen, daß sie noch am Leben waren. Und sie würden etwas dagegen unternehmen.

»Was ist damit?« Sie deutete auf Elders Funkgerät. »Warum benutzt du dieses Wunderding nicht und rufst Hilfe?«

»Durch drei Meilen Erdreich und Fels hindurch?« Elder schüttelte den Kopf. »Keine Chance.«

»Da siehst du, wie weit du mit deiner famosen Technik kommst«, erwiderte Kara verärgert. Sie gab sich Mühe, das Wort möglichst abfällig auszusprechen. »Wenn man sie einmal wirklich braucht, funktioniert sie nicht!«

Elder hielt es nicht einmal für nötig, darauf zu antworten. Eine ganze Weile saßen sie schweigend im Dunkeln nebeneinander. Kara versuchte, sich über ihre eigenen Gefühle klarzuwerden. Sie hatte keine Angst vor dem, was kommen würde. Ganz im Gegenteil war ihr der Gedanke, vielleicht wenigstens im Kampf zu sterben, sehr viel weniger unangenehm als die Vorstellung, von einem grünen Lichtblitz aus der Dunkelheit getroffen und in eine lebende Fackel verwandelt zu werden. Doch sie verspürte Zorn. Einen unbändigen, brodelnden Zorn, so heftig, daß sie ihn beinahe wie einen körperlichen Schmerz empfand.

»Verdammt, ich will nicht hier herumsitzen und warten, bis ich abgeschlachtet werde!« sagte Kara aufgebracht. »Wir müssen etwas – «

»Still!« Elder brachte sie mit einer hastigen Handbewegung zum Verstummen und richtete sich auf. Ein gebannter Ausdruck erschien auf seinem Gesicht.

»Was ist?« fragte Kara. Auch sie lauschte, hörte aber nichts. »Ich weiß nicht«, antwortete Elder. »Jemand... kommt.«

Kara lauschte wieder, ohne irgend etwas wahrzunehmen. Sie beschloß, sich einfach darauf zu verlassen, daß Elder über ein besseres Gehör verfügte als sie. Was hatte sie auch zu verlieren, außer ihrem Leben?

Nach einigen Augenblicken hörte sie dann aber ein sonderbares Kratzen und Schaben, als krieche etwas an der Wand unter ihnen empor. Vor Karas innerem Augen entstand das Bild einer riesigen stählernen Spinne, die langsam aber unaufhaltsam an der Wand heraufkrabbelte...

»Der Scheinwerfer«, flüsterte Elder. »Schalt ihn ein, sobald sie auftauchen. Vielleicht blendet sie das Licht.«

»Bestimmt nicht«, murmelte Kara. Trotzdem löste sie den klobigen Handscheinwerfer von den dünnen Lederriemen, mit denen er vor ihrer Brust befestigt war, und richtete ihn wie eine Waffe auf den Tunnelausgang. Ihr Finger strich nervös über den Schalter, aber sie widerstand der Versuchung, ihn jetzt schon zu drücken.

Das Kratzen und Schaben kam näher, dann erschien ein buckeliger Schatten vor dem Tunnel. Kara schaltete den Scheinwerfer ein.

Im allerersten Moment, als sich das gleißende Licht schmerzhaft reflektierte, erkannte sie kaum etwas. Vor ihnen ragte ein großes, kantiges Etwas hervor, dessen metallen schimmernde Oberfläche das Licht des Scheinwerfers so heftig zurückwarf, daß es Kara fast die Tränen in die Augen trieb.

Das Ding reichte ihnen wahrscheinlich nur bis zu den Knien, hatte aber einen Durchmesser von gut eineinhalb Meter und tatsächlich ein gutes Dutzend Beine, von denen die meisten in gebogenen Widerhaken endeten, mit denen es sich an der Wand festgeklammert hatte. Es ähnelte eher einer Krabbe als einer Spinne, es hatte lange, rasiermesserscharfe Scheren und glotzende Augen aus rotem Kristall, in denen sich das Licht des Scheinwerfers widerspiegelte, als glühten sie in einem unheimlichen, inneren Feuer. Zwischen den beiden faustgroßen Glotzaugen ragte ein kurzes Rohr heraus, das den Durchmesser von Karas kleinem Finger hatte.

»Paß auf!« schrie Elder mit überschnappender Stimme, und im gleichen Moment ertönte ein ratterndes Dröhnen; eine orangerote, unterbrochene Stichflamme zuckte aus dem Rohr der Metallkrabbe, und der Scheinwerfer vor ihrer Brust zersprang mit einem lauten Plink!

Kara krümmte sich vor Schmerz und fiel auf den Rücken, während rings um sie herum ein Kreischen und Dröhnen los brach: eine Reihe fürchterlicher, betäubender harter Schläge traf ihr rechtes Bein, die rechte Seite ihres Körpers und den Arm, welche der Krabbe zugewandt waren. Gleichzeitig begann Elders Körper wild zu zucken, wie eine Marionette, deren Fäden sich verheddert hatten, und von einer unsichtbaren Hand wurde er gegen die Wand und zu Boden geschleudert. Dann hörte das Dröhnen auf; so plötzlich wie es begonnen hatte. Kara lag auf dem Rücken, hilflos und gelähmt vor Schmerz, aber mit offenen Augen. Die Krabbe hockte vor ihr und starrte sie aus ihren faustgroßen Kristallfacetten an. Aus dem kurzen Rohr in ihrem Schädel kräuselte sich grauer Rauch. Kara erkannte, was sie getroffen hatte. Rings um sie herum bedeckte eine Unzahl kleiner, deformierter Kugeln den Boden;

Geschosse, die nicht tödlich wirkten. Aus irgendeinem Grund wollten die Unbekannten Elder und sie lebend in die Hand bekommen, wenn möglich allerdings bewußtlos.

Zumindest in Elders Fall hatte es geklappt. Er lag reglos neben ihr, aber wenigstens atmete er noch.

Und sie?

Die Schläge waren so hart gewesen, daß ihre Muskeln verkrampft und paralysiert waren. Sie hatte kaum Schmerzen und konnte sich nicht bewegen. Der Gedanke an Widerstand, der ihr immer noch durch den Kopf schwirrte, war völlig sinnlos geworden.

Die Krabbe kroch auf rasselnden Beinen näher. Ihre gläsernen Augen starrten Kara an. Eine ihrer riesigen Scheren bewegte sich, tastete erstaunlich behutsam über Karas Gesicht und verharrte einen Moment außerhalb ihres Gesichtsfeldes. Dann spürte Kara einen heftigen, aber rasch abklingenden Schmerz. Und als sie die Schere wieder hob, hielt sie Überreste eines winzigen Insekts: Karas Rufer.

Die Krabbe kroch zurück, drehte sich auf der Stelle und untersuchte auch Elder sehr sorgfältig, und dann kroch sie fast behäbig zum Schacht zurück. Sechs ihrer zwölf Beine krallten sich weit gespreizt in den Fels, während sie sich so weit vorbeugte, daß das vordere Drittel ihres flachen Metallkörpers über den Abgrund hing. Dann erstarrte sie.

Kara wußte nur zu gut, was geschah. Auf ihre stumme Art und Weise trat die Krabbe mit denen in Verbindung, die sie geschickt hatten, und in wenigen Augenblicken würden sie selbst kommen. Und das Schicksal, das Kara erwartete, war schlimmer als der Tod, davon war das Mädchen überzeugt. Sie mußte etwas tun. Unbedingt!

Doch die Krabbe mußte eine teuflische Waffe eingesetzt haben. Karas Muskeln waren so hart und gefühllos wie Holz. Panik drohte sie zu überwältigen. Der Verzweiflung nahe versuchte sie sich in Erinnerung zu rufen, was Angella ihr beigebracht hatte. Der Schock, der die rechte Hälfte ihres Körpers paralysiert hatte, schien sich auch auf ihr Denken auszuwirken. Versuch nicht, dagegen anzukämpfen! Stell dich dem Schmerz, nimm ihn an wie einen Freund und verwandele ihn in etwas, das dir hilft – Zorn, Wut, Trauer, ja, auch Angst! Verwandele ihn! Richte ihn gegen sich selbst! Benutze ihn!

Sie versuchte es. In ihrem linken Arm war wieder ein wenig mehr Leben, aber noch immer nicht genug, um auch nur die Hand zu heben. Kara zählte: fünf, zehn, dreißig... wieviel Zeit hatte sie noch? Egal, sie kämpfte weiter, zwang das Leben zuerst in ihre linke Körperhälfte und dann Stück für Stück in die rechte zurück und jubilierte, als ein krampfhaftes Zucken durch ihre gelähmten Muskeln lief; nicht heftig genug, um die Aufmerksamkeit der Krabbe zu erwecken, aber allemal ausreichend, ihr die Tränen in die Augen zu treiben.

Durch dunkle Schleier hindurch betrachtete Kara die Krabbe. Sie war ein Stück weiter gekrabbelt und hing fast zur Hälfte über dem Abgrund. Kara beschloß, ihre zurückgewonnenen Kräfte auszuprobieren, wappnete sich gegen den erwarteten Schmerz und trat mit aller Gewalt zu. Ihr Fuß traf die Krabbe, katapultierte sie einen halben Meter weit ins Nichts hinaus, wo sie den Bruchteil einer Sekunde schwerelos hängenzubleiben schien, ehe sie mit einer fast anmutig erscheinenden Bewegung nach vorn kippte und in der Tiefe verschwand.

Kara biß die Zähne zusammen, richtete sich mit einem Stöhnen auf und begann ihre gelähmte Arm- und Beinmuskulatur zu massieren, so gut sie es mit einer Hand vermochte. Sie hatte keine Ahnung, wieviel Zeit ihr blieb – aber viel war es bestimmt nicht. Selbst wenn ihre Feinde die artistischen Kunststücke der Krabbe beobachtet hatten und ihren Absturz für einen Unfall hielten, würden sie sehr schnell heraufkommen und nach dem Rechten sehen. Oder eine zweite Krabbe schicken, deren Maschinengewehr vielleicht nicht mit Hartgummigeschossen geladen war.

Dieses Risiko mußte sie eingehen.

Sie massierte wie besessen ihren Arm und das rechte Bein. Den Gedanken, Elder irgendwie aufzuwecken, gab sie schon nach dem ersten Blick in sein schlaffes Gesicht auf. Sie würde allein zurechtkommen müssen.

Es war noch keine Minute vergangen, als sie ein hohes, unangenehmes Summen hörte. Ein bleicher, gelbgefärbter Lichtstrahl tastete über die Tunnelöffnung. Kara erstarrte. Ihre Gedanken überschlugen sich, dann tat sie instinktiv das einzig Richtige: Sie sank zu Boden und spielte die Bewußtlose. Das Summen wurde lauter, und dann kehrte das gelbe Licht zurück und richtete sich auf ihr Gesicht und ihre halb geschlossenen Augen. Sie wagte es nicht zu blinzeln, deshalb ertrug sie den Schmerz, den ihr die grellen Lichtpfeile zufügten, die ihre Netzhaut trafen. Nach einem Augenblick löste sich der Lichtstrahl von ihrem Gesicht und wandte sich Elder zu.

Kara konnte zwei hoch aufgerichtete Schatten draußen vor dem Tunnel erkennen. Es waren zwei Männer, die in einteilige, fremdartig anmutende Kleider gehüllt waren. Ihre Gesichter verbargen sich hinter gebogenen Scheiben aus rauchfarbenem dunklen Glas, das alles bis auf die Mund- und Kinnpartie bedeckte, und auf den Köpfen trugen sie buckelige Helme, aus denen jeweils zwei kurze Antennen ragten. Der eine führte ein schweres Gewehr mit sich, dessen Lauf aus Glas zu bestehen schien, der zweite hielt den Scheinwerfer, mit dem er in den Gang hineinleuchtete. Aus ihren Gürteln ragten die Kolben schwerer Laserpistolen. Und sie schienen einen halben Meter vor dem Tunnelende einfach in der leeren Luft zu stehen!

Der Scheinwerferstrahl kehrte noch einmal zu ihr zurück und wandte sich dann erneut Elder zu. Offensichtlich hielten die beiden ihn für den gefährlicheren Gegner.

Ein Irrtum, den zu berichtigen Kara ihnen keine Zeit mehr ließ.

Sie sprang den Burschen mit der Lampe an, als er das Bein hob und mit einem übertriebenen großen Schritt in den Tunnel hineinspringen wollte. Ihre Bewegung kam völlig überraschend: sie packte ihn, zerrte ihn mit einem harten Ruck zu sich herunter und versetzte ihm einen Schlag mit der flachen Hand auf die Kehle. Noch während er keuchend neben ihr zusammenbrach, wirbelte sie herum und ergriff den zweiten Mann. Mit einem harten Ruck drückte sie ihn gegen die Felswand neben dem Tunneleingang. Glas splitterte. Sie hörte einen gurgelnden Schrei, ließ los und sah, wie der Fremde zurücktaumelte und beide Hände vor das Gesicht schlug. Blut und Glassplitter rieselten zwischen seinen Fingern hervor. Er stolperte zurück, trat plötzlich ins Leere und stürzte, ohne daß ihm ein Schrei über die Lippen kam.

Ein Geräusch hinter ihr warnte sie. Sie fuhr herum, riß die Arme hoch und vollführte eine instiktive Ausweichbewegung zur Seite. Trotzdem wäre ihre Reaktion zu spät gekommen, hätte der Mann sie angesprungen, um sie in die Tiefe zu stoßen. Statt dessen versuchte er, seine Waffe zu ziehen.

Kara trat sie ihm aus der Hand, kaum daß er sie aus dem Halter gezogen hatte, riß ihn mit der linken Hand zu sich heran und rammte ihm das Knie in die Rippen.

Der Fremde mußte eine Panzerung unter seiner Montur tragen, denn ein stechender Schmerz schoß durch ihr ohnehin malträtiertes Bein. Die Wucht des Stoßes ließ den Burschen gegen die Wand torkeln, aber er schleuderte ihn weder zu Boden noch nahm er ihm den Atem.

Er blieb einen Moment lang reglos stehen und betrachtete sie verblüfft durch das getönte Glas vor seinem Gesicht. Als er sich dann wieder bewegte, tat er es auf eine Art, die Kara verriet, daß er in einer Kampftechnik ausgebildet war. Voller Unbehagen dachte sie an die beinahe tödliche Überraschung, die sie vor drei Tagen in Schelfheim erlebt hatte. Unwillkürlich glitt ihre Hand zum Schwert. Aber sie zog die Waffe nicht. Der Stollen war einfach zu eng, die Klinge hätte sie nur behindert. Der andere schien ihr Zögern bemerkt zu haben, denn er stürzte plötzlich vor, um sie einfach über den Haufen zu rennen. Kara wich ihm im letzten Moment aus und streckte das Bein vor, um ihn ins Stolpern zu bringen, aber der Mann sprang mit einer fast eleganten Bewegung darüber hinweg und versetzte ihr aus dem Sprung heraus einen Tritt, der ihr das Gefühl gab, ihr Wadenbein wäre gebrochen.

Kara schrie auf, taumelte zur Seite und nutzte die Zeit, die der Mann brauchte, sich an der gegenüberliegenden Wand abzustoßen und herumzuwirbeln, um sich eine neue Taktik zu überlegen. Sie zitterte am ganzen Leib. Jeder Muskel ihres Körpers tat ihr weh, und ihre Bewegungen waren längst nicht mehr so geschmeidig und kraftvoll wie gewohnt. Sie konnte sich auf keinen langen Kampf mit diesem Burschen einlassen; nicht in ihrem Zustand.

Als er das nächste Mal heranstürmte, machte sie erst gar nicht den Versuch, ihm auszuweichen, sondern empfing ihn mit einer blitzschnellen Kombination aus drei fast gleichzeitig erfolgenden Hieben und Stößen, die er alle drei beinahe mühelos abwehrte. Dann erwischte ihn ein Schlag am Knie, den er nicht kommen gesehen hatte. Er schrie. Kara packte seinen vorgestreckten Arm und zerrte gleichzeitig mit aller Kraft das Schwert aus der Scheide. Dann krachte der stählerne Knauf auf die Brust des Mannes. Ob Panzer oder nicht – diesmal weiteten sich seine Augen vor Schmerz. Keuchend stieß er die Luft aus. Kara zerrte ihn erneut zu sich heran und ließ seinen Körper über ihre plötzlich eingeknickte Hüfte abrollen. Der Bursche verlor den Boden unter den Füßen und prallte mit fürchterlicher Wucht auf den Fels.

Kara taumelte. Alles drehte sich um sie. Noch Momente, dann würde ihr schwarz vor Augen werden. Doch noch hatte sie ihre Arbeit nicht erledigt. Als der Mann es schaffte, sich vor dem Tunnelausgang wieder aufzurichten, sprang sie ihn an. Ihre vorgestreckten Füße stießen gegen seine Brust und ließen ihn mit wild rudernden Armen nach hinten torkeln.

Und hinter ihm war nichts als Leere.

Kara hatte nicht mehr die Kraft, ihren Sturz aufzufangen. Mit schmerzhafter Wucht prallte sie auf den harten Fels, zerschrammte sich Hände und Gesicht und kämpfte verzweifelt gegen die schwarze Bewußtlosigkeit, die in ihr emporkroch. In ihren Ohren gellte der Todesschrei des Mannes, der durch die düstere Tiefe glitt.

»Und das war für Hrhon«, murmelte sie, bevor ihr endgültig die Sinne schwanden.

Загрузка...