28

Obwohl sie ihren Drachen das letzte abverlangten, sahen sie bis zum späten Nachmittag keine Spur von Maran oder Tess. Sie waren mit dem ersten Licht der Sonne losgeflogen, viel zu hastig, um sich im schwachen Licht des Morgens zu orientieren. Was allerdings verständlich war – Kara kochte innerlich vor Wut. Daß die beiden ihren eindeutigen Befehl so offen mißachtet hatten, war schlimm genug. Aber daß sie die Karte mitgenommen hatten, war unverzeihlich und mehr als töricht. Begriffen sie denn nicht, daß sie nicht nur ihr eigenes Leben aufs Spiel setzten, sondern vielleicht das Schicksal der ganzen Welt?

Was von Kara Besitz ergriffen hatte, war kein gewöhnlicher Zorn mehr, der nach einer Weile verrauchte. Zum ersten Mal im Leben spürte sie so etwas wie Mordlust. In gewisser Hinsicht war es ganz gut, daß sie Maran und Tess nicht einholten. Kara war nicht sicher, was geschehen wäre, hätte sie die beiden in die Finger bekommen.

Vielleicht war auch ihr unbändiger Zorn der Grund, warum ihr die Veränderung nicht sofort auffiel, die mit ihrer Umgebung vonstatten ging.

Am Anfang waren es nur Kleinigkeiten – ein brauner Fleck im Wipfelwald hier, ein blattloser Baum da, das umgestürzte Gerippe eines Riesenbaumes, manchmal ein Schimmern von Silber, das vom Grund des Waldes heraufdrang. Aber die Anzeichen wurden deutlicher, je weiter sie nach Norden kamen.

Der Wald starb.

Immer öfter flogen sie über sterbende Bäume dahin, und immer öfter sahen sie das Schimmern einer gewaltigen Wasserfläche, die sich am Grund des Waldes erstreckte; dort, wo eigentlich Gäas lebensspendender Sumpf sein sollte. Manchmal glitten sie über tote Baumgiganten dahin, die wie Pfähle eines irrsinnigen Riesenzaunes aus einer endlosen Wasserfläche emporragten, dann wieder tauchten grüne, lebende Inseln unter ihnen auf, die dem mörderischen Würgegriff des Wassers bisher getrotzt hatten. Aber wie lange noch?

Zwei Stunden vor Sonnenuntergang waren die Drachen mit ihrer Kraft am Ende. Aber sie hatten Glück, daß sie auf Anhieb einen Landeplatz fanden: einen Felsen, der dreißig Meter aus dem Wasser ragte. Kara ließ ihren Drachen zwei vorsichtige Runden über dem Berg drehen. Der Fels wirkte leblos, aber sie dachte an den Bewohner der Höhle, in der sie die Nacht verbracht hatten, und so ließ sie Markor und die beiden anderen Drachen einen Schwall Feuer über den Lavafelsen speien, ehe sie endgültig landeten.

Markor wäre fast gestürzt, als er auf dem Berg aufsetzte. Seine ungeschickte Landung zeigte Kara deutlicher als alles andere, wie erschöpft die Tiere waren, und dieser Gedanke wiederum ließ ihre Sorge um Maran und Tess zu neuer Glut aufflammen. Die Drachen der beiden mußten ebenso erschöpft sein wie ihre Tiere. Wenn sie den Berg fanden und wenn es dort auch nur noch einen einzigen Verteidiger gab, dann hatten die beiden keine Chance.

Umständlich, mit steifen, schmerzenden Gliedern, kletterte Kara von Markors Rücken und entfernte sich ein paar Schritte von dem Drachen. Der Boden unter ihren Füßen war noch heiß. Grauer Rauch drang aus Felsspalten und Rissen im Fels, und der scharfe Geruch von heißem Stein lag in der Luft. Schaudernd sah sich Kara um. Sie glaubte nicht, daß Markors Feuer mehr Schaden angerichtet hatte, als ein paar Algen und Schimmelpilze zu verbrennen. Der Felsblock war so tot, wie er nur sein konnte – genauso leblos wie die Umgebung, in der er lag.

Karas Blick tastete über die silbergraue Wasserwüste, aus der sich der Felsbuckel erhob. Aus der Luft war der Anblick schlimm gewesen; aus der Nähe war er entsetzlich. Der Wald hatte sich gelichtet. Viele Bäume waren einfach verschwunden. Hier und da ragte noch ein fauliger Stumpf aus dem Wasser, an manchen Stellen waren große Schatten unter der Oberfläche sichtbar, und nicht weit von Kara entfernt hatte ein einzelner Baum seine grüne Krone behalten. Als sie aber genauer hinsah, erkannte sie, daß es nicht das Grün von Blattwerk war, sondern unzählige Parasitenpflanzen, die sich auf den kahl gewordenen Ästen niedergelassen hatten. Doch auch die Parasiten würden nicht mehr lange leben; zwischen dem Grün gewahrte Kara häßliche braune Flecke, die wie Rost aussahen.

»Entsetzlich, nicht wahr?«

Kara widerstand der Versuchung, sich herumzudrehen, als sie Zens Stimme hörte. Statt dessen nickte sie nur und blickte weiter nach Norden. Es sah beinahe so aus, als erstrecke sich das Meer bis ans Ende der Welt. Kara verstand einfach nicht, woher die unvorstellbaren Mengen von Wasser kamen. Jeder Versuch, seine Menge zu schätzen, mußte kläglich scheitern, zumal für Menschen, die auf einer Welt aufgewachsen waren, auf der jeder kleine See ein Wunder bedeutete.

»Es ist absurd«, murmelte Zen hinter ihr. Er wartete einen Moment, und als sie immer noch keine Anstalten machte, irgendwie auf seine Worte zu reagieren, trat er mit einem Schritt neben sie und blickte sie von der Seite her an. »Wäre es nicht so entsetzlich, dann würde ich lachen, weißt du? Ich habe immer gedacht, ohne Wasser gäbe es kein Leben. Das hat man uns doch beigebracht, oder? Daß das Wasser der Ursprung allen Lebens ist.«

Kara sah ihn an und schwieg. Zen wollte keine Antworten. Er wollte nur reden.

»Aber das Wasser tötet das Leben«, fuhr er fort. »Dieser Wald ist mehr als hunderttausend Jahre alt. Und jetzt stirbt er innerhalb weniger Jahrzehnte!«

Falsch, dachte Kara. Innerhalb weniger Jahre. Auf der Karte war dieser Teil des Dschungels noch als lebend und unversehrt eingezeichnet gewesen. Von einem See – geschweige denn von einem Meer! – hatte sie keine Spur entdecken können.

»Vielleicht ist das der Grund, aus dem sie gekommen sind«, murmelte Zen.

»Die Fremden!«

Zen nickte. »Ja. Vielleicht... ich meine, vielleicht wurde ihre Heimat zerstört. Ich habe darüber nachgedacht, weißt du? Es kann kein Zufall sein, daß sie gerade jetzt aufgetaucht sind. Vielleicht leben sie in einem Teil des Schlundes, der untergegangen ist, und suchen neuen Lebensraum.«

Kara dachte einen Moment über diese Idee nach. Plausibel aber aus irgendeinem Grund vermochte der Gedanke sie nicht zu überzeugen. Andererseits hatte sie keinen wirklichen Anlaß, Zen zu widersprechen, da sie so gut wie nichts über die Welt jenseits des Drachenfelsen wußten.

»Die Höhle, von der du erzählt hast«, fuhr Zen nach einer Weile fort. Kara blinzelte irritiert, bis ihr klar wurde, daß Zen übergangslos das Thema gewechselt hatte.

»Glaubst du, daß es das hier ist?«

Sie blinzelte abermals, ein wenig überrascht über die Frage. Sie hatte geglaubt, als einzige auf diese verrückte Idee gekommen zu sein. Schließlich schüttelte sie den Kopf. »Nein. Ich habe selbst schon mit dem Gedanken gespielt, aber das ist unmöglich. Die Höhle ist groß, aber nicht so groß – «

»Woher willst du das wissen?« unterbrach sie Zen. »Du hast selbst gesagt, daß du nicht weißt, wie groß das unterirdische Meer ist.«

»So groß jedenfalls nicht«, beharrte Kara. »Außerdem liegt ihr Wasserspiegel fast eine Meile unter dem Schlund. Und Wasser fließt in den allerwenigsten Fällen nach oben – glaube ich.«

Sie lächelte, aber Zen blieb ernst.

»Der Wasserspiegel fällt«, beharrte er. »Und hier erscheint plötzlich ein Meer, das es vorher nicht gegeben hat.«

»Ich könnte mir ein Dutzend Erklärungen einfallen lassen, die einleuchtender und logischer sind.« Kara war selbst ein wenig überrascht, als ihr die Schärfe in ihrer Stimme auffiel. Erst jetzt spürte sie, wie sehr Zens Worte sie erschreckt hatten. »Vielleicht hat es irgendwo ein Erdbeben gegeben, das den Lauf einiger Flüsse verändert hat. Oder ein Damm ist gebrochen.«

Sie spürte, wie unbefriedigend diese Erklärung war. Zen machte sich nicht einmal die Mühe, darauf zu antworten.

Mit einem resignierenden Seufzen ging er an ihr vorbei und schritt vorsichtig über den Felsen, bis er das Wasser erreicht hatte. Er beugte sich vor und blieb reglos und sehr aufmerksam stehen, um auf eine Stelle unweit des Ufers zu blicken. Als Kara in die gleiche Richtung sah, erkannte sie, daß etwas im Wasser schwamm. Sie konnte nicht genau erkennen, was es war, aber es war groß und dunkel und bewegte sich leicht auf den Felsen zu. Zen beugte sich vor und streckte die Hand aus.

»Faß es nicht an!« sagte Kara erschrocken.

Zen erstarrte mitten in der Bewegung, und Kara warf einen raschen Blick in den Himmel hinauf, ehe sie losrannte. Silvys Drache kreiste noch immer über der Insel. Aus irgendeinem Grund wagte sie es nicht, zu landen. Aber vielleicht hatte sie etwas entdeckt, das sie weiter aus der Luft beobachten wollte.

Sie blieb neben Zen stehen und legte ihm die Hand auf die Schulter, obwohl er den Arm längst wieder zurückgezogen hatte. »Rühr nichts an«, sagte sie noch einmal. Gleichzeitig beugte sie sich weiter vor, um erkennen zu können, was vor ihnen im Wasser schwamm. Es war ein mehr als mannsgroßes Büschel aus fauligem Wurzelwerk oder Tang, das wie nasses Haar im Wasser wehte.

Zen streifte mit sanfter Gewalt ihre Hand ab, watete ein paar Schritte ins Wasser hinein und zog sein Schwert. Ohne zu zögern, streckte er den Arm aus und angelte einen Wurzelstrang aus dem Meer; verwesende weiße Fäden, die traurig und leblos von seinem Schwert herabhingen.

»Gäa«, flüsterte Kara erschüttert. Zen sagte nichts, aber sein Gesichtsausdruck sprach Bände. Sein Fund hatte sie schlagartig der letzten Möglichkeit beraubt, sich selbst etwas vorzulügen. Dieses Meer war nicht immer hier gewesen. Der Boden, aus dem sich der Felsen erhob, hatte vor nicht einmal langer Zeit zu Gäas Reich gehört. Das Wasser hatte sie erstickt wie den Wald, den sie und von dem sie sich ernährte.

Zen schleuderte das tote Geflecht angewidert von sich und schwenkte sein Schwert ein paarmal heftig durch das Wasser, um die Klinge zu reinigen. Tot oder nicht, Gäa war vermutlich das gefährlichste Geschöpf, das jemals auf diesem Planeten existiert hatte. Zen watete ans Ufer zurück, dann legte er plötzlich den Kopf in den Nacken und sah zu Silvy hinauf, die noch immer über der Insel kreiste. »Warum landet sie nicht?«

Silvy flog zu weit oben, um ihr etwas zurufen zu können, deshalb signalisierte Kara eine entsprechende Frage. Sie war ziemlich sicher, daß Silvy ihre weit ausholenden Gesten gesehen hatte. Aber die erhoffte Reaktion blieb aus. Ganz im Gegenteil schlug Silvys Drache plötzlich heftiger mit den Flügeln und schraubte sich in engen Spiralen wieder höher in den Himmel hinauf.

»Was, zum Teufel...« murmelte Zen und brach erschrocken mitten im Satz ab, als Silvys Drache plötzlich nach Norden schwenkte und über den abgestorbenen Wipfeln des Waldes verschwand.

O nein, dachte Kara. Nicht sie auch noch! Waren denn jetzt hier alle verrückt geworden?

Aber dann tauchte Silvys Drache aus der anderen Richtung über dem Wald auf. Sie war nicht mehr allein. Hinter ihr glitt der Schatten eines zweiten Drachen über den Himmel, und für wenige Augenblicke bildete sich Kara fast ein, auch ein drittes Tier zu erkennen. Aber das war nur ein Trugbild, etwas, das sie lediglich sehen wollte.

In aller Deutlichkeit allerdings bemerkte sie, daß mit diesem Drachen etwas nicht stimmte: So hoch sie auch flogen, konnte sie doch erkennen, daß das Tier entweder verletzt oder zu Tode erschöpft sein mußte: Seine Flügelschläge waren langsam und schwerfällig, er hatte Mühe, mit Silvys Drachen mitzuhalten, obwohl der fast gemächlich vor ihm dahinglitt. Immer wieder taumelte er oder drohte abzustürzen, und Kara war plötzlich nicht einmal mehr sicher, daß er das kurze Stück bis zur Insel noch schaffen würde. Sie konnte jetzt den Reiter erkennen, der zusammengesunken über dem Hals des Drachen lag, konnte aber nicht ausmachen, ob es sich dabei um Maran oder Tess handelte.

Sie liefen ein Stück vom Ufer zurück und begannen Silvy zuzuwinken. Silvy lenkte ihr Tier in einer eleganten Schleife auf die Insel zu, und der zweite Drache versuchte, das Manöver nachzuvollziehen, hatte aber nicht mehr die nötige Kraft. Er taumelte, und seine Schwinge berührte die Baumkronen. Ein gewaltiges Splittern und Krachen erscholl; der zweite Drache schrie vor Schmerz und Angst und sackte einen entsetzlichen Moment lang wie ein Stein in die Tiefe, ehe es ihm mit einer verzweifelten Anstrengung gelang, seinen Sturz abzufangen. Wie durch ein Wunder wurde der Reiter auf seinem Rücken bei diesem Manöver nicht abgeworfen.

»Wir müssen ihm helfen!« schrie Zen.

Ja, dachte Kara. Aber wie? Ihr Blick suchte die beiden anderen Tiere. Die Drachen waren unruhig und bewegten die Flügel, als spürten sie wie Kara, in welcher Gefahr ihr Gefährte schwebte. »Er stürzt!«

Zens Stimme überschlug sich, und Karas Herz macht einen erschrockenen Sprung, als sie sah, daß der Drache tatsächlich steil in die Tiefe schoß. Fast auf sie und Zen zu! Einen schrecklichen Moment lang war sie fest davon überzeugt, daß er sie treffen und zermalmen würde, dann warf sich das Tier im buchstäblich allerletzten Moment herum, breitete noch einmal die Flügel aus und glitt um Haaresbreite über ihnen hinweg. Sie wurden beide von den Füßen gerissen und stürzten. Kara schlug sich Hände und Knie auf den harten Felsen blutig, während der Drache ein Stück von der Insel entfernt auf dem Wasser aufprallte.

Kara fegte mit einem gewaltigen Satz an Zen vorbei, stieß sich ab und landete im Wasser, noch ehe sie auf ihre innere Stimme hören konnte, die ihr verzweifelt zuzuschreien versuchte, daß sie nicht schwimmen konnte. Rasend schnell schoß sie durch das schäumende Wasser, sah eine Gestalt vor sich in der Gischt auftauchen und griff instinktiv zu. Ihre Finger bekamen nasses Leder zu fassen. Kara klammerte sich mit verzweifelter Kraft am Flügel des tobenden Drachen fest und brachte sogar irgendwie das Kunststück fertig, sich weiter hinaufzuziehen. Es war völlig absurd, aber während sie sich keuchend und mit letzter Kraft Stück für Stück weiter auf die peitschende Riesenschwinge hinaufarbeitete, war ihr einziger Gedanke, daß sie Cord oder Storm unbedingt darum bitten mußte, ihr das Schwimmen beizubringen, sobald sie zurück im Hort war.

Wahrscheinlich hätte sie es nicht geschafft, hätte der Drache nicht zu toben aufgehört. Seine Bewegungen wurden schwächer, und schließlich lag die gewaltige Schwinge still wie das Segel eines untergegangenen Schiffes auf dem Wasser.

Kara gönnte sich eine einzige, kostbare Sekunde, um wieder zu Atem und Kräften zu kommen, dann stemmte sie sich auf Hände und Knie und kroch los. Der Drache rührte sich nicht mehr, aber der Flügel gab unter ihrem Gewicht immer wieder nach. Sie wußte, daß der Drache tot war, lange bevor sie seinen Körper erreichte und sich auf seinen schuppigen Rücken hinaufzog. Es war nicht der Sturz gewesen, der ihn umgebracht hatte. Seine Flanken und sein Hals waren übersät mit tiefen, blutenden Wunden. Wie es schien, hatten Tess und Maran wirklich den zweiten Drachenfels gefunden.

Sie versuchte, den Schmerz zu verdrängen, mit dem sie der Tod des Drachen erfüllte, und eilte auf die reglose Gestalt in seinem Nacken zu. Es war Maran, und Kara erkannte, weshalb er bei dem verzweifelten Flugmanöver des Tieres nicht abgeworfen worden war: Er hatte sich im Sattel festgebunden. Aber er regte sich nicht, und er reagierte auch nicht, als Kara seinen Namen rief.

Voller Panik kniete sie neben ihm nieder, zerrte den Dolch aus dem Gürtel und zerschnitt die Lederriemen, die Maran hielten. Mit einer schrecklich schlaffen Bewegung sackte Maran zur Seite und wäre ins Wasser gefallen, hätte Kara nicht rasch zugegriffen und ihn aufgefangen. Seine Haut war eiskalt, und für einen furchtbaren Moment war sie ganz sicher, daß auch er tot war.

Sie konnte ihn kaum noch halten. Ihre Finger glitten auf dem nassen Leder seiner Jacke ab. Wo, zum Teufel, blieb Zen? Sie sah zum Ufer zurück. Zen war bis auf die Hüften ins Wasser gewatet, unternahm aber keinen Versuch näher zu kommen. Natürlich – er konnte auch nicht schwimmen. Die wenigsten Drachenkrieger konnten schwimmen.

Kara versuchte, die Hände in Marans Jacke zu krallen, aber immer wieder entglitt sie ihm. Verzweifelt und ohne wirklich darüber nachzudenken, packte sie schließlich sein schulterlanges, dichtes Haar. Ob sie ihn auf diese Weise wirklich gehalten hätte, erfuhr sie nie – ihr Griff bereitete ihm auf jeden Fall genug Schmerzen, um ihn aus der Bewußtlosigkeit zu reißen. Stöhnend öffnete er die Augen, tastete blindlings um sich und fand am schuppigen Hals des toten Drachen Halt.

»Verdammt, hilf mir!« stöhnte Kara. Die Anstrengung überstieg fast ihre Kräfte. »Willst du ertrinken?«

Maran kam langsam zu sich; er schien zu begreifen und griff kräftig zu. Endlich schwand der entsetzliche Druck von ihren Schultermuskeln. Sie atmete erleichtert auf, ließ aber erst ganz los, als sie sicher war, daß sich Maran aus eigener Kraft halten konnte.

Fast eine Minute lang lagen sie beide keuchend und völlig erschöpft nebeneinander, dann hob Kara mühsam den Kopf und sah Maran an. Er hatte sich weiter in die Höhe gezogen und war über dem Sattel zusammengebrochen. Kara erschrak erneut, als sie seinen Rücken sah. Nicht nur sein Drache war von dem entsetzlichen grünen Licht der Libellen getroffen worden.

»Beweg dich nicht!« sagte sie erschrocken. Sie plagte sich auf und spürte, wie ihr schwindelig wurde. Trotzdem fuhr sie fort:

»Ich bringe dich... an Land. Irgendwie.«

Irgendwie schaffte sie es, wenngleich sie einen Grad der Erschöpfung erreicht hatte, der sie nicht einmal mehr spüren ließ, daß Silvy und Zen ihnen auf dem letzten Stück entgegenwateten und sie beide an Land zogen.

Sie verlor nicht das Bewußtsein, aber sie dämmerte lange am Rande einer Ohnmacht dahin. Die Sonne war bereits hinter den Bäumen verschwunden, als sie sich so weit erholt hatte, daß sie sich aufsetzen und zu Silvy und Zen hinüberkriechen konnte, die sich noch immer um Maran bemühten. Seine Augen waren geschlossen, aber dann hob er die Lider, als spüre er ihre Nähe, kaum daß sie neben ihm ankam. Sein Blick war getrübt, und doch glaubte sie, daß er sie erkannte.

Maran zitterte am ganzen Leib, und auch Kara fror entsetzlich. Die Nacht würde noch kälter werden. Kara hoffte, daß Maran überlebte. Leider wies die Felseninsel keine Höhle auf. »Wie geht es ihm? «

Zen zuckte mit den Schultern, und Silvy machte ein besorgtes Gesicht. »Ich weiß es nicht«, sagte sie. »Die Verbrennungen auf seinem Rücken sind nicht sehr tief, aber sehr groß. Ich habe nichts, um die Wunde zu versorgen. Möglich, daß sie sich entzündet.«

Kara beugte sich vor, berührte flüchtig Marans Stirn und lächelte, als er den Kopf zu drehen versuchte, um sie anzusehen. »Wie fühlst du dich?« fragte sie.

»Es ist sinnlos«, sagte Zen. »Er versteht dich nicht. Ich habe es ein paarmal versucht.« Er zögerte sichtlich, dann griff er unter seine Jacke und zog etwas hervor. »Das hatte er bei sich.«

Kara riß überrascht die Augen auf, als sie sah, daß es die Karte war; völlig durchweicht und zerknittert, aber ansonsten unbeschädigt.

»Er?« murmelte sie. »Aber das bedeutet, daß...«

»Daß er wahrscheinlich die Idee hatte, auf eigene Faust loszuziehen und den Helden zu spielen«, fiel ihr Zen ins Wort. »Nicht Tess.« Beinahe haßerfüllt sah er auf Maran herab. »Ich schwöre dir: Wenn sie tot ist, dann bringe ich ihn eigenhändig um!«

Kara lag eine scharfe Antwort auf der Zunge, aber sie sprach sie nicht aus. Zen liebte Tess, das war ein offenes Geheimnis, aber er war auch als sehr besonnen bekannt.

Statt Zen zurechtzuweisen, machte sie nur eine besänftigende Handbewegung. »Vielleicht versuchen wir erst einmal, am Leben zu bleiben, ehe wir Pläne schmieden, wer wen umbringt«, sagte sie. »Wir müssen mit ihm reden.«

»Wozu?« grollte Zen.

»Vielleicht, damit uns nicht dasselbe passiert wie ihm«, antwortete Silvy an Karas Stelle. »Du scheinst nämlich recht gehabt zu haben. Es sieht so aus, als wären wir ganz in der Nähe ihres Hauptquartiers.«

Zen preßte die Lippen zusammen und starrte sie wortlos an. »Wir müssen ihn irgendwie wärmen«, sagte Kara. »Er erfriert sonst.« Sie überlegte einen Moment, dann deutete sie auf die Drachen. »Bringen wir ihn dorthin. Wenigstens sind wir da aus dem Wind heraus.«

Vorsichtig, um ihm nicht noch mehr Schmerzen zuzufügen, trugen sie Maran in den Windschatten der gewaltigen Tiere. Und Karas Einfall erwies sich als doppelt nützlich: Markor mußte spüren, wie es um sie stand, denn er breitete plötzlich eine seiner Schwingen aus, so daß sie sich wie das Dach eines lebenden Zeltes über ihnen spannte.

Eine Stunde nach Sonnenuntergang begann Maran zu fiebern, und als sich Kara seinen Rücken besah, stellte sie fest, daß genau das eingetreten war, was Silvy befürchtet hatte: Die Verbrennung hatte sie entzündet. Das salzige Wasser hatte alles nur noch schlimmer gemacht, was Kara auch nicht im geringsten überraschte. Die Wunden auf ihren Händen und Knien brannten wie Feuer. Das Wasser war nicht einfach nur salzig, es stank und war faulig.

»Er stirbt, Kara«, sagte Silvy, nachdem sie eine Weile besorgt in sein Gesicht geblickt hatte. »Tu irgend etwas, Kara. Hilf ihm!«

Kara hatte diese Bitte befürchtet. Sie selbst hatte im Laufe der letzten Stunde mehr als ein Dutzend Mal daran gedacht, das bißchen Wissen um die geheime Heilmagie der Drachenkrieger anzuwenden, um ihm zu helfen, war aber jedes Mal davor zurückgeschreckt. Angella hatte ihr so wenig erzählt.

»Ich weiß nicht, ob ich es kann«, sagte sie ausweichend. »Vielleicht bringe ich ihn damit um.«

»Ich glaube nicht, daß du noch viel Schaden anrichten kannst«, erwiderte Silvy. »Er stirbt, wenn wir nichts tun.«

Kara zögerte noch lange; Minuten, in denen sich Marans Zustand so rasch verschlechterte, daß Silvy sie stumm und vorwurfsvoll anblickte.

»Also gut«, sagte sie schließlich. »Helft mir!«

Gemeinsam entkleideten sie Maran und betteten ihn so auf den Boden, daß seinem Rücken übermäßige Schmerzen erspart blieben. Dann begannen Karas Hände und Fingerspitzen behutsam über seinen Körper zu gleiten. Sie berührten Nervenknoten, fuhren die Bahnen entlang, die die geheimen Ströme seines Körpers entlangliefen, massierten, streichelten, kneteten, drückten. Nach einer Weile fühlte sie, wie sich ihre Fingerspitzen auf Marans Haut zu erwärmen begannen. Es war mehr als die Wärme, die die Berührung berursachte. Kara glaubte ein Prickeln und Kribbeln zu verspüren, als flössen geheimnisvolle Kräfte von ihrem Körper in den seinen und umgekehrt. Ganz allmählich beruhigte sich Marans rasender Pulsschlag, und Kara begann Hoffnung zu schöpfen, daß ihr Tun ihm vielleicht wirklich half.

Aires hatte ihr einmal erklärt, daß diese Art der Massage auf eine uralte Technik zurückging, die sogar noch älter als die Alte Welt sein sollte und auf dem Prinzip beruhte, sowohl die Selbstheilungskräfte des menschlichen Körpers als auch seine geheimen Kraftreserven zu mobilisieren. Sie wußte, daß das stimmte; schließlich hatte sie es vor nicht einmal langer Zeit am eigenen Leib gespürt.

Nach einer Stunde war sie so erschöpft, daß sie selbst über Marans Körper zusammengebrochen wäre, hätte sie nicht aufgehört. Aber sein Atem ging plötzlich sehr viel ruhiger, und er hatte aufgehört zu phantasieren und sich so heftig hin und her zu werfen, daß Zen ihn festhalten mußte. Er war nicht mehr bewußtlos, sondern schlief; einen sehr, sehr tiefen Schlaf. Kara war so erschöpft, daß sie kaum noch Zeit fand, ein paar Schritte weit zu kriechen und sich an Markors Flanke zu kuscheln, ehe ihr die Augen zufielen und auch sie in den Schlaf sank.

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