17

Der Waga hockte neben ihr, als sie Stunden später am Strand erwachte. Ihr Kopf schmerzte entsetzlich, und jeder Atemzug tat ihr weh. Hrhons Gesicht verschwamm immer wieder vor ihren Augen, und sie roch, daß sie in einer Lache ihres eigenen Erbrochenen lag. Ekel ergriff sie, und für einen Moment wünschte sie sich fast, wieder das Bewußtsein zu verlieren. »Bist du noch am Leben – oder bin ich tot?« fragte sie. Hrhon antwortete nicht, sondern sah sie nur nachdenklich an, und Kara setzte sich behutsam auf, preßte die Handflächen gegen die schmerzenden Schläfen und wartete, bis das Dröhnen in ihrem Kopf langsam verebbte.

»Ich habe es nicht geschafft, wie?« fragte sie. »Großer Gott, Hrhon, ich kann dir sagen: Ertrinken ist ein scheußlicher Tod.«

Sie sah sich demonstrativ um.

Hrhon stieß einen Laut aus, den man mit einigem guten Willen als ein Lachen deuten konnte. »Ssso ssshnehll bhin isss nhihsssth uhmssshubhringenhehn«, sagte er. »Ssshohn ghahr nhihssst vhon diehsssen Fflachghesssissssthehrnh.«

Kara blinzelte. Hrhons Sprachfehler schien sich nach seinem Sturz verschlimmert zu haben. »Was ist passiert?« fragte sie. »Versteh mich nicht falsch, Hrhon – aber wieso lebst du noch?«

Hrhon lachte wieder, aber dann begann er mit langsamen und dennoch beinahe unverständlichen Worten zu erzählen. Wie Kara aus seinem Gezischel und Gelispel heraushörte, war er abgestürzt und während seines Sturzes ohnmächtig geworden. Wahrscheinlich hatten ihm die ererbten Instinkte seiner Vorfahren das Leben gerettet, denn er hatte wohl reflexartig Kopf und Glieder in seinen Panzer zurückgezogen und die Luft angehalten, bis er irgendwann aus seiner Bewußtlosigkeit erwachte, hilflos auf dem Wasser treibend und Meilen vom Ufer entfernt.

»Ich wußte gar nicht, daß du schwimmen kannst«, sagte Kara.

Die zwei Meter große Schildkröte ersparte sich eine Antwort auf diese Bemerkung und fuhr in ihrem Bericht fort. Hrhon wäre wahrscheinlich trotzdem gestorben, denn der Ozean, in dem er sich wiederfand, war endlos, und er hatte keine Möglichkeit, sich irgendwie zu orientieren, wäre nicht plötzlich der riesige Eisenfisch aufgetaucht. Das Monstrum war schnell gewesen, aber Hrhon war ein schneller Schwimmer, und so hatte er zusammen mit dem Schiff die Bucht und das rettende Ufer erreicht. Er hatte Kara und Elder sogar gesehen, während sie das Schiff enterten, war aber zu weit entfernt gewesen, um irgend etwas zu unternehmen.

»Angella ist tot«, sagte Kara plötzlich, nachdem Hrhon seine Geschichte zu Ende gezischt hatte und sie eine Weile schwiegen. »Ich wheisss«, sagte Hrhon. »Uhnd Jan auhchh. Ssseine Lheiche threihbt dhrausssehn im Mheerhr.«

»Sie werden bezahlen«, versprach Kara. Dann: »Wo sind sie überhaupt?«

Hrhon wies mit einer Handbewegung auf das Meer hinaus.

Erst jetzt bemerkte Kara, daß das Unterwasserboot noch da lag; nur sein Turm und der buckelige Rücken ragten aus dem Wasser. Etwas schien nicht zu stimmen. Winzige Gestalten bewegten sich hektisch über den Rumpf des Schiffes, und irgendwo dort, wo sich die Ladeluke befinden mußte, kräuselte sich schwarzer, fettiger Rauch. Am Turm flammte manchmal ein blauer, stechend heller Funke auf. Der Anblick erfüllte Kara mit einem Gefühl der Befriedigung. Elder hatte es zwar nicht geschafft, das Schiff völlig zu zerstören, aber offenbar hatte er der Besatzung eine Menge Schwierigkeiten gemacht.

»Die anderen?« fragte sie.

Hrhon deutete auf die Felsen, hinter denen sie lagen. »Ein paar sssind noch da. Einighe sssihnd thot.«

»Aber unsere Leute haben verloren«, murmelte Kara bitter. »Nicht wahr?«

»Shieh hatthen kheinhe Ssshanssse«, bestätigte Hrhon.

»Ssshieh habhen fhursstbhare Whaffen. Ahlthe Whaffen.«

Einige sind noch da... Karas erster Impuls war, einfach aufzuspringen und sich auf sie zu stürzen, um ihnen die Rechnung für Angellas, Elders und Jans Tod und den all der anderen zu präsentieren. Aber gleichzeitig wußte sie auch, wie dumm dieser Einfall war. Angella und die anderen wurden nicht mehr lebendig, wenn sie sich auch noch umbringen ließ. Außerdem hatte sie noch nicht einmal eine Waffe. Niedergeschlagen blickte sie auf die leere Schwertscheide an ihrem Gürtel herab. Als hätte er ihre Gedanken gelesen, griff Hrhon plötzlich zwischen die Felsen neben sich und reichte Kara – ihr Schwert. Offensichtlich war er bis auf den Meeresgrund hinabgetaucht, um es zu holen, »Ihsss dhachthe mhir, dhasss dhu dhassss ghebhrauchhen khanssst«, sagte er. »Ahber mhach kheinhe Dhuhmmheihthen dhamhit.«

Kara nahm die Waffe entgegen und wog sie in der Hand. Sie begriff, wie entkräftet sie war. Trotzdem tat es gut, die Klinge wieder an ihrer Seite zu spüren. Das Schwert war ein Geschenk Angellas. Sie hätte es sehr bedauert, es endgültig zu verlieren. Plötzlich spürte sie, welch ein eisig kalter Hauch vom Wasser herüberwehte. Trotzdem richtete sie sich auf Hände und Knie auf und kroch das kurze Stück zum Ufer hinab, um sich den Schmutz vom Gesicht und aus dem Haar zu waschen. Hinterher hatte sie das Gefühl, schmutziger zu sein als zuvor, aber wenigstens stank sie nicht mehr so schlimm, daß ihr fast selbst davon übel wurde.

Hrhon sah ihr schweigend, wenn auch mit unübersehbarer Mißbilligung zu. Er half ihr, sich abzutrocknen. Kara zitterte am ganzen Leib. Sie brauchte ein Feuer, irgend etwas, um sich zu wärmen, wenn sie sich nicht eine tödliche Unterkühlung zuziehen oder gleich erfrieren wollte.

»Wo sind sie?« fragte sie mit klappernden Zähnen.

Hrhon deutete abermals auf die Felsen. »Sssiehmhlisss ghenhau hinthehr dhir.«

Soviel zu dem Gedanken an ein Feuer. Kara trat auf der Stelle, um sich durch die Bewegung ein wenig Wärme zu verschaffen. Nach einigen Augenblicken wandte sie sich um, bewegte sich vorsichtig auf die Felsen zu und suchte nach einer Lücke, um hindurchzuspähen. Es war gar nicht so einfach, denn Hrhon hatte die Stelle, an der er sie an Land gebracht hatte, sorgfältig ausgewählt.

Als es ihr schließlich gelang, einen Blick über den Rand ihrer improvisierten Deckung zu werfen, bot sich ihr ein Bild, wie sie es sich schlimmer kaum hätte vorstellen können.

Der Strand glich einem Schlachtfeld. Die Fremden hatten ihre eigenen Toten und Verwundeten weggeschafft, aber die reglosen Körper, die zerschmettert oder verbrannt auf den Felsen lagen, waren beinahe nicht zu zählen. Zwei, wenn nicht drei Dutzend verendeter Flieger lagen zwischen den Felsen oder im Wasser; die Chitinpanzer einiger der riesigen Käferkreaturen brannten noch immer oder glühten wie trockene Holzkohle. Kara schauderte, dann riß sie sich von dem furchtbaren Anblick los. Wie Hrhon gesagt hatte, befanden sich nur noch eine Handvoll der Blauuniformierten an Land. Sie liefen mit gesenkten Häuptern zwischen den Toten umher. Manchmal bückten sie sich, um etwas aufzuheben, das sie in durchsichtige Säcke warfen, die sie an den Seiten trugen. Kara mußte ihnen eine ganze Weile zusehen, ehe ihr klar wurde, was diese Männer dort taten: Sie beseitigten ihre Spuren. Zwei von ihnen lasen sogar die Splitter einer zerborstenen Flugscheibe auf, andere suchten nach zerbrochenen Waffen, ja, sogar nach Uniformresten. Die Fremden schienen panisch darauf bedacht zu sein, jedes Anzeichen ihrer Anwesenheit zu verwischen. Natürlich konnten sie die stummen Zeugen des Gemetzels nicht beseitigen: die toten Soldaten der Stadtgarde, die abgeschossenen Flieger und die schwarzen Brandspuren ihrer Waffen auf den Felsen. Aber sie konnten verhindern, daß irgend jemand herausfand, wer für dieses Massaker verantwortlich war. Die Zeit verstrich mit quälender Langsamkeit. Eine Stunde oder vielleicht zwei vergingen, bis die Männer ihre schreckliche Säuberungsaktion beendeten und einer nach dem anderen zum Schiff zurückkehrten.

Nur einer schritt noch am Strand entlang, offenbar mit der allerletzten Inspektion beschäftigt.

Kara warf Hrhon einen auffordernden Blick zu. Sie hatte nicht vor, den Burschen so einfach davonkommen zu lassen. Lautlos und sorgsam darauf bedacht, die Felsen als Deckung zwischen sich und dem Meer zu halten, näherte sie sich dem Punkt, an dem sie den Fremden vermutete. Plötzlich hörte sie Schritte und gab Hrhon ein Zeichen, stehenzubleiben. Die Schritte kamen näher, brachen ab, und dann hörte sie ein knackendes Geräusch und die Stimme des Fremden: »Okay, hier scheint alles in Ordnung zu sein... ja, ich glaube schon... wie? Unsinn. Die brauchen Stunden, bis sie hier sind... macht ruhig weiter. Ich komme in ein paar Minuten nach.«

Kara wartete, bis ein neuerliches Knacken verriet, daß das Funkgerät abgeschaltet war, dann trat sie aus ihrer Deckung hervor und sagte: »Das glaube ich nicht.«

Der Mann reagierte schneller als sie erwartet hatte. Er erstarrte weder vor Schrecken, noch versuchte er seine Waffe zu ziehen oder irgendeine andere Dummheit zu begehen. Er drehte sich ganz ruhig herum und sah Kara fast gelassen an. Obwohl sich auch vor seinem Gesicht eine der rauchfarbenen Glasscheiben befand, erkannte Kara ihn sofort.

»Du schon wieder?« sagte er.

»Die Welt ist klein«, antwortete Kara. »Hast du einen neuen Schneider?« Sie machte eine Kopfbewegung auf die fremdartig geschnittene Kleidung. »Das Zeug steht dir gut. Aber ich finde trotzdem, daß die Lumpen, die du oben getragen hast, irgendwie besser zu dir paßten.«

Der Fremde hob das Visier seines Helms in die Höhe. Der Blick seiner dunklen Augen war ernst und aufmerksam, aber ohne die geringste Spur von Furcht. »Es freut mich, daß du mich wiedererkennst«, sagte er.

Kara schürzte geringschätzig die Lippen. »Ich merke mir jedes Gesicht, in das ich schon einmal hineingetreten habe.«

Für einen Moment blitzte es zornig in den Augen des Mannes auf. »Was willst du?« fragte er. »Wieso bist du zurückgekommen? Du irrst dich, wenn du glaubst, ich wäre ein edler Ritter, der dich aus purem Großmut laufenläßt.« Seine Hand tastete nach dem kleinen Funkgerät, das an seinem Gürtel war.

»Damit rechne ich keine Sekunde«, sagte Kara. »Übrigens wenn du die Finger noch weiter bewegst, schneide ich sie dir ab.«

Der Bursche starrte sie verblüfft an – aber er zog gehorsam die Hand zurück. »Was willst du?« fragte er noch einmal. »Mit dir abrechnen«, antwortete Kara. »Deine Leute haben Angella umgebracht.«

»Ich weiß nicht, wer diese Angella ist«, antwortete der andere achselzuckend. »Und selbst wenn – es ist Krieg. Und einen Krieg ohne Opfer gibt es nicht.«

Roter Zorn verdunkelte Karas Blick. Ihre Hand zuckte zum Schwert, aber sie führte die Bewegung nicht zu Ende. Sie begriff, daß der Fremde sie provozieren wollte.

»Krieg?« fragte sie mühsam beherrscht. »Ich wüßte nicht, daß wir Krieg mit euch haben.«

»Aber wir mit euch. Du willst also mit mir – « er lachte » – abrechnen? Du allein?«

Hrhon trat hinter seinem Felsen hervor, und Kara sagte ruhig. »Und er.«

Das Gesicht unter dem Visierhelm erbleichte. »Also so ist das«, murmelte er.

»Ghenhau«, zischte Hrhon. Seine Stimme bebte vor Haß.

»Nein«, sagte Kara. »So ist das nicht. Nur du und ich. Hrhon – du hältst dich raus, egal, was passiert.«

Sie schlug den nassen Mantel zurück, so daß er den Griff ihres Schwertes sehen konnte. Einen Moment lang musterte er Kara sehr aufmerksam. Dann nickte er.

»Du meinst das ernst, wie?«

»Nur du und ich.«

»Ich habe nicht einmal eine Waffe.«

Sie machte eine zornige Handbewegung auf die toten Gardesoldaten. »Hier liegen genug herum. Bedien dich.«

Nach einem letzten, nervösen Blick auf den Waga ging der Fremde zu einem der Leichname, zog dessen Schwert aus dem Gürtel und machte ein paar spielerische Hiebe. Kara runzelte besorgt die Stirn, als sie sah, wie leicht er mit der zentnerschweren Waffe hantierte.

»Bist du sicher, daß du den Kampf wirklich willst, Kindchen?« fragte der Mann, während er weiter mit dem Schwert Löcher in die Luft hieb und versuchte, sich an das Gewicht der Klinge zu gewöhnen. Er hielt es nicht einmal für nötig, sie dabei anzusehen. »Wir hatten schon einmal das Vergnügen, nicht? Ich warne dich. Ich bin kein Gentleman.«

Kara hatte keine Ahnung, was ein Gentleman war. Es interessierte sie auch nicht. »Ich weiß«, sagte sie ruhig. »Aber du hast eines vergessen: Ich habe eine Menge schmutziger Tricks auf Lager.«

Für eine halbe Sekunde erstarrte er. Dann fuhr er herum. Seine Augen weiteten sich. »Verdammtes Mutantengesochs«, murmelte er. Kara lächelte. »Ziemlich schmutzig sogar«, sagte sie. Dann hob sie die Laserpistole, zielte auf sein Gesicht und erschoß ihn.

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