13

Obwohl sie drei Tage und Nächte ununterbrochen geschlafen hatte, sank sie wenige Augenblicke später in einen tiefen Schlummer, aus dem sie erst nach Sonnenaufgang erwachte. Traumlos war ihr Schlaf nur in den ersten Stunden gewesen, danach verwandelte er sich in ein wirres Durcheinander von Bildern und Farben. Sie glaubte, Schreie zu hören und ein Zittern und Beben zu spüren, als wäre die ganze Welt aus den Fugen geraten, aber sie sah nur dann und wann ein verzerrtes Gesicht, ohne es zu erkennen.

Dann wachte sie auf. Verwirrt hob sie die Lider und starrte die weißgetünchte Decke über sich an. Sie fühlte sich benommen. In ihrem Mund klebte ein schlechter Geschmack, und in ihren Ohren dröhnte ein Rauschen – und die Schreie waren immer noch da.

Alarmiert schwang Kara die Beine aus dem Bett und richtete sich auf. Ein scharfer Schmerz zuckte durch ihre Schulter. Sie verzog das Gesicht, massierte sich flüchtig den Oberarm und griff nach der Schlinge, die am Bettpfosten hing. Erst als sie sie übergestreift und den Arm hineingelegt hatte, stand sie auf und trat ans Fenster.

Nichts.

Wellers Hof lag verlassen da, aber das Gefühl, daß irgend etwas passiert war, verdichtete sich fast zur Gewißheit. Sie eilte zum Bett zurück, schlüpfte in ihre Kleider und verließ das Zimmer.

Im Haus herrschte helle Aufregung. Sie hörte hastige Schritte und laute Stimmen. Was war geschehen? Sie hielt die erste Gestalt an, die an ihr vorüberkam, aber sie geriet an einen Hornkopf, der sie nur blöde anglotzte. Kara versetzte ihm einen Stoß und eilte weiter.

In der Küche war niemand, und auch die übrigen Zimmer waren leer, aber auf dem Hof traf sie Hrhon, der gerade ebenso ungeschickt wie erfolglos versuchte, auf ein Pferd zu steigen. Das Tier wehrte sich heftig. Wahrscheinlich gefiel es ihm nicht, von einem Reiter bestiegen zu werden, der fast soviel wog wie es selbst.

»Hrhon!« rief Kara. »Hör auf, das arme Tier zu quälen, und sag mir lieber, was hier los ist. Was soll die Aufregung?«

Hrhon hielt in seinen fruchtlosen Bemühungen inne, auf das Pferd zu klettern, und wandte sich zu ihr um. »Der Hhohchwhehghl« keuchte er aufgeregt. »Er ihsssth uhmghefhallhen!«

Kara stand da wie vom Donner gerührt. »Wie bitte?« keuchte sie.

»Er ihsssth uhmghefhallhen!« wiederholte Hrhon. »Eihnfhahch shoh! Bhuuuhm!«

Einen Wimpernschlag lang stand Kara reglos da und starrte den Waga an, dann sprang sie mit einem Satz die zwei Stufen zum Hof hinunter, stieß Hrhon einfach beiseite und sprang selbst in den Sattel des Pferdes. »Worauf wartest du?« schrie sie. »Such dir ein anderes Pferd, das dich trägt, und dann komm! Wo sind überhaupt Angella und die anderen?«

»Bheim Fffheilher«, antwortete Hrhon. Er sah sich wild nach einem anderen Reittier um.

Was für eine dumme Frage, dachte Kara. Wo sollten sie sonst sein? Sie verspürte einen flüchtigen Ärger, daß Angella es nicht einmal für nötig gehalten hatte, sie zu wecken. Aber wahrscheinlich waren sie alle einfach zu aufgeregt gewesen. Hrhon rannte zum Tor, und Kara war ihm kaum gefolgt, als sie auch schon einsah, wie wenig ihr das Pferd nutzte: auf den Straßen herrschte ein solches Gedränge und Chaos, daß sie mit dem Tier schon nach Augenblicken hoffnungslos steckenblieb. Sie stieg aus dem Sattel und ließ das Pferd einfach stehen. Hrhon versuchte, mit seinen mächtigen Körperkräften einen Weg für sich und Kara zu bahnen, doch obwohl er alles andere als zimperlich dabei vorging, kamen sie kaum von der Stelle. Jeder einzelne Einwohner Schelfheims schien auf den Beinen zu sein. Die Luft hallte wider von Schreien und Pfiffen, und der Boden schien unter dem Gewicht Tausender hämmernder Füße zu zittern. Mehrmals fürchtete Kara, von Hrhon getrennt zu werden, und einmal verlor sie den breiten Rückenschild des Waga tatsächlich aus den Augen, fand ihn aber wieder, ehe sie in Panik geraten konnte.

Irgendwie schafften sie es, die Barriere zu erreichen, an der sie vor drei Tagen schon einmal fast gescheitert waren. Diesmal wurde das Hindernis von gleich einem Dutzend Soldaten und dreimal so vielen Hornköpfen bewacht.

Was allerdings auch bitter nötig war.

Hunderte, wenn nicht Tausende von Gestalten drängten gegen die hölzerne Wand, und der Lärm war so unbeschreiblich, daß sie sich nicht einmal mehr schreiend verständigen konnten. Kara signalisierte Hrhon mit Gesten, sich irgendwie einen Weg zu bahnen. Am Ende einer Gasse aus geprellten Rippen, ausgekugelten Armen und blutigen Nasen und Zehen erreichten sie das Tor – und Karas Herz machte einen erschrockenen Satz, als sie über einem der papageiengelben Mäntel ein Gesicht erblickte, das sie nur zu gut kannte. Vor gut drei Tagen hatte sie dieses Gesicht mit ihrem rechten Fuß ein wenig unsanft traktiert. Der Soldat schien sich ebensogut an sie zu erinnern, denn sein noch immer geschwollenes Gesicht verdüsterte sich. Aber dann hob er zu Karas Überraschung die Hand und gab ein Zeichen, sie und Hrhon durch das Tor zu lassen.

»Verdammt!« murmelte Kara. »Ich habe keine Zeit, mich jetzt mit diesen Idioten herumzuschlagen!« Finster blickte sie dem Gardesoldaten entgegen, der mit wehendem Mantel auf sie zugeeilt kam. Sie spannte sich. Sie hatte nicht vor, sich lange von diesen Operettensoldaten aufhalten zu lassen.

Aber der Mann begann plötzlich aufgeregt hinter sich zu gestikulieren, wo Kara zwei aufgezäumte Pferde erblickte. »Los doch!« brüllte er. »Macht, daß ihr weiterkommt, ehe hier der Teufel ausbricht. Diese verdammte Bande wartet doch nur auf einen Vorwand, die Sperre zu stürmen!«

Kara war ziemlich überrascht, aber sie verschwendete keine Zeit mit überflüssigen Fragen, sondern stieg in den Sattel und wartete ungeduldig, bis auch Hrhon ungeschickt auf den Rücken des Pferdes geklettert war. Wahrscheinlich hatte Angella Befehl gegeben, sie und den Waga durchzulassen. Sie sprangen los. Ganze Trupps von Soldaten und Hornköpfen kamen ihnen entgegen, manche voller frischer Kraft, andere verdreckt und erschöpft. Sie passierten einen von zwei Pferden gezogenen Wagen, auf dem ein halbes Dutzend Verletzter auf blutigen Laken lag. Dann entdeckten sie die ersten wirklichen Spuren der Katastrophe: Vor ihnen gähnte ein gewaltiges Loch in der Straße. Vier oder fünf Häuser waren in die Tiefe gestürzt.

Kara blickte schaudernd in das dunkle Loch hinab. Unheimliche Geräusche drangen aus der Tiefe: ein beständiges Rasseln und Schleifen, das gelegentliche Poltern eines Steins, das Rieseln von Sand und Kies. Dann legte Kara den Kopf in den Nacken und sah auf. Hrhon hatte übertrieben: Der Hochweg war nicht- umgefallen. Er erhob sich noch immer über den Dächern Schelfheims, und er wirkte nicht einmal schwer beschädigt. Zwei oder drei seiner Beine waren abgebrochen und zu Boden gestürzt. Kara erspähte darüber hinaus mehr oder weniger große Risse in der Brücke; hübsch anzusehende Flecke, durch die das Licht der Morgensonne schien. Wenn man genauer hinsah, erkannte man, daß ein vielleicht zwei Meilen langes Teilstück der zyklopischen Konstruktion in sich verbogen und verzogen war; ein Wunder, daß es noch hielt.

Trotzdem war das Unglück entsetzlich genug; ein tödlicher Regen aus Stein und Holz, der völlig warnungslos aus dem Himmel fiel. Kara dachte an die Häuser und Verschläge, die sie oben auf der Brücke gesehen hatte, und sie fragte sich, auf welcher Seite es wohl mehr Tote gegeben hatte – hier unten oder dort oben.

»Ich schätze, die Grundstücke unter der Brücke werden in Zukunft nicht mehr ganz so heiß begehrt sein wie bisher«, sagte sie. »Komm – beeilen wir uns. Angella wird bestimmt nicht auf uns warten.« Sie wollte auf jeden Fall dabeisein, wenn Angella in die Tiefe herabstieg, um sich die Schäden am Trieb aus der Nähe anzusehen.

Hrhon schaute sie auf eine sonderbare Weise von der Seite her an, aber Kara achtete nicht darauf, sondern trieb ihr Pferd an. Rings um den riesigen Krater herrschte eine hektische Aktivität. Seile und Leitern wurden in die Tiefe gelassen, und Männer und Hornköpfe stiegen auf der Suche nach Überlebenden hinab. Kara sah gleich Dutzende von Gräbern, und auf einem hölzernen Wagen wurden etliche Transporter herangebracht. Die Spuren der Zerstörung nahmen zu, je weiter sie in die Stadt eindrangen. Nicht alle Häuser hatte es so schlimm getroffen, daß sie gleich in den Boden hineingestampft worden waren, aber viele lagen in Trümmern. Dächer waren durchschlagen und Wände zu gewaltigen Schutthalden aufgetürmt. Überall wirbelte Staub. Glasscherben, Schutt und zertrümmerte Möbel bedeckten die Straße.

Karas Unbehagen wuchs, je näher sie dem Pfeilerhaus kam. Aber einen Pfeiler gab es hier nicht mehr.

Im ersten Augenblick glaubte sie, es läge am Staub, daß sie nirgends den Pfeiler ausmachen konnte, aber schließlich riß ein kräftiger Windstoß die Staubwolken über ihr auf, und sie konnte sicher sein: Der Pfeiler war nicht mehr da, nur noch ein größeres Trümmerstück ragte aus dem Boden.

Der Stamm war verschwunden.

Kara biß sich auf die Lippen. Offensichtlich war der ganze Trieb zusammengebrochen. Sie war fast sicher, daß Rusman oder dieser Narr Gendik allerhöchstens zwei Tage brauchen würden, um zwischen dieser Tatsache und der, daß sie in seiner unmittelbaren Nähe gearbeitet hatten, eine Beziehung herzustellen. Es würde sie nicht einmal wundern, wenn es am Ende so aussah, als wäre es ihre Schuld! Gleichzeitig begann sich eine Sorge um Donay in ihr breitzumachen. Bedachte sie die Gewohnheit des jungen Bio-Konstrukteurs, praktisch Tag und Nacht zu arbeiten, dann standen die Chancen nicht schlecht, daß er hier gewesen war, als das Unglück passierte. Kara war plötzlich froh, bald aus dieser verrückten Stadt herauszukommen.

Fassungslos blickte sie das riesige, gähnende Loch an, wo das Pfeilerhaus gestanden hatte. Der Pfeiler war nicht zusammengestürzt. Er war einfach nicht mehr da! »O mein Gott!« flüsterte Kara. »Was... was ist hier passiert?«

Hrhon hielt neben ihr an und deutete zur anderen Seite des Platzes. Hunderte von Gestalten bewegten sich hektisch am Rand des Loches. Zu ihrer Erleichterung erkannte Kara Elder unter den gelb bemäntelten Gestalten. Sie wußte nicht, warum, aber sie war plötzlich froh, ihn zu sehen.

Dann erblickte sie Donay. Der Junge war völlig verdreckt, aber offensichtlich unverletzt. Durch einen Berg aus Trümmern und Staub stolperte er auf sie und Hrhon zu.

»Donay!« Kara sprang aus dem Sattel und eilte ihm entgegen. »Was ist passiert? Um Gottes willen, was ist hier geschehen?«

Donays Lippen bewegten sich, aber im ersten Moment brachte er nur ein unverständliches Schluchzen heraus. Tränen liefen aus seinen Augen und zeichneten dunkle Spuren in den Staub auf seinem Gesicht.

Kara ergriff ihn bei den Schultern und schüttelte ihn grob. »Donay! Was ist passiert?« Ihr scharfer Ton brachte ihn ein wenig zur Besinnung.

»Tot«, stammelte Donay. »Sie... sie sind alle tot!«

Kara widerstand der Versuchung, ihn noch heftiger zu schütteln. Mit erzwungener Ruhe fragte sie noch einmal: »Was ist passiert, Donay? Bitte, beruhige dich und erzähl es mir.«

»Er ist... zusammengebrochen«, stammelte Donay. »Einfach so. Gerade war er noch da, und einen Augenblick später... nicht mehr. Er war... er war einfach weg. Es hat ihn einfach in die Tiefe gerissen. Wie... wie eine Fliege, der man ein Bein abreißt. Einfach so.«

Er begann wieder zu stammeln, und Kara sah ein, wie sinnlos es war, weiter mit ihm reden zu wollen. Unschlüssig blickte sie zu dem gewaltigen Loch hinüber. Wie einer Fliege ein Bein...

Sie erschauerte. Der Pfeilerrest sah tatsächlich wie abgerissen aus, und dieser Schacht in der Erde...

Eine Bewegung ließ sie aufblicken. Elder eilte auf sie zu. Sein Gesicht war ebenso schmutzig wie Donays, aber offensichtlich hatte der Schrecken ihm nicht die Sinne getrübt. »Kara!« rief Elder schweratmend. »Gott sei Dank, daß du kommst. Angella...«

»Ich weißt nicht, wo sie ist«, unterbrach ihn Kara ungeduldig. »Sie ist vor mir losgeritten. Was ist hier passiert? Donay behauptet, der Stamm wäre einfach nach unten gezerrt worden!«

»Das stimmt«, antwortete Elder. »Ich war in der Nähe, als es passiert ist. Es gab ein Krachen, als stürzte die ganze Stadt zusammen, und dann... verschwand der Pfeiler einfach.«

Kara ging an ihm vorbei, näherte sich vorsichtig dem Rand des Loches und kniete nieder. Mit klopfendem Herzen beugte sie sich vor. Die Schwärze unter ihr war mit bloßem Auge nicht zu durchdringen. Mit dem Stamm waren auch die Leuchtstäbe und lichtspendenden Bakterienkulturen verschwunden.

Schaudernd griff sie nach einem Stein und ließ ihn in die Tiefe fallen. Er verschwand. Sie wartete einige Momente, aber sie hörte keinen Aufprall. »Was für ein schrecklicher Abgrund«, flüsterte sie. »Als ob man geradewegs in die Hölle blickte.« Sie stand auf und wich vom Rand des gewaltigen Loches zurück. »Ich muß Angella finden. Vielleicht weiß sie, was hier passiert ist.«

Elder hielt sie an der Schulter fest, und plötzlich erschrak sie, erschrak bis auf den Grund ihrer Seele, denn sie wußte, daß etwas Furchtbares geschehen war. Dann sagte Elder. »Das habe ich dir die ganze Zeit über erklären wollen, Kara. Angella ist heute nacht noch einmal hierhergekommen, um ein letztes Mal hinunterzugehen und nach dem Fortgang der Arbeiten zu sehen.«

Kara starrte ihn an. Sie hatte das beklemmende Gefühl, als setze ihr Herz aus. »Was?« flüsterte sie.

Elder deutete auf den Abgrund zwei Schritte hinter ihr. »Es ist die Wahrheit. Sie ist dort unten, Kara.«

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