10

Sie verließen den Gouverneurspalast so rasch, daß Hrhon, der sie begleitet hatte, aber in der Halle hatte warten müssen, beinahe nicht mit ihnen Schritt halten konnte. Angella zitterte, ihre Hände hatten sich zu Fäusten geballt. Kara konnte regelrecht spüren, wie es hinter der goldenen Halbmaske brodelte. Ihre Lehrmeisterin hatte sich nicht einmal mehr die Zeit genommen, sich formell von Gendik zu verabschieden, sondern war zornig aufgesprungen und aus dem Zimmer gestürmt. Dabei war Kara mittlerweile fast sicher, daß Gendik die Wahrheit gesagt hatte: Er konnte ihnen nicht helfen, selbst wenn er gewollt hätte.

Aber das machte ihn in Karas Augen auch nicht sympathischer.

Endlich beruhigte sich Angella so weit, daß sie ein wenig langsamer ging und ihre Hände zu zittern aufhörten. Kara warf einen Blick über die Schulter, ehe sie zu ihr aufschloß. Hrhon watschelte in einiger Entfernung hinter ihnen her und hatte noch immer Mühe, nicht den Anschluß zu verlieren, während Elder dem Waga mit einigem Abstand folgte und gar nicht erst versuchte, aufzuschließen.

Es fiel Kara schwer, die richtigen Worte zu finden. »Ist es wahr, was Gendik gesagt hat? Daß... daß die Menschen uns fürchten?«

Angella zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Vielleicht fürchten sie uns, aber das ist normal.«

»Normal!« ächzte Kara. »Aber wir sind ihre Freunde!«

»Falsch!« antwortete Angella mit einem bitteren, durch und durch humorlosen Lachen. »Wir sind ihre Beschützer, nicht ihre Freunde. Der starke Arm, den sie rufen, wenn sie in Gefahr sind. Gendik hat recht: Ohne uns würden noch immer Jandhis Drachen über dieses Land herrschen. Wir haben diese Welt in weniger als einem Menschenalter zu dem gemacht, was sie ist. Und trotzdem fürchten sie uns. Oder vielleicht gerade deshalb.«

»Aber wieso?«

»Weil ihnen unsere Stärke ihre eigene Schwäche vor Augen führt«, antwortete Angella. »Außerdem verhalten die Menschen sich immer so: Sie rufen verzweifelt nach Kriegern, wenn sie sie brauchen. Aber wenn die Gefahr vorüber ist, beginnen sie sich zu fragen, ob sie den mächtigen Verbündeten wirklich noch brauchen. Zuerst kommt das Mißtrauen, dann die Furcht, und schließlich folgen Verachtung und Haß.« Sie gab einen bitter klingenden Laut von sich. »Vielleicht hätten wir ein paar von Jandhis Drachen entkommen lassen sollen, damit die Menschen von Zeit zu Zeit daran erinnert werden, wozu es uns gibt.«

»Dann ist... alles wahr, was du Gendik erzählt hast?« fragte Kara zögernd.

»Nein«, schnappte Angella wütend. »Ich habe mir alles nur ausgedacht!«

»Du hast... mir nie etwas davon erzählt«, sagte Kara.

Angella seufzte. »Ja. Vielleicht war das ein Fehler. Auch ich bin nicht vollkommen.«

Ein solches Eingeständnis hörte man selten aus Angellas Mund. Aber Kara kam nicht dazu, eine entsprechende Bemerkung zu machen, denn Angella blieb plötzlich stehen. Unsicher sah sie sich um.

»Was ist los?« fragte Kara. Ihre Hand sank unwillkürlich auf den Schwertgriff herab.

Angella deutete mit einer Kopfbewegung auf eine Gruppe von fünf oder sechs Männern, die zwanzig Schritte vor ihnen standen und sie anstarrten. Dann entdeckte Kara einen zweiten Trupp, nicht sehr weit entfernt, und als sie sich herumdrehte, tauchte hinter Elder, der ihnen in zwanzig Schritt Abstand gefolgt war, eine Gruppe von sieben oder acht Gestalten auf. Elder registrierte Karas Blick und wandte sich besorgt um. Einen Moment lang verhielt er mitten in der Bewegung, dann beeilte er sich mit weit ausgreifenden Schritten, zu Angella und Kara aufzuschließen, wobei er an Hrhon vorbeistürmte.

»Das sieht nicht gut aus«, sagte er.

Angella nickte. »Ein Hinterhalt!« Auch ihre Hand bewegte sich zum Gürtel, aber sie fand nichts. Angella trug selten eine Waffe; und schon gar nicht, wenn sie zu einer Audienz beim Herrn von Schelfheim ging.

Aber wahrscheinlich brauchte sie auch keine Waffe. Sie waren vier gegen fünfzehn, aber dieses Verhältnis war nicht so schlecht, wie es aussah. Hrhon allein wog sechs oder acht von ihnen auf, und Elder war kein Schwächling. Sie...

Aus dem Schatten einer Toreinfahrt löste sich eine weitere Fünfergruppe. Karas Blick glitt aufmerksam über die Gesichter vor ihr. Es waren grobschlächtige, schmutzige Gesichter mit wilden Augen. Die meisten Kerle hielten gleich mehrere Waffen in den Händen. Schwerter, Keulen, Messer, Sicheln und kurze Speere, manche hatten auch nur eine Latte, die mit rostigen Nägeln verziert war.

»Nett«, murmelte Kara. Mit dem Daumen der rechten Hand löste sie die Verriegelung ihres Schwertes, »Was wollen die Typen?«

»Ssschläghe, vhermhuthe isss«, zischelte Hrhon.

Elder warf ihm und Kara gleichzeitig einen warnenden Blick zu. »Seid still«, sagte er hastig. »Das ist ernst.« Er fuhr sich nervös mit der Zungenspitze über die Lippen. »Tut nichts, habt ihr verstanden? Überlaßt mir das Reden.«

Was das Reden anging, so hatte Kara nichts dagegen. Aber sie schloß vorsichtshalber die Hand um den Schwertgriff. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie sich auch Hrhon spannte.

Elder straffte die Schultern und trat den Burschen entgegen, die sich mittlerweile auf der Straße vor ihnen aufgebaut hatten. Kara mußte sich nicht herumdrehen, um zu wissen, daß es hinter ihnen genauso aussah.

»Was wollt ihr?« fragte Elder mit fester Stimme, die nichts von seiner Nervosität verriet.

»Gebt den Weg frei!«

Natürlich rührte sich niemand. Elders Hand senkte sich auf den Schwertgriff; aber es war eine Geste, die eher demonstrativ als drohend wirkte. Sie tat allerdings keine Wirkung. Kara sah, daß sein Daumen wiederholt einen der kleinen Zierknöpfe auf seinem Gürtel drückte. Was sollte das?

»Ich bin Hauptmann Elder von der Stadtwache!« versuchte es Elder noch einmal. »Ich befehle euch, den Weg freizugeben!«

Wieder reagierte niemand.

Elder wartete einen Moment vergebens darauf, daß irgend etwas geschah, während sein Finger weiterhin hektisch auf seinem Gürtel herumdrückte. Dann trat er einen Schritt zurück und zog seine Laserwaffe. »Das ist die letzte Warnung! Gebt den Weg frei!«

Die Reaktion auf seine Worte fiel anders aus, als er erhofft hatte: Die Menge vor ihnen rückte geschlossen einen Schritt vor, dann löste sich eine einzelne Gestalt aus dem Mob und deutete auf Hrhon.

»Wir wollen ihn haben, Hauptmann. Wir haben keinen Streit mit Euch. Geht. Wir wollen nur dieses Vieh. Und die beiden Hexen.«

Elder war einen Augenblick ehrlich verblüfft. Dann machte sich Zorn auf seinen Zügen breit. Mit einem Ruck hob er den Laser und zielte auf das Gesicht des Burschen vor sich. »Bist du völlig von Sinnen, Kerl?« brüllte er. »Was glaubst du, wo wir hier sind? Und wen du vor dir hast? Gib den Weg frei, oder ich schieße dich über den Haufen! Ich spaße nicht!«

Der Bursche seufzte, schüttelte fast bedauernd den Kopf und machte einen weiteren Schritt auf Elder zu, und Elder drückte ab.

Nichts geschah. Elder starrte das mattsilberne Stück Metall in seiner Hand fassungslos an und drückte noch einmal ab und noch einmal. Der Bursche vor ihm gab ihm ausreichend Zeit, seiner Verblüffung Herr zu werden. Dann stürzten sie sich wie auf ein geheimes Kommando auf sie.

Zwei warfen sich auf Elder, vier auf Hrhon und jeweils zwei Burschen auf Angella und Kara, während der Rest damit beschäftigt war, sich auf der engen Straße gegenseitig zu behindern.

Daß die Angreifer die beiden Frauen unterschätzten, war ein Fehler, den zumindest zwei von ihnen sofort bitter bereuten. Kara riß ihr Schwert aus der Scheide und empfing den ersten mit einem Stoß des Schwertknaufs, der ihn die Hälfte seiner Zähne kostete und ihn mit einem gurgelnden Schrei zurücktaumeln ließ. In der gleichen Bewegung wirbelte die Waffe herum, verwandelte sich in einen schimmernden Kreis aus Stahl und befreite den zweiten Burschen von seinem Schwert. Dann sprang Kara nach vorn, fegte einem dritten Angreifer die Beine unter dem Leib weg und versuchte, die Kehle des Mannes zu treffen, als er stolperte.

Ihr Hieb ging ins Leere. Sie strauchelte, vom Schwung ihrer eigenen Bewegung mitgerissen, und versuchte, mit einem raschen Schritt das Gleichgewicht wiederzufinden. Sie wäre wahrscheinlich trotzdem gestürzt, wäre nicht einer der Angreifer so dumm gewesen, nach ihrem Schwert zu greifen, um ihr die Waffe aus der Hand zu reißen.

Sein Fehler kostete ihn zwei oder drei Finger, und der plötzliche Ruck half Kara, ihre Balance wiederzuerlangen. Mit einem Tritt schleuderte sie den Mann vollends zu Boden, schmetterte einem anderen die flache Seite der Klinge ins Gesicht und hatte sich für einen Moment Luft verschafft.

Es sah nicht gut aus.

Schon nach kurzer Zeit ähnelte die Straße einem Schlachtfeld. Ein halbes Dutzend Männer lag verwundet oder sterbend am Boden, aber die Übermacht war einfach erdrückend.

Angella hatte ihre beiden Gegner niedergeschlagen und stand mit gespreizten Beinen und leicht vorgebeugtem Oberkörper da, die Hände pendelten locker neben ihren Hüften. Elder hatte endlich eingesehen, daß sein Laser nicht funktionierte, er hatte sein Schwert gezogen und stocherte damit in der Luft herum, um die Männer vor sich auf Distanz zu halten. Seine freie Hand drückte noch immer wie wild auf dem Knopf an seinem Gürtel herum.

Hrhon wehrte sich nach Kräften, aber Kara verstand plötzlich, was Gendik vorhin gemeint hatte: Als einzigen Gegner schienen die Angreifer ihn richtig eingeschätzt zu haben. An jedem seiner Arme hingen gleich drei Burschen und versuchten, ihn zu Boden zu zerren, zwei weitere stießen mit ihren Schwertern nach ihm. Hrhons wild austretende Beine hielten sie noch auf Distanz. Aber früher oder später würde einer von ihnen einfach Glück haben und seine Klinge durch einen Spalt in seinem Panzer stoßen.

Die nächste Attacke trugen die Angreifer sowohl entschlossener als auch klüger vor. Gleich zwei Burschen mit langen Schwertern und ein dritter mit einer mit rostigen Nägeln gespickten Holzlatte drangen auf Kara ein. Mit einer blitzschnellen Hieb- und Stichkombination trieb sie die beiden ersten wieder auf Distanz zurück, traf sie aber nicht. Dafür mußte sie selbst einen Treffer des Knüppels in Kauf nehmen. Die Nägel vermochten ihre Jacke nicht zu durchdringen, aber die pure Wucht des Schlages ließ sie aufstöhnen. Mit einem Konterschlag kappte sie die Latte um die Hälfte, traf aber auch den Mann wieder nicht. Und die beiden anderen griffen erneut an.

Kara sprang zur Seite, spürte instinktiv die Gefahr hinter sich und ließ sich mit einer halben Drehung auf das linke Knie fallen. Ein halber Meter Stahl zischte so dicht über ihren Kopf hinweg, daß sie den Luftzug spüren konnte, aber fast im gleichen Augenblick traf ihr Schwert auch das Schienbein des Mannes, der sie angegriffen hatte. Er brach mit einem gellenden Schrei zusammen. Kara warf sich zur Seite, als der Mann sie unter sich zu begraben drohte, kam mit einer Rolle wieder auf die Füße und riß gleichzeitig die Waffe an sich, die der Mann fallengelassen hatte.

»Angella!«

Angella stieß einen Mann von sich, der mit einer dreizinkigen Harke nach ihrem Gesicht zu stoßen versuchte, riß den Arm hoch und griff nach dem Schwert, das Kara schleuderte. Sie fing es auf, mußte aber im gleichen Augenblick einen Schwerthieb gegen den anderen Arm hinnehmen. Der schwarzsilberne Stoff ihrer Jacke färbte sich rot.

Der Angreifer fand nicht viel Zeit, sich an seinem Erfolg zu freuen. Angella tötete ihn fast im gleichen Moment, und Kara wandte ihre Aufmerksamkeit wieder ihren eigenen Gegnern zu. Die Burschen begannen allmählich, eine gewisse Taktik zu entwickeln, die Kara nicht besonders gefiel. Immer zwei von ihnen griffen absolut gleichzeitig an, während der dritte ein wenig später nachsetzte, so daß Kara gewärtig sein mußte, jedesmal zumindest einen Treffer hinzunehmen. Noch schützte sie das zähe Drachenleder ihrer Jacke, aber es gab praktisch keinen Muskel in ihrem Körper, der nicht schmerzte. Früher oder später würde sie wirklich getroffen werden. Angella war bereits verwundet.

Als die beiden Männer das nächste Mal heranstürmten, schlug Kara nicht nach ihren Schwertern, sondern sprang in die Höhe, drehte sich um ihre eigene Achse und trat mit aller Gewalt zu. Ihr Fuß zerschmetterte den Unterkiefer des Mannes; gleichzeitig kam Kara wieder auf die Füße und führte einen schnellen Stich, der den zweiten Angreifer niederstreckte. Der dritte zog sich hastig zurück. Wieder hatte Kara sich eine Atempause verschafft.

Die Situation wurde immer brenzliger.

Obwohl Kara und die anderen etliche Gegner ausgeschaltet hatten, wuchs die Zahl der Angreifer noch. Die Männer hatten Verstärkung bekommen, denn der Hinterhalt war sorgfältig geplant gewesen. Lange würden sie sich nicht mehr halten können. Mit einem raschen Blick überzeugte sie sich davon, daß Angella allein zurechtkam, und sprang dann an Elders Seite. Der Hauptmann blutete aus einem Dutzend kleinerer Wunden. Er wankte. Sein Atem ging schnell und stoßweise. Er schlug heftig mit dem Schwert um sich, ohne allerdings zu treffen, und seine andere Hand drückte noch immer an seinem Gürtel herum. »Offizier in Not!« keuchte er. »Verdammt noch mal, ich brauche Hilfe!« War er verrückt geworden?

Kara schaffte ihm zwei seiner Gegner vom Hals und mußte sich dann mit einem hastigen Sprung selbst in Sicherheit bringen, denn Elder drosch blindlings auf alles ein, was sich bewegte. Kara schleuderte einen dritten Mann mit einem Tritt zu Boden und zerrte Elder dann mit sich ein Stück auf Hrhon zu. Der Waga brüllte aus Leibeskräften und hatte bereits drei oder vier Männer einfach niedergetrampelt, aber auch sein Schuppenpanzer war über und über mit Blut bedeckt.

Kara beschloß, das Risiko einzugehen und Elder einen Moment alleinzulassen; sie eilte zu Hrhon und stieß einem der Burschen, die den Arm des Waga hielten, das Schwert in den Rücken. Der andere drehte sich mit einem zornigen Knurren zu ihr herum, beging aber den tödlichen Fehler, Hrhons Hand loszulassen.

Einen Augenblick später packten Kara und der Waga Elder einfach bei den Schultern und zerrten ihn zu Angella hinüber. Rücken an Rücken hatten sie eine bessere Chance, die Angreifer auf Distanz zu halten. Drei oder vier von ihnen fielen, ehe sie wußten, wie ihnen geschah. Aber die verbliebene Übermacht war immer noch erdrückend. Kara kämpfte. Je mehr sie erschlugen, desto mehr schienen sie zu werden.

Keuchend sah sie sich um. Die Straße glich einem Schlachthaus. Zahlreiche Männer lagen tot oder schwer verwundet auf dem Boden, und überall war Blut. Elder bearbeitete noch immer seinen Gürtel und schrie: »Offizier in Not! Wir brauchen Hilfe!«

»Verdammt noch mal, halt endlich das Maul!« schrie Kara. Gleichzeitig erwehrte sie sich eines weiteren Angriffs und sah sich erneut wild um. Sie brauchten einen Fluchtweg.

Der Angriff der Gegner verlor jedoch an Schwung. Noch immer zuckten Schwerter und Knüppel nach ihnen, aber die Angreifer beschränkten sich jetzt darauf, sie in Atem zu halten. Keiner kam ihnen nahe genug, daß sie ihn treffen konnten. Natürlich bemerkten auch Angella und Elder diesen Umstand. »Was ist los?« murmelte Angella. »Das gefällt mir nicht.«

»Vielleicht haben sie genug«, keuchte Elder.

»Da stimmt etwas nicht«, entgegnete Angella schweratmend. Sie hatte recht.

Als wäre ihre Bemerkung ein Stichwort gewesen, zogen sich die Angreifer plötzlich ein gutes Stück zurück und gaben eine Gasse frei.

Vor Kara und den anderen stand der größte Hornkopf, den sie je gesehen hatte.

Es war eine Termite, fünf oder mehr Meter lang und mit einem Schädel, der allein so breit wie Hrhons ganzer Körper war. Ihre schnappenden Zangen waren länger als Karas Arme. Kara erstarrte für einen Moment. Sie hatte von solchen Giganten gehört, seltene Mutanten, die in den großen Strahlenwüsten des Westens lebten, aber noch niemals einen gesehen; geschweige denn gegen ein solches Monstrum gekämpft.

»Großer Gott!« flüsterte Elder. »Wie um alles in der Welt haben sie diese Bestie in die Stadt bekommen, ohne daß wir es merkten?! «

»Du hast vielleicht Sorgen, Elder«, murmelte Angella.

»Warum fragst du sie nicht?«

Kara hörte kaum hin. Ihr war etwas aufgefallen, von dem sie nicht einmal wußte, ob es etwas bedeutete. Einer der Männer, derselbe, der am Anfang mit Elder gesprochen hatte – hatte sich jetzt zu der Termite herumgedreht und starrte sie an. Seine linke Hand lag auf einem kleinen Kästchen an seinem Gürtel. Es sah aus, als... als spräche er mit dem Hornkopf, dachte Kara verstört. Sie verscheuchte den Gedanken.

»Passst auf ssseinhe Sssanghen aufh«, sagte Hrhon. »Whenn whir ihn ahllhe sssuhssammhen anghreifhen, habhen whir einhe Ssshansshe.«

»Was!« rief Elder verwirrt.

Angella winkte ab. »Vergeßt es. Wir müssen versuchen, seine Beine zu erwischen. Wenn wir drei oder vier davon kappen, ist er harmlos.«

So weit die Theorie. Die Praxis sah allerdings anders aus, denn Hrhon stieß plötzlich ein markerschütterndes Gebrüll aus, rannte die vor ihm stehenden Männer einfach über den Haufen und stürzte sich mit erhobenen Armen auf den Hornkopf. Es dröhnte, als schlüge ein Riesenhammer auf einen noch größeren Amboß, als seine Fäuste auf den Schädel der Termite krachten. Der Hieb hätte ausgereicht, einen ausgewachsenen Bullen auf der Stelle zu töten.

Das Rieseninsekt schien den Schlag nicht einmal zu spüren. Seine fürchterlichen Mandibeln schnappten zusammen, und aus Hrhons Kampfgebrüll wurde ein erschreckendes Kreischen. Blitzartig zog er Beine und Kopf in seinen Panzer zurück, wodurch er sich vollends in eine zu groß geratene Schildkröte verwandelte. Der Hornkopf bewegte zornig den Schädel hin und her. Kara hörte, wie der Panzer des Waga zu knirschen begann.

»Wir müssen ihm helfen!« schrie Angella. »Los!«

Nebeneinander stürmten sie los, aber sie erreichten den Hornkopf nicht, denn in diesem Moment griffen die Banditen wieder an. Und obwohl sie Hrhons Ausfall schwächte, trieben sie die Männer im allerersten Moment noch zurück.

Allerdings nicht für sehr lange.

Sie hatten zu nachdrücklich bewiesen, wie gut sie in der Lage waren, sich ihrer Haut zu wehren, so daß niemand mehr versuchte, sie wirklich zu treffen. Die Männer beschränkten sich lediglich darauf, die beiden Drachenkämpferinnen und den Gardehauptmann aufzuhalten; im übrigen bauten sie darauf, daß ihr sechsbeiniger Verbündeter den Hauptteil der Arbeit für sie übernahm.

Kara brachte inmitten eines wüsten Hagels von Schlägen das Kunststück fertig, einen Blick zu Hrhon und dem Hornkopf hinüberzuwerfen, und was sie sah, ließ sie zusammenzucken. Der Hornkopf hielt Hrhon noch immer mit den Zangen gepackt und schüttelte ihn wild. Er hockte wie eine riesige, mißgestaltete Spinne auf der Straße, mit weit gespreizten Beinen und zitterndem Hinterleib. Offenbar legte er alle Kraft in seine Kiefer, um den Panzer des Waga zu zerbrechen. Kara wußte, wie hart die Schale des Waga war. Aber die Kräfte dieses gigantischen Insektenmonstrums mußten einfach unvorstellbar sein. Karas Blick suchte den Mann, den sie vorhin bei der Termite gesehen hatte. In ein paar Augenblicken würde der Hornkopf Hrhon getötet haben, und dann würde er sich zweifellos mit Angella, Elder und ihr befassen. Auf seine ganz persönliche Art. Kara verschaffte sich mit einem wütenden Schwerthieb Luft und sprang mit einem Salto über den Kopf eines verblüfften Banditen hinweg. Dann fuhr sie herum und sah sich drei weiteren Gegnern gegenüber – und dem Mann, den sie gesucht hatte.

Zwei Dinge machten ihren Verdacht zur Gewißheit: Der Schmutz auf dem Gesicht war nicht echt, sondern vor nicht allzu langer Zeit künstlich aufgetragen worden. Außerdem waren seine Augen auffällig. Es waren die Augen eines Kriegers, die sie mit einem einzigen Blick taxierten. Wer immer dieser Mann sein mochte – er gehörte ganz bestimmt nicht zu dieser Bande von Halsabschneidern hinter ihr, die sie wahrscheinlich nur angriffen, weil man ihnen Geld dafür gab.

Kara machte eine Bewegung aus dem Handgelenk und schlug einen Mann nieder, fast ohne es zu bemerken. »Wie ist es?« fragte sie schweratmend.

»Nur du und ich?«

Im allerersten Moment schien ihr Gegenüber ehrlich verblüfft zu sein – aber dann reagierte er genauso, wie Kara gehofft hatte: In seinen Augen flammte es spöttisch auf. Mit einer Handbewegung scheuchte er die anderen Männer zurück und hob gleichzeitig seine Waffe. Kara sah, daß das Schwert in gewisser Weise seinem Gesicht ähnelte. Der Schmutz und Rost darauf waren sorgsam aufgetragen worden. Darunter verbarg sich eine Klinge, die ihrer ebenbürtig war.

»Du weißt nicht, was du tust, Kindchen«, sagte er. »Aber bitte. Ganz wie du willst.«

Er griff an, und schon seine allerersten Bewegungen verrieten Kara, daß auch er ein ebenbürtiger Gegner war.

Ein ganzer Hagel von Hieben und Stichen ließ sie zurücktaumeln. Er hätte sie mit dem zweiten oder dritten Hieb erledigen können, hätte er es gewollt. Aber er wollte es nicht. Statt dessen gefiel er sich darin, Katz und Maus mit ihr zu spielen und ihr zwei schmerzhafte, blutende Schnitte auf beiden Handrücken zuzufügen.

Kara sprang mit einem Keuchen zurück und betrachtete verblüfft ihre Hände. Sie hatte nicht einmal gespürt, daß er sie getroffen hatte.

Der Bursche grinste und wechselte spielerisch das Schwert von der rechten in die linke Hand. »Nun, Kleines«, feixte er. »Überrascht? Dabei habe ich noch gar nicht richtig angefangen.« Er machte einen Ausfall, dem Kara mit Mühe und Not entging, und lachte blasiert. Einen schwachen Punkt hatte er also doch, dachte Kara. Dummerweise nutzte ihr diese Erkenntnis im Moment nicht viel.

Ein Schatten flog über sie hinweg, als der Hornkopf Hrhon mit einer einzigen Bewegung über die Straße und gegen die Wand eines Hauses schleuderte. Die Wand brach krachend zusammen, und Hrhon blieb inmitten eines Hagels aus niederstürzenden Trümmern und Staub liegen. Er regte sich nicht mehr.

Kara duckte sich unter einem weiteren Hieb, tat so, als wolle sie nach links ausweichen, und machte dann einen blitzschnellen Schritt in die entgegengesetzte Richtung. Ihr Gegner fiel nicht darauf herein, sondern konterte mit einem Schlag, der ihre Deckung fast mühelos durchbrach und sie von der Hüfte bis zur Achsel aufgeschlitzt hätte, hätte sie nicht die Jacke aus Drachenleder geschützt. Aber auch so prallte sie mit einem Schmerzensschrei zurück, glitt in einer Blutlache aus und fiel auf den Rücken. Sofort war der Fremde über ihr und setzte ihr die Schwertspitze an die Kehle.

»Du warst nicht schlecht, Kleines«, sagte er fröhlich. »Für ein dummes Kind.«

»Bitte nicht«, stöhnte Kara. Sie versuchte vergeblich, den Kopf zurückzubiegen, um der rasiermesserscharfen Klinge auszuweichen. Blut lief warm und klebrig über ihren Hals. Als sie den Kopf zur Seite drehte, sah sie, wie sich der Hornkopf mit staksigen, mühsam aussehenden Schritten in Bewegung setzte, um Hrhon nachzusetzen.

Die Klinge ritzte ihre Kehle. »Bitte nicht?« flüsterte sie noch einmal. »Ich gebe auf.«

Der Mann zögerte. Er war nicht überzeugt, aber verunsichert. »Wie?« fragte er.

Hätte Kara genickt, hätte sie sich wahrscheinlich die Kehle aufgerissen. So wiederholte sie gepreßt: »Ich gebe auf. Wirklich.«

»Kein Trick?« vergewisserte sich der Mann mißtrauisch.

»Bestimmt nicht«, krächzte Kara. »Ich will nicht... sterben.«

Der Mann zögerte noch einen Moment, dann trat er ein Stück zurück und machte eine auffordernde Bewegung mit der freien Hand. »Steh auf. Und keine falsche Bewegung.«

Kara betete zu allen ihr bekannten Göttern (die, die sie nicht kannte, schloß sie vorsichtshalber gleich mit in ihr Stoßgebet ein), daß jede ihrer Bewegungen richtig war; sie löste mit übertriebener Gestik die Hand vom Schwert und stand auf. Die Klingenspitze an ihrem Hals folgte ihr getreulich. Der Druck ließ keinen Deut nach.

»Vielleicht lasse ich dich wirklich am Leben«, sagte der Bursche. »Du siehst eigentlich ganz hübsch aus.«

»Das wäre nett«, antwortete Kara, lächelte und ließ sich in die Schwertklinge hineinfallen, womit der Mann überhaupt nicht gerechnet hatte.

Im allerletzten Moment drehte sie Kopf und Oberkörper zur Seite. Das Schwert schnitt fingertief in ihren Hals, ohne jedoch eine lebenswichtige Ader zu treffen, glitt unter ihre Jacke und durchbohrte ihre Schulter unter dem Schlüsselbein. Kara schrie vor Schmerz, als die Klinge in ihrem Rücken wieder austrat, aber gleichzeitig packte sie den Arm des Angreifers und brach ihm mit einem einzigen Hieb das Handgelenk.

Der Kerl brüllte. Kara rammte ihm das Knie zwischen die Beine, versetzte ihm einen Hieb mit dem Ellbogen zwischen die Schulterblätter und riß das Knie zum zweiten Mal in die Höhe, so daß es in seinem Gesicht landete.

Sie und ihr Gegner brachen fast gleichzeitig zusammen. Kara sank auf die Knie, kämpfte einen Moment mit aller Macht dagegen an, das Bewußtsein zu verlieren, und hob die Hand zu dem Schwert, das noch immer in ihrer Schulter steckte. Ihr war übel, und sie hatte entsetzliche Angst, aber sie mußte es tun, solange sie überhaupt noch die Kraft dazu hatte.

Der Schmerz, mit dem die Klinge ihre Schulter durchbohrt hatte, war grauenhaft gewesen.

Der Schmerz, mit dem sie es wieder herauszog, war unvorstellbar.

Sie mußte wohl doch für einen Moment das Bewußtsein verloren haben, denn das nächste, woran sie sich erinnerte, war, auf dem Gesicht in einer rasch größer werden Lache ihres eigenen Blutes zu liegen. Es konnten nur ganz wenige Augenblicke vergangen sein, denn der Hornkopf hatte Hrhon noch nicht erreicht, und rings um sie herum tobte der Kampf mit unverminderter Heftigkeit weiter. Kaum eine Handspanne vor sich gewahrte sie das Gesicht des Mannes, der sie niedergeschlagen hatte. Seine Augen waren trübe vor Schmerz, aber er war bei Bewußtsein und erkannte sie.

»Das war... nicht besonders fair von dir«, murmelte er. Blut lief aus seinem Mund und seiner zerschlagenen Nase.

»Wer hat je behauptet, daß ich fair bin, du Idiot?« gab Kara ebenso leise zurück. Dann nahm sie ihre letzte Kraft zusammen und schlug ihm den Ellbogen gegen die Schläfe. Und bevor sie das Bewußtsein verlor, löste sie das kleine Kästchen von seinem Gürtel und zerschmetterte es.

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