21

»Libellen?« Kara blickte abwechselnd Cord, Storm und die Magierin an, dann fragte sie noch einmal: »Sagtest du tatsächlich: Libellen?«

Cord nickte. Er sah verstört aus, beinahe ein wenig unglücklich, fand Kara. In einer hilflosen Geste breitete er die Hände aus. »Das haben die Bauern jedenfalls gesagt: Zwanzig Meter große Libellen, die etwas auf ihre Felder gesprüht haben. Kurze Zeit darauf begann die Ernte an den Halmen zu verfaulen.«

»Zwanzig Meter, so«, murmelte Kara. »Nicht fünfzig oder zweihundert?«

»Es sind einfache Bauern«, wandte Storm ein. »Sie waren zu Tode erschrocken, und solche Menschen neigen erfahrungsgemäß zu Übertreibungen. Aber selbst wenn man die Hälfte wegstreicht, bleibt es erstaunlich genug.«

»Es gibt auch keine zehn Meter großen Libellen«, sagte Kara. »Du meinst, wir kennen keine«, verbesserte sie Cord. »Denk an die Termite, die euch in Schelfheim angegriffen hat.«

Kara machte eine ärgerliche Geste. »Das war etwas anderes. Ein Mutant. Sie sind selten, und sie leben nicht lange. Und vor allem greifen sie nicht die Felder harmloser Bauern an und sorgen dafür, daß ihre Ernte verdirbt.« Sie überlegte einen kurzen Moment. »Vielleicht haben sie einen Fehler gemacht. Ich meine, vielleicht haben sie die Ernte durch eigene Schuld verdorben und sich diese verrückte Geschichte nur ausgedacht?«

»Wozu?« fragte Storm. »Sie sind selbständige Bauern, keine Lehnsmänner oder Arbeiter. Niemand ersetzt ihnen ihren Schaden. Und sie haben keine Strafe zu befürchten, sieht man von einem langen und hungrigen Winter ab. Nein – sie haben etwas gesehen. Wir müssen nur herausfinden, was es wirklich war.«

Kara überlegte. Ihr Kopf schwirrte von den zahllosen Berichten, die sie gehört hatte und von denen die lächerliche Geschichte der zwanzig Meter großen Libellen nur der letzte gewesen war. Nein – Angella hatte ihr wirklich nicht alles gesagt. Es war schlimmer, viel viel schlimmer, als sie befürchtet hatte, und es war sehr viel mehr passiert, als Angella in jenem kurzen Gespräch mit Gendik erzählt hatte. Aber nichts davon ergab Sinn. Kara hatte das Gefühl, vor den Teilen eines gewaltigen Puzzles zu sitzen.

Sie warf einen fast hilfesuchenden Blick in die Runde. Die Versammlung, die sie verlangt hatte, war nicht mehr am selben Abend anberaumt worden, sondern erst drei Tage später. Kara begann sich zu fragen, ob diese Versammlung wirklich eine gute Idee gewesen war. Was sie erfahren hatte, war entschieden mehr gewesen, als sie im Grunde wissen wollte. Es gab keinesfalls nur ein paar böse Ahnungen auf kommendes Unheil, nein – das Land brannte bereits; überall und lichterloh.

Die letzten drei Tage waren auch die vielleicht schwierigsten in Karas Leben gewesen. Neben der Entscheidung, ob und wie sie Angellas Erbe antreten sollte, hatte es buchstäblich tausend Dinge gegeben, die sie zu regeln hatte. Gleich mit ihrer ersten Entscheidung hatte sie gegen die Konventionen verstoßen, an die sich zu halten Cord sie ermahnt hatte. Sie hatte sich geweigert, ihr kleines Zimmer im Trakt der Schülerinnen und Schüler aufzugeben, und statt dessen Angellas weitläufiges, aus gleich vier Räumen bestehendes Quartier zu beziehen.

Doch ihre Gedanken kehrten in die Wirklichkeit zurück, als ihr klar wurde, daß nicht nur Cord, sondern auch Storm und Aires sie ansahen und offensichtlich darauf warteten, daß sie etwas sagte. Sie räusperte sich, versuchte es mit einem Lächeln, auf das weder die beiden Drachenkämpfer noch die Magierin reagierten, und wurde übergangslos wieder ernst. »Das klingt alles ziemlich schlimm«, sagte sie. »Ich frage mich, ob es wirklich so schlimm ist. Oder ob wir Gespenster sehen.« Sie hob die Hand, als Aires etwas sagen wollte, und deutete auffordernd auf Cord.

»Bitte, fasse noch einmal die wichtigen Punkte zusammen. Und zeige sie uns auf der Karte.«

Cord erhob sich und trat an die zweifarbige Karte, die fast die gesamte Wand neben der Tür bedeckte. Obwohl sie so groß war, war sie doch in einem Maßstab gehalten, der selbst Schelfheim kaum größer als Fliegendreck erscheinen ließ. Die Karte zeigte die ganze bekannte Welt – nämlich den grob dreieckig geformten, mit einem unregelmäßigen, hakenförmigen Ausläufer am unteren Ende versehenen Kontinent, der Karas Welt darstellte. Das ihn umgebende, in Beige gehaltene Terrain täuschte:

Das Land war weder zur Gänze unbekannt, noch war es harmlos. Der Schlund, wie der Grund der ausgetrockneten Ozeane genannt wurde, war Gäas Reich. Bisher war jeder Versuch, ihn zu durchqueren, gescheitert. Sie wußten, daß der von ihnen bewohnte Kontinent nicht der einzige auf dieser Welt war; vielleicht nicht einmal der größte. Dort drüben – wo immer dieses Drüben lag – konnte buchstäblich alles sein; von strahlenverseuchten, toten Wüsten bis hin zu einer technischen Hochkultur, die Schiffe baute, die unter Wasser zu fahren imstande waren. Vor zehn Jahren hatten sie den Angriff eines Feindes abgewehrt, der aus dem großen Nichts jenseits des Schlundes kam. Manche behaupteten, daß sie ihn bei dieser Gelegenheit vernichtend geschlagen hätten, aber Kara war sich dessen nicht sicher, doch sie glaubte, bald eine Antwort auf diese Frage zu finden. »Schelfheim«, sagte Cord und legte die Hand auf einen mittelgroßen Punkt auf der Karte. »Was dort passiert ist, muß ich nicht wiederholen.« Seine Hand wanderte ein Stück nach rechts. »In dieser Stadt werden im nächsten Frühjahr keine Kinder geboren werden, denn seit drei Monaten werden die Frauen dort nicht mehr schwanger. Niemand weiß, warum das so ist.«

Er legte eine dramatische Pause ein, ehe er die gespreizten Finger seiner Hand weiterwandern ließ. »Hier liegt das Gebiet, in dem die Bauern die Libellen gesehen haben wollen«, fuhr er fort. »Tatsache ist, daß die gesamte Ernte binnen weniger Tage verdorben ist. Das gleiche ist übrigens auch hier und hier und hier...« Seine Hand fuhr mit einer wischenden Bewegung über die Karte, wobei sie ein Geräusch verursachte, das Kara einen eisigen Schauer über den Rücken jagte. »... passiert. Nur, daß uns von dort keine Meldungen über riesige Libellen oder andere Ungeheuer erreichten. Was hier geschehen ist, das weiß niemand.« Der nächste Punkt auf der Karte lag schon recht nahe am Drachenhort. Kara fragte sich, ob es einen zeitlichen Zusammenhang zwischen all diesen Geschehnissen gab und ob sich das Unglück vielleicht auf den Hort zubewegte, aber sie unterbrach Cord nicht, sondern hob sich die entsprechende Frage für später auf.

»Es gab einen ungewöhnlich heftigen Sturm, und einige behaupten, daß der Regen, den er mitbrachte, blau gewesen sei. Am nächsten Morgen waren jeder Mann und jede Frau über dreißig tot.«

Kara erschrak. Davon hatte Cord bisher noch nichts gesagt. »Wurden auch andere betroffen?« warf Aires ein.

Cord schüttelte den Kopf. »Ausschließlich Menschen«, sagte er. Seine Hand wanderte weiter, berührte flüchtig den Drachenhort und glitt nach Westen. Kara atmete innerlich auf. »Hier geschah etwas höchst Seltsames: ein See, der seit Jahrtausenden ausgetrocknet war, füllte sich in wenigen Tagen wieder mit Wasser.«

»Aber jeder, der davon trank, wurde krank oder starb«, sagte Kara.

Cord sah sie überrascht an. »Woher weißt du das?«

»Es war nur eine Vermutung«, gestand Kara.

»Sie trifft die Sache auch nicht ganz«, sagte Cord. »Nicht alle sind gestorben, denn nicht alle haben von dem Wasser getrunken. Die davon gekostet und es überlebt haben, sagen, es hätte... tot geschmeckt.«

»Tot?«

Cord nickte. »Ich habe eine Probe davon angefordert, damit Demares sie untersuchen kann. Aber es heißt, es schmeckt wie Wasser, das ein paar hundert Jahre in einem Faß gestanden hat. Das allein ist noch nicht das Schlimme. Niemand zwingt die Menschen dort schließlich, davon zu trinken. Aber der See beginnt auch alle Quellen in der Umgebung zu vergiften. Wenn sich keine Lösung findet, werden die Bauern dort ihr Land aufgeben und wegziehen müssen.« Er atmete hörbar ein, dann kehrte seine Hand zurück und berührte einen Punkt am entgegengesetzten Ende der Karte.

»Und schließlich hier«, erklärte er in einem Ton, der klarmachte, daß er sich das Wichtigste bis zum Schluß aufgehoben hatte. »Dort regnet es.«

»Und?« fragte Kara.

»Seit vier Monaten«, fuhr Cord fort. »Ohne daß es bisher auch nur eine einzige Minute aufgehört hätte. Das Land ist ein einziger Morast. An vielen Stellen ist die Erdkrume schon bis auf den nackten Fels weggespült worden.«

Kara betrachtete die Karte voller Besorgnis. Cord hatte nur die schlechtesten Neuigkeiten erwähnt, die den Drachenhort in den letzten Monaten erreicht hatten. Und für einen unwissenden Betrachter wäre die Besorgnis auf seinem und den Gesichtern der anderen nicht einmal verständlich gewesen; schließlich war es nur ein schmaler Streifen an der Küste entlang, den das Unglück betroffen hatte. Aber die Welt bestand im Grunde nur aus diesem schmalen Streifen an der Küste; selbst nach all der Zeit präsentierte sich das Landesinnere als eine monotone, radioaktiv verseuchte Wüste und als ein unbewohnbares, verseuchtes Gebirge.

Plötzlich hatte Kara das Gefühl, daß Cords Gesten ein ganz bestimmtes Bild ergaben. Aber bevor sie den Gedanken aussprechen konnte, kam ihr Aires zuvor.

»Wißt ihr, woran mich das erinnert?« Die Magierin beantwortete ihre eigene Frage nicht sofort, sondern stand auf und trat an die Karte heran, als müsse man nur gut genug hinsehen, um die Antwort in winzigen Buchstaben darauf zu erkennen. Schließlich tat Kara ihr den Gefallen und fragte: »Woran?«

»Vorausgesetzt, hinter all diesen Dingen steckt wirklich jemand«, antwortete die Magierin, ohne den Blick von der Karte zu nehmen, »dann habe ich das Gefühl, er weiß selbst noch nicht so recht, was er da tut.«

»Wie bitte?« fragte Storm verblüfft.

Die Magierin nickte so heftig, daß ihr schulterlanges, silberfarbenes Haar flog. »Ich glaube, sie probieren einfach nur herum. Sie spielen mit uns. Anscheinend wissen sie selbst noch nicht so genau, wie sie uns am besten bekämpfen können, und probieren einfach verschiedene Wege aus. Nebenbei...« Sie drehte sich nun doch herum, um Storm und die anderen anzusehen. »... der Winter wird in diesem Jahr viel früher kommen. Und er wird sehr hart und lang werden.«

»Bist du sicher?« fragte Storm erschrocken. Es war eine dumme Frage, die nur seinen Schrecken verdeutlichte, und Aires antwortete auch nicht darauf. Wenn es einen Menschen gab, der die geheimen Zeichen der Natur zu erkennen und zu deuten wußte, dann war es die Magierin.

»Du glaubst also auch, daß irgend jemand dahintersteckt«, sagte Kara. Ihr fiel selbst auf, daß ihre Stimme beinahe erleichtert klang, und sie schämte sich ein wenig.

Aires nickte. »Für meinen Geschmack sind das zu viele Zufälle«, sagte sie.

»Dann sollten wir etwas dagegen unternehmen«, bemerkte Storm. »Wir müssen unsere Leute an jeden dieser Orte schicken. Wir müssen mit jedem reden, der irgend etwas gesehen hat. Irgendwo muß sich ein Hinweis finden.«

»Gut überlegt«, sagte Aires. »Aber sehr viel nützlicher wäre es, dabeisein zu können, wenn wieder etwas Ungewöhnliches geschieht.«

»Sicher. Fragt sich nur, wie. Kannst du jetzt zufällig in die Zukunft blicken?«

»Gottlob nicht«, erwiderte Aires lächelnd. Sie wurde sofort wieder ernst. »Mir liegen Berichte von Reisenden vor, die in den Schlund vorgestoßen sind. Ich weiß nicht was, aber... irgend etwas geschieht dort. Die Tiere sind unruhig geworden. Manchmal ist der ganze Dschungel in Aufruhr, dann wieder herrscht für Tage unnatürliches Schweigen.« Sie zuckte mit den Schultern. »Natürlich kann das alles eine ganz gewöhnliche Ursache haben. Niemand von uns weiß wirklich etwas über den Schlund. Trotzdem habe ich mich entschlossen, mich selbst davon zu überzeugen, was dort vor sich geht.«

Für Augenblicke trat Stille ein. Aller Aufmerksamkeit richtete sich auf Aires. Dann sagte Cord: »Hältst du das für eine gute Idee?«

»Nein«, gestand Aires lächelnd. »Leider aber trotzdem für die beste, die ich im Moment habe.«

Cord blieb sehr ernst. »Der Schlund ist gefährlich, Aires. Nur zwei von drei Reisenden, die sich hineinwagen, kehren zurück.«

»Vielen Dank für die Warnung«, sagte Aires spöttisch. »Ich wäre nie von selbst darauf gekommen, weißt du?«

»Ich glaube, Cord meint, daß wir es uns nicht leisten können, dich zu verlieren«, sagte Kara. »Du bist das Gehirn des Drachenhortes. Wenn dir etwas zustößt, ist es um uns schlecht bestellt.«

Aires nickte. »Ich werde auf mich aufpassen«, sagte sie. »Ich bin vielleicht alt, aber nicht lebensmüde.«

»Verbiete es ihr«, sagte Cord. »Das ist viel zu gefährlich. Du mußt es ihr verbieten, Kara!«

»Das könnte ich«, sagte Kara. Sie sah die Magierin durchdringend an, aber Aires’ Lächeln blieb so rätselhaft wie bisher. »Aber ich werde es nicht tun.«

»Und warum nicht?« fragte Storm. Auch er schien nicht sehr begeistert von der Vorstellung zu sein, daß sich Aires einer solchen Gefahr aussetzte.

»Weil sie recht hat«, antwortete Kara. Sie spürte es. Sie wußte einfach, daß es nur einen einzigen Ort gab, von dem die Angreifer kommen konnten: aus den unbekannten Ländern jenseits des Schlundes. »Und weil ich sie begleiten werde«, fügte sie hinzu.

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