22

Vor einem Augenblick hatte unter Markors Schwingen noch das zerklüftete Bergland der Küste gelegen. Einen gewaltigen Flügelschlag später breiteten sich Wolken unter ihnen aus; ein flockiges Meer aus Zuckerwatte, durch dessen Lücken es grün und braun schimmerte, so wie es über der zweiten Wolkendecke, die ebenso weit über ihnen lag wie die andere unter ihnen, türkis und blau funkelte. Sie glitten zwischen zwei Himmeln dahin.

Allein dieser Anblick konnte einen unvorbereiteten Menschen in den Wahnsinn treiben, dachte Kara. Ein einziger Schritt, um von der Welt unter den Wolken in die über den Wolken zu wechseln... verrückt.

Aber schließlich war die ganze Welt irgendwie verrückt – im buchstäblichen Sinne des Wortes. Der Schlund unter ihnen war nichts anderes als der Boden des gewaltigen Ozeanes, der einst vier Fünftel der Planetenoberfläche bedeckt hatte. Das Wasser war zusammen mit neunundneunzig Prozent der bewohnbaren Kontinentaloberflächen verschwunden – genauso wie das Volk, das für dieses Verschwinden verantwortlich war – aber das hieß nicht, daß der Schlund ohne Leben war. Ganz im Gegenteil – wo früher nichts als gewaltige Wassermassen gewesen waren, da tummelten sich nun die meisten Lebewesen dieses Planeten. Der Name Schlund stimmte in jeder Beziehung. Wenig, was in die Welt jenseits dieser zweiten Wolkendecke eintauchte, kam je wieder heraus.

Markor bewegte sich elegant, um sich in einem weit geschwungenen Bogen an die Spitze der gewaltigen Zwölferformation zu setzen. Kara klammerte sich instinktiv fester an das polierte Sattelhorn, als eine mächtige Wellenbewegung durch den riesigen Drachenkörper lief. Sie blinzelte, wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus den Augen und setzte nach einem letzten, kurzen Zögern die Schutzbrille auf. Wie die meisten jungen Drachenkämpfer war auch Kara meist zu stolz, die durchsichtige Schutzbrille zu tragen, sondern ließ sich lieber vom eisigen Fahrtwind die Tränen in die Augen treiben. Aber sie spielte nun kein Spiel mehr. Zum ersten Mal befand sich Kara in einem echten Einsatz. Wenn auch die Wahrscheinlichkeit, auf den Feind zu treffen, gering war, so drangen sie doch in ein Land ein, das allein schon gefährlicher war als die meisten vorstellbaren Gegner.

Ihr Rufer meldete sich. Obwohl seit Jahren geübt, brauchte Kara doch einige Momente, bis sie die an- und abschwellenden Schmerzimpulse zu einer Nachricht ordnen konnte. Manchmal, dachte sie, während die direkt in ihr Nervensystem gespeisten Morsezeichen des Rufers ihr schon wieder Tränen in die Augen trieben, verstand sie Männer wie Karoll. Funkgespräche waren vielleicht umständlicher und nicht so sicher, aber sie taten nicht so weh.

Es war Aires. Ein paar Grad mehr nach links, Kara, signalisierte sie. Direkt auf den Drachenfels zu.

Aber das ist ein Umweg, morste Kara zurück.

Ich weiß. Aber es ist sicherer.

Kara ersparte sich eine Antwort darauf; einerseits, weil es sinnlos war, sich mit Aires zu streiten, andererseits, um den anderen zehn Drachenkämpfern unnötiges Unbehagen zu ersparen. Der größte Nachteil der Rufer bestand darin, daß man nicht gezielt mit einem einzigen Tier reden konnte. Jede Nachricht, die in das halbtelepathische Kommunikationssystem der winzigen Insekten eingespeist wurde, wurde von allen Rufern innerhalb ihrer Reichweite aufgenommen, was gezielte oder auch längere Anweisungen zu einer ebenso komplizierten wie auch schmerzhaften Angelegenheit machte. So beließ sie es dabei, Markors Kurs um einige Grade nach Westen zu korrigieren. Der Rest der Formation vollzog den Richtungswechsel getreulich nach. Gleichzeitig verloren sie weiter an Höhe. Karas Herz begann hart und schnell zu schlagen, als der Drache in die Wolkendecke eindrang. Im allerersten Augenblick zerrissen Markors peitschende Schwingen das wattige Grau einfach, dann umgab sie für endlose Minuten nichts als feuchter, grauer Dunst, der sie so sehr einhüllte, daß selbst die Gestalten der anderen Drachen zu verschwommenen Schatten in unbestimmter Entfernung wurden. Dann hatten sie die Wolken durchquert, und unter ihnen lag Gäas Reich.

Eine wilde Erregung ergriff von Kara Besitz, als sie auf das endlose, wogende Meer aus Braun und Schwarz und allen nur vorstellbaren Grünschattierungen hinunterblickte. An einem klaren Tag konnte man den Dschungel selbst vom Hort aus sehen, wenn auch nur als verwaschenes Muster ineinanderlaufender Farben. Doch zum ersten Mal würde Kara landen, den Dschungel erforschen und vielleicht auf den unbekannten Feind stoßen.

Ihre Gruppe war nicht die einzige, die aus dem Drachenhort aufgebrochen war, um nach Spuren der gesichtslosen Angreifer zu suchen, aber unbestritten die wehrhafteste. Die elf Drachen, die hinter Markor flogen, waren zweifellos die kräftigsten und erfahrensten Tiere, die der Hort aufzubieten hatte. Und auch ihre Reiter gehörten unbestritten zu den besten des Drachenhortes.

Für einen Moment jedoch dachte Kara nicht an Kämpfe und Gefahren. Sie genoß es einfach, sich von Markors gewaltigen Schwingen durch die Luft tragen zu lassen, während das wogende Blättermeer unter ihr dahinglitt. Manchmal glaubte sie eine Bewegung unter sich wahrzunehmen, aber sie war immer viel zu schnell vorüber, um sicher sein zu können. Sie fühlte sich frei und beinahe schwerelos. Die hohe Geschwindigkeit, der heftige Wind und der gewaltige Drachenkörper unter ihr erfüllten sie mit einem Gefühl der Macht, das wie eine berauschende Droge war. Sie lachte, laut und lang anhaltend, ohne es selbst zu merken.

Geh nicht so tief hinunter, warnte Aires sie. Dieser Dschungel hat ein paar ziemlich unangenehme Bewohner.

Ich weiß, antwortete Kara. Aber ich passe schon auf.

Aires schwieg darauf, und Kara ergab sich weiter dem berauschenden Gefühl, unverwundbar und schnell wie ein Pfeil über den Dschungel dahinzurasen.

Dann plötzlich teilte sich das dichte grüne Blätterdach unter Markor, und ein gewaltiger, peitschender Tentakel griff hervor. Ein riesiges, stacheliges Ding, geschuppt und dicker als ein Mann und mit zahllosen schnappenden Mäulern, das sich in einer einzigen, unvorstellbar schnellen Bewegung um Markors Hals wickelte und ihn in die Tiefe zu zerren versuchte. In einer noch schnelleren Bewegung griffen die Vordertatzen des Drachen zu und zerfetzten den Strang. Grüngefärbtes, zähes Pflanzenblut spritzte in einer Fontäne an Kara vorbei, und der zerfetzte Stumpf des Tentakels zog sich mit einer hastigen Bewegung wieder in den Dschungel zurück. Einen Wimpernschlag, bevor sich das Blätterdach wieder schloß, erhaschte Kara einen Blick auf ein riesiges, buntes Etwas, das wie eine überdimensionale Spinne inmitten eines komplizierten Netzes aus Strängen und Wurzeln hing, abgrundtief häßlich und faszinierend schön zugleich. Sie konnte nicht erkennen, ob es eine Pflanze oder ein Tier gewesen war. Verstehst du jetzt, was ich meine?

Kara verzichtete auf eine Antwort, die Aires ohnehin nicht erwartete. Außerdem war sie auch viel zu sehr damit beschäftigt, das Gefühl der Übelkeit zu unterdrücken, das aus ihrem Magen emporstieg, als sie sah, wie Markor das abgerissene Ende des Tentakels aufzufressen begann.

Eine Stunde lang flogen sie weiter nach Norden, ohne daß sich etwas Ungewöhnlicheres tat als das Auffliegen eines gigantischen Vogelschwarms, dessen einzelne Tiere kaum größer als Bienen waren, der aber nach Millionen zählte. Wenn es in diesem Dschungel größere fliegende Räuber gab, was Kara vermutete, dann schreckte sie wohl der Anblick der zwölf riesenhaften Drachen ab.

Zwei weitere Stunden vergingen, dann begannen die Flügelschläge der Drachen allmählich an Kraft und Eleganz zu verlieren. Die ungeheure Größe der Tiere führte dazu, daß sie nicht unbegrenzt leistungsfähig waren. Wer verfügte schon über unendliche Kräfte, wenn er das Gewicht eines Schlachtschiffes mit sich herumschleppen mußte? Andererseits legten die Drachen in den vier oder fünf Stunden, die sie in der Luft bleiben konnten, Entfernungen von tausend und mehr Meilen zurück. Somit war der Drachenfels, das erste Etappenziel ihrer Expedition ins Nichts, ohne größere Gefahr zu erreichen.

Kara verspürte eine neue, heftige Erregung, als die schwarze Felsnadel endlich aus dem Dunst der Ferne vor ihnen auftauchte. Durch die große Entfernung wirkte der Fels beinahe zerbrechlich. Die winzigen Punkte in seiner Flanke waren in Wahrheit gewaltige Höhlen, groß genug, einen Drachen hineinfliegen zu lassen. Der kaum erkennbare, gezackte Kranz auf seiner Krone stellte die Mauern einer zyklopischen Festung dar, gegen die selbst der Drachenhort zu einem Nichts zusammenschrumpfte. Und sein Inneres...

In Karas Erregung mischte sich eine Spur jenes absurden Gefühls von Enttäuschung, das in Erfüllung gehende Träume manchmal begleitet. Seit zehn Jahren träumte sie, hierherzukommen. Sie kannte diesen Ort aus Angellas und Cords Erzählungen so gut, als hätte sie Monate dort verbracht. Aber plötzlich war sie gar nicht mehr sicher, ob sie ihn wirklich sehen wollte, denn es war der Ort, der nicht nur mit Geschichten von Abenteuern verbunden war, sondern auch mit furchtbaren Schreckensberichten, war er doch hunderttausend Jahre lang der Quell des Terrors gewesen.

Eine Bewegung neben der Spitze des Felsens weckte Karas Aufmerksamkeit. Obwohl sie wußte, wie groß der Fels war, fuhr sie doch überrascht zusammen, als ihr klar wurde, daß die beiden winzigen Punkte neben der Felsnadel Drachen waren, größer als ihre eigenen Tiere.

Aires?

Ich sehe sie.

Glaubst du, daß es wilde Drachen sind? Der Name Drachenfels kam nicht von ungefähr. Nach dem Ende von Jandhis Drachentöchtern waren die wilden Drachen in ihren angestammten Hort zurückgekehrt. Zwar wußte Kara, daß wilde Drachen niemals Menschen angriffen, aber es war schon vorgekommen, daß sie gezähmte Drachen attackierten, was unweigerlich zum Tod seines Reiters führen mußte.

Das sind Tess und Silvy, drang Aires’ Botschaft in ihre Gedanken. Alles in Ordnung. Zieht die Krallen wieder ein.

Kara atmete insgeheim auf; zumal einige der Tiere – Markor eingeschlossen – tatsächlich deutliche Spuren von Nervosität zeigten. Die Feindschaft zwischen zahmen und wilden Drachen war allgemein bekannt. Kara fragte sich, woher sie kam. Haßten die wilden Drachen ihre gezähmten Brüder, weil sie sich von Menschen reiten und befehlen ließen? Oder verachteten sie sie sogar? Oder gab es vielleicht zwei Arten von Drachen – solche, die sich zähmen ließen, und solche, die immer wild blieben? Die beiden winzigen Punkte wuchsen zu den vertrauten Umrissen geflügelter Drachen heran. Und Augenblicke später konnte Kara die beiden Gestalten hinter den mächtigen Schädeln erkennen. Es waren tatsächlich Tess und Silvy, zwei junge Drachenkämpferinnen, die das letzte Jahr ihrer Ausbildung zusammen mit Kara absolviert hatten. Flüchtig bewunderte Kara Aires’ Augen. Selbst jetzt erkannte sie Tess nur an ihrem auffälligen, strohblonden Haar.

Silvy hob die Hand zum Gruß, und Kara und einige der anderen erwiderten die Geste. Augenblicke später stieß Markor ein markerschütterndes Begrüßungsgebrüll aus. Kara erwartete schon, daß die dreizehn übrigen Tiere in das Gebrüll einstimmen würden, aber die Drachen waren erschöpft und wollten nur in eine warme, trockene Höhle.

Auch Kara spürte die Strapazen des Fluges. Auf dem letzten Stück des Weges schenkte sie der Landschaft unter sich kaum noch Beachtung, obwohl sie sich völlig verändert hatte: Statt des grün wuchernden Dschungels umgab den Drachenfels steiniger, unfruchtbarer Boden, auf dem nichts lebte. Nicht einmal Gäa, die unvorstellbare Lebensform des Schlundes, hatte hier Fuß gefaßt.

Markors Schwingen peitschten ein letztes Mal die Luft, um Höhe zu gewinnen, dann glitt der Drache mit weit ausgebreiteten Flügeln wie eine übergroße Schwalbe in eine der Höhlen in der Flanke des Drachenfels. Dunkelheit schlug wie eine Woge über Kara zusammen, als Markor pfeilschnell durch die Höhlenöffnung schoß.

Kara fiel mehr aus dem Sattel, als sie abstieg. Sie war es gewohnt, Stunde um Stunde auf dem Rücken des Drachen zu verbringen, aber die Tiere waren mit äußerster Kraft geflogen und hatten dabei nicht viel Rücksicht auf ihre Reiter nehmen können. Die Schläge der gewaltigen Rückenmuskeln hatten Kara und die anderen durchgeschüttelt wie ein stundenlanger Ritt über Steine und Geröll.

Tess landete ihr Drachenweibchen dicht neben Markor. Der Drache knurrte unwillig, und Kara zog instinktiv den Kopf zwischen die Schultern, als der Sturmwind der Drachenschwingen sie von den Füßen zu reißen drohte. Während die übrigen Mitglieder ihrer Formation rings um sie herum niedergingen, blickte sie ärgerlich zu Tess auf, die mit geradezu unverschämter Leichtigkeit vom Rücken ihres Tieres kletterte und auf sie zueilte. Wie ein Schatten folgte ihr Silvy.

»Kara«, rief Tess erfreut. »Wie schön, daß du doch noch gekommen bist. Aber wieso seid ihr so viele? Ist irgend etwas geschehen?«

Kara war im ersten Moment verwirrt. Dann erinnerte sie sich daran, daß Tess und das halbe Dutzend anderer den Drachenhort ja verlassen hatten, während sie und Angella nach Schelfheim gereist waren.

»Ist irgend etwas... passiert?« Tess hielt im Schritt inne und sah Kara erschrocken an, als sie den Ausdruck auf ihrem Gesicht gewahrte. »Wieso ist Angella nicht mitgekommen?«

»Angella ist tot«, antwortete Kara leise. »Und du hast recht – es ist etwas passiert. Aber das erzähle ich euch später.«

»Tot!« wiederholte Tess fassungslos. »Angella ist... tot. Aber wieso denn? Ich meine... was ist passiert?«

»Später«, sagte Kara noch einmal. »Ihr werdet alles erfahren, aber jetzt habe ich erst einmal ein paar Fragen. Was ist mit den anderen? Sind alle noch hier, oder sind sie schon aufgebrochen?«

»Wir sind alle noch da«, antwortete Tess verwirrt. »Zen und Maran sind auf einem Übungsflug, aber sie wollten vor Sonnenuntergang wieder hier sein. Die anderen – «

»Gut«, unterbrach sie Kara. »Dann tu mir bitte einen Gefallen und ruf sie alle zu einer Versammlung zusammen. In einer halben Stunde.«

»Aber was ist denn nur – «

»Tu einfach, was ich sage«, unterbrach sie Kara. »Jetzt gleich.«

Etwas in Tess’ Blick änderte sich. Zu dem Schrecken und der Verwirrung, mit dem sie das von Kara Gehörte erfüllt hatte, gesellte sich eine neue Verwirrung, die irgend etwas in Karas Stimme oder Blick galt. Begann es schon? dachte Kara erschrocken. Merkte man es ihr schon an? War sie vielleicht schon nicht mehr die Freundin, sondern vielmehr die Herrin für dieses Mädchen?

Tess wandte sich wortlos um und ging.

Als Kara sich herumdrehte, stand sie Aires gegenüber.

»Du lernst schnell«, sagte die Magierin. Es war Kara nicht möglich zu sagen, ob diese Worte Lob oder Tadel enthielten. »Ich... wollte nur keine Zeit verlieren«, sagte sie. Es klang wie eine Entschuldigung. Nein – es war eine Entschuldigung. Aires seufzte. »Allerdings ist deine Eile übertrieben. Ruf die Versammlung ein, wenn Maran und Zen zurück sind. Oder hast du Lust, alles zweimal zu erzählen?«

»Dann verlieren wir unter Umständen einen ganzen Tag.«

»Das tun wir ohnehin«, erklärte Aires. »Ich habe nicht vor, heute noch weiterzureiten. Und selbst wenn ich es wollte – die Drachen brauchen ebenso dringend eine Pause wie wir.« Sie machte eine Kopfbewegung über die Schulter zurück. Kara widerstand der Versuchung, in dieselbe Richtung zu blicken. Sie wußte, wie erschöpft die Tiere waren. Aires hatte natürlich recht, einen halben Tag und eine ganze Nacht zu verlieren, gefiel Kara nicht.

»Zeit, die man nutzt, um zu Kräften zu kommen und sich vorzubereiten, ist keine verlorene Zeit, Kara«, belehrte sie Aires, während sie nebeneinander die Höhle verließen und die Treppe hinaufgingen, um zu den Bereichen der Festung zu gelangen, den die Drachenkämpfer für sich beanspruchten. Es war nur ein winziger Teil des steinernen Labyrinths, das der Drachenfels in Wirklichkeit war, aber sie brauchten nicht viel. Die Besatzung der Burg überstieg niemals zehn Köpfe. Selbst mit Kara und ihren Begleitern waren sie so wenige, daß die Gefahr, sich in den endlosen Tunnels und Gängen zu verirren, nicht von der Hand zu weisen war.

Kara sah sich mit einer Mischung aus Neugier und Unbehagen um, während sie Aires durch einen langen Korridor folgte, der vor einer weiteren, steil in die Höhe führenden Treppe endete. Für einen Moment glaubte Kara, sie hörte noch einmal Angellas Stimme, die ihr mit eindringlichen Worten erzählte, was hier vor fünfundzwanzig Jahren geschehen war, als füllten die lautlosen Worte den Berg um sie herum mit Geräuschen und Bewegung, einem Echo des düsteren, insektoiden Lebens, das einst über die schwarze Festung am Rande der Welt geherrscht hatte.

Kara verscheuchte den Gedanken, aber ihre Empfindungen hatten sich offenbar auf ihrem Gesicht widergespiegelt, denn Aires lächelte plötzlich und sagte: »Es ist unheimlich, nicht?«

»Woher... « Kara suchte einen Moment hilflos nach Worten. »Ich meine, wie... wie kommst du darauf?«

»Weil es jedem so geht, der zum ersten Mal hier ist«, antwortete Aires. »Manche halten es nicht aus. Aber die meisten gewöhnen sich rasch daran.«

»Aber was... was ist das?« murmelte Kara verstört.

»Das weiß niemand wirklich«, antwortete Aires. Sie zuckte mit den Schultern. Kara sah sie scharf von der Seite her an, und erst jetzt fiel ihr auf, daß auch Aires sich nicht besonders wohl fühlte.

»Ich glaube, es ist einfach dieser Ort«, fuhr sie nach einer Weile fort. Sie nickte bekräftigend, obwohl Kara gar nicht widersprochen hatte. »Weißt du, wir nehmen immer wie selbstverständlich an, daß nur Menschen und Tiere sich erinnern können. Aber wer sagt uns, daß das stimmt? Vielleicht haben auch Plätze ein Gedächtnis oder Häuser und Steine. Sie haben unendlich lange über diesen Ort geherrscht. Vielleicht ist es die Erinnerung an sie, die wir spüren. Oder Gäas Nähe«, fügte sie überraschend hinzu. Sie nickte, als sie Karas Verblüffung bemerkte. »Wußtest du nicht, daß wir ihr hier ganz nahe sind?«

Kara schüttelte wortlos den Kopf, und Aires machte eine Bewegung auf den steinernen Boden, über den sie schritten. »Sie hat die Höhle der Ameisenkönigin nie wieder freigegeben«, sagte sie. »Aus Gründen, die nur Angella wußte, erlaubte sie uns und den Drachen, in der Spitze des Berges zu leben. Aber alles, was unterhalb der großen Höhle liegt, gehört ihr. Du hast davon nichts gewußt?«

»Nein«, sagte Kara. »Angella hat mir nie etwas davon erzählt.« Nach einer Pause fügte sie leise hinzu: »Sie hat mir überhaupt eine Menge nicht erzählt.«

Kara rechnete mit energischem Widerspruch, aber Aires sah sie nur stumm an und nickte. »Ich weiß. Ich habe mehrmals versucht, mit ihr darüber zu reden, aber es war sinnlos. Sie glaubte, noch ein wenig Zeit zu haben. Sie sagte, sie wollte dich nicht mit all diesen Dingen belasten, solange es nicht sein muß. Ich habe sie gewarnt, aber sie wollte nicht hören. Sie war wohl schon ein bißchen wunderlich.« Die Magierin lachte hell auf, als sie den strafenden Blick registrierte, mit dem Kara diese Bemerkung quittierte. »Ich darf das sagen. Ich war ihre beste Freundin.«

»Ich weiß. Du... du verkraftest ihren Tod ganz gut, nicht wahr?«

Aires schaute sie auf eine sonderbare Weise an, fast als suche sie nach einem Vorwurf in diesen Worten. Dann zuckte sie mit den Schultern. »Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Angella hätte jedenfalls nicht gewollt, daß ich mir das Haar rasiere und mich kasteie, um sie zu betrauern. Trauer ist eine leise, sehr heimliche Angelegenheit, weißt du? Man muß sie nicht vor sich hertragen, damit sie echt wird.«

»Verzeihung«, murmelte Kara. »So... so habe ich das nicht gemeint.«

»Ich weiß.« Aires lächelte milde. »Aber ich habe schon lange auf eine Gelegenheit gewartet, dir das zu sagen.«

Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her, dann nur um überhaupt etwas zu sagen – bat Kara: »Erzähl mir mehr von Gäa, Aires.«

»Was könnte ich erzählen, was du noch nicht weißt?« fragte die Magierin.

»Ich werde es dir sagen, nachdem du es mir erzählt hast.«

Aires blickte sie einen Atemzug lang verblüfft an, aber dann lachte sie. »Du lernst wirklich schnell, mein Kompliment. Du bist schon beinahe so spitzfindig, wie Angella es war.« Sie machte eine kleine Pause. »Es gibt nicht viel, was ich dir über Gäa erzählen könnte, weil ich selbst nicht viel über sie weiß. Niemand weiß viel über sie. Und das, was wir wissen, sind nur Vermutungen, die richtig sein können, aber auch falsch. Interessiert es dich, was ich vermute?«

Kara nickte.

»Soviel wir wissen«, begann Aires, »bedeckte Gäa den Boden des gesamten Schlundes. Wenn das stimmt, dann ist sie das größte lebende Wesen, das es jemals auf dieser Welt gegeben hat. Ich weiß nicht, ob sie Pflanze oder Tier ist. Manche glauben, sie wäre eine Art riesiges, denkendes Pilzgeflecht, das diesen ganzen Planeten umspannt, aber ich persönlich glaube, daß sie etwas ganz anderes ist, eine eigene Lebensform, die nichts mit anderen zu tun hat – außer vielleicht, daß sie rücksichtslos alles absorbiert, worauf sie stößt.«

»Aber es heißt, von Gäa verschlungen zu werden, bedeute nicht den Tod, sondern das ewige Leben.«

»Ich weiß.« Aires seufzte. Ihr Gesicht verdunkelte sich. »Wenn man es als ewiges Leben betrachtet, von einem gigantischen Protoplasmaklumpen aufgesogen und zu einem Teil eines riesigen Überbewußtseins zu werden. Meine Vorstellungen vom Paradies sehen anders aus. Hast du von dieser neuen Torheit gehört, die in den östlichen Ländern um sich greift?«

Kara verneinte. »Irgendeine verrückte Sekte«, berichtete Aires. »Sie glauben, daß Gott in Gäa einen Körper gefunden hat, und sehen ihr höchstes Glück darin, zu einem Teil Gäas zu werden.«

Kara riß erstaunt die Augen auf, und Aires nickte bekräftigend. »Sie haben irgendwie einen Weg in den Schlund gefunden, und nun pilgern sie einmal im Jahr wie die Lemminge hinunter, um sich Gäa zu opfern. Zumindest diejenigen, die nicht auf dem Weg durch den Dschungel von Raubtieren gefressen werden oder sich zu Tode stürzen.«

»Hat denn nie jemand versucht, mit ihr zu reden?« fragte Kara.

»Mit Gäa?« Aires zog verblüfft die Augenbrauen in die Höhe. »Manche behaupten, sie hätten es getan, aber ich glaube, daß sie entweder lügen oder einfach verrückt sind. Man kann mit einem solchen Geschöpf nicht reden. Es gibt keine gemeinsame Basis.«

»Das klingt ja fast, als hättest du Angst vor ihr?«

»Das habe ich«, gab Aires unumwunden zu.

»Aber warum? Sie ist unsere Verbündete! Sie hat Jandhis Reiterinnen und die Ameisenkönigin vernichtet, und sie erlaubt uns, in diesem Berg zu leben und sogar Städte im Schlund zu bauen.«

»Sie hat Tally und Angella benutzt, um die Königin zu vernichten«, verbesserte sie Aires. »Sie waren seit Urzeiten Feinde. Unser, Krieg mit ihnen hat Gäa niemals interessiert, Kara. Sie hat unsere Feinde vernichtet, aber nur aus dem einen Grund, weil sie auch ihre Feinde waren. Und sie gestattet uns, an Orten zu leben, die für sie nicht nützlich oder nicht zu erreichen sind.«

Die Magierin runzelte die Stirn. »Was passiert, wenn sie es nur tut, um uns zu studieren? Was, wenn sie eines Tages lernt, den Schlund zu verlassen und auch unsere Welt beansprucht?«

Kara erschrak bei Aires’ Worten. »Das... das ist eine entsetzliche Vorstellung«, sagte sie zögernd. »Du hast niemals darüber geredet.«

»Weil es nur Unruhe stiften würde«, entgegnete Aires. »Seit dem Krieg gegen Jandhi gilt Gäa als unsere Verbündete. Die große Urmutter Erde, in deren Schoß wir alle sicher und geborgen sind, nicht wahr? Vielleicht frißt sie uns eines Tages mit Haut und Haaren auf.«

»Das meinst du nicht ernst!« sagte Kara erschrocken.

Aires zögerte einen Moment. Sie verzog das Gesicht. Dann zwang sie sich zu einem Lächeln. »Nein«, sagte sie. »Eigentlich nicht. Ich glaube nicht, daß man Gäas Beweggründe mit menschlicher Logik nachvollziehen kann. Aber ich glaube auch nicht, daß sie unser Freund ist. Wir sind ihr bestenfalls gleichgültig.«

Sie hatten das Ende der langen Treppe erreicht, und Kara war plötzlich froh, als Aires ihr eines der kleinen, fensterlosen Zimmer zuwies und ihr riet, bis zum Abend noch einige Stunden zu schlafen.

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