32

Das Sonnenlicht auf ihrem Gesicht weckte sie spät am nächsten Morgen. Sie ließ sich Zeit damit, völlig aus dem Schlaf in die Wirklichkeit hinüberzugleiten. Vorerst genoß sie nur das Gefühl, wirklich zu Hause zu sein und in einem richtigen Bett zu liegen, statt auf steinigem Boden oder in einem harten Sattel. Als sie die Augen öffnete, sah sie Aires, die auf einem Stuhl neben ihrem Bett saß. Ihr Kopf und die Schultern waren nach vorn gesunken, die Hände im Schoß gefaltet; sie schien die ganze Nacht an Karas Lager verbracht zu haben.

Behutsam richtete Kara sich auf. Sie stellte fest, daß sie in Angellas Bett lag. Sie gab sich Mühe, so wenig Geräusche wie möglich zu machen, aber Aires wachte trotzdem auf. Sie blinzelte, sah Kara eine Sekunde lang fast verstört an, und war dann von einem Herzschlag auf den anderen hellwach. Kara hatte diese Fähigkeit, die auch Angella zu eigen gewesen war, stets mit Bewunderung erfüllt. Sie selbst brauchte mindestens eine halbe Stunde, um richtig wach zu werden.

Sie nickte Aires zu. »Hast du die ganze Nacht hier gesessen?« fragte sie.

Aires nickte. »Du warst in keiner guten Verfassung. Und ich bin die einzige Heilerin.« Ihr Blick verdüsterte sich. »Was du deinem Körper zugemutet hast, ist unverantwortlich. Wenn ich es könnte, würde ich dich dafür zur Verantwortung ziehen.«

»Ich dachte immer, er gehört mir«, sagte Kara, während sie die Decke beiseite schlug und sich nach ihren Kleidern bückte. »Nein, das tut er nicht«, antwortete Aires scharf. »Er gehört dem Hort. Wir haben ihn zu dem gemacht, was er ist. Du gehörst längst nicht mehr dir selbst. Du gehörst dir seit dem Moment nicht mehr, in dem Angella dich aufgelesen und hierher gebracht hat. Du warst ein kleines Balg, als sie dich gefunden hat, und das wärst du auch geblieben, wenn du überhaupt überlebt hättest. Alles was du bist, bist du durch uns, Kara. Es wird Zeit, daß du das endlich begreifst!«

Die scheinbar völlig grundlose Heftigkeit ihres Ausbruchs überraschte Kara. Als Aires das Zimmer verlassen wollte, rief Kara sie zurück. »Ich glaube, wir sollten uns unterhalten«, sagte sie.

Aires maß sie mit einem verächtlichen Blick. »Das wäre nicht sehr anständig von mir. Du bist im Moment kein sehr guter Gegner.«

»Für dich wird es reichen«, antwortete Kara spitz; ein billiger Triumph, der ihr im gleichen Moment schon wieder leid tat. »Also?«

»Seit Angellas Tod stimmt etwas nicht mit dir«, antwortete Kara. »Was ist los? Hast du das Gefühl, mich erziehen zu müssen? Oder ist das irgendeine törichte Probe?«

»Wenn es so wäre, wärst du durchgefallen«, sagte Aires kalt. »Warum bist du so feindselig, Aires? Wir waren niemals Freunde, aber seit... seit Angella nicht mehr da ist, bekämpfst du mich regelrecht. Warum?«

Sie hatte eine abfällige Bemerkung erwartet, oder eine ausweichende Antwort. Aber zu ihrer Überraschung sah Aires sie einige Sekunden lang sehr ernst an und antwortete dann: »Weil du mir alles weggenommen hast, Kara.«

»Weil ich...« Kara rang einen Moment vergeblich nach Worten. »Du meinst den Hort?« flüsterte sie dann. »Du meinst die Macht über die Drachenkämpfer? Du meinst...«

»Ich meine alles«, unterbrach sie Aires leise, aber sehr verbittert. »Du glaubst, Angella hätte das alles hier allein geschaffen? Du meinst, sie allein hätte den Hort gegründet, die Drachenkämpfer ausgebildet und den Krieg gegen Jandhi gewonnen? Das hat sie nicht. Ich war es. Sie ist zu mir gekommen, wenn sie ratlos war und Hilfe brauchte. Ich habe ihr gesagt, was sie zu tun hatte!«

»Und jetzt mußt du zusehen, wie ich es dir wegnehme, nicht wahr?« fragte Kara. »Ist es das? Du kannst alles haben. Ich schenke dir den Hort, die Drachen, die Macht... alles. Ich will es nicht.«

»Wie sich die Zeiten doch ändern«, sagte Aires abfällig. »Noch vor drei Tagen hast du mich zu einer Kraftprobe herausgefordert, und jetzt willst du mir den Hort schenken? Vielleicht will ich nichts geschenkt haben?«

»Das ist es auch nicht«, erwiderte Kara. Sie wußte, daß sie bereits verloren hatte, noch ehe der Kampf begonnen hatte. Es gab keine gemeinsame Basis zwischen ihnen. »Du hast recht, Aires. Angellas Platz gebührt hundertmal mehr dir als mir. Ich will ihn nicht.«

»Aber du hast ihn«, versetzte Aires. »Und du wirst ihn ausfüllen, ob es dir paßt oder nicht. Glaubst du, ich will Herrscherin von deinen Gnaden sein? Wie lange? Bis es dir nicht mehr paßt? Oder bis irgendein anderer Kindskopf einen Aufstand anzettelt?«

»Niemand würde es wagen, sich zu widersetzen, wenn ich dich offiziell zu meiner Nachfolgerin erkläre und zurücktrete«, sagte Kara.

»Sie würden mich nicht akzeptieren«, antwortete Aires.

»Nicht wirklich.«

Ein Gefühl tiefen, ehrlich empfundenen Mitleids ergriff Kara. Sie verstand jetzt, daß die Feindschaft, die sie gespürt hatte, gar nicht ihrer Person galt. Aires hätte niemanden als Angellas Nachfolgerin akzeptiert. Sie hatte ihr Leben in dem Bewußtsein verbracht, daß all die Macht und der Ruhm, der Einfluß und die Beliebtheit, deren sich Angella erfreute, im Grunde ihr gebührten. Und zugleich in dem sicheren Wissen, daß sie all das niemals bekommen würde. Wieviel Verbitterung und Zorn mußten sich in all diesen Jahren in ihr angesammelt haben? Sie wollte Aires um ihre Freundschaft bitten, aber sie wußte, daß das verlogen gewesen wäre; bestenfalls leere Worte, die sie beide in Verlegenheit brachten, und so sagte sie nur: »Es tut mir leid, Aires. Ich... wußte das alles nicht.«

»Ich weiß«, antwortete Aires. »Niemand weiß es. Aber ich glaube, es würde auch niemanden interessieren. Und es würde nichts ändern.«

Kara verstand den wirklichen Sinn dieser Worte. »Alles kann so bleiben, wie es war«, fuhr sie fort. »Ich weiß, daß wir niemals wirkliche Freunde werden können, Aires. Aber ich biete dir das an, was dir Angella gegeben hat. Den Platz an meiner Seite. Sei meine Beraterin, meine Lehrerin, wenn du glaubst, daß ich noch eine brauche.« Sie fragte sich ernsthaft, ob es das gleiche Gespräch vielleicht schon einmal gegeben hatte, zwischen Angella und Aires. Vielleicht waren die beiden gar nicht die Freundinnen gewesen, als die alle Welt sie gesehen hatte. »Und wenn ich ablehne?« fragte Aires.

»Dann muß ich dich bitten zu gehen«, antwortete Kara. Es fiel ihr schwer, die Worte auszusprechen, aber sie wußte, daß sie keine andere Wahl hatte. Ob Aires ging oder blieb, es war der einzige Weg, wie sie in ihren Augen bestehen konnte. »Du wirst den Drachenhort verlassen.«

»Nachdem das alles hier vorbei ist«, vermutete Aires.

»Nein, sofort«, sagte Kara. »Ich verlange die Entscheidung nicht jetzt von dir, aber bald. Sehr bald. Und wie immer sie ausfällt, ich werde sie akzeptieren. Du wirst bleiben und meine Beraterin sein, oder du wirst den Drachenhort unverzüglich verlassen und deiner Wege gehen.«

»Ihr braucht mich«, sagte Aires. Sie wirkte verstört.

»Und das sogar dringender, als du selbst ahnst«, bestätigte Kara. »Die Gefahr, der wir uns gegenübersehen, ist unvorstellbar. Ich brauche jede Unterstützung, die ich nur bekommen kann. Aber gerade deshalb kann ich niemanden in meiner Nähe dulden, dessen ich mir nicht sicher bin. Ich meine damit nicht, daß ich deine Loyalität in irgendeiner Form anzweifle, Aires. Aber ich kann und will mir eine Szene wie vor drei Tagen nicht noch einmal leisten.« Sie machte eine Geste auf den Hof hinaus. »Du hast nicht gesehen, mit wem wir es zu tun haben, Aires. Du weißt vielleicht hundertmal mehr über sie als ich, aber du hast sie nicht gesehen. All unsere Krieger werden vielleicht sterben, Aires. Die meisten davon sind meine Freunde, ich werde sie vielleicht in den sicheren Tod schicken müssen. Wie kann ich das, mit jemandem neben mir, der mich unentwegt an mir zweifeln läßt?«

»Und wenn er recht hat?«

»Ich brauche niemanden, der mir sagt, was ich falsch mache«, beharrte Kara. »Ich brauche jemanden, der mir erklärt, wie ich es richtig machen soll. Wenn du das willst willkommen. Wenn nicht – geh.«

Aires starrte sie an. Ihre Augen brannten, und die schmalen Hände waren zu Fäusten geballt. Sie zitterte. »Vielleicht habe ich mich doch in dir getäuscht«, sagte sie gepreßt. Aber sie machte keinen Versuch, diese Worte zu erklären, sondern fuhr auf dem Absatz herum, stürmte aus dem Zimmer und warf die Tür hinter sich zu.

Kara sah ihr voller Trauer hinterher. Wäre dies eine erdachte Geschichte gewesen, dachte sie, so wäre dies wohl der Moment, in dem sich die alte Frau und das Mädchen in die Arme fielen und sich der Tatsache versicherten, daß alles nur eine Verkettung von schrecklichen Mißverständnissen und Irrtümern gewesen war. Aber das hier war die Wirklichkeit, und da liefen die Dinge leider nicht immer so glatt. Kara glaubte nicht, daß Aires ihr Angebot annahm. Sie würde in Zukunft ohne die Magierin auskommen müssen.

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