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Die Reise hatte ihren Tribut gefordert, und so erwachte Kara erst Stunden nach Sonnenaufgang, ein wenig verärgert über die verlorene Zeit und dann beinahe so wütend wie am vergangenen Abend, denn sie mußte feststellen, daß außer Hrhon alle schon gegangen waren. Der Waga behauptete stur, nicht zu wissen, wohin sie gegangen waren, aber Kara wußte, daß er log. Zu ihrer Überraschung jedoch erhob er keinerlei Einwände, als Kara sich anzog und verkündete, sich in der Stadt umsehen zu wollen.

Falls Schelfheim überhaupt jemals schlafen ging, so war es zumindest lange vor ihr wieder erwacht. Als sie an Hrhons Seite durch den Torbogen auf die eigentliche Straße hinaustrat, da schlugen der Lärm und die Hektik der Stadt mit der gleichen Wucht über ihr zusammen wie am vergangenen Abend. Für eine, geschlagene Minute blieb sie stehen und sah sich mit wachsender Hilflosigkeit um. Dann wandte sie sich an Hrhon.

»Du weißt wirklich nicht, wohin sie gegangen sind?« fragte sie. »Ich meine – denk lieber noch einmal nach. Angella wird nicht besonders erfreut sein, wenn ich mich verlaufe oder gar in eine Gegend gerate, in der mir etwas zustoßen könnte.«

Hrhons grüngeschupptes Schildkrötengesicht blieb unbewegt wie immer, aber Kara konnte ahnen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. Denn ihre Worte entbehrten nicht einer gewissen Logik. Schelfheim war gefährlich, selbst für eine Drachenkämpferin in Begleitung eines Waga.

»Isss ghlauhbe, sssie wollthen zhum Hohchwhegh«, sagte Hrhon zögernd.

»So«, sagte Kara spöttisch. »Glaubst du? Na, dann versuch doch mal, dich zu erinnern, wohin genau – und bring mich hin.« Sie straffte sich für den Fall, daß Hrhon auf den Gedanken kommen könnte, ihr Spielchen auf seine ganz persönliche Art und Weise zu beenden und sie gewaltsam ins Haus zurückzuschleifen. Es gab nicht vieles, in dem sie Hrhon überlegen war – aber laufen konnte sie eindeutig schneller als er.

Hrhon schien ihre Gedanken zu erraten. Seine dunklen Schildkrötenaugen glitten über Karas Körper und irrten dann über das Durcheinander auf der Straße. »Ihch dhenkhe, dhorth enthlhangh«, sagte er mit einer Geste in eine – wie es schien x-beliebige Richtung. »Khomm. Abher ssshei vhohrssisstigh. Uhnd bhleib immer in meiner Nhähe.«

»Sicher«, murmelte Kara. »Das Kronjuwel könnte ja einen Kratzer abbekommen.« Vorsichtshalber sagte sie das aber so leise, daß Hrhon die Worte nicht verstand.

Sie gingen los. Hrhon bahnte mit seinen ausladenden Schultern eine Gasse für sie durch das Treiben auf der Straße. Ohne Hrhons Führung hätte Kara sich innerhalb kurzer Zeit hoffnungslos verlaufen.

Zum Glück ragte der Hochweg so weit über die Dächer Schelfheims empor, daß er von jedem Punkt der Stadt aus zu sehen war. Erneut spürte Kara eine gewisse Ehrfurcht beim Anblick dieser gigantischen Konstruktion. Die Brücke wirkte wie ein riesiger, künstlicher Wurm, der sich in zahllosen Kehren und Schleifen über die gesamte Stadt wand. Erneut fragte sie sich, wie um alles in der Welt der Untergrund Schelfheims das ungeheuerliche Gewicht des Hochweges trug; ein Boden, in den selbst zweistöckige Gebäude versanken.

Neugierig blickte sie sich um. Auch abseits der großen Hauptstraßen herrschte ein Gedränge, das auf einen Menschen wie Kara, die in der stillen Abgeschiedenheit des Drachenhortes aufgewachsen war, geradezu lähmend wirkte. Sie hatte niemals mehr als ein paar hundert Menschen auf einmal gesehen; ungefähr so viele bevölkerten diese eine Straße.

Allerdings waren nicht alle Geschöpfe, die sich hier herumtrieben, Menschen. Geschuppte, gefiederte, felltragende, hornund chitingepanzerte Gestalten mit zwei, vier oder sechs Armen gingen umher, einige auch ohne Arme, dafür aber mit dünnen, schlängelnden Tentakeln oder mächtigen Beißzangen. Kara sah Hornköpfe, Katzer und Echsenmänner aus Nihn, federtragende, stachelige, schreiend bunte oder auch Geschöpfe, deren Farbe sich stets an ihre Umgebung anpaßte, so daß sie nicht mehr als Flecken reiner Bewegung waren. Nein, Hrhon und sie fielen hier höchstens auf, weil sie zu normal aussahen. Im Vergleich zu manchen der Geschöpfe, die ihnen begegneten, wirkte Hrhon geradezu menschlich.

Kara hatte all diese Geschöpfe schon hundertmal gesehen, kannte ihre Namen und Herkunft, wußte um ihre Gewohnheiten und wovor sie sich in acht nehmen mußte, aber sie hatte sie nur auf den großen Schirmen in Angellas Unterrichtsraum gesehen. Hier stand sie ihnen gegenüber. Sie konnte sie anfassen. Sie hören. Sie riechen. Es war einfach ein berauschendes Erlebnis.

Und es war gefährlich, aber das kam Kara gerade recht. Ihre schlechte Laune war keineswegs vergangen; ein kleiner Kampf wäre jetzt genau das richtige. Sie brauchte jemanden, an dem sie ihren Zorn auslassen konnte.

Zunächst jedoch stießen sie lediglich auf eine Straßensperre, eine jener fahrbaren mannshohen Palisaden, welche die Straßen vor ihnen auf ganzer Breite blockierten. Hier waren keine Hornköpfe postiert, wohl aber vier Männer in den schreiend gelben Umhängen der Stadtgarde, die mißtrauisch jeden, der das Tor passierte, beäugten. Und sie ließen auch nicht jeden hindurchgehen. Kara fiel auf, daß etliche abgewiesen wurden. Fast gemächlich näherten sie sich dem Tor. Kara registrierte nebenher, daß neben den Schwertern auch die plumpen Griffe von Drachenwaffen aus den Gürteln der Männer prangten. Der Anblick gab ihr einen leisen Stich. Laser! Wie alle Drachenkämpfer verachtete sie jegliche Technik; selbst die, die sie notwendigerweise selbst benutzten.

Als sie das Tor passieren wollte, vertrat ihr einer der Gardisten den Weg. Er war nicht sehr viel älter als sie, aber sein Gesicht trug bereits jenen hochmütigen Zug, den man bei Angehörigen seiner Klasse nur allzu oft antraf. Kara beschloß spontan, ihn nicht zu mögen – wie sollte sie schließlich mit jemandem Streit anfangen, der ihr sympathisch gewesen wäre? »Nicht so schnell«, sagte er und hob die Hand. »Wo ist dein grüner Ausweis?«

Kara zog die Augenbrauen zusammen. Kind? »Was für ein grüner Ausweis?« fragte sie.

Ein zweiter, etwas älterer Soldat gesellte sich zu ihnen, und der Jüngere antwortete in einem Ton überheblicher Gönnerhaftigkeit: »Der Ausweis, der beweist, daß du in diesem Viertel lebst, Mädchen. Aber da du danach fragst, nehme ich an, daß du nicht hier lebst und somit auch keinen Ausweis hast.« Er lachte unverschämt. Er hatte perfekte, beinahe strahlend weiße Zähne, und Kara fragte sich einen Moment lang ernsthaft, ob es sich lohnte, sie ihm einzuschlagen.

»Nein«, antwortete sie so beherrscht, wie sie konnte. »Ich habe keinen Ausweis. Ich wohne auch nicht hier. Ich gehe einfach nur spazieren.« Sie wollte den Soldaten aus dem Weg schieben und weitergehen, aber der Mann hielt sie sanft, aber sehr nachdrücklich am Arm zurück.

»So einfach ist das nicht«, erklärte er und grinste noch eine Spur unverschämter. »Wenn du keinen Ausweis hast, dann brauchst du einen Passierschein.«

»Einen Passierschein?« Kara senkte den Blick und starrte einen Moment lang die Hand mit den sorgsam geschnittenen Fingernägeln an, die ihren Arm hielt. Nach einer Weile tat ihr Blick seine Wirkung: die Hand zog sich vorsichtig zurück. »Und wenn ich keinen Passierschein habe?« fragte Kara lächelnd.

»Dann kann ich dich nicht durchlassen, Kleines«, antwortete der Posten. Er deutete auf Hrhon. »Und das da sowieso nicht.«

»Das da?«

»Andere haben hier keinen Zutritt«, sagte der Gardist. Er machte sich nicht einmal die Mühe, Bedauern zu heucheln. »Es tut mir leid, aber so sind nun mal die Vorschriften. Ich habe sie nicht gemacht.«

»Ich auch nicht«, antwortete Kara und trat einen halben Schritt zurück. Sie tat so, als blicke sie den Posten vor sich an, behielt aber in Wahrheit auch die drei anderen im Auge. Der Mann neben ihrem Gegenüber sah abwechselnd sie und Hrhon an und schien angestrengt über etwas nachzudenken, und auch die beiden anderen starrten zu ihnen hinüber, wirkten aber noch nicht sehr alarmiert. Vier von ihnen gegen Hrhon und sie. Kara hätte sich einen würdigeren Gegner gewünscht.

»Nachdem du also dein Sprüchlein aufgesagt hast, kannst du uns ja durchlassen. Wir haben unsere Zeit nämlich nicht gestohlen, weißt du?«

Sie machte einen Schritt. Der Soldat trat ihr abermals in den Weg. »Du kannst nicht...«

»Natürlich kann ich«, sagte Kara und versetzte ihm einen Stoß, der ihn taumeln und zu Boden stürzen ließ. Unverzüglich versuchte sich der andere auf sie zu stürzen, aber Kara empfing ihn mit einem Tritt, der ihn nach Luft schnappen und zu Boden gehen ließ. Das Mädchen sah aus den Augenwinkeln, wie plötzlich Bewegung in die beiden anderen Gardisten kam, aber sie wußte, daß Hrhon ihr den Rücken freihalten würde.

Blitzschnell setzte sie den beiden Männern nach, sah, wie der eine nach seiner Waffe griff, und schlug sie ihm mit einem Tritt aus der Hand. Dann ließ sie sich mit einer geschmeidigen Bewegung auf ein Knie fallen und holte zu einem Hieb aus.

Doch Hrhon mußte bei seiner Aufgabe, ihren Rücken zu decken, irgendeinen Fehler gemacht haben, denn einer der beideri anderen Männer sprang sie von hinten an, riß sie von den Füßen und klammerte sich an sie, während sie über den Boden rollten. Kara schlug einen Moment erschrocken um sich; der Bursche war stärker, als sie geglaubt hatte. Beinahe mühelos drehte er sie auf den Rücken und drückte ihr linkes Handgelenk mit dem Knie auf den Boden. Gleichzeitig stürzte auch der zweite herbei und packte ihre Beine.

Vermutlich hätten die beiden sie überwältigt, hätten sie nicht den Fehler begangen, sie zu unterschätzen. Ganz offensichtlich hielten sie Kara immer noch für ein Kind.

Daß sie aber keineswegs ein zartbesaitetes Mädchen war, bekam der eine zu spüren, als Hrhons freie Hand plötzlich mit der Wucht eines Hammerschlages gegen seine Schläfe knallte. Seine Augen trübten sich, während er steif wie ein Stock von ihr herunterkippte.

Kara drückte den Rücken durch, ließ sich blitzschnell wieder zurückfallen und bekam ein Bein frei. Ihr Fuß krachte einen Wimpernschlag später zwischen die Oberschenkel des Mannes. Er kreischte und wälzte sich stöhnend über den Boden.

Kara sprang auf die Füße. Ihr Blick suchte Hrhon. »Du verdammtes Fischgericht!« brüllte sie. »Hilf mir gefälligst.«

Aber der Waga dachte gar nicht daran. Er lehnte mit vor der Brust verschränkten Armen an der Palisade und grinste über sein schuppiges Gesicht. Der Anblick machte Kara so wütend, daß sie für einen Moment unachtsam war. Sie bemerkte die Faust, die auf ihr Gesicht zuraste, viel zu spät.

Der Schlag schleuderte sie neben Hrhon gegen die Barrikade und ließ bunte Sterne vor ihren Augen tanzen. Einen Moment lang blieb sie benommen stehen, sah durch die flirrenden Lichter vor sich einen verzerrten Umriß auf sich zuspringen und spannte sich instinktiv. Trotzdem trieb ihr der Hieb die Luft aus den Lungen. Sie schlug zurück, spürte selbst, daß sie nicht richtig traf, und machte einen Schritt zur Seite. Der Soldat versuchte ihr ein Bein zu stellen, aber damit hatte Kara gerechnet: sie hob ihren Fuß und ließ ihn auf das Schienbein des Mannes krachen.

Dann hörte sie Knochen brechen.

Der Gardist stürzte mit einem schrillen Kreischen zu Boden, und Kara wandte sich dem letzten verbliebenen Gegner zu. Der Mann hatte seinen Laser gezogen, aber er zögerte, die Waffe einzusetzen. Voller Schrecken starrte er auf Karas Brust. Bei ihrem Sturz war ihr Mantel auseinandergeklafft, so daß der Soldat die schwarze Drachenkämpfer-Uniform sehen konnte, die sie trug. Offensichtlich begriff er, wem er gegenüberstand. Blitzschnell sprang Kara vor, entrang dem Mann die Laserpistole – und schlug ihm den Kolben seiner eigenen Waffe zwischen die Zähne. Die Zahl der Bodentruppen wuchs auf vier. Kara schleuderte den Laser angewidert davon, bedachte das wimmernde Häufchen Elend vor sich mit einem zornigen Blick und hob den Fuß, damit der Bursche wenigstens einen Grund hatte, zu kreischen, als wäre er aufgespießt worden.

»Lhasss dhasss!« sagte Hrhon.

Kara funkelte ihn an. Ihr Fuß schwebte dicht über dem Gesicht des Soldaten. »Warum?« fragte sie. »Er hat noch ein paar Zähne.«

Der Waga ignorierte ihre Erwiderung. »Whir sssollthen mhachhen, dhasss whir wheghkommen«, sagte er.

Auf der Straße hatte sich ein regelrechter Menschenauflauf gebildet. Dutzende, wenn nicht Hunderte von Gestalten bildeten einen dichten Halbkreis um Hrhon, Kara und die vier Gardisten, die sich stöhnend am Boden krümmten. Auf den Gesichtern der Zuschauer lag ein Ausdruck von Erregung, und das, was Kara in den meisten Augen las, war pure Blutgier. Es fehlt eigentlich nur doch, dachte sie schaudernd, daß sie applaudieren.

Sie nickte Hrhon zu. »Du hast recht«, sagte sie. »Komm.«

Sie gingen durch das Tor und schritten schneller als bisher aus. »Verdammt noch mal, wieso hast du mir nicht geholfen?« knurrte sie. Sie hob die Hand zum Gesicht und fühlte, daß ihr rechtes Auge bereits anzuschwellen begann.

»Isss whollthe dhir nhisst dhen Sssphasss vherdherbhen«, lispelte Hrhon. »Ahbher ghansss nhebhenbhei – dhu wharsst nisst,bheshondhersss ghuth.«

Kara verzichtete auf eine Antwort.

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