8

Kara war bereits aufgefallen, daß der Boden des Pfeilerhauses nicht aus festem Erdreich bestand, sondern aus eisenharten Bohlen, die so präzise verlegt waren, daß man nicht einmal eine Messerklinge dazwischenschieben konnte. Angella führte sie zu einer Klappe im Boden, und als sie hindurchstiegen, erkannte Kara, daß das Haus gar kein Haus war: im grünen Licht tat sich unter ihnen ein Schacht auf, aus dem das emporwuchs, was Donay so beschönigend als Trieb bezeichnet hatte.

Über eine kurze, bedrohlich schwankende Leiter, die an der hölzernen Decke über ihnen befestigt war, erreichten sie einen gemauerten Sims, der sich an der Innenwand des Schachtes entlangzog. Dieser Schacht war nichts anderes als der untere Teil des Pfeiler-Hauses, das in Wahrheit nichts anderes als ein riesiger, vollkommen leerer Turm war, eine steinerne Hülse für den Stamm, der den allergrößten Teil seines Inneren ausfüllte. Als Kara sich behutsam vorbeugte, erblickte sie eine gemauerte Treppe, die sich wie ein versteinerter Riesentribolit an der Wand entlang in die Tiefe schraubte. Kein Geländer bot Halt. Zwischen Kara und dem Stamm verlief ein recht breiter Spalt, dessen bloßer Anblick sie schwindeln ließ. Wie tief der Schacht war, vermochte sie nicht zu sagen. Auf dem Sims glommen Hunderte von Leuchtstäben, weiter unten hatte man einfach Kulturen blaßblau leuchtender Bakterien an den Wänden emporwuchern lassen. Ihr Licht war hell, aber unscharf. Es war, als blicke sie in einen endlos tiefen Schacht voll leuchtendem Wasser.

»Genug gestaunt?« fragte Angella nach einigen Sekunden. Kara richtete sich zögernd wieder auf. Aus der Tiefe drang ein leicht moderiger, warmer Lufthauch zu ihnen empor. »Wie tief... ist dieser Schacht?« fragte sie zögernd.

»Eine Meile, anderthalb...« Angella zuckte mit den Schultern. »Niemand weiß das so genau. Weiter unten ist der Schacht eingestürzt, aber ich denke, er reicht bis auf den Grund der Stadt hinab. Der Trieb selbst reicht, wie Donay vermutet, anderthalb Meilen bis in den Schlund hinunter.«

Kara blickte abermals in den blauleuchtenden Abgrund hinab. Anderthalb Meilen über diese Treppe hinunter? Der bloße Gedanke ließ es ihr kalt über den Rücken laufen.

»Anderthalb Meilen?« fragte sie zögernd.

»Nicht einmal eine halbe«, sagte Jan, der hinter ihr und Angella die Leiter hinabgestiegen war. »Wie gesagt, der Schacht ist weiter unten eingestürzt. Aber wir werden nicht laufen müssen.« Er legte den Kopf in den Nacken, bildete mit den Händen einen Trichter vor dem Mund und schrie in die Tiefe hinab:

»Wir brauchen Transporter! Drei Stück!«

Während sie auf die Ankunft der Transporter warteten, zog Jan drei Rufer aus der Rocktasche und befestigte sie auf Angellas, Karas und seiner eigenen Schulter. »Besser ist besser«, sagte er. »Nach dem, was passiert ist, ist es mir einfach lieber, wenn man weiß, wo wir sind.«

Kara versuchte, sich den Schmerz nicht anmerken zu lassen, als sich der Stahl des Rufers durch ihre Haut bohrte. Angella hatte weniger Ambitionen, die Heldin zu spielen. Sie fluchte ungehemmt.

»Also?« fragte Kara.

Angella rieb sich über den Hals und betrachtete mißmutig einen winzigen Blutstropfen, der auf ihrem Zeigefinger glitzerte. »Also was?«

»Du wolltest mir etwas erklären«, sagte Kara. »Den Grund, weswegen wir hier sind.«

»Das ist nicht so einfach zu erklären«, antwortete Angella ausweichend und zerrieb den Blutstropfen zwischen Daumen und Zeigefinger. »Es ist eigentlich nichts Konkretes, weißt du? Es ist...«

»Schelfheim geht vor die Hunde«, fiel ihr Jan ins Wort. Seine Stimme klang bitter, aber auch sehr zornig. »Du hast diese Stadt doch gesehen, oder? Sie ist nicht mehr das, was sie einmal war.«

»Wie war sie denn?« fragte Kara.

»Sie war...« Jan brach ab, starrte einen Moment zornig ins Leere und faßte sich dann. »Angella hat recht, fürchte ich«, seufzte er. »Es ist nicht so einfach zu erklären. Es ist nichts Konkretes, weißt du? Mit Ausnahme von dem da...« Er deutete auf den Stamm. »Schelfheim war schon immer ein Hexenkessel. Ein einziges großes Irrenhaus, das dich schneller umbringen kann, als du in der Lage bist, deinen Namen zu buchstabieren. Aber es ist nicht mehr, was es war. Es ist... schlimmer geworden. Dinge tun sich. Schlimme Dinge.«

»Wie zum Beispiel, daß die Hälfte der Stadt nur noch für Menschen reserviert ist«, sagte Kara.

»Ja«, bestätigte Jan. »Ich sehe, du beginnst zu verstehen. Es ist schwer zu erklären. Da ist nichts, worauf man den Finger legen und sagen könnte: Sieh her! Aber diese Stadt verändert sich auf eine schlimme Art, Kara. Schau dir...« Er suchte nach Worten. »Schau dir Elder an! Ich weiß, daß du ihn nicht magst, aber er ist ein ehrlicher Mann. Vielleicht kein großer Geist, wie die meisten Soldaten, aber ein aufrechter Mann, der seine Pflicht tut. Früher waren es Männer wie er, die Schelfheim regierten. Oder es wenigstens versucht haben, denn man kann eine solche Stadt nicht wirklich regieren. Du kannst nur versuchen, das Chaos nicht zu sehr überhandnehmen zu lassen.«

»Diesen Eindruck hatte ich eigentlich nicht«, sagte Kara. »Eben!« Jan zog eine Grimasse. »Sie sind natürlich noch lange nicht damit fertig, aber sie haben angefangen, Ordnung in der Stadt zu schaffen. Die Männer, die Schelfheim heute regieren, legen eine Menge Wert auf Vorschriften und Disziplin.«

»Was ist so schlimm daran?« fragte Kara. Auch sie war in einer Welt aufgewachsen, in der Disziplin und Gehorsam die obersten Werte waren.

»Nichts«, antwortete Jan. »Schlimm ist der Weg, auf dem sie es zu erreichen versuchen. Sie sind sehr viel geschickter als damals Jandhi und ihre Schwestern. Aber sie sind fast noch schlimmer. Sie werden diese Stadt zerstören. Und vielleicht die ganze Welt.«

Über ihren Köpfen erscholl ein raschelndes Schaben und Schleifen, und ein struppiger Schatten erschien in der Klappe, durch die sie selbst heruntergekommen waren. Die Transporter. Kara sah hastig weg.

»Vielleicht übertreibt Jan ein wenig«, sagte Angella besänftigend. »Aber in einem hat er recht. Irgend etwas geht vor. Nicht nur in Schelfheim, sondern überall. Aber hier ist es am deutlichsten zu sehen. Es ist, als...« Sie machte eine unschlüssige Geste. »Als breite sich ein neuer Geist in der Welt aus. Nicht nur, daß sich Männer wie Elders Vorgesetzte plötzlich für besser als andere halten.«

Kara verzichtete darauf zu antworten, denn auch sie hielt Menschen wie sich, Jan, Cord und sogar Elder für etwas Besseres. Tatsache war nun einmal, daß der Mensch die erste denkende Spezies war, die diesen Planeten bevölkerte. Alle anderen – die Waga, die Katzer, die Vogelmenschen und Tiefen, die Echsenmänner und Kentauren und die anderen, manchmal äußerst bizarren Kreaturen waren erst viel später aufgetaucht; von anderen Welten gekommen oder als Folge der unvorstellbaren Katastrophen überhaupt erst entstanden, die diese Welt für Jahrtausende beinahe unbewohnbar gemacht hatten.

»Was geht uns das an?« fragte sie, und als sie Jans ärgerliches Stirnrunzeln sah, fügte sie hastig hinzu: »Ich meine – wenn die Zeit sich ändert, was haben wir damit zu tun?«

»Nichts, wenn sie sich ändert, weil es nun einmal so ist«, antwortete Jan ernst. »Aber ich bin nicht sicher, ob sie sich wirklich von selbst ändert.«

»Du meinst...«

»Ich meine«, unterbrach sie Angella mit leicht erhobener Stimme, »daß wir geschworen haben, diese Welt zu beschützen, Kara. Und nicht nur mit dem Schwert in der Hand. Es gibt Feinde, die mit anderen Waffen kämpfen.«

Ein unförmiger Schatten erschien hinter Angella, und obwohl ihr der Anblick ein leises Ekelgefühl bescherte, war sie fast froh über die Ankunft des dritten Transporters.

»Vergeßt nicht, die Fäden zu kappen, sobald wir unten sind«, rief Jan hinauf, während er sich als erster von dem Transporter ergreifen ließ. »Wir wollen doch nicht, daß unser Freund Elder der Schlag trifft beim Anblick eines nicht genehmigten Transportergewebes.«

Sein Lachen klang ein wenig gekünstelt. Wahrscheinlich, überlegte Kara, erging es ihm nicht anders als den meisten Menschen. Von den acht dünnen, aber ungemein kräftigen Beinen gepackt und festgehalten zu werden, war mehr als unangenehm. Längst nicht alle Menschen ertrugen die Berührung eines Transporters.

Auch Karas Übelkeit steigerte sich zu einem elektrisierenden Gefühl körperlichen Abscheus, als sich die drei vorderen Beinpaare des Transporters um ihre Brust schlossen und sich der haarige Hinterleib gegen ihren Rücken preßte. Ein scharfer Geruch überlagerte den Moderodem des Schachtes, als ein fingerdicker Strang aus nahezu unzerreißbarer Seide aus den Drüsen am Hinterleib des Tieres schoß und sofort am Fels festklebte, und einen Moment später fühlte sich Kara in die Höhe gehoben, und dann begann der Beinahe-Sturz in die Tiefe. Die Transporter bewegten sich so rasch, wie Spinndrüsen die Seide produzieren konnten. Der Stamm zur Linken und die gemauerte Wand des Schachtes zur Rechten rasten nur so an ihnen vorbei. Kara dachte flüchtig daran, was ihr alles passieren würde, wenn sie mit der steinernen Wand auf der einen oder dem steinharten Holz auf der anderen Seite kollidierte. Doch natürlich würde das nicht geschehen. Die Transporter waren verläßlich und präzise arbeitende Züchtungen, die so gut wie nie einen Fehler begingen.

Trotzdem kam ihr die rasende Fahrt in die Tiefe endlos vor. Die Luft wurde schlechter, aber die Helligkeit nahm eher noch zu, denn die Leuchtbakterien hatten sich hier unten unkontrolliert zu vermehren begonnen. Kara betrachtete die leuchtenden Flecken voller Sorge. Sie verstand nicht sehr viel von Biochemie, wußte aber, daß die winzigen, lichtspendenden Organismen äußerst aggressiv waren. Ihr blauer Schein war nicht umsonst zu haben.

Ganz allmählich begann sich ihre Umgebung zu verändern. Die gemauerte Schachtwand neben ihnen wies immer schwerere Beschädigungen auf: große, ausgezackte Löcher, hinter denen Erdreich, Felstrümmer oder auch nur Schwärze zu sehen war, und einmal rasten sie auf ein Gewirr aus zerborstenen Balken zu, das wie eine tödliche Gabel mit verbogenen Zinken aus der Wand ragte. Aber die Transporter passierten die Stelle so schnell und geschickt, daß Kara nicht einmal genug Zeit fand zu erschrecken, ehe das Balkengewirr auch schon wieder in der blauen Dunkelheit über ihnen verschwand.

Endlich setzten die Transporter sie auf einem vorstehenden Sims ab, der ihr aber alles andere als einen festen Halt bot. Unter Karas Gewicht lösten sich kleinere Felsbrocken. Sie aber atmete hörbar auf, als sich der Griff der dünnen, vielgelenkigen Beine von ihrer Brust löste. Schaudernd legte sie den Kopf in den Nacken und sah zu, wie die drei Transporter mit phantastischer Geschicklichkeit an ihren eigenen Fäden in die Höhe kletterten. Nach wenigen Augenblicken waren sie in der Dunkelheit verschwunden.

»Eine widerwärtige Art zu reisen«, sagte Jan. »Aber recht praktisch.«

»Vor allem verschafft sie uns den nötigen Vorsprung, den wir brauchen, falls Elder eher zurückkommt, als er versprochen hat. Er wird Stunden brauchen, um zu Fuß hier herunterzukommen.«

Sie lachten, dann gab Angella ein Zeichen, weiterzugehen, und sie setzten den Abstieg fort. Trotz allem lag noch ein gutes Stück Weg vor ihnen, das sie über Schutthalden, Trümmer und halbvermoderte Balken führte. Es war beinahe taghell, denn die Leuchtbakterien hatten hier unten buchstäblich jeden Winkel erobert. Nach einer Weile klebten sie an ihren Schuhen, und auch ihre Hände waren voller Staub, der blau leuchtete. Schließlich erreichten sie den Boden des Schachtes. Die Mauern waren zusammengebrochen und bildeten eine unüberwindliche Barriere überall um sie herum. Kara fröstelte leicht, aber das lag nicht nur am Anblick der ineinandergestürzten Felsmassen und zerborstenen Balken. Ganz plötzlich wurde ihr klar, daß sie nicht nur einfach eine Meile tief in die Eingeweide der Stadt vorgedrungen waren, sondern zugleich auch so etwas wie eine Reise durch die Zeit unternommen hatten. Die zerbrochenen, unter ihrem eigenen Gewicht zu Staub zermahlenen Mauern vor ihnen gehörten zu den ältesten Teilen der Stadt. Die zerbrochenen Balken waren vor zweihunderttausend Jahren geschlagen und verarbeitet worden, von Menschen, von denen nicht einmal mehr Staub geblieben war. Für einen Moment hatte sie das Gefühl, nicht mehr richtig atmen zu können. Wenn Zeit wirklich nichts weiter als ein abstrakter Begriff war, wie Angella immer behauptete, dann war es der einzige abstrakte Begriff, der ein Gewicht hatte.

Angella deutete nach links, und Kara erkannte den Eingang zu einem niedrigen, offensichtlich erst vor kurzer Zeit erbauten Tunnel.

Die Bakterien hatten die Steine noch nicht vollständig überwuchert. Hintereinander drangen sie in den Stollen ein. Er war dunkel und so niedrig, daß sie nur gebückt gehen konnten. Sehr weit vor ihnen befand sich ein münzgroßer Fleck grünlicher Helligkeit, aber der Gang selbst war von absoluter Schwärze erfüllt. Ein unheimlicher Anblick waren Jans blauleuchtende Schuhsohlen und Hände, die sich vor Kara in der Dunkelheit bewegten. Nach einer Weile spürte sie, wie der Gang größer wurde. Behutsam richtete sie sich im Gehen auf; sie stieß nicht mit dem Kopf gegen die Decke, wie sie fürchtete. Der Boden unter ihren Füßen war nicht mehr so holprig. Wahrscheinlich befanden sie sich mittlerweile in einem der alten Kellergewölbe Schelfheims. Immerhin war die Stadt anderthalb Meilen tief in den Boden gesunken.

Plötzlich glaubte sie ein Geräusch zu hören und blieb stehen. Angella prallte gegen sie und hätte sie fast von den Füßen gerissen.

»Was ist los?« fragte sie verärgert. Sie kannte Kara allerdings gut genug, um zu wissen, daß sie nicht aus einer puren Laune heraus einfach stehenblieb.

»Ich bin nicht sicher«, antwortete Kara. Das Echo ihrer eigenen Stimme verriet ihr, daß sie sich nicht mehr in einem Stollen, sondern in einem sehr großen Raum befanden. »Ich dachte, ich hätte etwas gehört.«

»Unsinn!« sagte Angella, aber Jan berichtigte sie. »Natürlich hat sie etwas gehört. Diese Keller sind nicht leer.«

»Wer... lebt denn hier?« fragte Kara zögernd.

»Es gibt alle möglichen Untiere hier unten. Aber die meisten sind ungefährlich. Sie haben genug damit zu tun, sich gegenseitig aufzufressen.«

»Hör mit dem Unsinn auf«, sagte Angella streng und ging weiter. Kara folgte dem Geräusch ihrer Schritte im Dunkel, aber sie ertappte sich mehrmals dabei, im Gehen den Kopf zu wenden und die Schwärze hinter sich mit Blicken zu durchbohren. Sie hörte nichts mehr, aber sie hatte immer noch das Gefühl, angestarrt zu werden. Und sie war nicht sicher, ob es wirklich ein Tier war, das sie belauerte...

Verärgert auf sich selbst verscheuchte sie den Gedanken. Wieso war sie nur so nervös? Was war denn schon dabei, durch ein zweihunderttausend Jahre altes Kellergewölbe zu marschieren, das unter zehn Millionen Tonnen Erdreich und Gestein lag und jeden Moment zusammenbrechen konnte?

Ihr Zeitgefühl kündigte ihr angesichts der stygischen Schwärze und ihrer eigenen Furcht den Dienst auf, so daß sie nicht sagen konnte, wie lange es dauerte, bis der Lichtfleck vor ihnen allmählich größer wurde. Sie hörte Grab- und Klopfgeräusche und die Stimmen zahlreicher Männer.

Schließlich betraten sie eine große, von Hunderten grüner Leuchtstäbe erhellte Höhle, die sich auf den zweiten Blick als das Innere eines versunkenen Hauses entpuppte. In den Wänden befanden sich Fenster von ungewöhnlicher Form und Größe, die ebenso wie die offenstehende Tür auf eine Welt aus Erdreich und Sand hinausführte. Das hintere Drittel der Decke war zusammengebrochen. Die Männer, die sie sah, arbeiteten an einem halbrunden Tunnel, den sie schon etliche Meter tief in den Schuttberg vorgetrieben hatten. Kara blieb verblüfft stehen, als sie zwischen den vordersten Männern die schwarzglänzenden Rückenschilde von gleich drei Gräbern gewahrte. Die gewaltigen, zu perfekten Grabinstrumenten umgeformten Unterkiefer der riesigen Käfergeschöpfe fraßen sich mit fast maschinenhafter Gleichmäßigkeit in die Erde, wobei sie ohne Unterschied Sand, Felsen, Holz und überhaupt alles zerkleinerten, worauf sie stießen.

Angella weidete sich einen Moment lang an Karas verblüfftem Gesichtsausdruck. »Was Elder nicht weiß, macht Elder nicht heiß, nicht wahr?« sagte sie augenzwinkernd.

»Aber wie habt ihr sie hierherbekommen, ohne daß er es gemerkt hat?« fragte Kara.

»Seine Männer können vielleicht alle Straßen kontrollieren«, antwortete Jan an Angellas Stelle, »aber unmöglich alle unterirdischen Verbindungen. Das hier unten ist eine Stadt unter der Stadt. Manchmal frage ich mich, ob das hier nicht das eigentliche Schelfheim ist, und nicht das, was wir dafür halten.«

»Auf jeden Fall wäre Elder mißtrauisch geworden, wenn wir nicht nach den Gräbern gefragt hätten«, fügte Angella hinzu. »Er ist nicht dumm.« Sie erklärte das Thema mit einer Handbewegung für beendet und wandte sich an einen der arbeitenden Männer. Kara trat einen Schritt zurück und sah sich unschlüssig um. Es gab nichts für sie zu tun. Sie war sicher, daß Angella sie nicht zum Graben mit hinuntergenommen hatte. Was sie zu der Frage brachte, weshalb sie überhaupt hier war. Sicher nicht nur, damit Angella sie immer in ihrer Nähe wußte und sie nicht aus purem Übermut wieder die halbe Stadtgarde verdrosch. Aber weshalb dann?

Ihre Augen hatten sich inzwischen an das grüne Licht gewöhnt, so daß sie mehr von ihrer Umgebung erkennen konnte. Bedachte man sein Alter, so befand sich der Raum in erstaunlich gutem Zustand. Seine Bewohner hatten sich nicht einmal die Mühe gemacht, ihn völlig leerzuräumen, als der Tag gekommen war, ihn aufzugeben und in das neue, darüber errichtete Stockwerk umzuziehen. Das eine oder andere hatten sie einfach stehengelassen, vielleicht aus Gedankenlosigkeit, vielleicht, weil sie es ebenso wie ihr Heim neu und größer gebaut hatten. Ein Stuhl, eine Truhe ohne Deckel und Inhalt, ein Tisch, von dessen Platte ein Stück abgebrochen war. Es waren alltägliche Dinge, die allerdings schon vor zwei oder drei Ewigkeiten zu Stein geworden waren. Und alles war sehr... seltsam.

An der Wand gleich neben der Tür, durch die sie hereingekommen waren, hing ein Bild. Kara ging hin und war im ersten Augenblick enttäuscht, denn die Farben waren natürlich längst verblaßt und verschwunden. Aber dann sah sie, daß der Staub die Umrisse auf der versteinerten Leinwand nachgebildet hatte, nicht so, daß sie das Bild wirklich erkennen konnte, aber doch so, daß sie zu ahnen glaubte, was es einmal gewesen war. Und was immer es war, es machte ihr angst und ließ sie schaudern. »Unheimlich, nicht wahr?«

Kara fuhr herum und erkannte Cord, der lautlos hinter sie getreten war. Er war erschöpft und verdreckt; wahrscheinlich war er schon seit Stunden hier.

»Was?« fragte Kara.

Cord deutete auf das Bild. »Dieses Bild. Es ist irgendwie... seltsam.«

Kara schwieg, und Cord fuhr mit einem flüchtigen Lächeln fort: »Es hat auf uns alle dieselbe Wirkung. Wenn du es einen Moment lang betrachtest, macht es dich nervös. Aber je länger du hinsiehst, desto mehr Angst bekommst du. Ich bin nicht sicher, ob ich wirklich wissen will, wie es einmal ausgesehen hat.« Er wechselte übergangslos das Thema und grinste Kara breit an. »Das blaue Auge steht dir übrigens ausgezeichnet.«

Kara schenkte ihm einen bösen Blick und machte eine weite Geste, die den ganzen Raum umfaßte. »Sie müssen... sehr seltsam gewesen sein«, sagte sie. »Ganz anders als wir. Ob sie wohl Menschen waren?«

»Wer will das sagen?« antwortete Cord achselzuckend. »Und wen interessiert es? Ich glaube nicht, daß wir das jemals herausfinden werden.«

»Ist das die Stelle, an der sie verschüttet wurden?« fragte sie. Cord blickte dahin, wo Jan, die Gräber und die anderen arbeiteten. Er nickte. »Es geschah ganz plötzlich. Es gab keine Warnung, kein Beben, nichts. Der Stollen ist einfach zusammengebrochen.«

»Vielleicht waren die Streben nicht fest genug?« fragte Kara, eigentlich nur, um überhaupt etwas zu sagen.

»Nein«, erwiderte Cord heftig. »Ich selbst habe die Arbeiten überwacht. Die Stützpfeiler hätten das zehnfache Gewicht getragen.«

Kara begriff, daß sie einen wunden Punkt berührt hatte. Cord war ein sehr umsichtiger Mann; sie war sicher, daß er keinen Fehler bei seiner Arbeit gemacht hatte. Aber sie war auch ebenso sicher, daß er sich fragte, ob es nicht doch seine Schuld war. Daher kam auch seine Besessenheit, die drei toten Drachenkrieger zu finden. Er würde sich für den Rest seines Lebens Vorwürfe machen, wenn er nicht den eindeutigen Beweis erbrachte, daß ihn keine Schuld traf.

»Was sucht ihr überhaupt hier?« fragte Kara. »Ich kann mich täuschen, aber ich glaube, wir sind ein ganzes Stück vom Pfeiler entfernt.«

»Frag Angella«, antwortete Cord ausweichend. »Es war ihr Befehl, hier zu graben.«

Kara spürte, daß Cord genau wußte, was sie hier unten suchten, aber er wollte – oder durfte – es ihr nicht sagen. Vielleicht war Cords Rat sogar klüger, als er selbst ahnen mochte – sie würde zu Angella gehen und sie fragen, und diesmal würde sie Antworten verlangen.

Sie versuchte, sich durch das Gedränge im vorderen Teil des Tunnels zu Angella vorzuarbeiten, kam aber kaum von der Stelle, weil sich die Drachenkämpfer und Arbeiter in dem Bemühen, sich gegenseitig zu helfen, eigentlich nur nach Kräften behinderten. Plötzlich hörte sie einen Schrei. Der Gräber auf der rechten Seite hörte auf, sich in den Erdboden hineinzuwühlen, und für Augenblicke entstand ein heilloses Durcheinander.

»Liss!« schrie Angella. »Das ist Liss! Grabt sie aus! Aber seid vorsichtig! «

Rücksichtslos schob sich Kara vor und kniete neben Angella nieder. Schulter, Arm und die zerschmetterte Hand einer Drachenkämpferin ragten leblos aus den Trümmern. Die Insignien ihres Ärmels wiesen die Tote als Liss aus.

Kara, Angella und Cord gingen so behutsam vor, als hätten sie ein verletztes Kind vor sich, während sie Liss’ Körper mit bloßen Händen weiter ausgruben. Ein Gräber kam klickend und rasselnd herbei und wollte helfen, aber Angella scheuchte ihn davon. Den Hornkopf Liss’ Leichnam auch nur berühren zu lassen, wäre einem Sakrileg gleichgekommen. So zerrten und gruben sie mit bloßen Händen weiter. Karas Hände waren schon nach Augenblicken rot von ihrem eigenen Blut. Sie registrierte den Schmerz nicht einmal.

Es dauerte lange, die tote Drachenkämpferin auszugraben, denn die lockeren Steinmassen rutschten immer wieder nach, aber schließlich konnten sie den leblosen Körper der Drachenkämpferin herausziehen. Instinktiv hielt Kara den Atem an, als sie den Leichnam herumdrehten und ihr Blick in Liss’ Gesicht fiel, aber das Antlitz der Drachenkämpferin war nicht entstellt, es lag auf ihrem Gesicht ein fast friedlicher Ausdruck. Sie sah eher wie eine Schlafende denn wie eine Tote aus. Allerdings zog sich eine dünne, blutige Wunde von ihrer linken Hüfte bis zur rechten Schulter.

Kara starrte die tödliche Verletzung an und versuchte verzweifelt, das Gefühl nackten Entsetzens niederzuringen, das sich in ihr breitmachte. Liss war tot, aber es waren nicht die herunterstürzenden Erdmassen gewesen, die sie umgebracht hatten. Sie war auch nicht erstickt. Was sie umgebracht hatte, war ein Schuß aus einer Laserwaffe gewesen.

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