Der Birnenkuchen in Gedanken an Katrin war fertig. Welche Gedanken? - Ach, einfach dass wieder einmal ein neuer Mensch da war, für den es sich lohnte, um Mitternacht einen Birnenkuchen zu backen. Das heißt: Ob es sich lohnen würde, war noch ungewiss. Aber es machte Spaß. Und immerhin nahm sie ja Kurt, wenn es so weiterging wie bisher. Wer nahm schon Kurt? Außerdem hatte sie Max eine »gute Nacht« gewünscht. Er erkannte wohl, dass das nichts zu bedeuten hatte. Er sah, dass ihre E-Mail ein belanglos formulierter Gemeinschaftsgruß an mehrere Personen gleichzeitig war. Er hatte nichts Persönliches. Katrin hatte ihm gegenüber nichts Persönliches. Max fühlte sich von ihr persönlich noch nicht registriert.
Er konnte sich auch nicht vorstellen, dass Katrin an ihm interessiert sein könnte. Das heißt: Er hatte noch gar nicht versucht, sich so etwas vorzustellen. Das heißt: Sie hatte ihm noch kein Signal gegeben, das ihn dazu veranlasst hätte, zu versuchen sich vorzustellen, dass sie an ihm interessiert sein könnte. Er hatte ihr allerdings auch keinen Grund für ein Signal gegeben, das ihn dazu veranlasst hätte, zu versuchen sich vorzustellen, dass sie an ihm interessiert sein könnte.
Im Übrigen war er an ihr ja auch nicht interessiert. Nicht, weil sie nicht interessant war. Das heißt: Er hatte sich noch gar nicht überlegt, ob sie interessant war. Sie hatte ihm freilich auch noch kein Signal gegeben, das ihn dazu veranlasst hätte zu überlegen, ob sie für ihn interessant sein könnte. Er hatte ihr allerdings auch keinen Grund für ein Signal gegeben, das ihn dazu ... Ende. Der Birnenkuchen war fertig. Schade.
Es war ein Uhr nachts. Max setzte sich vor seinen Computer, öffnete die Gute-Nacht-Mitteilung von Katrin, drückte auf »Antworten« und schrieb: »Guten Morgen. Der Birnenkuchen ist fertig. Sie können gern zum Frühstück kommen. Kurt freut sich. Lieber Gruß, Max.« Danach bückte er sich unter Kurts Sessel und streichelte ihn. Nicht den Sessel, den Hund (obwohl es dem Sessel wahrscheinlich besser gefallen hätte). Egal. Es gab ganz wenige Momente, in denen Max stolz war, Kurt zu besitzen. Das war so ein Moment.
Um sieben Uhr wurde Kurt durch einen grellen Schrei unsanft aus dem Schlaf gerissen, drehte sich aber gleich wieder um und schlief weiter. Max hatte »Neiiiiiin« geschrieen. Der Grund war das Telefon. Es hatte geläutet. Das tat es normalerweise nicht um diese Zeit. Und nicht in dieser Situation.
Max hatte verdammt schlecht geträumt. Das verdammt Schlechte an dem Traum war, dass er zu früh zu Ende war und dass er nur ein Traum war, dass er sich also nicht fortsetzen ließ. Der Traum hatte sich nämlich verdammt gut angelassen, hatte sich dann irgendwie verzettelt und riss zum unglücklichsten aller Zeitpunkte ab. Er handelte von Katrin. Sie war in ihren gelben Raumanzug gehüllt. Max sah von ihr nur die verklärt herumschweifenden Blicke ihrer mandelförmigen Augen. (Hatte sie mandelförmige Augen?)
Sie hatte sich unsterblich in ihn verliebt. In Kurt. Sie wollte ihn unbedingt haben. Sie sagte: »Bitte gib mir Kurt, du kannst dafür verlangen, was du willst.« Das sagte sie zu Max. Er fragte: »Ehrlich?« Sie sagte: »Ehrlich.« Er fragte: »Darf es auch etwas Körperliches sein?« Sie sagte: »Natürlich, für Kurt kriegst du alles von mir.« Max: »Ist das dein Ernst?« Katrin: »Das ist mein voller Ernst.« Max: »Und wenn du das aber nicht machen willst, was ich mir von dir wünsche?« Katrin: »Ich mache alles, was du dir wünscht, wenn ich nur Kurt dafür kriege.« Max: »Es ist aber ... etwas ... Außergewöhnliches.« Katrin: »Damit habe ich gerechnet.« Max: »Du müsstest dich ...« Katrin: »Ausziehen? Wie außergewöhnlich!« Max: »Nein, du müsstest dich . « Katrin: »Sag schon!« Max: »Ich schaffe es nicht.« Katrin: »Na komm, nur Mut! Sag es. Was muss ich mich? Egal, was es ist, ich tu's, wenn ich Kurt dafür bekomme.« Max: »Es wird dir aber pervers vorkommen.« Katrin: »Ach, was ist schon pervers? Männer sind pervers. Wenn sich ein Mann von einer Frau etwas wünschen darf und es wäre nicht pervers - das wäre pervers. Also sag schon.«
Max überlegte, so lang es ging (so lang man im Traum überlegen konnte, ohne dass der Traum als Traum aufflog), und sagte dann: »Ach was, du kriegst Kurt auch, wenn du's nicht tust.« Katrin: »Ehrlich?« Max: »Ehrlich.« Katrin: »Das ist ganz, ganz lieb von dir. Danke.« Sie gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die Stirn, beugte sich über Kurt und machte Anstalten, ihn zu nehmen und zu gehen. (An dieser Stelle wäre der Traum beinahe abgestürzt, Max wälzte sich unruhig im Bett und drohte aufzuwachen.)
»Aber würdest du es trotzdem tun?«, fragte Max energisch. (Er glaubte wieder an sich.) Katrin: »Du meinst freiwillig? Ohne etwas dafür zur kriegen? - Kommt darauf an, was es ist.« Max: »Ich würde es nämlich nur wollen, wenn du es auch gerne machen würdest, ohne dass du etwas dafür bekommst.« Katrin: »Aber Kurt krieg ich, das hast du mir versprochen.« Max: »Das hab ich versprochen.« Katrin: »Also sag schon. Was soll ich tun?« Max atmete kräftig durch, schloss die Augen und sagte: »Du müsstest dich hinter mich stellen.« Katrin: »Das würde ich machen.« Max: »Moment, es kommt erst.« Katrin: »Sag schon.« Max: »Ich zieh mein Hemd aus. Du legst deine Hände auf meinen Nacken und fährst mit allen zehn Fingernägeln ganz langsam den Rücken herunter. Es darf nicht zu leicht sein, sonst kitzelt es. Es darf aber auch nicht zu fest sein. Es darf auf keinen Fall weh tun. Er dürfen keine Kratzspuren zurückbleiben. Und ganz langsam. Nur einmal. Würdest du das für mich tun?« - Da warf ihm Katrin aus dem Sehschlitz ihres gelben Raumanzugs einen undefinierbaren Blick zu, holte Luft und heulte hysterisch wie eine Sirene, nein, sie klingelte wie ein Telefon. Es war das Telefon. Es war sieben Uhr. Max schrie: »Neiiiiiiiin!« Kurt wurde aus dem Schlaf gerissen, drehte sich um und schlief weiter. Hätte sie es getan?
Draußen war es noch finster. Katrin wunderte sich, wie es ihr gelungen war, das Bett zu verlassen. Außerhalb konnte nichts besser sein als unterhalb der Decke. Im Radio hatten sie einen »Föhnsturm« angekündigt. Allein das Wort zog ihr die Schläfen wie Magnete zusammen. Was halbwegs nach Schnee ausgesehen hatte, war geschmolzen. Zurück blieben grau-weiß tapezierte Dreckhügel mit gelben Einschusslöchern von Typen wie Kurt. Es hatte jedenfalls keinen Sinn, länger als ein paar Sekunden aus dem Fenster zu schauen, um zu erahnen, was der Tag bringen konnte. Er konnte nichts bringen. Woher sollte er es nehmen?
Katrin trank schwarzen Kaffee und aß Zwieback. Die Milch war sauer, Brot gab es keines mehr. Beim Wort »Müsli« hätte es ihr die Schläfen, die das Wort »Föhnsturm« migräneartig zusammengezogen hatte, brutal auseinander geschleudert. Katrin lebte gern gesund, aber nicht an einem finsteren Dienstagmorgen im Dezember. Da war sie froh, dass sie überhaupt lebte.
Von ihrem Computer war normalerweise nicht viel zu erwarten. Aber immerhin: Vier hatten ihr bereits geantwortet. Beate schrieb: »Danke, dir auch eine gute Nacht. Du hast mir sehr geholfen. Weißt du, mit Joe ist es zwar nicht einfach, aber ich glaube, wenn es zu einfach wäre, würde ich es gar nicht aushalten.« Auch Franziska hatte geantwortet. Sie schrieb: »Hey, Katrin, wie kommt es zu einem Rundschreiben um Mitternacht? Ist etwas vorgefallen? Ich ruf dich an! Deine Franzi.« Franziska war Katrins beste Freundin, leider hatte sie zwei kleine Kinder. Nein, anders: Leider hatte sie wenig Zeit, weil sie zwei kleine Kinder hatte. Und leider waren die beiden Kinder immer dabei, wenn Franziska (wenig) Zeit hatte. Es waren Kinder, für die es keinen Babysitter gab.
Manche Kinder kamen zur Welt, wurden den kraftlosen Müttern in die Arme gedrückt und man sah sofort: Das waren Kinder, für die es keinen Babysitter gab. Sie konnten sich zwar noch nicht mitteilen. Sie konnten nur die verknautschte Stirn runzeln, den Mund öffnen und den einen oder anderen Eröffnungsschrei von sich geben. Aber sie hatten bereits eine imaginäre Tafel um den Hals hängen. Und darauf stand: »Für uns gibt es keinen Babysitter. Sollte einer zum Einsatz kommen, machen wir ihn zur Sau.« Und die kraftlosen Mütter drückten die Kinder so fest sie (schon) konnten an ihre Brust und signalisierten damit: Macht nichts. Wir brauchen keinen Babysitter. Wir sind immer für euch Babys da. Und ihr seid immer bei uns dabei. Und wenn das unseren Freunden nicht passt, dann haben sie eben Pech gehabt. - So eine Mutter war Franziska. Sie hatte übrigens auch einen Ehemann. Katrin war verblüfft, dass sie auch das noch unterbrachte.
Es gab zwei weitere elektronische Antworten. Eine kam von Aurelius, die öffnete sie zuerst. Er war die letzte große Liebe der Schulmeister-Hofmeisters gewesen. Er hatte alles, was ein Mann haben musste, damit die Eltern sagen konnten: »Goldschatz, was willst du mehr?« (Mutter.) Und: »Maus, lass nur ja nicht locker. Machen wir Nägel mit Köpfen!« (Vater.) Aurelius war erst 35 und hatte schon eine eigene Notariatskanzlei (geerbt). Er war Staatsmeister in der Vierer-Klasse (Rudern). Er war ehrenamtlicher Präsident des Taubenzüchterverbandes. Er war klug. Er war gebildet. Er war schön. (Schöner als das »Best of« der letzten drei James Bonds, also bereits obszön schön.) Er hatte zwölf dunkle Anzüge, zehn Paar schwarze Schuhe. (Praktische Schuhe. Sie sahen alle gleich aus, er konnte sie beliebig variieren, er musste nur aufpassen, dass er nicht zwei linke oder zwei rechte erwischte.) Er hatte drei Putzfrauen: eine Hausputzfrau, eine Fensterputzfrau und eine Schuhputzfrau. Er hatte ... darf es genug sein? Er schrieb: »Wenn du dich einsam fühlst, so weißt du, wo du mich erreichst. In treuer Liebe, Aurelius.« Er hatte kein Gefühl für die richtigen Worte zur richtigen Zeit.
Die vierte Antwort kam von Max. Katrin hatte gerade ein letztes Stück Zwieback den Rachen herunterbröseln lassen, und der heiß nachgespülte schwarze Kaffee zupfte wie ein Kontrabassist an ihrer Magenschleimhaut. Da las sie: »Guten Morgen. Der Birnenkuchen ist fertig. Sie können gern zum Frühstück kommen. Kurt freut sich. Lieber Gruß, Max.« Frühstück war eine Idee, dachte sie und rief bei ihm an.
Niemand meldete sich. Vielleicht ging er gerade mit Kurt Gassi. Oder er stand unter der Dusche. Oder er war mit seinen Pin-ups beschäftigt. Zehn Minuten später versuchte sie es noch einmal und da meldete er sich sofort: »Bei Max.« - »Hallo, Katrin spricht, wenn das noch gilt, das mit dem Kuchen, würde ich vor der Arbeit gerne kurz vorbeikommen, wenn es nicht stört. Ich würde gleich losgehen. Aber wirklich nur, wenn es nicht stört.« - Es störte nicht.
Sie war eine Dreiviertelstunde bei ihm. Sie sprachen hauptsächlich über den Birnenkuchen. Er schmeckte erstaunlich gut, überhaupt nicht nach Birnen, das musste man erst einmal so hinkriegen, lobte Katrin. »Birnen schmecken ja eigentlich nach nichts«, meinte Max. Nur deshalb verwendete er sie. Ein Obstkuchen sollte seiner Ansicht nach nicht nach Obst, sondern nach Kuchen schmecken. Denn wer Obst essen wollte, sollte Obst essen, der brauchte keinen Kuchen dazu, war sein Standpunkt. Katrin nickte, teils einsichtig, teils höflich, meinte dann aber doch: »Eigentlich hättest du die Birnen weglassen können.« (Hatte sie »du« gesagt?) »Da hast du an sich Recht«, erwiderte Max (somit waren sie per du). »Aber wie nenne ich den Kuchen ohne Birnen?«, fragte er. »Sage ich: >Ich habe einen Kuchen gemachte so fragen mich die Leute: >Was für einen Kuchen?< Und dann müsste ich zugeben: >Ach, einfach nur einen Kuchen.< Da würde mir schon bei der eigenen Ansage die Lust darauf vergehen.« Katrin nickte, teils einsichtig, teils verständnisvoll, teils höflich.
»Oder die Leute fragen erst gar nicht nach«, setzte Max fort, »sie denken: >Aha, Kuchen, einfach nur ein Kuchen, sonst kann er nichts, der Kuchen. Nicht einmal ein Schokoladekuchen, einfach nur ein Kuchen. Gott, wie langweilig!< Die Leute wären enttäuscht, bevor sie noch ein Stück davon gekostet hätten. Möglicherweise würden sie gar nicht auf die Idee kommen, von dem Kuchen zu kosten. Wozu mache ich dann überhaupt einen Kuchen?«, fragte Max. - Wenn ihn Katrin richtig verstanden hatte, so brauchte er also die Birnen primär, um »Birnenkuchen« sagen zu können.
»Hast du's schon einmal mit Stachelbeeren probiert?«, fragte Katrin. »Stachelbeeren schmecken auch nach nichts. Sie schmecken sogar noch mehr nach nichts als Birnen.« Max horchte auf und sah sie an. Dabei wurden seine Augen groß. Er hatte große Augen, wenn er sich bemühte, dachte Katrin. »Und >Stachelbeerkuchen< klingt fast noch besser als >Birnenkuchen<, finde ich«, meinte Katrin. »Aber Stachelbeeren sind schwer zu kriegen, sie haben selten Saison«, erwiderte Max. Da hatte er Recht. Es war eine gute Diskussion, fand Katrin. Leider wurde die Besuchszeit bereits knapp. Katrin musste in die Ordination.
»Und hast du einen Freund?«, fragte Max. Die Frage war unverschämt, dachte Katrin und fragte: »Wieso?« - »Ich hätte ihm gerne ein Stück Birnenkuchen mitgegeben«, erwiderte Max. »Er isst keinen Kuchen«, erwiderte Katrin und fragte sich, wie sehr nun offen geblieben war, ob sie einen Freund hatte oder nicht. Es sollte möglichst weit offen geblieben sein, hoffte sie. »Schade«, sagte Max. Schade, dass sie einen Freund zu haben schien, oder schade, dass er keinen Kuchen aß?, fragte sich Katrin.
»Ich habe keine Freundin«, setzte Max in überraschend heiterem Tonfall fort. Katrin dachte an die Pin-ups und hätte gerne »Warum nicht?« gefragt. Aber das wäre ein Stilbruch gewesen. Sie sagte besser »Ah so« und versuchte ihm einen Blick zuzuwerfen, den er als wertneutrale Zukenntnisnahme auffassen würde. Er drehte sich zu Kurt und sagte: »So ist es Kurt, nicht wahr?« - Für solche Sätze zahlte es sich aus, Hunde zu besitzen, dachte Katrin. Kurt erwiderte nichts. Er lag unter seinem Sessel und schlief. »Was hat er eigentlich?«, fragte Katrin. »Nichts«, sagte Kurt. »Leider.« - »Aber du liebst ihn«, meinte sie. »Ich?«, fragte Max. Das hatte ihm offenbar noch niemand unterstellt.
Beim Verabschieden drückte er ihre Hand länger als notwendig, fühlte Katrin. Sie hatte kein Problem damit. Sie fand Max nicht uninteressant. Sie kannte ihn nicht. Er hatte noch nichts von sich verraten (außer dass er keine Freundin hatte, aber was sagte das schon über einen Menschen aus?). Sie war sicher, dass er absichtlich nichts von sich verriet, nicht weil er es nicht konnte. Somit stand es im Nichts-von-sich-Verraten unentschieden. Das war gerecht. »Man sieht sich«, sagte sie. »Würde mich freuen«, erwiderte Max. Katrin freute sich schon jetzt. Außerdem mochte sie Kurt. Er war ihr Lieblingshund. Er nahm ihr die Scheu vor Weihnachten.